Deutsche Gesellschaft für Verbandsmanagement e.V. Entwicklungsphasen von Verbänden Auch Verbände durchlaufen von ihrer Gründung bis zu ihrem möglichen Ende typische Entwicklungsphasen, wobei die Phasenübergänge durch Krisen gekennzeichnet sind, zu deren Bewältigung eine Neuausrichtung des Verbandes und seiner Strukturen erforderlich ist. Das ist das Ergebnis einer von dem Verbandsforscher Prof. Dr. Burkhard von Velsen-Zerweck unter dem Titel „Dynamisches Verbandsmanagement“ vorgelegten Studie. Und wie bei der noch aus dem Biologieunterricht bekannte Haeckelschen Hypothese, wonach im Bereich der Fauna die Ontogenese eine verkürzte Wiederholung der Phylogenese ist, zeigen sich auch in der Evolution sozialer Organisationen vergleichbar ähnliche Prozesse und Strukturen. Denn trotz aller berechtigten Vorbehalte vor einer allzu glatten Gleichsetzung evolutionärer Prozesse von sozialen und biologischen Organisationen, können nämlich Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen, wie etwa die Theorie der Instabilitäten fern von Gleichgewichtszuständen, wie sie vor allem von der „Brüsseler Schule“ um den Biochemiker Ilya Prigogine entwickelt worden ist, oder die Prozesse spontaner Selbstorganisation, wie sie Haken in der „Synergetik“ untersucht, gleichwohl einen heuristischen Wert für die Untersuchung von „Lebenszyklen“ sozialer Organismen wie Verbände aufweisen. Phylogenese: Historische Entwicklungsphasen von Verbänden Unter Phylogenese wird die evolutionäre Stammesentwicklung einer Spezies verstanden, während der Begriff Ontogenese die Einzelentwicklung eines individuellen Lebewesens bezeichnet. Phylogenetisch lassen sich in Europa folgende historische Entwicklungsphasen von Verbänden unterscheiden: 1. Phase (1800 - 1871): Anfänge organisierter Interessenvertretung 2. Phase (1871 - 1914): Entstehung eines Interessenverbandssystems 3. Phase (1914 - 1933): Wandel des Interessenverbandssystems 4. Phase (1933 - 1945): Verformung des Interessenverbandssystems ("Gleichschaltung") 5. Phase (seit 1945): Wiederherstellung des Interessenverbandssystems © Deutsche Gesellschaft für Verbandsmanagement e.V. (DGVM) Burgstraße 79 y 53177 Bonn y y Postfach: 20 03 55 y 53133 Bonn Telefon (02 28) 93 54 93-40 y Telefax (02 28) 93 54 93-45 [email protected] y www.dgvm.de Deutsche Gesellschaft für Verbandsmanagement e.V. –2– Januar 2006 Diese Typisierung geht auf H.-P. Ullmann zurück, der sie 1988 seiner Untersuchung „Interessenverbände in Deutschland“ zu Grunde gelegt hat. Ulrich von Alemann unterscheidet vier historische Entwicklungsphasen von Verbänden: 1. Phase (1848 - 1914): Entstehung 2. Phase (1914 - 1933): Entfaltung 3. Phase (1933 - 1945): Zwangskorporative Formierung 4. Phase (seit 1945): Ausdifferenzierung und Festigung Nach von Alemann lassen sich vier große politische Konfliktfelder in Europa unterscheiden, die für die Entstehung von Verbänden ursächlich geworden sind: Konflikt Kapital <=> Arbeit: Führt zur Bildung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen Konflikt Bürger <=> Staat: Führt zur Gründung von politischen Interessengruppen und Parteien Konflikt Staat <=> Privatwirtschaft: In der Entstehungsphase vor allem Bündnisse von Großgrundbesitz und Schwerindustrie mit dem Staat. Ontogenese: Typische Entwicklungsphasen eines Verbands Nach Reinspach lassen sich drei typische „Eskalationsstufen“ in der Entwicklung von Wirtschaftsverbänden feststellen: 1. Eskalationsstufe: Pluralistisches Verbandsmodell (Lobbying) 2. Eskalationsstufe: Neokorporatistisches Verbandsmodell (Interessenvermittlung) 3. Eskalationsstufe: Interessenregierung (Interessenformierung) Nach Reinspach werden in der ersten Entwicklungsstufe typischerweise nur die eigenen Mitgliederinteressen wahrgenommen, wobei eine Orientierung des Verbandes am Gemeinwohl noch gänzlich fehlt. In dieser Entwicklungsstufe besteht die Funktion des Verbandes vornehmlich in dem Lobbying für die verbandlich organisierten Interessen. In der zweiten Entwicklungsstufe sind Verbände bereits durch einen „defensiven Gemeinwohlbezug“ (von Velsen-Zerweck) gekennzeichnet. Auf dieser Stufe müssen Deutsche Gesellschaft für Verbandsmanagement e.V. –3– Januar 2006 Verbände zunehmend ihr Handeln vor staatlichen Instanzen rechtfertigen und sich auch für verbandsexterne Interessen öffnen. Die Interessen anderer Anspruchsgruppen werden hierbei jedoch aus wohlverstandenem Eigeninteresse und nicht aus innerer Einsicht berücksichtigt. Das einseitige Lobbying wird zunehmend durch die Interessenvermittlung zwischen Mitgliedern und anderen Interessentengruppen ersetzt. Nach von Velsen-Zerweck verhält sich ein Verband erst in der dritten Entwicklungsstufe aktiv gemeinwohlorientiert. Das zeigt sich darin, daß er sich mit anderen Anspruchsgruppen auseinandersetzt, ihre Bedürfnisse zu verstehen lernt und an deren Befriedigung mitwirkt. „Seine Aufgabe besteht nicht mehr nur in einer Durchsetzung von Partikularinteressen wie auf der ersten Stufe oder der Vermittlung zwischen Interessen wie auf der zweiten Stufe, sondern er wird selbst zur „Interessenformierungsinstanz“. Die Übernahme von Verantwortung für Nicht-Mitgliederinteressen erfolgt dabei nicht mehr wegen externer Zwänge, sondern aus innerer Überzeugung.“ (von VelsenZerweck, Seite 50 unter Verweis auf Reinspach). Reinspach räumt allerdings selbst ein, daß die dritte Stufe der Verbandsentwicklung bisher in der Praxis nicht erreicht sei. Verbände seien vielmehr in aller Regel auf einer Vorstufe als „aufgeklärte Egoisten“ zu kennzeichnen, die das Gemeinwohl nur soweit berücksichtigen würden, als es den Mitgliederinteressen diene. Heimerl-Wagner unterscheidet ebenfalls drei Phasen in der Entwicklung von Non-ProfitOrganisationen: 1. Pionierphase Die finanziellen Mittel werden projektgebunden, meist nur für ein Jahr zugewiesen. Die interne Struktur ist durch Basisdemokratie und Selbstverwaltung gekennzeichnet. Das Prinzip gegenseitiger Kontrolle reicht als Steuerungsinstrument der Non-Profit-Organisationen aus. 2. Differenzierungsphase In dieser Phase bildet sich eine gesonderte Leitungsstruktur heraus, die wesentlich der Bestandssicherung nach innen und außen mit Hilfe eines bereits strategisch ausgerichteten Managements besteht. Die Leitungsstruktur führt zu einer Institutionalisierung der Non-Profit-Organisationen. 3. Integrationsphase Integrierte Non-Profit-Organisationen zeichnen sich durch eine höhere Eigenverantwortlichkeit der operativen Einheiten und durch inner- und überbetriebliche Netzwerke und flache Hierarchien aus. Ein weiteres wesentliches Merkmal der Integrationsphase ist das institutionalisierte Feedback über den Erfolg und Mißerfolg, um dadurch ein „Lernen der Organisation“ zu begünstigen.