Dr. Christina Jones-Pauly Islamisches Recht und die Internationale Rechtsordnung: Von Begegnungen und Herausforderungen (Vortrag, Zürich, Juni 2003) Ich rede heute Abend über ein Thema, was mir auch große Freude macht – Islamisches Recht. Ich bin im Schatten der muslimischen Feministen von Bhopal, Zentral Indiens groß geworden. Bhopal war ein muslimisches Fürstentum, 150 Jahre lang bis 1930 von muslimischen Frauen regiert. Leider ist das Interesse im Westen an Islam und islamisches Recht gewachsen besonders wegen den besonderen tragischen Umständen in New York am 9. 11. Was an diesem tragischen Tag geschehen ist hat eine Vorgeschichte, aber wir in den westlichen Ländern waren davon nicht so unmittelbar betroffen, mindestens so dachten wir. Ich beziehe mich hier auf zwei Ereignisse aus den 70er Jahren. Das eine ist die Gründung einer militanten Gruppe in Ägypten, der Al-takfir wal’l hijra, durch Shukri Mustafa im Jahre 1971, während der Regierungszeit von Präsident Sadat. Diese Gruppe von Muslimen betrachtete ihre Glaubensbrüder und - Schwester in Ägypten als Ungläubige, weil deren Staatsoberhäupter nicht dem Islam entsprechend regierten, und verglich diese Staatsoberhäupter mit den Herrschern aus der frühmittelalterlichen Zeit des Unwissens, die vor dem Heraufkommen des Islams lag. Besagte Gruppe rief die Muslimen zum Exodus aus dem unislamischen Staat, zur Hijra, auf – genauso wie Mohammed es in der Anfangszeit des Islams getan hatte. Die Hijra war dazu gedacht, Kräfte zu sammeln und dann eine Jihad gegen die muslimischen Ungläubigen zu führen und sie zum Islam rückzukonvertieren. Als Resultat wurde den Mitgliedern dieser 1 Gruppe die Arbeit bei staatlichen Stellen verboten. Um ihre eingekerkerten Mitglieder freizukaufen, nahm die Al-takfir wal’l hijra Gruppe einen ägyptischen Minister gefangen und tötete ihn dann. Der ägyptische Staat reagierte aufgebracht und richtete den Anführer der Gruppe in den späten 70er Jahren hin. Dies geschah kaum zwei Jahre vor dem nächsten wichtigen Ereignis: dem Fall des Schahs von Persien/Iran im Jahr 1979, was eine Wende im islamischen Selbstbewusstsein mit sich brachte. Das Khomeiniregime löste das Schahregime ab und brachte eine neue Theorie der islamischen Staatsbildung hervor. Kurz gesagt, Khomeinis neues Konzept verlangte nach einem souveränen Staat, der vom Völkerrecht als legitimer Staat anerkannt ist aber von Klerikern regiert wird. Viele IslamwissenschaftlerInnen stellten dieses Ereignis als eine wahre Revolution innerhalb der islamischen Rechtswissenschaft dar. Warum? Weil die politische, staatsregierende Macht in den muslimischen Gesellschaften der Welt bislang nur in den Händen der nicht klerikalen Klassen geruht hatte. Die Kleriker hatten sich deren Dominanz unterworfen. Khomeini war nicht ohne ernsthafte Opposition aus den eigenen Reihen. Der berühmte Kleriker und Rechtswissenschaftler Shari’atmadari lehnte das Wilayat al faqih, einen von Klerikern regierten Staat oder Herrschaft der Rechtsgelehrten, ab. Er befürwortete eine begrenzte Rolle der Kleriker als Mitglieder eines Rats, der die Vereinbarkeit jedes staatlichen Gesetzes mit dem klassischen islamischen Recht überprüfen sollte, sehr ähnlich wie in Pakistan und Ägypten. Aber Khomeini setzte seine viel weiter gehenden Ideen durch. Der Islam, laut seinen öffentlichen Reden, bot einen dritten ideologischen Weg, der zwischen den beiden damals im Kalten Krieg befindlichen Mächten lag – zwischen Kapitalisten und Kommunisten. In diesem Sinne meinte auch Ali Shariati, einer der Strategen der iranischen Revolution, daß der Islam eine klassenlose Gesellschaft anbiete, ohne aber Verschwinden des Staats. 2 Trotz der Rhetorik kann, meiner Meinung nach, die Revolution Khomeinis als eine Anpassung an die westlich geprägte Weltrechtsordnung betrachtet werden. Erstens, weil die Revolution mit dem Staat als völkerrechtlichem Organisationsprinzip konform ist. Zweitens, weil die Aufteilung der Staatsgewalt in Exekutive, Legislative und Judikative im Verfassungsrahmen verankert ist – wenigstens theoretisch. Dies stimmt mit den Normen des Völkerrechts überein. Dagegen schlossen die regierenden Taliban in Afghanistan diese verfassungsmäßigen Garantien des Gleichgewichts der Gewalten nicht mit ein, als sie den Versuch unternahmen, sich in Übereinstimmung mit den Richtlinien von Khomeinis revolutionärem Staat zu strukturieren. Mit anderen Worten, die islamische Revolution im Iran wurde von einer mit allen zugehörigen Formalitäten ausgestatteten Rechtsstaatlichkeit begleitet. Darüber hinaus dürfen Frauen als Abgeordnete und sogar als Präsident kandidieren. Allerdings gibt es in dem revolutinaeren iranischen System einen Makel. Wie ich schon sagte, die formale Struktur der Verfassung entspricht theoretisch den demokratischen Prinzipien der Weltrechtsordnung. Aber ganz an der Spitze dieser Struktur befinden sich zwei Amtsorgane – das Religiöse Oberhaupt, damals Khomeini, und der Wächterrat. Die Männer in diesen Positionen sind auf Lebenszeit ernannt und vereinen Funktionen der Exekutive, Legislative und Judikative. Sie haben das Vetorecht über jede parlamentarische Gesetzgebung. Wie die letzten Kommunalwahlen aus dem Jahr 2002 zeigen, ist die iranische Wählerschaft mit dieser Elitegruppe sehr unzufrieden. Die Wahlbeteiligung ist 2002 drastisch gesunken. Was ich hier sagen will, ist, daß es in der iranischen Verfassung genügend Strukturen gibt um den Iranern zu erlauben, in einer vollständigen Demokratie im Einklang mit der Weltrechtsordnung zu leben. 3 Aber kehren wir zum Verlauf von Khomeinis islamischer Rechtsrevolution und ihrer Konfrontation mit dem internationalen Rechtssystem zurück. Es dauerte nicht lange, bis die Revolution Khomeinis mit den internationalen Normen im Bereich der Menschenrechte in Konflikt geriet. Wir erinnern uns sicher an die erste Krise. Es war eine von Khomeini nach dem Iraq-Iran Krieg im Jahre 1989 verkündete Fatwa gegen Salman Rushdie in London, wegen seines Buches Die Satanischen Verse. Khomeini faßte das Buch als eine Beleidigung der islamischen Religion auf, als eine Blasphemie, eine strafbare Verhandlung. Die westliche Welt war entsetzt. Die Fatwa rief alle Muslimen, egal im welchem Land, egal welcher Staatsangehörigkeit, auf, Rushdies Kopf vor die Tore Teherans zu bringen, ohne vorheriges Gerichtsverfahren, ohne Achtung vor dem Menschenrecht auf Redefreiheit. In Übereinstimmung mit seinen ideologischen Bemühungen, den Islam als eine Alternative zur Ideologie des Kalten Krieges von Ost und West darzustellen, präsentierte Khomeini den Islam praktisch als eine Weltrechtsgemeinschaft, die in der westlichen Presse als Konkurrenz zur nicht religiös, sondern eher territorial organisierten Weltrechtsgemeinschaft angesehen wurde. Wie einer von meinen Kollegen in seiner Habilitationsrede die Feindseligkeit zwischen Ottomanen und Europäern mit dem Kalten Krieg zwischen den kommunistischen Russen und den NATO-Verbündeten analogisierte, erlaube ich mir einen ähnlichen Vergleich. Die klassische kommunistische Theorie sieht mit der Herrschaft der Arbeiterklasse über alle das Verschwinden des Staates, das Ende des Territorialitätsprinzips heraufkommen. Alle Arbeiter sollen sich vereinigen. Mit Khomeinis Islam ist es ähnlich. Alle Muslimen sollen sich vereinigen. Dies ist 4 eine Herausforderung an andere Religionen, die das Prinzip der Staatsloyalität, der Familienloyalität oder der ethnischen Loyalität bevorzugen. Interessanterweise hat Khomeini noch einmal ein Grundkonzept vom Völkerrecht geborgt und es auf eine islamische Art und Weise angewendet – das Prinzip der Extraterritorialität. D.h. ein Staat darf seine eigenen Staatsangehörigen oder BürgerInnen für deren Taten im souveränen Territorium eines Auslandes strafbar machen – als reale Personen oder als juristische Personen wie z. B. Körperschaften – obwohl dieselbe Tat im jeweiligen Ausland nicht als strafbar eingestuft ist. Khomeini nahm alle Muslimen als Angehörige einer Weltreligions- Rechtsgemeinschaft auf, nämlich des Islams. Rushdie als Moslem gehört dieser Auffassung nach zur islamischen Rechtsgemeinschaft. Ich möchte hier nicht auf die Frage eingehen, ob Khomeini dazu berechtigt wäre, sich Rechtsautorität zur Festlegung und Anwendung der islamischen Bestimmungen gegen Blasphemie anzumassen. Ich möchte hier nur den internationalrechtlich konzipierten Rahmen betrachten/betonen, in dem Khomeini die Ausdehnung des islamischen Rechtssystems in ein internationales Rechtssystem inszenierte. Es ist wahr, daß die Fatwa, rechtlich gesehen, weder im islamischen Verfahrensrecht noch im Völkerrecht eine Grundlage hatte. Ein Gelehrter der Al Azhar Moschee in Kairo, Hossein ad Din, veröffentlichte eine zur Fatwa Khomeinis in Opposition stehende Meinung. Im islamischen Recht ist Blasphemie strafbar, aber der Angeklagte hat ein Recht auf Gehör vor einem Gericht, darf die Befangenheit der Zeugen als Entlastungsgrund vortragen und hat in manchen Fällen ein Recht auf Reue. In diesem Fall wurden dem angeklagten Rushdie all diese Rechte überhaupt nicht gewährt. Khomeini als gelernter Jurist hätte das 5 wissen müssen. Rechtlich gesehen war die Fatwa ein kolossaler rechtlicher Fehltritt. Aber politisch-rechtlich gesehen stellte die Fatwa eine bislang unerhörte Herausforderung dar, besonders an die westeuropäischen Auffassungen zum Verhältnis zwischen Staat und Religion und an das Territorialitätsprinzip des internationalen Rechtssystems. Um diesen Rechtsfehler zu korrigieren, brachten die Muslimen 1991 in britischen Gerichtshöfen eine Klage zwecks Erreichung einer angemessenen gerichtlichen Anhörung vor. Sie wollten eine gerichtliche Verordnung erreichen, nach der das Buch Satanische Verse nach englischer Rechtsprechung gotteslästerlich sei. Die britischen Gerichtshöfe haben die Klage abgewiesen, aber nicht mit der Begründung, Blasphemie sei kein Rechtsverstoß im englischen „common law“. Es ist ein Rechtsverstoß, ebenso wie in der islamischen Gesetzgebung, obgleich die Strafe unterschiedlich ausfällt. Auch in Deutschland ist die Beleidigung einer etablierten Religion eine strafbare Handlung. Ich kenne einen Fall in Göttingen, im Norden Deutschlands, wo ich lange Zeit lebte, in dem eine Frau wegen Beleidigung der Kirche eine Geldstrafe von mehreren hundert Mark erhielt – sie hatte auf dem Marktplatz öffentlich gegen die Verfolgung von Frauen durch die katholische Kirche protestiert. In Paragraph 166 des Deutschen Strafgesetzbuchs heißt es unter der Rubrik Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen: (1) Wer öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 6 Laut Rechtssprechung kann eigentlich nur die christliche Gemeinschaft als solche anklagen, nicht aber eine Einzelperson. Solange die Muslimen keine vom Staat anerkannte Körperschaft/Gemeinschaft bilden, bleibt es fraglich, ob sie als legitime Ankläger gelten. Das schweizerische Strafgesetzbuch auch macht Blasphemie strafbar. Das Problem, dem sich das britische Gericht gegenübersah, als es versuchte, den muslimischen Klägern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war, daß das englische Gewohnheitsrecht nur Beleidigungen gegen das Christentum umfaßt. Die Gerichtshöfe waren nicht bereit, das Prinzip des „common law“ (englisches Gewohnheitsrecht) auf den Islam auszudehnen. Seit dem Fall Rushdie hat das britische Parlament jedoch ein Gesetz verabschiedet, nach dem gewalttätige Angriffe aus religiösen Motiven bestraft werden, und dadurch wird allen Religionen gegenüber ein gewisser Schutz erbracht. Dieser Mangel an Inklusivität, oder, anders ausgedrückt, diese Ausgrenzung einer der Weltreligionen, die eng mit dem Christentum verwandt ist, diente nur dazu Öl ins Feuer zu gießen. Sie ließ es zu, daß die Auseinandersetzung zwischen zwei Auffassungen von internationalen Rechtssystemen fortdauerte. Das hätte aber vermieden werden können. Tatsächlich gab der Westen Khomeini Gelegenheit zur weiteren Inszenierung dieser Auseinandersetzung. Den Prozeß, den die Muslimen in Großbritannien gegen die Satanischen Verse führten, war in der Tat ein Aufschrei, daß im westeuropäischen System dem Islam keine Gerechtigkeit verschafft werden könne, daß das westeuropäischen System seinem eigenen Maßstab der Gleichheit aller Religionen nicht gerecht werden könne. Ebenso wie Mahatma Gandhi das europäische Recht der NichtDiskriminierung und Selbstbestimmung zum Kampf gegen die europäische 7 Beherrschung benutzte, versuchte Khomeini das gleiche, jedoch mit weit gefährlicheren Ergebnissen und Mißverständnissen. Wären die britischen Gerichte bereit gewesen, die Gesetzgebung zur Gotteslästerung auf den Islam auszudehnen, dann hätten sie islamische Prämissen erörtern und sich mit islamischer Empfindlichkeiten/Gefühlswelt auseinandersetzen müssen. Das hätte ein gutes Beispiel für die moslemische Welt gegeben, wo die gleiche Diskussion im Zusammenhang mit nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften stattfinden muß. Der Ärger geht weiter. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zweimal künstlerische Darbietungen wegen Blasphemie gegenüber der christlichen Kirche, insbesondere der katholischen Kirche, verboten. Im Fall des Otto Preminger Instituts für Audiovisuelle Mediengestaltung (OPI) gegen Österreich rief der Film Das Liebeskonzil im vorherrschend katholischen Tirol Ausbrüche von Gewalt hervor. Das Aufführungsverbot seitens der Regierung wurde vom Menschenrechtsgericht 1994 unterstützt. Drei Richter waren abweichender Meinung. Sie vertraten die Auffassung, daß, wenn der Staat sich den Anschein gibt, die Interessen einer mächtigen gesellschaftlichen Gruppierung zu schützen, er die Gewalttätigkeit und religiöse Intoleranz nur fördert. 1996 dann, in Wingrove gegen das Vereinigten Königreich, erkannte der Menschenrechtsgerichtshof das von der britischen Regierung erstellte Aufführungsverbot für Visions of Extasy an, einen Videofilm über die Fantasien der Heiligen Therese von Avila in bezug auf Christus. Der Gerichtshof befand, der Film verginge sich an den Gefühlen von Christen hinsichtlich der Göttlichkeit von Christus. Es sei eine anstößige Darstellung von Christus. Zwei Richter waren abweichender Meinung. 8 Sicherlich hätte man bei der Klage, die von Muslimen in Großbritannien gegen die Satanischen Verse vorgebracht wurde, einwenden können, daß das Buch nicht die Schwelle der Lächerlichmachung des Islams oder des Propheten überschreite, so wie es kürzlich in Südafrika bei einer Beschwerde gegen das Bühnenstück Jesus Christ Superstar geschah. Aber das ist nicht mein Kernpunkt. Der Kernpunkt ist, daß das britische Recht nicht den Schutz muslimischer Gefühlswelt erlaubt. Dieses Recht diskriminiert immer noch. Das erinnert an die Demütigung von islamischen Juristen in früheren Arbitrationsprozessen/Schlichtungsprozessen bei Konflikten, die in den 50er und 60er Jahren zwischen Ölgesellschaften und gewissen arabischen Regierungen aufgetretenen waren. Die europäischen Schlichter brandmarkten das islamische Recht ausdrücklich als für geschäftliche Entscheidungen zu barbarisch und primitiv. Obwohl diese Schlichter nichts über islamisches Recht wußten, verurteilten sie es dennoch. Der Antagonismus zwischen Muslimen und Europäern hat eine lange Geschichte. In einem sehr wichtigen englischen Urteil aus dem Jahre 1608, dem Urteil im Fall Le Cas Tanistry zur Definition einer rechtmäßigen Gewohnheit, welches noch heute angeführt wird, sagten die Richter, daß das englische Recht nicht der Gewalt des Herrschers ausgeliefert ist. Ich zitiere: „Der englische Herrscher ist kein Tyrann wie die Herrscher der Türkei oder von Moskau.“ In Frankreich lernt jedes Kind die Geschichte vom tapferen Roland, der die Invasion Frankreichs durch die Muselmanen aufhielt, und jedes arabische Kind erfährt von den byzantinischen Kreuzfahrern, die 962 Aleppo plünderten und 10000 muslimischen Kinder versklavten. Wer kennt nicht das alte Kinderlied aus dem 18. Jahrhundert: 9 „C-A-F-F-E-E, trink' nicht soviel Kaffee. Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselman, der das nicht lassen kann." Heutzutage konzentriert sich der Antagonismus zwischen islamischem Recht und internationalem Recht auf die Rechte der Frauen, das Recht zu konvertieren und das Strafrecht. Die internationalen Normen für Frauenrechte stehen in der Konvention gegen jegliche Diskriminierung gegen Frauen. Viele muslimische Länder haben die Konvention ohne Einschränkung unterzeichnet. Viele haben es mit Einschränkung unterzeichnet, weil ihre Version von islamischem Recht eine Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz nicht gewährleistet. Die Anwendung der Todesstrafe gegenüber ehebrecherischen Männern und Frauen im von den Taliban regierten Afghanistan und in Nord-Nigeria sowie SaudiArabien hat internationale Proteste ausgelöst. Das Problem liegt eigentlich nicht beim islamischen Recht an sich. Denn genau wie jeder andere Text auch, kann der Koran in einer Weise interpretiert werden, daß die Frauenrechte erweitert oder eingeschränkt werden. Der Koran enthält das Grundprinzip der Gleichheit von Männern und Frauen hinsichtlich religiöser Rechte und Pflichten. Ausgehend von diesem Grundprinzip können Juristen gleiche Rechte in nicht-religiösen Bereichen herbeiführen. Tunesien ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Selbst im Iran wurde das Prinzip des Gemeinwohls angewendet, um der Durchführung der Steinigung von Ehebrechern ein Ende zu setzen. Eine private Videoaufzeichung einer solchen Hinrichtung war in der Öffentlichkeit gezeigt worden. Khomeini reagierte darauf nicht mit Zorn, sondern mit einer Anordnung, die Hinrichtungen zu stoppen, weil 10 sie das Image des Islams trübten. Selbst heute veröffentlichen führende religiöse Rechtsgelehrte ohne Scheu Abhandlungen, in denen sie gegen die Todesstrafe für das Konvertieren zu nicht-muslimischen Religionen argumentieren. Eine solche Bestrafung, geben diese Abhandlungen zu bedenken, verletzen das Grundprinzip des islamischen Rechts und des Korans, demzufolge die Religion frei von Zwang ist. Ich zitiere aus dem Koran Sura 2: Verse 256 und 257: 256: „In der Religion gibt es keinen Zwang. Der rechte Weg ist von dem des Irrtums abgegrenzt.... 257: Allah ist der Beschuetzer derjenigen, die glauben...“ Wieder einmal sind einige der nationalen Gerichtshöfe in Europa bei der Anwendung islamischen Rechts in Fällen, wo es um Bürger islamischer Länder ging, widersprüchliche Wege gegangen. Nach deutscher Rechtsprechung, die ich am besten kenne, ist das frauendiskriminierende islamische Scheidungsrecht von den meisten Gerichten als nicht gegen die Grundnorm oder ordre public verstossend deklariert worden. Ich weiß nur von einem einzigen Urteil – gefällt von einem Richter weiblichen Geschlechts – das die Weigerung aussprach, das islamische Scheidungsrecht anzuwenden, mit der Begründung, es verletze die deutsche Grundnorm der Gleichheit. Wenn das islamische Recht aus derartigen Gründen kritisiert wird, sollten wir daran denken fair zu sein. Andere Hauptreligionen sind gleichermaßen unfreundlich gegenüber dem Frauenrecht. Außerdem gibt es in einigen europäischen Staaten eine starke Verbindung zwischen Staat und Religion. Deutschland ist ein Paradebeispiel. Auf internationalen Ebene gibt es eine internationale Feministengruppe (Internationales Zentrum für 11 Reproduktionsrechte/Fortpflanzungsrechte), die jetzt danach ruft, den Beobachterstatus des Vatikanstaats bei den Vereinten Nationen abzuschaffen. Ihr Argument ist, daß der Vatikan als eine gewöhnliche Nicht-Regierungsorganisation behandelt werden sollte. In den Vereinigten Staaten gibt es zu Zeit eine Debatte darüber, ob die Regierung an religiöse Organisationen, die Einzelpersonen Behandlung von Drogen- oder Alkoholsucht anbieten, Zahlungen vornehmen lassen sollte. Die Debatte dreht sich um die Tatsache, daß gewisse christliche Organisationen Frauen die Gleichberechtigung verweigern, beispielsweise die katholische Kirche, die keine weiblichen Priester erlaubt und das Zölibat fordert, was dem Grundrecht auf eheliche Verbindung entgegensteht. Die finanzielle Verbindung zwischen Staat und Religion ist zwar in Frankreich und den Vereinigten Staaten problematisch, aber in Deutschland wirft es kein rechtliches Problem auf. Im sekulären Bereich gibt es sogar Diskriminierungen. Zum Beispeil haben die deutschen Gerichtshöfe Familien aus dem Hochadel erlaubt, ihr eigenes Erbrecht durchzusetzen, das gegen Beerbung durch Frauen gerichtet ist — der älteste Sohn ist alleiniger Erbe -- und gegen das Recht, eine/n nicht Adelige/n zu heiraten, was vollkommen gegen internationale Maßstäbe verstößt. Ich möchte keinerlei religiöse oder persönliche Gefühle in der Zuhörerschaft verletzen. Ich möchte nur klarstellen, daß, wenn wir beginnen Steine nach dem Islam zu werfen, wir gleichzeitig den Balken aus unserem eigenen Auge entfernen sollten. Ein entscheidender, von der Revolution Khomeinis vorgebrachter Unterschied zu den anderen religiösen Rechtssystemen liegt in der Darstellung islamischen Rechts als einem dem Völkerrecht ebenbürtigen Weltrechtssystem. Khomeini verlieh ihm die Macht eines Staatsgesetzes. Das wirft nicht nur ein Dilemma für das 12 gegenwärtige Konzept des Völkerrechts auf, sondern auch für islamisches Recht. Das islamische Recht gründet sich auf Offenbarung. Wie vorher erwähnt, erkennt der Islam das Prinzip „Kein Zwang im Glauben“ an. Sobald der Islam als ein Staatsgesetz behandelt wird, transformiert er sich in ein System, das Gewalt ausübt – was im Gegensatz steht zum Grundsatz, daß Religion frei ist von Zwang. Im Islam gibt es nichts, das die Aufnahme islamischen Rechts als einer Anordnung sozialer und moralischer Werte in das Staatsgesetz verhindert. Andernfalls gibt es ein Dilemma, das unter islamischen Juristen noch umfassender diskutiert werden muß. Das heißt, wenn Religion frei von Zwang ist, und wenn es keine Todesstrafe für das Konvertieren geben kann – was soll man/frau tun, wenn ein einzelner Muslim(in), egal welcher Staatsangehörigkeit, nicht länger islamischem Recht unterworfen sein möchte? Die leichteste Weise, der Anwendung islamischen Rechts als Staatsgesetz zu entkommen, ist, die Religion durch Konvertieren zu verlassen oder zu behaupten, man sei kein ausübender Muslim(in). In Pakistan zum Beispiel ist ein/e Christ/in, der/die des Ehebruchs mit einem Muslim(in) schuldig befunden wird, von der Todesstrafe befreit, der/die muslimische Partner/in jedoch nicht. Nach dem Völkerrecht können wir als Bürger eines beliebigen Staates unsere Staatsangehörigkeit wechseln und von daher das Recht, dem wir unterworfen sind, aber ein solcher Wechsel erfordert mehr Zeit und Energie als ein Religionswechsel. Was ist nun der Ausweg aus diesen Zwiespälten – aus der in den Gesetzen zur Blasphemie enthalten Diskriminierung, aus den Widersprüchen hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Religion in größeren europäischen Staaten? Der Islam hält den westlichen Gepflogenheiten einen Spiegel entgegen und fordert sie heraus. Der Westen tut dem Islam gegenüber dasselbe. 13 Wir müssen also fragen, was haben die Gegenspieler gemeinsam? Wir haben gesehen, daß es in Handel und Verkehr viel Zusammenarbeit gibt. Islamisches Recht wird nicht länger als barbarisch verurteilt. Der Iran schickt junge weibliche Juristen an den International Court of Arbitration [Internationalen Schiedsgerichtshof] in Den Haag, um für die iranische Regierung zu verhandeln. Libyen benutzt den Schiedsgerichtshof mehr als jedes andere Land. Das internationale Banksystem hat sich auch an das islamische Verbot (die Ächtung) der Zinserhebung angepaßt. Dies sind Beispiele, die uns Hoffung geben, einen gemeinsamen Nenner zwischen dem weltislamischen Rechtssystem und der Weltrechtsordnung zu finden. Dabei müssen wir das Dokument hervorheben, das die Grundlage der Weltrechtsordnung bildet. Es ist die Allgemeine Erklärung des Menschenrechts der UNO von 1948. Dieses Dokument ist eine Herausforderung für alle Rechtssysteme, seien sie religiöser Natur oder nicht. Erst einmal möchte ich Ihnen klarmachen, daß alle Staaten, alle juristischen Personen, kommerzielle Körperschaften und jeder einzelne von uns verpflichtet sind, die Normen der Menschenrechtscharta der UNO aus der Nachkriegszeit zu unterstützen und nicht zu verletzen. Ich zitiere wörtlich aus dm Präambel: „Da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, ….verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen … die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern….“ Artikel 30 verlangt weiterhin: 14 “Keine Bestimmung dieser Erklärung darf dahin ausgelegt werden, daß sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.” Diese Normen bilden unsere Grundrechte auf politische, soziale und wirtschaftliche Freiheiten. Sie bilden meines Erachtens nach eine Weltverfassung, eine globale Verfassung. Sie sind in sich selbst eine ungeheuer große Herausforderung an unsere bisherigen Selbstverständlichkeiten, an unsere Schablonenhaftigkeiten – zum Beispiel an den hinter dem souveränen Staat stehenden Gedanken, daß jeder Staat oder jede profitschaffende Firma im eigenen Interesse handeln darf und muß; all dies wird in Frage gestellt. Die Grundidee im Menschenrecht ist das Gegenteil. Die Erfahrung im Zweiten Weltkrieg hat die Grenzen dieser Selbstbezogenheit sehr deutlich gezeigt. Die Grundidee im Denkmuster des Menschenrechts ist anders. Jeder Staat, jede kommerzielle Körperschaft, jeder Einzelne sollte sich fragen, ist mein Verhalten im Interesse der Humanität? Diese Grundidee ist dem islamischen Recht nicht völlig fremd, wie Prof. Tilman in seinem Buch Islamisches Recht: Eine Einführung schreibt: Gottes Recht im Quran lässt sich mit dem „Wohl der Gemeinschaft der Menschen in eins setzen“. Prof. Nagel benutzt als Beispiel den grossen Juristen, Imam Shatibi aus dem 14. Jahrhundert in Andalusien (gest. 1388, al Muwafaqat fi’l usul al-sharia). In deren Werken ist die Grundlage des islamischen Rechtssystems in der „Bewertung der Absichten bei der Auslegung des Recht“s. So ist der Erwerb eines Mindesteinkommens die Ursache für die Pflicht, die zakat Steuer (Almosensteuer) abzuführen. Und wenn etwa die Regelung die Ackerflaeche fuer den Anbau besonderer Agrarprodukte mit Hinblick auf die für den Lebensunterhalt jedes Bauern notwendigen Feldfrüchte beschränkt, so wird diese Bestimmung durch das 15 Gemeinwohl erzwungen. Diese Bestimmung geht auf die eine Sharia Grundregel, nämlich auf die Notwendigkeit, das Gemeinwohl voranzustellen (Auszüge von T. Nagel, Islamisches Recht). Prof. Nagel stellt auch manchen modernen islamischen Rechtswissenschaftler dar, die der Auffassung sind, dass „Gott im Koran die Beziehungen der Menschen untereinander so gestaltet“, dass aus den Interessen des einen niemandem ein Schaden entstehe. Deshalb gibt es ein „Verbot gegen die Monopolbildung“. Einem Eigentümer [einer Eigentümerin] ist es nicht gestattet, sein Vermögen in einer Weise zu gebrauchen, dass andereren ein Schaden entsteht. Ein verschwenderischer Umgang mit dem Geld, über das man [oder frau] verfügt, ist unzulässig, denn es zählt zu dem Reichtum der Gemeinschaft, die hiervon abhängt... Der Mensch soll sein Leben, seinen Verstand, seine Gesundheit schützen, desgleichen seine Freiheit vor Erniedrigung, sein Vermögen vor Vernichtung bzw. Verschleuderung. (Auszüge von T. Nagel, Islamisches Recht). Hier, wie Prof. Nagel anerkennt, ist ein „Anklang an die westlichen Kultur wurzelnde Vorstellung von einem allgemeinen Menschenrecht herauszuhören“. Ich bin eher der Meinung, dass die muslimischen Juristen dazu geneigt haben, auch heute, der Grundsatz des Gemeinwohls hauptsätzlich auf eigene muslimische Gesamtheit (Gemeinschaft) bezogen haben. Heute verlangt die Weltgemeinschaft eine Ausdehnung dieses Grundsatzes auf die gesamte Menschheit. Muslimen überall in der Welt sowie wir im Westen müssen lernen über eigenen Schatten zu springen, im Namen des Gemeinwohls der ganzen Humanität. 16 Wenn wir uns einmal entscheiden, diese revolutionären Veränderungen zu akzeptieren, werden wir auch dazu imstande sein, den Antagonismus zwischen islamischem Recht und Völkerrecht zu überwinden. 17