Ungewohnt für Mediziner: Nicht alles zu tun, was man kann! von Rainer B. Langen Spätestens drei Tage nach der Geburt eines Kindes kann man im Rahmen des Neugeborenen-Screenings einen Test durchführen, bei dem es sich im weitesten Sinne um einen Gentest handelt. Die Gene werden zwar nicht direkt untersucht, aber in einigen Tropfen Blut suchen Laborärzte nach biochemischen Hinweisen auf Stoffwechseldefekte; in Bayern etwa wird derzeit mit Hilfe des Tests nach 22 verschiedenen Defekten gefahndet. Es handelt sich nahezu ausschließlich um monogenetische Erkrankungen: Sie gehen auf Mutationen in einzelnen Genen zurück. Mehr als eine halbe Million Kinder in Bayern wurden diesen Tests unterzogen; bei rund 400 Babys wurden Krankheiten entdeckt. Bei allen habe die notwendige Behandlung rechtzeitig begonnen, heißt es bei den staatlich anerkannten Beratungsstellen für Schwangere in Bayern. Was ein Gentest leisten kann Insgesamt haben Forscher und Ärzte im vergangenen Vierteljahrhundert die genetische Basis für 1 700 monogenetische Erkrankungen ermittelt, die sich mit Gentests nachweisen lassen. Doch nur bei sehr wenigen Krankheiten Quelle: PhotoCase.de / bmp Genetische Tests haben solche Tests einen echten Nutzen für die betroffenen Kinder, betont Professor Dr. Klaus Zerres, Direktor des Instituts für Humangenetik am Aachener Klinikum: „Molekulargenetische Tests bei Kindern sind im Prinzip immer dann sinnvoll, wenn das Kind eine klinische Symptomatik hat, die mit Hilfe eines Tests abgeklärt werden kann.“ Als Beispiel nennt er den Verdacht auf eine spinale Muskelatrophie. Hier ersetze die molekulargenetische Untersuchung über das Blut die in der Vergangenheit notwendige Muskelbiopsie zur Sicherung der Diagnose. Krankheiten, deren Diagnose sich per Gentest absichern ließen, seien jedoch in der Regel äußerst selten. Zu diesen seltenen Erkrankungen gehören auch geistige Behinderungen wie das Fragile-X-Syndrom. „Bei geistigen Behinderungen dienen genetische Untersuchungen der Einordnung und liefern in vielen Familien die Basis für eine genetische Beratung“, sagt Zerres. Die Aussagekraft der Tests ist jedoch von Krankheit zu Krankheit unterschiedlich. Dies muss insofern bedacht werden, als die Eltern sich von dem Test in der Regel den sicheren Ausschluss einer Erkrankung erhoffen. Aber dies ist keineswegs immer möglich. „Häufig kann der Test die Diagnose nicht Gentest beim gesunden Kind? Mitunter wünschen Eltern auch bei einem gesunden Kind einen Gentest, weil eine erbliche Erkrankung in der Familie vorliegt. „Prädiktive Tests im Kindesalter sind überhaupt nur dann in die Diskussion zu bringen, wenn sich daraus für das Kind irgendeine therapeutische Konsequenz ergibt“, sagt Zerres. Das ist auch die offizielle Position der Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und Ethik der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, der Zerres angehört. Krankheiten, bei denen prädiktive Tests für die Kinder noch im Kindes- oder Jugendalter einen therapeutischen oder vorbeugenden Nutzen mit sich bringen, sind äußerst selten. Die multiple endokrine Neoplasie Typ 2 gehört zu diesen Krankheiten. Wenn bei einem Elternteil eines Kindes diese Krankheit vorliegt, lässt sich mit einem Gentest klären, ob auch das Kind die Anlagen trägt. „Das können Sie durch kein Screening erkennen“, sagt Dr. Claudia Nevinny-Stickel-Hinzpeter, die in München eine humangenetische Praxis betreibt. „Wenn die klinische Diagnose gestellt wird, ist die Prognose meist schon infaust.“ Wenn jedoch auf Grund eines positiven Gentests vor der Einschulung die Schilddrüse prophylaktisch entfernt wird, bleibt dem Kind später das Karzinom erspart. Pränatale Therapie des AGS Unter Umständen kann sogar eine pränatale prädiktive Diagnostik sinnvoll sein. Beim adrenogenitalen Syndrom (AGS) wird unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine pränatale Therapie durchgeführt. Kinder mit dieser Krankheit haben eine Störung im Steroidstoffwechsel: Sie tragen eine Mutation im Gen für das Enzym 21-Hydroxylase (CYP 21B). Die Nebenniere dieser Kinder kann weder Aldosteron noch Kortison produzieren. Solange die Kinder im Uterus sind, gleicht der Stoffwechsel der Mutter dieses Defizit weitgehend aus, wie Nevinny-Stickel-Hinzpeter erläutert. Nach der Geburt erleiden die Kinder einen dramatischen Kochsalzverlust. Das elektrische Gleichgewicht bricht zusammen; im Herzen schießen die Kaliumwerte empor. Den Kindern droht der plötzliche Herztod. Wer AGS bei der Geburt erkennt und sofort behandelt, kann Leben retten. AGS gehört zu den Stoffwechselstörungen, die in Bayern mit dem Neugeborenen-Screening erfasst werden. „Mit lebenslangen Gaben von Aldosteron und Kortison können diese Kinder ein normales Leben führen“, sagt Nevinny-Stickel-Hinzpeter. Wenn in der Familie schon ein Kind mit AGS lebt, liegt die Wahrscheinlichkeit für das ungeborene Kind, ebenfalls mit AGS zur Welt zu kommen, bei 25 Prozent. Die Störung im Steroidstoffwechsel bei AGS bewirkt, dass die Nebennieren des Ungeborenen große Mengen Testosteron produzieren, die bei Mädchen zur Virilisierung des Genitals führen. Durch Kortisonbehandlung der Mutter werde versucht, die überschießende Testosteronproduktion zu unterdrücken, sagt NevinnyStickel-Hinzpeter. „Bei Risiko für AGS muss möglichst kurz vor der Konzeption mit der Behandlung der Mutter begonnen werden.“ So könnten bei Mädchen genitale Fehlbildungen auf Grund hoher kindlicher Testosteronausschüttung verhindert werden. Sobald mit Hilfe der Fruchtwasseranalyse das Geschlecht bestimmt ist, kann bei einer Jungenschwangerschaft die Kortisonbehandlung der Mutter abgesetzt werden. Wenn dann auch der Genotyp unauffällig ist, sei die Behandlung des Kindes und der schwangeren Mutter nicht mehr nötig, erläutert Nevinny-StickelHinzpeter. Genetische Tests ausschließen, weil wir zwar oft ein bestimmtes Spektrum von Mutationen identifizieren können, aber nicht alle. Man sollte dann die Diagnose mit einem Fragezeichen versehen“, betont Zerres. „Beispielsweise bei der rezessiven Zystennierenerkrankung im Kindesalter können wir die Mutationen in einer Größenordnung von 90 Prozent nachweisen, aber zehn Prozent eben nicht.“ Dann sei ein negatives Ergebnis zweideutig: „Es könnte heißen: Das Kind hat die Krankheit doch, wir konnten nur die verantwortliche Mutation nicht nachweisen, oder es hat eine andere Erkrankung.“ Ein Test ist somit oft nur im Zusammenhang interpretierbar. Die molekulargenetische Situation in der Familie müsse daher sehr sorgfältig diskutiert werden. Nur so sei es möglich, die Aussagekraft des Tests zu beurteilen. „Deshalb eignet sich so eine Testung sehr häufig nicht zur Untersuchung bei einer völlig unklaren Symptomatik, weil Sie ein negatives Ergebnis nie deuten können.“ Eindeutig dagegen seien Ausschlussdiagnosen, beispielsweise beim Fragilen-X-Syndrom und bei der myotonischen Dystrophie. 19 Schon vor der Konzeption beginnt die Kortisonbehandlung der Mutter Genetische Tests 20 Bei sehr seltenen Formen des Diabetes kann eine Therapie den Ausbruch der Krankheit hinauszögern. auch bei bestimmten Formen des Kleinwuchses Anwendungen für prädiktive Gentests. So gingen beim idiopathischen Kleinwuchs ein bis zwei Prozent der Fälle auf Mutationen im so genannten SHOX-Gen zurück, erläutert Schulze. Ob die betroffenen Kinder von einer Therapie mit Wachstumshormon profitieren könnten, werde derzeit in einer klinischen Studie geprüft. Kontrollieren statt testen Häufig würden heute prädiktive Tests für Erkrankungen nachgefragt, die erst im Erwachsenalter ausbrechen, sagt Zerres. „Bei autosomal dominant erblichen Zystennieren, die typischerweise erst im Erwachsenenalter auftreten, werden wir sehr häufig konfrontiert mit der Fragestellung: Wir wollen wissen, ob unser Kind das später mal bekommen wird.“ Selbst wenn das Kind die Anlage für spätmanifeste Zystennieren trüge, entstünde ihm Diabetes – Adipositas aber aus dem Gentest kein medizinischer Auch bei einem Fall von juvenilem Diabetes Nutzen, „weil es bisher gar keine Probei einem Elternteil könne ein prädiktiver Gen- phylaxe vor dem Auftreten von Zysten test einem gesunden Kind unter Umständen gibt.“ Bei den Zystennieren, die spätmanützen, meint die Münchener Genetikerin nifest sind, empfehle er, das Kind regelNevinny-Stickel-Hinzpeter. Aus bestimmten mäßig im Abstand weniger Jahre Varianten der Gene für die Oberflächenmit Ultraschall zu untersuchen. „Wenn es Antigene HLA 3 und HLA 4 lasse sich eine Zysten hat, wissen wir: Es ist AnlageträRisikoanalyse für juvenilen Diabetes ableiten. ger. Dann ist es Patient und gehört in Durch eine immunsuppressive Therapie könne eine nephrologische Betreuung. Solange es die dann bei den betroffenen, noch gesunden Zysten nicht hat, kann man ohnehin nichts tun, Kindern der Ausbruch des Diabetes hinausgeob getestet oder nicht.“ zögert werden. Man solle sich jedoch darüber Wenn ein Gentest auf spätmanifeste Krankim Klaren sein, erklärt Prof. Zerres zu diesem heiten beim gesunden Kind positiv ausfalle, Thema, dass derartige Vorgehensweisen nur im sei das Kind um seine Autonomie gebracht, Zusammenhang mit äußerst seltenen Formen sich später womöglich gegen einen Test zu entdes Diabetes diskutiert würden. scheiden. „Nicht jeder Erwachsene unterzieht Womöglich helfen Gentests auch bei der Einsich schließlich einem prädiktiven Test, zum ordnung bestimmter Formen der angeborenen Beispiel auf Anlagen für die Huntingtonsche Adipositas, sagt Dr. Egbert Schulze. Der Krankheit, Brustkrebs oder familiären DarmMolekulargenetiker ist Laborleiter einer krebs.“ Viele Menschen hätten gute Argumente, humangenetischen und endokrinologischen sich im Erwachsenenalter gegen eine prädiktive Praxis in Heidelberg. Es gebe eine sehr seltene Testung zu entscheiden. Variante der Adipositas, die dazu führe, dass Achtjährige schon zwei Zentner wögen. Eine therapeutische Konsequenz ergebe sich aus der genetischen Diagnose zwar nicht. „Aber bei einem genetischen Hintergrund steigt das Verständnis der Familien für Ernährungsprogramme.“ Der Vorwurf, die Kinder hätten sich ihre Pfunde einfach nur „angefressen“, greife dann nicht mehr. In Zukunft ergeben sich möglicherweise Quelle: NewCast / Markus Winter Bei autosomal dominant erblichen Zystennieren ist US-Kontrolle sinnvoller als ein Gentest. Professor Zerres betont ausdrücklich, dass eine solche pränatale Therapie in der Regel nur dann in Frage komme, wenn schon ein Kind mit AGS in der Familie lebe. Dann bestehe für das ungeborene Kind ein definiertes Risiko, und bis zum Ergebnis des pränatalen Gentests sei eine Behandlung auf Verdacht zu rechtfertigen. Solche AGS-Formen sind sehr selten. Mutationen für milde Formen des AGS, die für ihre Träger ohne wesentliche Konsequenzen bleiben, kommen hingegen häufig vor. In diesen Fällen, die oft dann auftreten, wenn entsprechende Mutationen nur bei den Eltern diagnostiziert werden - zum Beispiel im Rahmen der Reproduktionsmedizin - sei eine pränatale Behandlung problematisch beziehungsweise überflüssig. „Solche Fälle sollten von Endokrinologen und Humangenetikern gemeinsam diskutiert werden“, sagt Zerres. Nach Ansicht von Schulze werden insbesondere pharmakogenetische Tests im Kindesalter an Bedeutung gewinnen. Das sind Gentests, die die Wirkung von Arzneien bei einzelnen Patienten vorhersagen. Abweichungen in der Basenfolge bestimmter Gene können den Ausschlag geben, ob etwa ein Medikament im Körper schnell abgebaut wird oder gar nicht. Dann reichert es sich an und verursacht womöglich lebensbedrohliche Nebenwirkungen. Beispielsweise kann das Antikonvulsivum Valproinsäure bei Kindern mit einer genetisch bedingten Abbaustörung zur Leberinsuffizienz führen. In einigen Fällen lässt sich an den Genen auch ablesen, ob eine Arznei überhaupt wirkt. Pharmakogenetische Tests könnten sich für Kinder als besonders hilfreich erweisen, denn „neunzig Prozent der Medikamente sind für Kinder nicht getestet worden“. Gentest nur, wenn es dem Kind nützt Die Kommission für Öffentlichkeitsarbeit der Gesellschaft für Humangenetik hat in ihrer Stellungnahme zur genetischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen den Rahmen abgesteckt, in dem sie Gentests bei Kindern und Jugendlichen für sinnvoll erachtet. Die Humangenetiker orientieren sich am medizinischen Nutzen für das Kind und am Schutz seines Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung. Die Positionen sind u.a.: - Diagnostik beim kranken Kind: Wenn bei einem kranken Kind genetische Diagnostik für die Differentialdiagnostik oder für die Klärung der Krankheitsursache erforderlich ist, sollte sie auch durchgeführt werden. - Prognose für Gesunde: Prädiktive genetische Diagnostik bei gesunden Kindern und Jugendlichen kommt nur in Frage, wenn damit zu rechnen ist, dass die Krankheit im Kindes- oder Jugendalter auftritt, und wenn es sinnvolle Maßnahmen zur Prävention oder Therapie gibt. - Kann das Kind Erbkrankheiten übertragen? Diese Frage sollte nicht mit Gentests im Kindesalter beantwortet werden. Denn sie ist nur für das Kind selbst von Bedeutung, und zwar erst dann, wenn es später vor der Entscheidung steht, selbst Kinder zu bekommen. Seiner späteren Entscheidung sollte nicht vorgegriffen werden. Allerdings sollten die Eltern so beraten werden, dass sie „ihre Verantwortung hinsichtlich einer späteren Information des Kindes wahrnehmen können“. - Gentest zum Nutzen anderer Familienmitglieder: Es kann vorkommen, dass ein Test zum Überträgerstatus eines Kindes zur genetischen Beratung anderer Familienmitglieder beiträgt. Kinder sollten nur nach sorgfältiger Prüfung im Einzelfall, vor allem in Hinblick auf die Aussagekraft des Tests, einbezogen werden. - Genetische Zusatzinformationen: Bei vorgeburtlichen Gentests oder solchen, die für die Differentialdiagnostik einer Symptomatik vorgenommen werden, kann auch die Information über den Heterozygotenstatus anfallen, also über die Anlageträgerschaft für eine rezessive Erkrankung ohne Krankheitswert. Wenn es für die Erfüllung des Untersuchungsauftrages nicht unbedingt erforderlich ist, sollte der Befund zunächst nicht mitgeteilt werden, sondern dem Kind erst später zur Verfügung stehen. - Adoption: Eine genetische Untersuchung sollte nicht Voraussetzung für die Freigabe zur Adoption oder für die Vermittlung sein. Quelle: Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und Ethik der Gesellschaft für Humangenetik e.V.: Stellungnahme zur genetischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen, medgen 7:358 – 359 (1995). Genetische Tests Ausblick 21