«Angewandte Philosophie fragt nach der Wirkung»

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HR Today
Das Schweizer Human Resource Management-Journal
«Angewandte Philosophie
fragt nach der Wirkung»
In Unternehmen werde viel «verpsychologisiert», findet Charlotte Friedli, Professorin an
der FHNW. Sie plädiert für eine philosophische Herangehensweise an Probleme und eine
Abkehr von den psychologischen Deutungsmustern.
Frau Friedli, für Sie ist die angewandte Philosophie ein Gegenentwurf zur Psychologie. Wie meinen Sie das?
Charlotte Friedli: Seit vielen Jahren haben wir die psychologischen Modelle als Erklärungsmuster auch für berufliche Zusammenhänge herangezogen. Jetzt haben wir
gemerkt, dass das Psychologisieren von Arbeitsbeziehungen auch verhindernd wirkt.
Wenn in Teams und in Führungszusammenhängen die Zusammenarbeit nach Befindlichkeiten anstatt nach Kompetenzen gemanagt wird, leiden auf Dauer Leistung und
Qualität der Arbeit. Wir merken also, dass in
der Arbeitswelt die Psychologie an ihre Grenzen gestossen ist.
Woran liegt das?
Psychologie fragt introspektiv, nach den
Ursachen und macht Ursache-Wirkungs-Zuschreibungen. So werden viele Probleme und
Traumata herbeigeredet. Zudem haben psychologische Ansätze die Tendenz, Probleme,
aber auch Lösungen zu individualisieren.
Wenn Unternehmen mit psychologischen
Konzepten arbeiten, drehen sie sich mit der
Zeit im Kreis.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Eine Mitarbeiterin kommt häufig zu
spät. Im Gespräch fragt der Chef nach den
Gründen und erfährt, dass ihr Kind krank ist.
In der Regel kommen dann unsere gewohnten
empathischen Konzepte der Psychologie zum
Einsatz. Wir haben Verständnis, fragen nach
dem Krankheitsstand des Kindes und wollen
bei der Gesundung Unterstützung bieten. Dabei wird stark auf das Problem fokussiert –
das kranke Kind. Zudem findet – wie hier
sehr deutlich wird – eine Individualisierung
statt.
sammenhang gebracht werden kann. Am besten, es wird eine Lösung gefunden, die sowohl
für die eine Mitarbeiterin als auch für die anderen Mitarbeitenden als auch für das System
Was wäre besser?
Weniger Zeit damit zu verbringen, das
Warum des jeweiligen Verhaltens zu durchleuchten und zu verstehen. Die Philosophie
nimmt sich der Gegebenheiten an. Das bedeutet: Die Mitarbeiterin kommt zu spät zur Arbeit und bricht damit die Regeln der Zusammenarbeit. Da stellt sich die Frage, was sie mit
diesem Regelbruch erreichen will. Die Antwort wird in diesem Fall sein, dass sie Zeit für
ihr krankes Kind braucht. Nun kann überlegt
werden, wie dieses Ziel mit dem Arbeitsauftrag und den weiteren Mitarbeitenden in Zu-
passend ist. Vielleicht kann die Mitarbeiterin
einmal eine Stunde länger bleiben, vielleicht
tauscht sie die Zeiten mit anderen. Hier integrieren wir die individuellen Fragestellungen
in jene des gesamten Systems und finden Lösungen, die in vergleichbaren Situationen
wiederholt angewandt werden können.
«Wir müssen lernen,
alles zu denken, auch
das nicht Denkbare.»
Ist es so einfach? Ein Mitarbeiter mit einem
kranken Kind kann vielleicht seine Arbeit
gar nicht im normalen Umfang leisten ...
Das ist Ihre psychologische Interpretation. Jeder Mensch hat im Berufsleben eine gewisse Professionalität, die es erlaubt, private
Probleme auszublenden. Natürlich kommt es
dennoch regelmässig zu privaten Problemen,
die von Mitarbeitenden mal mehr und mal
weniger zum Arbeitsausfall genutzt werden.
Von daher brauchen wir Lösungen, in denen
die bezahlte Arbeit eine den Vereinbarungen
gemässe Verteilung erfährt. Das heisst, Betriebe, in denen Eltern beschäftigt sind, fangen an, über andere Arbeitszeitmodelle nachzudenken, anstatt den sowieso stattfindenden
Arbeitsausfall zu individualisieren.
Fotos: Markus Forte
Ist Empathie also kein Thema mehr?
Freundlichkeit und Wertschätzung sich
und andern gegenüber ist das Thema. Das ist
die Basis und in den philosophischen Methoden ganz zentral. Aber man kann auch
freundlich und wertschätzend sein, ohne viel
Bedauern und Verständnis zu demonstrieren.
Denn das Prinzip der Selbstsorge nach Sokrates, wie wir ihn heute lesen, beinhaltet es,
freundlich und wertschätzend zu sich, zu den
anderen und zur Sache zu sein. Dann finden
wir passende Lösungen.
Auszug aus HR Today 7&8/2011
HR Today
Das Schweizer Human Resource Management-Journal
Was genau ist das Philosophische an diesem Beispiel?
Es ist von einem philosophischen Denken
beeinflusst. Angewandte Philosophie fragt
nach der Wirkung von etwas und setzt Dinge
in den Zusammenhang vom Zusammenleben
und vom System. Es werden Schemata in den
Köpfen aufgelöst und festgefahrene Denkmuster durchbrochen. Für unser Beispiel heisst das, dass individuelle Arbeitsausfälle systematisch zu durchdenken und zu lösen sind.
Ich war bei der Konzeption unseres Studienganges «Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext» auf der Suche nach anderen
Gesprächsmethoden, als wir sie üblicherweise haben. Ich wollte zudem erreichen, dass
wir Begrifflichkeiten besser anschauen. Damit lösen wir einseitige Betrachtungsweisen
von Problemen auf und werfen einen erweiterten Blick auf die Gesamtverhältnisse.
Wie meinen Sie das?
Eine der wichtigsten Kompetenzen in der
Philosophie sind die Skepsis, der Perspektivenwechsel, die Dinge auf den Kopf zu stellen
und vielleicht nicht automatisch etwas als
schlecht zu bewerten, nur weil man es so gewohnt ist. Ein Beispiel: Sie machen sich Gedanken zum Thema Manipulation. Es macht
aber Sinn zu fragen, was das Wort überhaupt
bedeutet, und erst dann die Wertigkeit in Frage zu stellen. Kann man Manipulation auch
positiv beurteilen? Und in welchem Kontext
hat dieser Begriff welche Bedeutung?
Was bringt das?
Eine wertfreie Herangehensweise an Themen. Wir müssen lernen, alles zu denken,
auch das nicht Denkbare. Wer immer gleich
über falsch oder richtig urteilt, kommt nicht
«Es gibt vier philosophische
Kompetenzen: Humor, Mut,
Staunen und Skepsis.
Als Kinder lieben wir sie alle.»
voran. Es ist wesentlich, zuerst zu denken und
die Dinge ins Verhältnis zu sich, zu den anderen und zur Situation zu setzen und dann zu
schauen, was davon machbar ist, wo es Regeländerungen oder Anpassungen braucht.
Was bedeutet das für Führungskräfte?
Sie führen dialogisch. Das heisst, es werden nicht mehr einfach Standpunkte abgefragt, sondern Ideen. Vielfach wird unspezifisch gefragt: «Was meinst du zu dem und
dem?» Ich will mit der angewandten Philosophie Instrumente und Methoden zur Verfügung stellen, damit die Menschen ihr ReperAuszug aus HR Today 7&8/2011
Charlotte Friedli
toire erweitern und die Potenziale gezielt für
die Sache genutzt werden können.
Was sind das konkret für Instrumente?
Einen Dialog führen zum Beispiel. Hier
geht es darum, gemeinsam zielgerichtet Lösungen zu entwerfen, die dann die gewollten
Wirkungen erzielen. Hier bieten wir verschiedene methodische Zugänge: den eben erwähnten Dialog, das strukturierte Gespräch
oder auch den Diskurs. Nehmen Sie beispielsweise ein Projektteam, das in einem so genannten Denkraum zusammenkommt. Das
heisst, dass das Team dort erst einmal gemeinsam denkt, ohne überhaupt zu bewerten. Das
bedingt, dass sich niemand mit der besten
Idee profilieren will, sondern alle gleichermassen beitragen und sich gegenseitig befruchten.
Was brauche ich, um philosophisch zu
denken und zu handeln?
Es gibt vier philosophische Kompetenzen:
Humor, Mut, Staunen und Skepsis. Als Kinder
lieben wir sie alle, aber in der Regel werden
sie uns im Laufe unseres Lebens aberzogen.
Wenn wir klein sind, staunen wir viel mehr,
sind mutiger und lachen oder lächeln bis zu
400 Mal am Tag. Für Erwachsene ist oft schon
das Zuhören bis zum Ende eines Satzes
schwierig und wir beenden die Sätze von anderen. Aber in ein Gespräch reinzugehen und
so zu tun, als ob man das zum ersten Mal
hörte, und darüber zu staunen, das ist eine
unglaubliche Kompetenz. Denn stellen Sie
sich vor, Sie staunen über eine Idee des Kollegen, anstatt sie als Bedrohung zu empfinden,
dagegen zu gehen und sie abzuwürgen.
ist Professorin an der FHNW Hochschule für
Soziale Arbeit und leitet neben dem CAS
«Angewandte Philosophie im beruflichen
Kontext» verschiedene Weiterbildungsangebote im Bereich «soft skills». Friedli studierte
Sozialarbeit und Sozialpädagogik und absolvierte eine Ausbildung in Supervision und
Organisationsentwicklung. Seit 12 Jahren hat
sie eine eigene Praxis für Beratung, Super­
vision, Weiterbildung und Projektmanagement. Aktuell gilt ihr Interesse dem Thema
Humor im beruflichen Alltag, wozu sie gerade
an einem Buch arbeitet. Ebenfalls bietet
Friedli Fachseminare zum Humorcoaching an.
Über etwas staunen, das ich nicht zum
ersten Mal höre?
Ja klar. Hören ist nicht gleich Zuhören.
Mit Staunen und gezieltem Nachfragen, wie
etwas konkret gemeint ist, kann man eine
ganz andere Dynamik erzielen, als wenn man
auf der Basis psychologischer Erklärungszusammenhänge die Aussagen anderer bewertet und interpretiert. Damit sind die Missverständnisse vorprogrammiert.
Für wen hält die Philosophie etwas bereit?
Für alle. Die Ansätze der Philosophie
kann man gut in jeder Form von Gesprächsführung nutzen. Sie ist die Grundlage von
allem und alle anderen Geisteswissenschaften
sind aus ihr heraus gewachsen.
Stefanie Zeng
Service
Der CAS «Angewandte Philosophie im beruflichen
Kontext» der FHNW Olten richtet sich an Führungspersonen und Personalfachleute in Profitund Non-Profit-Organisationen sowie an Coaches
und Menschen in der Beratung und an Lehrpersonen. Der nächste Kurs startet im März 2012.
Informationen unter:
www.angewandte-philosophie.ch
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