4 Elektrische Sicherheit in der Medizintechnik 4.2.1 Klassifikation nach Grad des Schutzes gegen elektrischen Schlag Um einen direkten Kontakt zwischen Patient und/oder Anwender und Netzspannung zu vermeiden (siehe Bild 4.7), werden alle spannungsführenden Teile eines aktiven Medizinproduktes mit einer Basisisolierung versehen. Bild 4.7: Gefahr durch Berührung des Versorgungsnetzes Bei einem Bruch dieser Basisisolierung kann die volle Netzspannung am Gehäuse des Medizinproduktes anliegen, der sogenannte Erste Fehler. Da aufgrund der Sicherheitsphilosophie der Erste Fehler nicht zu einer Gefährdung führen darf, ergibt sich die Notwendigkeit einer zusätzlichen, von der Basisisolierung unabhängigen Schutzmaßnahme. Diese Schutzmaßnahmen werden durch die Geräte-Schutzklassen I und II gebildet. Schutzklasse I mit Schutzleiter Bild 4.8 zeigt ein Gerät der Schutzklasse I mit Netzleitung und dreipoligem Anschlussstecker. Der Schutzleiter ist mit allen leitfähigen und berührbaren Teilen des Gerätes verbunden, die im Fehlerfall Netzspannung annehmen können. Der Anschluss an den Schutzleiter wird als Sicherheitsmaßnahme gegen elektrischen Schlag angesehen. Die Verbindung mit der Schutzerde erfolgt zwangsläufig beim Einstecken des Netzsteckers in die Netzsteckdose, wodurch für die berührbaren, leitfähigen Teile ein gegen Erde berührungsspannungsfreier Zustand erreicht wird, auch für 76 4.2 DIN EN 60601-1 Bild 4.8: Geöffnetes Gerät Schutzklasse I den Fall, dass über die Basisisolierung ein fehlerhafter Stromübergang stattfindet. Überschreitet der Fehlerstrom den Wert der installationsseitig vorgesehenen Schutzeinrichtung (30 mA FI-Schalter), so spricht diese an und die Stromversorgung wird unterbrochen. Hinweis: In medizinischen Räumen der Gruppe 2 mit IT-Netz dürfen keine FISchalter verwendet werden. Bei Installationen außerhalb medizinisch genutzter Räume (FI) muss/soll das vorgeschaltete Sicherungsorgan zum Ansprechen bzw. Abschalten gebracht werden. Kommt es in einem Raum der Gruppe 1 zu einem Isolationsfehler im Netzteil des Gerätes, wodurch die Netzspannung am Gehäuse anliegen kann, so führt dies zu einem Kurzschluss, zum Ansprechen des Sicherungsautomaten und damit zum Abschalten der Netzspannung. Hinweis: Die Unterbrechung des Schutzleiters (z. B. Leitungsbruch) hat bei vielen Geräten keine Auswirkung auf die Funktion des Gerätes, d. h., das Gerät funktioniert weiter, weil der Fehler nicht festgestellt wird. Dieses Problem ist der entscheidende Grund für die Forderungen der Berufsgenossenschaften mit der 77 4 Elektrische Sicherheit in der Medizintechnik Unfallverhütungsvorschrift BGV A3, bei den geforderten regelmäßigen Geräteprüfungen insbesondere auch Prüfungen aller festen und abnehmbaren Anschlussleitungen sowie Mehrfachsteckdosen und Verlängerungsleitungen durchzuführen. Diese Anforderungen dienen dazu, einen zuverlässigen Anschluss zwischen dem MEGerät und dem Schutzleitersystem der elektrischen Installation zu gewährleisten. Schutzleiterverbindungen, die lediglich für die Sicherheit der Bediener relevant sind, können entweder die Anforderungen der Norm oder aber der IEC 60950-1 erfüllen. Besteht aber die Situation, dass Schutzleiterverbindungen für die Sicherheit sowohl von Bediener (MOOP) als auch von Patient (MOPP) vorgesehen sind, müssen die Anforderungen der DIN EN 60601-1 eingehalten werden. Anforderungen an Schutzleiterverbindungen Schutzleiterverbindungen müssen in der Lage sein, den Strom im Fehlerfall (Kurzschluss) zuverlässig und ohne übermäßigen Spannungsabfall abzuleiten. Dies bedeutet z. B., dass die Schirmung von EDV-Kabeln auf keinen Fall als Schutzleiter(-ersatz) verwendet werden darf. Theoretisch entsteht ein kurzfristiger Strom von bis zu 230 A bei einem Kurzschluss, der zum Verschmelzen (Brandgefahr) des dünnen Abschirmungsgeflechts eines EDV-Kabels führen kann. Schutzleiterverbindungen können ihre Schutzfunktion nur dann bestimmungsgemäß erfüllen, wenn sie in der Lage sind, den Fehlerstrom zu führen, der von einem Versagen der Basisisolierung herrührt. Ein solcher Strom muss über eine ausreichende Amplitude verfügen, um die Auslösung von vorgeschalteten Schutzvorrichtungen in der elektrischen Installation (Sicherungen, Schutzschalter, Erdschlussschutzschalter und dergleichen) innerhalb einer angemessen kurzen Zeit herbeizuführen. Um dies sicherzustellen, ist es erforderlich, sowohl die Impedanz als auch die Stromleitfähigkeit der Schutzleiterverbindungen zu prüfen. Bild 4.9 zeigt den rauen, leitungsbrechenden Umgang mit Netzleitungen. Die straffe Aufwicklung kann u. a. den Schutzleiter brechen, sodass er nicht mehr funktionsfähig ist. Bild 4.10 zeigt, wie Schutzleiterverbindungen durch Oxidation einen zu hohen Widerstand aufweisen können. Bei festangeschlossenen ME-Geräten darf der Widerstand zwischen dem Schutzleiteranschluss und jedem anderen schutzleiterverbundenen berührbaren metallischen Teil 100 mΩ nicht überschreiten. Bei ME-Geräten mit einem Gerätestecker darf der Widerstand zwischen dem Schutzleiter-Kontakt im Gerätestecker und jedem anderen schutzleiterverbundenen berührbaren metallischen Teil 100 mΩ nicht überschreiten. Bei ME-Geräten mit einer nichtabnehmbaren Netzanschlussleitung darf der Widerstand zwischen dem Schutzkontakt im Netzstecker und jedem anderen schutzleiterverbundenen berührbaren metallischen Teil 200 mΩ nicht überschreiten. 78 4.2 DIN EN 60601-1 Bild 4.9: Leitungsbelastung mit möglichem Bruch der Kupferadern Bild 4.10: Oxidierter Schutzleiteranschluss am Gehäuse 79 4 Elektrische Sicherheit in der Medizintechnik Bild 4.11: Gerät Schutzklasse I mit Buchse und Gerätestecker einer Kaltgeräteleitung Um diese Anforderungen zu prüfen, wird ein Prüfstrom von 25 A oder dem 1,5-fachen Bemessungsstrom des betreffenden Schaltungskreises mit einer Leerlaufspannung von höchstens 6 V von dem Schutzleiteranschluss, dem Schutzkontakt im Gerätestecker oder dem Schutzleiterkontakt des Netzsteckers zu jedem schutzleiterverbundenen Teil geführt. Schutzklasse II ohne Schutzleiter Geräte der Schutzklasse II sind durch ein Doppelquadrat gekennzeichnet. Bild 4.12 zeigt das Symbol der Schutzklasse II, das am jeweiligen Medizinprodukt angebracht ist. Ein derartiges Medizinprodukt zeichnet sich durch eine doppelte Isolation der netzspannungsführenden Teile aus. Ein dauerhaftes und im Wesentlichen geschlossenes Gehäuse aus Isolierstoff umschließt alle leitfähigen Teile, ausgenommen Kleinteile, wie beschriftete Schilder, Schrauben und Nieten, die von den spannungsführenden Teilen durch eine Isolierung getrennt sind. Diese Geräte sind nicht an den Schutzleiter angeschlossen und dürfen auch nicht damit verbunden werden, beispielsweise beim Auswechseln der Netzleitung. 80 4.2 DIN EN 60601-1 Bild 4.12: Symbol der Schutzklasse II Da bei aktiven Medizinprodukten der Schutzklasse II der natürliche Ableitstrom nicht über einen Schutzleiter fließen kann, sondern über die Person, die das Produkt berührt, lassen die Bestimmungen der DIN EN 60601-1 für Geräte der Schutzklasse II nur sehr niedrige Ableitströme zu (siehe folgende Abschnitte). Anschluss dreiadrige Leitung mit Schutzleiter an ein Gerät der Schutzklasse II Wie ist die Situation zu bewerten, wenn ein Schutzklasse-II-Gerät mit einem Kaltgerätestecker bzw. Buchse ausgestattet ist? Ist dies konstruktiv nach DIN EN 606011 überhaupt zulässig bzw. sinnvoll? Es gibt normalerweise kein Problem, eine dreiadrige Zuleitung an ein SchutzklasseII-Gerät anzuschließen, wenn sichergestellt ist, dass der Schutzleiter steckerseitig und geräteseitig nicht angeschlossen und das Gerät deutlich als Schutzklasse-II-Produkt gekennzeichnet ist. Dies widerspricht nicht der DIN EN 60601-1. Der Grund dafür liegt allein in der mechanischen Stabilität einer dreiadrigen Leitung. Eine zweipolige Leitung kann sehr schnell mechanisch beschädigt werden, die dreiadrige Leitung ist wesentlich stabiler. Ein mitgeführter, wenn auch nicht aktiver Schutzleiter erhöht die Sicherheit. Geräte der Schutzklasse III Unter die Schutzklasse III fallen Geräte, die aus einem Versorgungsnetz mit maximal 24 V betrieben werden. Diese Spannung wird als Schutzkleinspannung bezeichnet und findet sehr selten Anwendung, z. B. bei Patientenlampen, OP-Lampen usw. Wegen der geringen Bedeutung und Verbreitung dieser Schutzklasse gibt es Bestrebungen, sie entfallen zu lassen. Hinweis: Über Steckernetzteile mit Kleinspannung betriebene Geräte sind keine Schutzklasse-III-Geräte! 81