Ethische Brennpunkte: Leiden

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Umgang mit Schmerz und Leid aus philosophischer Sicht
Clemens Sedmak (22. Juni 2008)
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Drei Beispiele
Ruth Picardie: „Es wird mir fehlen, das Leben“; 33jährige Mutter von Zwillingen erkrankt an
Krebs und muss Abschied nehmen – Ruth Picardies Einsichten: „Es tut gut, Freunde zu
haben, die selber krank sind“; es ist die Krankheit eines Menschen aus Fleisch und Blut (der
noch Freude an schönen Kleidern, schönem Makeup hat…) und nicht die Krankheit eines
Engels, der schon mit einem Fuße in der anderen Welt stünde; „Krebsopfertest“ – wie gehen
Menschen mit ihrer Krankheit um? (Schweigen, Überspielen, religiöser Eifer…); bester Arzt
– ein Dr. Miles, „der am wenigsten leutselig“ war
Michael Schoophaus: „Im Himmel warten Bäume auf dich“; deutscher Journalist, der seinen
kleinen Sohn Jakob an Krebs verloren hat; negative Erfahrungen: die unnahbare
Krankenschwester mit den schönen Fingernägeln; der gelangweilte Arzt, der mehr an
Forschung als an Menschen interessiert war; ein „Mr. Wichtig“, der sich in den Vordergrund
schob; „Eltern sind krebskranken Kindern sind die größten Egoisten“ – haben wenig
Verständnis und Geduld… bester Arzt: ein Mann „völlig ohne Eitelkeiten“
Tiziano Terzano: „Noch eine Runde auf dem Karussell“; italienischer Journalist. „Spiegel“Korrespondent in Asien; Bild vom Leben als Karussellfahrt; nach Krebsdiagnose sich
erstmals „als reine Materie erlebt“ (Auto in Reparaturwerkstatt); das das Notwendige
konzentrieren – Krebserkrankung als „Schutzwall gegen Banalitäten“ – Freiheit: sich
niemandem verpflichtet fühlen müssen; „namenlos“ werden dürfen (als einer, der sein Leben
lang sich einen Namen machen wollte)
1. Leiden und Kranheit
* Leiden als Erfahrung von Einschränkung und Unberechenbarkeit, Passivität und
Geformt/Verändertwerden; Fragmentierung und Entfremdung; verändertes „Bilanzbuch des
Lebens“ (vom Haben zum Soll, von Autonomie zu Abhängigkeit); Leben mit Schmerz
(Schmerz: unerwünschte, „pervasive“, d.h. alles durchdringende Conditio - Schmerzen mit
ihrer Dringlichkeit („pain insists upon being attended to“)
* Krankheit: Krankheitserfahrung: als Erfahrung von Orientierungsverlust und Ratlosigkeit;
als Erfahrung von Weltverlust und Einbuße des Alltags; als Vertrauensverlust (Verlust des
Vertrauens in den eigenen Körper, in die eigene Welt - Begriff „Trauma“: Trauma als eine
Erfahrung, die das Eingehen von vertrauensvollen Beziehungen bedroht, erschwert oder gar
zerstört; Kinder und Krankheitswege); Bilder und Metaphern für Krankheiten und Kranksein:
Feind (vgl. die vielen Kriegsmetaphern in der Medizin); Flucht und Strategie; Strafe und
Abzahlen von Schuld; Wert und Freund - vom gewählten Bild hängt viel in Bezug auf den
Umgang ab
* soziale Dimension: Leiden hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale
Dimension – man könnte etwas als Lackmustest für die ethische Qualität einer Gesellschaft
die Frage ansehen: Wie geht diese Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern um, vor
allem also mit den Menschen, die leiden?
Entscheidend ist auch die Frage nach dem Verständnis von Gesellschaft – ist eine
Gesellschaft als Leistungsgemeinschaft zu definieren oder als Schicksalsgemeinschft (vgl.
Assmann und die „Erinnerungsgemeinschaft“ – keine Opferkonkurrenz und keine
Schuldaufrechnung; auch wichtig für eine Gesellschaft)
2. Umgang mit Leiden
* Ethik des Leidens (auch Ethik des Schicksalhaften, Ethik jenseits der
Handlungskategorien); die Kategorie des „rechten Leidens“ scheint wichtig, aber gleichzeitig
riskant: sie scheint wichtig zu sein, weil es Einstellungen gibt, die leidende Menschen
beeinflussen können (Viktor Frankl!); weil es auch einen Handlungsspielraum gibt, den
leidende Menschen nutzen sollen; weil es einen Unterschied macht, wie Menschen im Leiden
leben, damit umgehen, welche Einstellung sie entwickeln; gleichzeitig scheint die Kategorie
des rechten Leidens riskant, weil a) die Gefahr der Moralisierung droht; b) die Gefahr einer
Juridisierung besteht, die Gefahr also, hier eine Sprache von „Rechten“ und „Pflichten“
einzuführen – wie das in der Euthanasie/Autonomiediskussion (autonom über Zeitpunkt des
eigenen Todes entscheiden dürfen) häufig geschieht – beide Momente (das Moralische und
das Rechtliche) sind notwendig und wichtig, können aber auch viel zerstören, vor allem wenn
der Rechtsdiskurs leitend wird; „rechtes Leiden“ hängt mit der Einstellung/Haltung
zusammen – gelingt es mir, das Leiden in einen größeren Zusammenhang einzubetten und
mehr zu sehen als nur mein Leiden?
* Tugenden einer Patientin/eines Patienten (Patient/in-Sein bedeutet: Einbuße von
Konsumsouveränität; „Warten“ („an der Schwelle stehen“ – Simone Weil); Tugenden der
„humilitas“ (Demut: Dinge annehmen können, wie sie sind; Realismus, mit den Füßen am
Boden, am „humus“, Abschied nehmen können); „Patientia“ (Geduld: Duldsamkeit; etwas an
sich geschehen lassen können, sich einem anderen Rhythmus anpassen können); und der
„Fortitudo“ („Tapferkeit“; „Widerstandskraft; Realismus)
* geschützter Raum, der Sicherheit bietet: es bedarf des Versuchs, an Normalität anzuknüpfen
und wieder Alltag zu etablieren; es bedarf in diesem geschützten Raum gewisser
Grundhaltungen – eine amerikanische Studie unter Patientinnen und Patienten mit der Frage,
welchen Umgang sie als leidende wünschen, hat folgende Hinweise gebracht: nimm dir Zeit
und lass dir Zeit, wenn du mit mir umgehst! Streng dich an und bemühe dich um
Aufmerksamkeit! Behandle mich als Person und Mensch und nicht als Routinefall! Sei
realistisch und mach keine leeren Versprechungen! Sprich mit mir über meinen Schmerz!
Bleibe ruhig! Ignoriere mich und meinen Schmerz nicht! Verurteile mich nicht, wenn ich
Zeichen von Selbstmitleid zeige!
* Umgang mit Leiden: „verflüssigen“ (an möglichen Welten bauen mithilfe der
Vorstellungskraft – auch auf das schauen, was intakt ist; soziale Welt nicht aufgeben – sich
für andere Menschen interessieren; auch Willensakte setzen – für andere Menschen beten, an
andere Menschen denken) und „befestigen“ (der Krankheit Raum, Ruhe, Zeit und Stabilität zu
geben; im Gebet nach dem festen Fundament des Lebens ausholen; sich Ziele setzen)
3. Zwei theologische Bemerkungen
* Krankheit als Exilserfahrung und die Lektionen von Jer 29 (Brief an das Volk im Exil!) –
Botschaft: Heimat finden im Exil und gerade dort wachsen
* Das Leiden Jesu: Jesus sagt uns durch das Zeugnis seines Lebens viel über das rechte
Leiden: hat den Mut, „Ich“ zu sagen auch im Leiden (behält Identität; bricht nicht mit
Geschichte und Vergangenheit); zieht nicht andere in sein Leiden hinein; heilt mitten im
Leiden (Ohr des Malchus); besondere Autorität des Leidenden (Jesus vertraut seine Mutter
dem Johannes an)
Schlussbemerkung: Lieben und Leiden
Zusammenhang zwischen „erleiden“ und „lieben“ – das, was gekostet hat, erlitten wurde, hat
besonderen Wert, besondere Kostbarkeit (im Sinne eines „Anstrengungsglücks“, eines
Glücks, das nach bewältigter Anstrengung erfahren wird); in Augenblicken einer
Verkleinerung des „Ego“, wie es im Leiden geschieht, kann in besonderer Weise die
Persönlichkeit wachsen (was der Liebe entspricht)
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