Zivilgesellschaft und Demokratie Ein Blick in die russische Suche nach gesellschaftlicher Zukunft im Transformationsprozess vorgelegt von: Christian Fröhlich Universität Leipzig Matr.Nr. 8714211 Soziologie: 6. Fachsemester Kulturwissenschaft: 6. Fachsemester eMail: [email protected] Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Ein geschichtlicher Abriss 2 Ein theoretisches Konzept von Zivilgesellschaft 3 Demokratiebedeutung von Zivilgesellschaft 4 Reflexionen zur Zivilgesellschaft I: Demokratiekritik 8 Reflexionen zur Zivilgesellschaft II: Risikogemeinschaft 9 Reflexionen zur Zivilgesellschaft III: Integration und Konflikt 10 Kritik an der Übernahme des Zivilgesellschaftskonzept in der russischen Debatte 11 Blick auf die russische Zivilgesellschaftsdebatte 14 Schlussbetrachtungen 26 Literatur 28 1 Einleitung Als russische Behörden das Flugzeug des sibirischen Ölmagnaten Michail Chodorkowskij stürmten und den Chef des Energieriesen Yukos in Haft nahmen, ging ein lautes Raunen durch die internationalen Medien, und in verschiedensten, öffentlichen Bereichen entfachten sich Diskussionen und Reflexionen über eine sogenannte russische Zivilgesellschaft. Die internationale Menschenrechtsorganisation Memorial veröffentlichte ein Papier1, in dem sie diesen Arrest eines Hauptverantwortlichen der nach der Perestroika stattgefundenen, raubtierhaften Privatisierung der sowjetischen Wirtschaft mit „Schlägen auf die russische Freiheit, die Demokratie und die Herrschaft des Rechts“ in einen Zusammenhang stellte. In ihrer Beurteilung ist die Situation einer „gelenkten Demokratie“ eine Herausforderung zivilgesellschaftlicher Organisationen, unabhängige Gewerkschaften, sozial verantwortliche Unternehmen und demokratische politische Bewegungen in Russland, der drohenden autoritären Herrschaft durch die Initiierung gesellschaftlicher Konsolidierung entgegenzuwirken. Chodorkowskijs Unterstützung sozialer und bildungspolitischer Projekte stehen als Beispiel unabhängiger politischer Initiativen, die Werte und Interessen verschiedenster, gesellschaftlicher Akteure zu vereinen scheinen und damit soziale Verantwortungsnahme zu einem öffentlichen Ziel von Gemeinwohl werden lassen. Der französische Philosoph André Glucksmann sieht einen Rechtsstaat und persönliche Freiheiten als Merkmale demokratischer Gesellschaftsentwicklung ebenfalls vom rasanten Zug der russischen Modernisierung hinten runterfallen. Blinder Fortschrittsglaube und das Vertrauen an eine liberale Ökonomie stehen ihm nach neben einer nihilistischen Gesellschaft, „die von Korruption, privaten und öffentlichen Mafias, vom Geist der „speznaz“, der Depression und der freiwilligen Unterordnung der Mehrheit [beherrscht wird]“2. Die öffentliche Meinung und die freien Massenkommunikationsmittel seien von einer „Diktatur des Gesetzes“ gefesselt, und die Entwicklung von Bürgersinn und Bürgerrechten in der Gefahr, in einer autoritären Restauration unterzugehen. In diesem verwirrenden Geflecht aus der Suche nach Schutz gegen einen Rückfall in totalitäre Strukturen, dem Umgang mit dem vielfältigen Erbe einer über 70 jährigen Diktatur, der Initiierung demokratischer Entwicklungen in politischen und wirtschaftlichen 1 Erklärung der Allrussischen Konferenz Zivilgesellschaftlicher Organisationen in Moskau, 28.10.2003. Diese Erklärung wurde vom Vorstand der Internationalen Gesellschaft Memorial vorgelegt und von inzwischen mehr als 50 NGO aus ganz Russland unterzeichnet. 2 Glucksmann, Andrè, Russisches Roulette - Die Anbetung der Führer im Osten hat im Westen Tradition. Die Welt. 10.01.2004 2 Bereichen der russischen Gesellschaft und den Rufen nach einem freiheitlichen, individuellen Leben aller Bürger in diesem Lande fällt immer wieder der Begriff der Zivilgesellschaft. Wie einer Art kommunikativer Mutterboden scheint er alle Keime einer Diskussion über die Zukunft einer postsowjetischen Gesellschaft in sich aufzunehmen. Das sich an dem Säen westliche wie osteuropäische Sozialwissenschaftler beteiligen, birgt die Gefahr der „Verengung der Zivilgesellschaftsdebatte auf die Theoriebestände einer voraussetzungsvoll konzeptualisierten Zivilgesellschaft (civil society), die sich im wesentlichen auf die Frage der gesellschaftlich organisierten partizipativen Unterfütterung „reifer“ repräsentativer Demokratien konzentriert“ (Lauth/Merkel 1997: 15). In den folgenden Zeilen soll zum einen eine allgemeine Demokratiebedeutung von Zivilgesellschaft herausgearbeitet werden, um sie zum anderen in russischen, wissenschaftlichen Beschäftigungen mit einer zivilen Gesellschaftssphäre entdecken zu können. Ein geschichtlicher Abriss Es gibt nach Charles Taylor zwei neuzeitliche Ansätze zum Verständnis von Zivilgesellschaft. Dem kontraktivistischen Ansatz von Locke folgend, schützt die bürgerliche Gesellschaft ihre Individualrechte in einer Sphäre, die dem Staat als außerpolitische Realität vorgeordnet ist und in diesem Sinne als „zivil“ verstanden werden kann. Montesquieu dagegen beschreibt verbindende Strukturen zwischen dem politischen System und der außerpolitischen Sphäre, durch welche letztere in ersteres integriert wird. Diese Verbindungen wurden von Tocqueville als Assoziationen benannt, die allerdings partiell jenseits des Staates eine Basis für gesellschaftliche Kräfte bilden. Modifiziert und erweitert wurden diese Zivilgesellschaftskonzepte durch neo- und postmarxistische Theorieansätze und in der Kritischen Theorie, in denen sich vor allem die Trennung zwischen einer zivilen und einer politischen Sphäre schwächte. In den Schriften von Antonio Gramsci richtet sich die Analyse mehr auf Dominanz- und Herrschaftsfunktionen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, während bei Jürgen Habermas die Kommunikationsstrukturen im Kontaktraum zwischen Öffentlichkeit und Politik untersucht werden. Begriffsgeschichtlich nahm Zivilgesellschaft ihren Anfang schon bei Aristoteles, in dem es eine politisch geeinte Gemeinschaft aller männlichen Besitzbürger meinte, die als 3 Gleichgesinnte in herrschaftsfreien Assoziationen miteinander verbunden waren. Die Mehrheit der Bewohner eines Staates waren somit also ausgeschlossen. Im Absolutismus wurde die politische Entscheidungsgewalt aus der Gesellschaft herausgezogen und dem Monarchen übertragen. Der Bürger war nunmehr unpolitisch geworden. Die deutsche Tradition knüpft an dieser Stelle mit Hegel an und beschreibt eine mit der Zentralisierung der Politik im fürstlichen und dann revolutionären Staat einhergehende Herausbildung einer entpolitisierten bürgerlichen Gesellschaft, die eher eine Wirtschaftsgesellschaft ist, in der alle über den Markt vermittelte Aktivitäten ausschließlich auf wechselseitige Bedürfnisbefriedigung gerichtet sind. Doch die Verbindung zwischen „Bürger“ und „Staat“ wird auch hier nicht ganz aufgehoben, denn diese Wirtschaftsgesellschaft kann sich bei Hegel nur außerwirtschaftlich, also politische stabilisieren (Dubiel 1994: 73). Die angelsächsische Tradition ergänzt nun bei der Betrachtung moderne, kapitalistischer Gesellschaften eine moralische Komponente, um das Problem der gesellschaftlichen Integration des Marktes zu lösen. Nicht nur die egozentrischen Motive individueller Nutzenverfolgung halten demnach moderne Gesellschaften zusammen, sondern auch moralische Motive wie Verantwortung für andere, Anerkennung von Rechtsverpflichtungen und politisch kulturellen Traditionen haben für das Handeln des Bürgers Relevanz, welcher in der sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft Träger vielfältiger sozialer und politischer Merkmale ist und sich auf diese nicht mehr als isoliertes Individuum, sondern als vielfältig assoziiertes Wesen (z.B. als Familienvater und als Vereinsmitglied) bezieht. Ein theoretisches Konzept von Zivilgesellschaft Wichtig in einem Theoriekonzept über Zivilgesellschaft sind die Merkmale ihrer „Mitglieder“ bzw. der Akteure, welche die zivile Sphäre zum einen überhaupt empirisch fassbar machen, und zum anderen diese anhand ihrer Merkmale von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen unterscheiden. Dies sind plurale, auf freiwilliger Basis gegründete Organisationen und Assoziationen (manchmal auch einzelne „Bürger“), welche in einem nicht-staatlichen Handlungsraum ihre jeweiligen Zielsetzungen auf die res publica beziehen. In diesem Zwischenbereich zwischen Staat und Privatsphäre artikulieren und organisieren höchst unterschiedliche Akteure (oft auch in Konkurrenz) ihre spezifischen materiellen und normativen Interessen auf der Basis eines gemeinsam 4 geteilten normativen Minimalkonsens. Da dieser die demokratischen Prinzipien der Toleranz, der Fairness, des Bürgersinns und den Ausschluss von nicht legitimer physischer Gewalt beinhaltet, ist zivilgesellschaftliches Handeln in diesem Sinne immer auch an der Demokratisierung des Gemeinwesens orientiert (Lauth/Merkel 1997: 22). Dieser Konsens als Merkmal einer zivilgesellschaftlichen Mitgliedschaft wird noch ergänzt und somit verschärft durch den Aspekt der relativen Unabhängigkeit vom Staat. Nach diesem Konzept kommen also nur diejenigen Verbände und Interessensgruppen, kulturelle und religiöse Vereinigungen, Bildungs- und Informationseinrichtungen, die zur besseren Unterrichtung der Öffentlichkeit beitragen, Entwicklungsorganisationen, Bürgerinitiativen, Bürgerrechtsgruppen und soziale Bewegungen als zivilgesellschaftliche Akteure in Frage, welche den zivilen Grundkonsens teilen, nicht fest kooperativ in staatliche Strukturen eingebunden sind und sich nicht am politischen Machterwerb orientieren3. Lauth und Merkel betonen in Anlehnung an Tocqueville, wie lang andauerndes, an öffentliche Angelegenheiten orientiertes, kommunikatives Engagement und Handeln der Akteure in der zivilgesellschaftlichen Sphäre auf der individuellen Ebene einen Bürgersinn entwickeln, und ein in gesellschaftlicher Selbstorganisation geformtes soziales Kapital Formen staatlicher Herrschaft zivilisieren und die Funktionen politischer Institutionen effektivieren kann. Demokratiebedeutung von Zivilgesellschaft Die wichtigsten Antworten auf die theoriegeschichtlich traditionelle Frage nach der Bedeutung von Zivilgesellschaft für die Entwicklung von Demokratie sollen im folgenden kurz zusammengetragen werden. In der auf John Locke zurückgehenden Denktradition sichert eine vom Staat abgetrennte zivile Sphäre die Freiheit des Individuums und dessen Eigentumsrechte vor staatlichen Eingriffen. Pluralismustheoretiker wie Truman oder Putnam stellen dagegen gerade auf eine Verbindung zwischen ziviler Gesellschaft und staatlicher Herrschaft ab. Zivilgesellschaftliches Handeln entlastet den Staat durch Leistungsübernahmen und erfüllt wichtige Funktionsleistungen zur Bestandserhaltung repräsentativer Demokratie. Ein dichtes, sich überschneidendes ziviles Kommunikationsnetz trägt zum Abbau von gesellschaftlichen Spaltungen bei. Dieses Netz 3 Politischer Machterwerb ist hier eindeutig von politischer Einflussnahme abzugrenzen, zu der zivilgesellschaftliche Akteure sehr wohl streben, um die durch sie repräsentierten gesellschaftlichen bzw. kooperativen Interessen verwirklichen zu können. 5 wird in der Tradition von Tocqueville durch gesellschaftliche Assoziationen und Vereinigungen gebildet, welche wie in einer Schule der Demokratie demokratisches Denken und Verhalten durch die Vermittlung von normativen und partizipatorischen Tugenden wie Toleranz, gegenseitige Akzeptanz, Kompromissbereitschaft, Vertrauen etc. fördern und somit Demokratie gegen autoritäre Übergriffe immunisieren. Die von der kritischen Theorie beeinflussten Konzepte verstärken den partizipatorischen Aspekt von Zivilgesellschaft und stellen ihn in den Bereich eines „vorpolitischen“ pluralistischen Interessensgeflechts (Lauth/Merkel 1997: 27), in dem sich Interessen artikulieren und so für sich eine Öffentlichkeit herstellen können. Die dortige Thematisierung gesellschaftlicher Konflikte und die Kumulierung informeller öffentlicher Meinung stellt einen unverzichtbaren Input-Faktor für die Willensbildung in demokratischen Institutionen wie Parteien und Verbänden dar. Zivilgesellschaft und Demokratie meinen in dieser partizipatorischen Perspektive ein und dasselbe. Gegenüber diesen positiven Funktionen von Zivilgesellschaften machen Lauth und Merkel auf negative bzw. problematische Aspekte aufmerksam. Zum einen ist der zivilgesellschaftliche Bereich kein herrschaftsfreier Raum. Es existieren Machthierarchien und Vermachtungstendenzen, die eine Zivilgesellschaft Konfliktgesellschaft machen, in welcher verschiedene, immer mit auch zu einer unterschiedlichen Durchsetzungschancen ausgestattete Interessen und Weltanschauungen miteinander um Geltung und Handlungslegitimität konkurrieren. Zum anderen muss die interne Verfasstheit von zivilgesellschaftlichen Akteuren keineswegs immer demokratischen Prinzipien entsprechen. Auch wenn ihr Handeln dem normativen, zivilen Grundkonsens folgt, so kann der binnenstrukturelle Aufbau eine streng hierarchische Gliederung aufweisen (z.B. in Kirchen), oder Organisationen stecken in klientelistischen Abhängigkeitsverhältnissen fest. Des weiteren kann das der Zivilgesellschaft immanente staatskritische Potential zur Ausbildung eines fundamentalen Misstrauens gegenüber dem Staat führen (Lauth/Merkel, 1997: 29). Die damit einsetzende staatliche Delegitimation und ein Dominanzanspruch sozialer Selbstorganisation können Gewalt- und Machtverhältnisse provozieren, deren Destruktivität auf demokratische Verhältnisse wie die Integration von demokratisch legitimierter Institutionen, rechtsstaatlicher Verfahren und Sozialstaatlichkeit nicht zu unterschätzen ist. So ist die Art und Weise und die Richtung des Einflusses von Zivilgesellschaft auf Demokratie für diese Autoren abhängig vom gesellschaftshistorischen bzw. Regimekontext, den man jeweils betrachtet und 6 welcher unterschiedliche Akteure, Strukturen und Funktionen einer Zivilgesellschaft zusammenbringt. In der Mitteleuropäischen Bürgerrechtsbewegung, wie etwa in Ungarn oder Polen, wurde ein Handlungskonzept notwendig, das gleichermaßen entfernt war von den Vorstellungen einer kommunistischen Revolution wie von denen eines traditionellen Antikommunismus. Eine politische Strategie musste sich jenseits eines revolutionären Umsturzes und gleichzeitig außerhalb einer beschränkten, das bestehende Machtsystem stärkenden Reform formulieren, wollte sie nicht in die schon geschriebenen, geschichtlichen Spuren einer russischen Oktoberrevolution oder einer Perestroika verfallen. Zivile Gesellschaft stand in klarer Opposition zu einem totalitären Staat. In ihr und durch sie versuchten auf das Gemeinschaftswohl gerichtete Assoziationen, soziale Bewegungen und vielfältige, Interessen vereinigende Öffentlichkeiten, dem totalitären Staat eigene Handlungsspielräume abzuringen. Zivilgesellschaft wurde so in seiner Rolle als Subjekt der Transformation zur Demokratie zu einem Begründungs- und Erklärungszusammenhang für den Zerfall des kommunistischen Systems. Auf die potentielle Möglichkeit der staatlichen Machtübernahme verzichteten die Hauptakteure zivilgesellschaftlicher Bewegungen zum Zwecke der Institutionalisierung der Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Dem totalitären Staat sollte eine Selbstbeschränkung seiner Handlungsmacht aufgezwungen und gleichzeitig verhindert werden, dass eine soziale Bewegung die Stelle der Staatsgewalt einnehmen kann, denn „auch nach der Revolution sollte [...] die „zivile Gesellschaft“ bleiben, was sie vorher war, nämlich eine konfliktive Sphäre der Selbstorganisation und Artikulation aller sozialer Kräfte“ (Dubiel 1994: 76). Die eigene soziale Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure sollte auch nach der Etablierung einer nachtotalitären Macht erhalten bleiben, um weiterhin sich selbst als Quelle von Dissidenz, Innovation und öffentlicher Revision garantieren zu können. Mit diesem Anspruch waren aber nach 1989 zwei verschiedene Bedeutungsinhalte von Zivilgesellschaft zusammengekommen. In der Vorgeschichte des Umbruchs meinte sie die Herausbildung freiwilliger, demokratischer Prinzipien verpflichteter, autonomer Assoziationen, die gegen den Staat gewaltfrei eine Öffentlichkeit bildeten. Nach dem Umbruch wurde sie als eine Quelle von politisch-kultureller, ökonomischer und sozialstruktureller Trägergruppen und Motivpotentiale verstanden, die als stabilisierendes und legitimierendes Fundament der neuen mittel- und osteuropäischen Demokratien dienen sollte. Dass dieses theoretische bzw. ideenverpflichtete Einheitskonzept nur sehr problematisch auf die tatsächliche Situation der Zivilgesellschaft in Mittel- und Osteuropa 7 anzuwenden ist, soll in Anlehnung an Helmut Dubiel in den folgenden Ausführungen gezeigt werden. Das eine Problem ist, ob Trägergruppen ziviler Gesellschaft ihre Ziele außerhalb, wie es vor dem politischen Umbruch geschah, oder innerhalb politischer Institutionen, wie es nun angestrebt und in einer Demokratie vorgesehen ist, verfolgen. Ein aus der Bürgerrechtsbewegung stammender, vormals notwendig anti-institutioneller, eher staatsfeindlicher Politikstil hat nun äußerste Schwierigkeiten, verfassungsimmanente Kritik im Rahmen eines Systems staatlicher und rechtlicher Institutionen zu üben. Entweder zivile, „vordemokratische“ Motivbestände und Trägergruppen sind schnell durch das Konkurrenzsystem politischer Parteien verdrängt worden, oder ihre Absorption stärkt den Reflex des totalitären Erbes in Gestalt einer irritierten Fremdheit gegenüber der generellen Handlungslogik von politischen Akteuren in einer Konkurrenzdemokratie. Hinzu kommt, dass eine funktional differenzierte und demokratisch kontrollierte interne Verfasstheit von bürgerrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Trägerorganisationen mitnichten in Mittelund Osteuropa selbstverständlich ist, was natürlich ihre Einbindung in ein System demokratischer Handlungsweisen erheblich behindert. Die historische Gleichzeitigkeit des Aufbaus einer Markwirtschaft und einer Konkurrenzdemokratie in den Ländern Ost- und Mitteleuropas ist das zweite Problem. Verschärft wird dieses Problem zum einen durch den historisch kurzen Schritt des sozialen Wandels, welcher sich im Westen in mehreren Jahrhunderten vollzogen hatte, und zum anderen dadurch, dass im Osten der Kapitalismus ein politischer von Anfang an ist. Errichtet auf der Basis einer, am Westen orientierten Eliten-Vision, trifft er doch auf eine artikulationslose Gesellschaft, da eine Sozialstruktur, auf der sich ökonomische Interessen bilden könnten, überhaupt erst mit der marktwirtschaftlichen Transformation gebildet werden soll. Dieses Dilemma der Zivilgesellschaft, welche in diesem Sinne eine leere Blase noch nicht geformter Interessen bildet, weil sie sich in einem sozialstrukturellen Vakuum politisch nicht formieren kann, machen sich nationalistische, ethnozentristische, fundamentalistische und populistische Ideologien für ihre politischen Mobilisierungsstrategien zu nutze, was u.a. am Wahlerfolg der LDPR im Dezember 2003 und dem Einzug von Wladimir Schirinowski in die russische Duma gut zu erkennen ist. 8 Reflexionen zur Zivilgesellschaft I: Demokratiekritik Bis 1989 wurde im Begriff der Zivilgesellschaft immer der Gegenzustand zu einem totalitären System gedacht. Im konkreten Falle westlicher Demokratien kam dem Aufbau und Erhalt einer zivilen Gesellschaft die Garantie- und Schutzfunktion gegen einen totalitären Sozialismus zu. Nach dem Umbruch in den Mittel- und Osteuropäischen Staaten fehlt der Konkurrenzdemokratie ihr jahrzehntelanges Pandon. Die liberale Demokratieform soll nun auch hier den Rahmen aller zukünftigen politischen Strategien bilden. Doch muss diese sich nun aus sich selbst heraus konstituieren und legitimieren, weil der Totalitarismus als abgleichendes Negativ wegfällt. Eine ausdrücklich immanente Kritik als Konstitutionsmotor liberaler Demokratien schlägt Helmut Dubiel in einem normativen Konzept von Zivilgesellschaft vor. Ein solches Konzept beinhaltet Normbestände, die in der Realität nicht vollends für alle Mitglieder einer Gesellschaft gewährleistet sind, wie z.B. die ungeteilte Sicherung von Bürger- und Menschenrechten und die Garantie der öffentlichen Sphäre durch eine institutionelle Kommunikationsfreiheit, welche den Status eines abgleichenden Regulativs bekommen, an denen sich die institutionelle Realität liberaler Demokratie ständig messen lassen muss (Dubiel 1994: 94). Die Kritikpunkte einer heutigen Konkurrenzdemokratie treten ohne Gegenlicht totalitärer Unfreiheit wieder zutage. Gemessen an dem Kritikmaßstab einer normativen Zivilgesellschaft wird sichtbar, dass Verbände, Interessensgruppen und gesellschaftliche Assoziationen keineswegs immer intern demokratisch organisiert sind. Eine weitgehend inaktive Mitgliederschaft lässt in hochbürokratisierten Organisationen ihre Führungselite unkontrolliert. Und es wird auch klar, dass die Zahl gruppenförmig organisierter Interessen nicht frei und offen ist, und vielfältige kooperative Schließungsmechanismen durch herausgehobene Interessen die Artikulation neuer Problemlagen blockieren. Die Gefahr einer autoritären Richtung von Gesellschaftsentwicklung wird sichtbar und die Verletzlichkeit von Demokratie zeigt sich z.B. im extrem gestiegenen Wählerfrust und an den hohen Wahlergebnissen vom russischen Protestblock „Gegen alle“, der bei den russischen Staatsdumawahlen landesweit 6 % erhielt. 9 Reflexionen zur Zivilgesellschaft II: Risikogemeinschaft In modernen Gesellschaften ist die funktionale Differenzierung in verschiedene Teilbereiche der Indikator ihres Fortschreitens. In diesen Teilbereichen ist eine Leistungssteigerung gesellschaftlicher Produktivität möglich geworden, an dem sich kulturelles, wirtschaftliches und wissenschaftliches Niveau einer Gemeinschaft messen lässt. Allerdings ist die Beurteilung der Realität nicht mehr aus dem Blickwinkel des Ganzen möglich, sondern meist nur in oder aus den Logiken der funktional ausdifferenzierten Teilbereiche einer Gesellschaft. Diese schließen sich selbstbezüglich in die rekursive Geschlossenheit ihrer Operationsweisen und erreichen ein Autonomieniveau, das sie nicht mehr von „außen“ steuerbar werden lässt. Die politische Sphäre kann den an sie gestellten Anspruch der Integration der verschiedenen Sphären und einer Garantie der gesellschaftlichen Einheit nicht mehr erfüllen. Ihre Aufgabe, den Logiken anderer Teilsysteme mit ihrer Exekutivgewalt Grenzen zu setzen, wird verunmöglicht durch die vielfältigen Handlungsoptionen der Subsysteme, denen sich die einzelnen Politiker autoritätslos gegenübersehen. Als Folge der Erfahrung von Gefährdungen und Krisen durch destruktive, ungesteuerte Funktionssysteme gewinnt der Begriff der „Risikogesellschaft“ als eine negative Vereinheitlichung der Gesellschaft an Bedeutung. Politik und Ökonomie als die größten Teilsysteme bieten nach Helmut Dubiel keine Rezepte zum Abfangen spezifischer Modernisierungsrisiken, wie z.B. ökologische Verschmutzungen oder sozialer Existenzverlust, da eben das eine dem subsystemspezifisch überkomplexen Möglichkeitshorizont mit seiner institutionellen Kapazität nicht entspricht und das andere ja durch seine Verwertungsrationalität die Problemursache bildet. Um nun Risikolagen abzufedern und die Handlungsnot politischer Akteure zu entschärfen, bedeutet Zivilgesellschaft alle Formen nicht-staatlichen Handelns, welche in Form von Initiativen und Trägerschaften aus dem politischen Bereich übergehen auf die Akteure der Gesellschaft. Dadurch wird ein gesellschaftliches Kräftepotential aufgebaut, welches zum einen die Macht des Staates, der kapitalistischen Ökonomie und der Wissenschaften zwar nicht abschaffen, aber begrenzen soll, und zum anderen eben jenen Staat und die Ökonomie durch demokratische Kritik oder handfesten Protest davon abhalten soll, die Gesellschaft zu entmachten. Durch die rechtliche Gewährleistung einer zivilen Sphäre und dem Miteinbezug ziviler Akteure in die staatlichen, kapitalistischen und technokratischen Prozesse wird eine systeminterne Demokratisierung ermöglicht, die es verhindert, dass sich die Subsysteme in ihren Rationalitätskriterien selbstreferentiell abschließen. Zivilgesellschaft ist in diesem Sinne ein Begriff „für jene Kommunikationspraktiken, 10 Diskursrituale und öffentliche Arenen, in denen sich kollektive Akteure über die Einheit und Zukunft ihrer Gesellschaft streiten“ (Dubiel 1994: 97). Reflexionen zur Zivilgesellschaft III: Integration und Konflikt Historische Gesellschaften waren im Gegensatz zu modernen durch ein einheitliches, religiöses Weltdeutungssystem integriert, in dem alle politischen Handlungen auf die eine Wahrheit, auf eine letzte Begründung bezogen worden sind. In der modernen, säkularisierten Welt steht ein höchst vielfältiges Repertoire an sozialtechnischen Mitteln zur Steuerung und Reglementierung von Gesellschaften zur Verfügung, deren Einsatz durch politische Entscheidungen gesteuert wird, welche durch die verschiedensten Weltbilder begründet sind. Während in einem totalitären System alle Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz in herrschaftlicher Regie lagen, so hat sich in einem demokratischen Staat die Anerkennung gefestigt, dass die Bedingungen seiner sinnhaften Reproduktion ihm selbst nicht zur Disposition stehen. Über die Frage, wie denn nun moderne Gesellschaften zusammenhalten, wenn eine Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten, beruhend auf einem Pluralismus an Weltanschauungen, nicht mehr in zentraler Hand liegen, trägt sich in der politischen und soziologischen Theorie der Liberalismus-Kommunitarismus-Streit aus. In der liberalen Position ist das einigende Band die Anerkennung eines moralisch neutralen Staates gesetzter Verfahrensregeln und Rechte zur individuellen Nutzenverfolgung seiner Bürger. Dieser „modus vivendi“ beruht in der gemäßigten liberalen Sicht selbst auf abstrakten normativen Vorstellungen wie die Freiheit und Gleichheit einer Person. Doch ansonsten werden strittige, normative Fragen des Lebens in den Privatbereich verschoben, welcher strikt von der öffentlichen Sphäre getrennt ist. In der kommunitaristischen Argumentation bestehen politische Minimalprinzipien und eine Akzeptanz gemeinsamer Rechte aus privaten, vorpolitischen, identitätsstiftenden Grundüberzeugungen, welche in einer partizipatorischen, politischen Kultur durch öffentliche und soziale Teilhabechancen die demokratischen Institutionen eines Staates immer wieder legitimieren. Beiden Positionen gemeinsam ist eine Krisenwahrnehmung moderner Gesellschaften, in denen sie die zur Integration notwendigen Minimalprinzipien und Konsensbestände abhanden gekommen glauben. Die daraus für die Vertreter dieser Sichtweisen resultierenden Anomien wie politische Apathie, politisch motivierte Gewalt, Drogensucht 11 und der Wucher egozentrischer Einstellungen in der Bevölkerung sind demnach mit der Wiederherstellung eines normativen Grundkonsens und einer gemeinschaftlichen Identität zu beheben. Für Helmut Dubiel verfehlt gerade diese Sicht die Eigenart der Integrationsweise moderner, demokratischer Systeme. Durch die immer weiter fortschreitende Abtrennung der staatlichen Macht von der zivilen Sphäre wächst das Potential gesellschaftlicher Selbsteinwirkung, was in immer weiterem Maße politische Fragen nach einem guten und richtigen Leben entstehen und sich artikulieren lässt. Doch eine öffentliche Dauerreflexion in der Zivilgesellschaft über eine richtige und gerechte Gesellschaftsordnung nährt sich aus den immer mehr vertiefenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Spaltungen in der Bevölkerung und wird daher immer gegensätzlicher. Eine Vermehrung von Konsens wird in dieser Sicht verunmöglicht und vielmehr durch Konflikt ersetzt. Das Ziel einer Übereinstimmung von politischen Zielen und Legitimationen weicht einer konflikthaften Form der Selbstthematisierung, in der die Pluralität der Lebensformen und die soziale Relativität der eigenen Meinung und des eigenen Interesses als Grundvoraussetzungen einer allgemeinen Zerrissenheit allen Sinnes anerkannt sind (Dubiel 1994: 114). Integration erfolgt durch eine strukturelle Konfrontation konfliktierender Gruppen, in deren Vollzug sich eine kollektive Identität durch die Herausbildung eines Bewusstseins eines gemeinsam geteilten, auf gemeinsam verstandenen symbolischen Beständen gegründeten, gesellschaftlichen Raumes. In ihm streiten die politischen Akteure über die Zielsetzungen ihrer Gesellschaft und werden gleichsam durch ihn integriert. Jede Konfliktlösung basiert auf einem strategischen Interessenskompromiss und fungiert somit als ein alle Beteiligten integrierendes Moment. Durch eine Kette solcher Kompromisse kann sich in ein gemeinschaftliches, schwach normatives Band durch eine Praxis erfolgreich gehegter Konflikte bilden. Kritik an der Übernahme des Zivilgesellschaftskonzept in der russischen Debatte Konzepte über Zivilgesellschaft sind in westlichen demokratischen Gesellschaft meist einheitlich an denselben Strukturmerkmalen wie Marktökonomie, Staat und eine öffentliche Sphäre mit freien Bürgerinitiativen orientiert. Die Vorstellungen von einer zivilen Sphäre sind aus einer mehrerer Jahrhunderte andauernden Entwicklung demokratischer Gesellschaftsorganisation entstanden und haben politische und kulturelle Elemente hervorgebracht, auf denen die heutige westliche Konkurrenzdemokratie fußt. In 12 den Jahren der Perestroika und vor allem seit dem Umsturz des sowjetischen Gesellschaftssystems wurde der Begriff der Zivilgesellschaft in denen sich transformierenden Staaten benutzt, um durch eine Projektion dieses Konzeptes in der russischen Gesellschaftssphäre ähnliche Elemente finden zu können und mit ihnen zum einen die Transformation zu beschreiben und um zum anderen deren Ziel angeben zu können. Seit der Gorbatschow-Ära herrscht die Überzeugung vor, dass mit der Entlehnung und Benutzung des Begriffes auch die Transplantation der eigentlichen demokratischen Praktiken ermöglicht wird, welche sich in zivilgesellschaftlichen Institutionen kristallieren mögen. Vadim Wolkov plädiert dagegen in seinem Aufsatz für eine „russische Variante des Zivilgesellschaftskonzeptes“. Für ihn ist der Begriff der Zivilgesellschaft in der russischen Politik leer und seiner Geschichte verlustig. Vielmehr kommt es darauf an, ihn adäquat auf die russischen Verhältnisse zu übersetzen, indem man durch historische Untersuchungen ein Verständnisäquivalent als Schlüsselterminus in der russischen Kultur findet. Dieser Begriff ist in seinem Verständnis die „Öffentlichkeit“4. Im beginnenden 19. Jahrhundert bezeichnete Öffentlichkeit die soziale Sphäre der nicht zum Adel gehörenden Intellektuellen. Dessen Idee vom solidarischen, gesellschaftlichen Zusammenleben stellte den Begriff der eigentlichen, aristokratischen Gesellschaft5 gegenüber. Die Öffentlichkeit stellte den progressiven Teil der Gesellschaft dar, welcher nun kollektive Subjekte und soziale Agenden in sich aufnahm und die Entwicklungsquelle einer russischen Bürgerlichkeit wurde. Die im Zuge der Alexandrinischen Reformen wachsende unabhängige Presse und die sich verbreitende Lesepraxis in der Bevölkerung formierte nun eine Sphäre öffentlicher Meinung als eine vergegenwärtigte Gemeinschaft der Lesenden und Diskutierenden, die verschiedene Gesellschaftsschichten vereinte. Die sich immer weiter differenzierenden öffentlichen Meinungen und Interessensassoziationen verstärkten eine Autorität der Gesellschaft, die immer häufiger der (durch das Geschlecht der Romanows aristokratisch geprägten) Staatsmacht gegenüberstand. Bis zum Revolutionsjahr 1917 nahm diese durch öffentliche Diskussionen und die von organisierten Gruppen angetriebene Bildung der öffentlichen Meinung die Form einer diffusen, vom Staat abgetrennten, politischen Gemeinschaft an. Die Alexandrinischen Reformen schufen ab den 1860er Jahren lokale Selbstverwaltungsorgane6, unter deren Regie Bildung, Gerichtswesen und gesellschaftliche 4 Im modernen Russisch bedeutet „obschestwenost“ zum einen Öffentlichkeit und zum anderen ist es ein Oberbegriff für gesellschaftliche Organisationen (Daum/Schenk: Schulwörterbuch Russisch-Deutsch) 5 russ. „obschestwo“ 6 im russischen Sprachgebrauch „Semstwo“ genannt 13 Ordnungsprozesse fielen und relativ unabhängig von der zentralen, russischen Regierung agieren konnten. Das dadurch ermöglichte kollektive, soziale Leben auf lokaler Ebene ließ den Begriff der Öffentlichkeit schnell zu einem Synonym für Selbstverwaltung werden. Die Erfahrungen unabhängiger, sozialer Selbstorganisation wurden dann 1903/04 politisch stark im Kampf für konstitutionelle Reformen in der russischen Gesellschaft. Anfang des 20. Jahrhunderts assoziierte man nun Öffentlichkeit mit dem Potential kritischer, gesellschaftlicher Meinungen und mit Gruppen von Menschen, die gesellschaftliche Pflichten wahrnahmen und der staatlichen Dienstverpflichtung vorarbeiteten – die res publica war nun zu einer „gesellschaftlichen Sache“7 geworden. Zwei wichtige Elemente des Verständnisses von Zivilgesellschaft sind also im russischen Verständnis vom Öffentlichkeit enthalten: zum einen eine Sphäre öffentlichen Meinungsaustauschs und staatsunabhängiger Diskussionsprozesse, und zum anderen die Praxis gesellschaftlicher zivilgesellschaftlicher Selbstverwaltung. Entwicklung ist Marktwirtschaft im russischen, als dritte historischen Grundlage Kontext nie entpolitisiert oder nicht-staatlich zu sehen. Die ökonomische Bourgeoisie zur Jahrhundertwende identifizierte sich nicht mit der Öffentlichkeit, sondern schloss Allianzen mit der staatlichen Bürokratie und mit konservativen Parteien. Eine Marktwirtschaft, welche die Privateigentümer eint, fehlt in Russland historisch. Zu Sowjetzeiten existierte ein System interpersonaler Beziehungen, welches um Distribution und Bedarf herum organisiert war, allerdings inoffiziell und nicht-öffentlich in Freundschaftsstrukturen oder Händel- und Klientelbeziehungen eingebettet. Dieses System nicht-staatlichen, quasi-ökonomischen Austauschs war eine sehr wichtige Form des gesellschaftlichen Zusammenhaltes außerhalb des Staates und bildete eine paradoxe, private und gleichzeitig gesellschaftliche Sphäre. Sie konnte den Staat untergraben und ihn privatisieren, übte jedoch keinerlei Einfluss auf die Entwicklung von legalen Rechten wirtschaftlicher Tätigkeit aus. Während also in westlichen Gesellschaften durch wirtschaftlichen Wachstum und Wohlstand eine politische Interessensartikulation und somit die Formierung einer zivilen Sphäre und die Entwicklung eines umfassenden Rechtssystems möglich wurde, kann dieser Prozess in Russland zu wirtschaftlicher Freiheit und Entwicklung der Marktwirtschaft nur anders herum, also durch die Errungenschaften einer lange erkämpften, öffentlichen Sphäre verlaufen. Dies ist für Wolkov der Schlüssel zum Verständnis der russischen Zivilgesellschaft. Das Erbe einer langen, instabilen und jahrzehntelangen Unterdrückung und ihre spezifischen Entstehungsvoraussetzungen 7 russ. „delo obschestwennoje“ 14 markieren die entscheidenden Unterschiede zu westlichen Konzepten von Zivilgesellschaft. Blick auf die russische Zivilgesellschaftsdebatte Es existieren nur wenige theoretisch ausgearbeitete Untersuchungen zum Thema der Zivilgesellschaft im modernen Russland. An einigen Beispielen aus der russischen, sozialwissenschaftlichen Literatur sollen nun die wichtigsten Merkmale einer russischen Beschäftigung mit Demokratisierungsprozessen, denn dafür steht das Konzept der Entwicklung einer zivilen Sphäre in postsowjetischen Gesellschaften, erläutert werden. Alexander Schulepov bringt den moralischen Ansatz aller russischen Beschäftigungen mit Zivilgesellschaft auf den Punkt: „Zivilgesellschaft ist in Russland der Schlüssel zur Tür der Welt der Freiheit [...], der Hebel zur Bildung von Demokratie und Marktwirtschaft“ (Schulepov 2001: 3). Die Vorstellung von einer offenen Gesellschaft, welche gegründet ist auf politischen Pluralismus, bürgerlichen Konsens und sozialen Partnerschaften verschiedener Gruppen der Gesellschaftsmitglieder, münden in ein basales Konzept von Zivilgesellschaft. Durch die Sozialisation der Individuen in einer nicht-staatlichen, gesellschaftlichen Sphäre gelangt es in den Status eines sozialen Subjektes, welches mit der Möglichkeit zur Selbstäußerung in Wechselbeziehungen mit anderen, interessenbehafteten Subjekten tritt. Der äußere, allgemeine Rahmen dieser Beziehungen, welche sich in Selbstverwaltung aller Teilnehmer organisieren, bildet ein für alle verbindliches Zivilrecht, welches sich stützt auf externe, staatliche und flexible Reglementierungen und auf innere, dauerhafte Regulatoren wie Sitte, Gewohnheit, Tradition, moralische Normen und Stereotype des Benehmens – eben auf einen normativen Minimalkonsens. Die Integration der einzelnen, selbstorganisierten Teile der Gesellschaft erfolgt über ein System horizontal, also hierarchisch vernetzter Verbindungen und Informationskanäle, welche auf der Basis einer gegebenen, sozial-kulturellen Gemeinschaft, einem gemeinsam geteilten Sinnverständnis und Symbolverstand funktionieren. Die dadurch geschaffene basale Form interpersonaler Solidarität entfaltet sich in einem breiten Diskurs gesellschaftlich-politischer Kräfte, die als Mittel zur Erreichung von Übereinstimmung und Stabilität spezielle Abstimmungsmechanismen auseinandergehender Interessen und Konfliktregulationen nutzen - eine Konfliktsphäre also, die immer auf eine Einheit und auf Konsens zustrebt. 15 Die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen als interessensgeleiteter Zusammenschluss sozialer Subjekte in Assoziationen und Institutionen sollte sich für Schulepov durch die Formierung von gesellschaftlicher Meinung aus der sozialen Umgebung der Organisationen selbst bilden. Als ein demokratisches Potential jeder solcher Vereinigung ist die Erkenntnis zur Notwendigkeit der gemeinsamen Teilhabe der Bürger am politischen Prozess handlungsleitend. Die Quelle einer sich entwickelnden Zivilgesellschaft ist also die Massenaktivität. Genau hier liegt aber auch für Schulepov der Grund für den langsamen und unzureichenden Fortschritt des Aufbaus einer Zivilgesellschaft in Russland. Die Mobilisierung gesellschaftlicher Massenaktivität ist für ihn an gesellschaftliche Einrichtungen und Institutionsstrukturen geknüpft, welche die demokratischen Aktivitäten der Bevölkerung stimulieren und bündeln sollen. Dazu gehören vor allem politische Parteien und gesellschaftliche Zusammenschlüsse, deren definitorische Bedeutungen sich in der Praxis nicht immer trennen lassen. Beide drücken sie aber Interessen bestimmter gesellschaftlicher Kräfte aus, welche sie gegen den Staat zu schützen und durchzusetzen versuchen. Kirchen und religiöse Vereinigungen und unabhängige Medien gehören ebenfalls zur Grundstruktur zivilgesellschaftlicher Institutionen, deren Existenz die demokratische Entwicklung der Gesellschaft im sich reformierenden Russland bedingt. Allerdings stehen dem einige Situationsmerkmale im gegenwärtigen Russland entgegen. Die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Strukturelementen findet unter Bedingungen eines akuten Defizits an Vertrauen der Bevölkerung zu Institutionen sowohl des Staates als zu den neuentstehenden zivilen Vereinigungen statt. Die Tätigkeiten letzterer beziehen sich meist in sogenannten „nicht-staatlichen Organisationen“ auf zivile Initiativen wie sozialkulturelle Zusammenschlüsse, welche die Interessen verschiedener, z.B. ethnischer Gruppen präsentieren und beschützen. Dennoch herrscht hier die gesellschaftliche Meinung vor, dass die Leiter solcher Organisationen nur ihre eigenen Interessen vertreten. Das höchste Vertrauen genießt die Prawoslawische Kirche, während Berufsverbände und Parteien nur das geringste Vertrauen für sich verbuchen dürfen8. Mit dem niedrigen Vertrauensniveau geht ein generell niedriges politisches Engagement und soziale Passivität der Mehrheit der russischen Bevölkerung einher. In Meinungsumfragen kam heraus, dass nur noch sehr wenige regelmäßig in einen Gottesdienst 8 gehen und das Teilnehmen an Veranstaltungen nicht-staatlicher Rossija: Zentr i regionij. Wypusk 5, Moskwa 2000, c. 242. 16 Organisationen nicht erwünscht ist9. Die Untersuchungen machen auch deutlich, dass die Tätigkeiten politischer Vereinigungen und zivilgesellschaftlicher Institutionen in der Meinung der Befragten sich über ihre eigenen Strukturen oder über die immer mehr politisierten Medien regeln. Kaum jemand glaubt, dass jede Partei die gleichen Präsentationschancen in den Medien hat oder dass die Parlamentswahlen nicht manipuliert sind. An diesem Punkt gerät nun der Staat bzw. die Regierung ins Blicklicht, welche durch eine entsprechende Gesetzgebung die Beziehung zwischen staatlichen Machtorganen und nichtstaatlichen Institutionen harmonisieren soll, indem sie zum einen gesellschaftliche Initiativen unterstützt und sich zum anderen von „fremden“ Funktionen befreit. Im Spiegel von Meinungsumfragen erkennt man aber, wie wenig die Befragten von der staatlichen Erfüllung von Demokratisierungsnormen (z.B. soziale Sicherheit und Gleichheit aller vor dem Gesetz) überzeugt sind10. Politische Parteien und unabhängige Medien sind für Schulepov die wichtigsten Träger eines Demokratisierungsprozesses im sich transformierenden Russland, welche das größte Einflusspotential auf die russische Bevölkerung auszuüben in der Lage sind. Die Bildung politischer Parteien ist in der postsowjetischen Gesellschaft aus der seit der Perestroika sich etablierenden nicht-staatlichen Sphäre hervorgegangen. Vormals staatlich kontrollierte Organisationen gingen in gesellschaftliche Obhut über (wie Berufsverbände oder Handelsvereinigungen und Kulturvereine) und bildeten zusammen mit neu gegründeten Interessensvereinigungen und gesellschaftlichen Organisationen den Mutterboden, aus dem alleine bis 1995 200 allgemein politische Organisationen und 50 Parteien wuchsen (Schulepov 2001: 16). In einer Situation, in der zerrissene politische und ökonomische Interessen sozialer Subjekte in einem chaotischen, unregulierten Kampf um gesellschaftliche Macht stehen, kommen Parteien Ordnungsfunktionen als wichtigen Beitrag zur Bildung einer politischen Kultur zu. Indem sie Wissen (z.B. über Problemlagen im Land) verteilen, emotionale Anknüpfungspunkte für ein individuelles und intersubjektives Zugehörigkeitsgefühl zum staatlichen Ganzen bieten und bestimmte Werte durch die Vertretung bestimmter Weltanschauungen und Lebensauffassungen bestärken, tragen sie zu ordnenden Aggregierungen politischer Interessen und zur Integration in einen politischen Konfliktraum bei. 9 Soziologija meschdunarodnich otnoschenije w zifrach. Moskwa 1999, c. 106 Rossija: Zentr i regionij. Wypusk 6, Moskwa 2000, c. 66: „Sind folgende demokratische Normen erfüllt?“ : z.B. soziale Sicherheit – 12 %, Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz – 8 %. 10 17 Doch diese Funktionen können politische Parteien im gegenwärtigen Russland aus mehreren Gründen immer weniger erfüllen. Zum einen liegt das an der chronischen Kurzlebigkeit vieler parteilicher Zusammenschlüsse, deren Handlungsfähigkeit durch ihre ideologische Undefiniertheit und der instabilen Kraft von Führungspersönlichkeiten und PR-Kampagnen äußerst gering ist. Zum anderen verlaufen parallel zu einer extremen Verarmung breiter Teile der russischen Bevölkerung11 Prozesse sozialer Spaltungen durch die russische, postkommunistische Gesellschaft, welche die Menschen teilt in politische Gewinner und Verlierer, in Befürworter einer freien Marktökonomie und in die in dessen Vandalismus Überzeugten, und in diejenigen, welche sich mit der Russischen Förderation identifizieren, und die, welche die UDSSR als ihre Heimat betrachten. Einer Manipulation sozialer Identifikationen von Individuen und sozialen Gruppen sind unter diesen Bedingungen günstige Weichen gestellt. Nischen- und Unterstützungsgruppen charismatischer Führungspersönlichkeiten reagieren auf einzelne gesellschaftliche Impulse und bedingen massiven Wählerumschwung, Protestwählerschaft und kurzweiligen Auftritt einzelner Parteien auf der politischen Bühne. Eine kontinuierliche Aggregierung und Entwicklung allgemein politischer Interessen im Sinne demokratischer Orientierungen ist unter den Bedingungen eines ausufernden, undifferenzierten, instabil polarisierenden Parteienpluralismus hoch erschwert. Unabhängige Medien sind für Schulepov ein weiteres Merkmal und zugleich Institution von Zivilgesellschaft. Neben der Informationsverbreitung über Entwicklungen und Ereignissen auf allen geografischen Ebenen erfüllen die Medien auch ein Reihe spezifischer, sozialer Funktionen. Im Kontext eines gegenwärtigen Russlands, also in einer polarisierten, sozial angespannten Gesellschaft, sind die Medienorgane Quellen der Entwicklung von Toleranz und der Vorstellung einer „Schicksalseinheit und der Notwendigkeit gemeinsamer Bemühungen aller Russen“ (Schulepov 2001: 39) zur Verbesserung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lage. Diese ideologische Funktion der Verbreitung von Gedanken und der Bildung eines psychologischen Klimas zur Mobilisierung und Unterstützung der Menschen im Land soll zusammen mit dem professionellen, administrativen Apparat, den politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen den eigentlichen Stoff des Politischen weben. Doch die Spannungen mehren sich zwischen der Privatisierung staatlicher Medienorgane (und mittlerweile auch der Rückverstaatlichung am Beispiel des Kanals NTW) und der Gesetzgebung zur Medienfreiheit. Trotzdem können die Medien in Abwesenheit von 11 ungefähr 30 Millionen Russen lebten 2003 unter dem Existenzminimum von umgerechnet ca. 60 Euro 18 effektiven Parteien und in der Schwäche von linker und rechter Opposition eine reale Plattform bieten zur demokratischen Einflussnahme auf die Politik Russlands. Medien vermitteln Macht, sind der Anknüpfungspunkt zur Erfassung der Wählerschaft und der Brennpunkt der Bildung öffentlicher Meinung. Doch ist die Entwicklung einer unabhängigen Medienlandschaft als eine Kommunikationsplattform und freie, gesellschaftliche Institution von Zivilgesellschaft an erschwerende Besonderheiten geknüpft. In Russland hat zwar die Mehrheit der Bevölkerung einen Fernseher, doch außerhalb der Großstädte empfängt man oft nur einen Sender. Journalisten sind in einer Presse, die stark auf Skandale und Sensationen ausgerichtet ist, so sehr vom Markt abhängig, dass im Namen der Freiheit des Wortes eine unkontrollierte Flut an populären Inhalten produziert wird und das Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und Journalisten auf „richtige“ Informationen heftig schwindet. Neben Parteien und Medien gibt es in der russischen Beschäftigung mit Zivilgesellschaft noch eine dritte Institution in der gesellschaftlichen Sphäre. Für die Autoren Konowalowa und Jakimez sind modernisierende Prozesse in Russland zwar auf Veränderungen in der Organisation der Machtstrukturen im Lande gerichtet, doch schaffen diese keine Möglichkeiten zur Teilhabe der Bevölkerung und rücken jene nicht als ihr zentrales Objekt in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten. Ihrer Meinung nach kann sich die Realisation der demokratischen Reformierung und Transformierung des staatlichen Apparates nur unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen ausdrücken. In diesem Sinne muss es zu einer gemeinsamen Verantwortungsnahme der Teilnehmer am gesellschaftlichen, unternehmerischen und staatlichen Aufbau in Form von sozialen Partnerschaften zur Entwicklung einer gemeinsamen, effektiven Sozialpolitik kommen. Zivilgesellschaft darf in diesem Rahmen nicht auf die Existenz von NichtRegierungsorganisationen (NGO´s) oder auf nicht-kommerzielle Organisationen (NKO´s) reduziert werden, da sich durch die Veränderungen in allen drei (staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen) Sektoren gegenseitige Handlungskompetenzen nur in der Gründung von rechtlichen, ökonomischen und organisatorischen Bedingungen in partnerschaftlichen Wechselbeziehungen der örtlichen Selbstverwaltung, der Wirtschaftstruktur und der staatlichen Verwaltung bzw. Entscheidungsvollmachten realisieren und sichern lassen. So ist die zivile Sphäre in diesem Sinne eher ein Kontakt-, Kommunikations- und Handlungsraum, in dem souveräne Individuen in der Trägerrolle eines Sozialsinns und gleichzeitig als eines seiner Objekte die Entstehung, Entwicklung und Institutionalisierung von bürgerlichen Initiativen begründen. Die staatliche Macht 19 kann nicht aus sich allein heraus seine Kraft realisieren, sondern die Wechselbeziehungen mit der sozialen Macht des sich in Initiativen und gesellschaftlichen Vereinigungen verwirklichenden Sozialsinns ergänzen und bedingen ihre Existenz. Zivilgesellschaft ist also zum einen die Gesamtheit aller selbsttätigen Organisationen, welche institutionell die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen formulieren und bestärken, und zum anderen ein System von Beziehungen und Verbindungen dieser Gruppen zum Staat, welche die Legitimität des politischen Regimes unterstützen oder negieren. Neben unabhängigen Bildungs-, Wirtschaftseinrichtungen, Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen haben demnach solche Assoziationen und Fonds einen besonderen Platz in der zivilen Sphäre, welche die Interessen verschiedener Alters-, Berufs- und Sozialgruppen präsentieren. NGO´s bilden ein Handlungsfeld, um innerhalb eines gesetzlichen Rahmens Druck auf die staatliche Macht auszuüben (z.B. durch Lobbyismus oder Massenprotest), um Gesetze vorzubereiten, staatlich strategische Entscheidungen zu beobachten und zu beurteilen, und um an Sozialprogrammen der Regierung teilzunehmen12. Allerdings gibt es einige Gründe für die sehr schwache, reale Position und Kraft vieler gegenwärtiger NGO´s in Russland. Zum einen verringern zweifelhafte Machenschaften einiger Organisationen (z.B. die Zurückhaltung oder „Fremdnutzung“ finanzieller Mittel der Gründungsmitglieder) den Tätigkeitsrahmen aller anderen Vereinigungen, und zum anderen bringt eine unvollkommene Gesetzgebung, z.B. im Besteuerungssystem nichtkommerzieller Organisationen, in der Rechenschaftslegung und Transparenz und in der Regelung von Lobbyismus und Finanzmittelvergabe, soziale Vorhaben auf eine Eisschollenlage. Dass dann noch viele NGO´s keine konkreten Zielvorgaben pflegen, sondern meist nur in der Rolle des Bittstellers verharren, trägt genauso wenig zur Errichtung eines institutionellen Tätigkeitsrahmen bei, wie die Fremdheit und der fehlende praktische Austausch von Organisationen, welche sich auf demselben Gebiet engagieren13. Vor dem Hintergrund scharfer sozialer Spaltungen in der russischen Gesellschaft, einer Vielzahl von (bürokratischen) Barrieren für die Entwicklung von Unternehmertum, der politischen Apathie großer Teile der Bevölkerung und einer hohen Korruption auf verschiedenen, staatlichen Machtebenen wird sich Zivilgesellschaft in der Rolle eines organisatorischen Vermittlers zwischen der Gesellschaft und dem Staat bzw. der einzelnen 12 Eine Statistik der UNESCO (1999) zeigt, dass 34,8 % der russischen NGO´s auf dem Gebiet der Bildung, Wissenschaft und Kultur tätig sind, 16,5 % professionelle Arbeit für Berufsgruppen und 15,8 % humanitäre, wohltätige Hilfe leisten und es 13,2 % Frauenorganisationen sind. Nur 5,2 % sind Menschenrechtsorganisationen. 13 Deshalb besteht ein bedeutender Teil von großen NGO´s gegenwärtig darin, Seminare, Konferenzen und Netzwerke für Mitglieder von anderen NGO´s zu gründen, Informationen zu verteilen und Zusammenschlüsse zu organisieren. 20 Person und dem Staat vorgestellt. Das Problem der gesellschaftlichen und parlamentarischen Kontrolle des staatlichen Apparates, z.B. in der Aufdeckung und Abschwächung von Korruption und in der gesellschaftlichen Mitbestimmung von Budgetnutzungen, ist unter den Bedingungen von ausbleibender Rechenschaftslegung politischer Akteure, inexistenter Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse und der Vorgesetztentreue und Bürgerignoranz vieler Beamten eine der schwersten Aufgaben zivilgesellschaftlicher Akteure. Die Realisierung sozialer Tätigkeiten sehen Konowalowa und Jakimez in intersektoralen Partnerschaften zwischen staatlichen Organen, wirtschaftlichen Unternehmen und nichtkommerziellen Organisationen, welche in der russischen Praxis meist in Dialogen und zeitlich festgelegten, sozialen Allianzen für konkrete Ziele realisiert werden, z.B. in Wechselbeziehungen zwischen Berufsverbänden und Arbeitgebern, um über Arbeitsschutz zu beraten und zu verhandeln. Diese Partnerschaften haben allerdings meist lokalen und kurzweiligen Charakter, da es zum einen in der Wirtschaft an klaren, verständlichen, realistisch strategischen Orientierungen zur Umgestaltung des Landes fehlt, und zum anderen auch in den gesellschaftlichen Initiativen konkrete Pläne für intersektorale Zusammenarbeit nur selten existieren. Zwischen dem sich transformierenden Staat und dem entstehenden, nicht-kommerziellen Sektor gibt es drei verschiedene Felder von Wechselbeziehungen bei der Realisation von Projekten und Programmen zur Lösung sozialer Probleme. Quasi-sowjetische Beziehungsstrukturen sind das Erbe traditioneller, also noch in der Sowjetperiode gebildeter Möglichkeiten der Wechselbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürger. In engen Bindungen an Regierungsstrukturen erhalten gesellschaftliche Organisationen repräsentative Funktionen, wird gezielte Unterstützung elitären Vereinigungen (z.B. Veteranenorganisationen) zuteil und werden finanzielle Mittel schon lange im Budget bereitgehalten für Veranstaltungen, welche von gesellschaftlichen Organisationen weit vorher in Absprache vorbereitet wurden. Dem gegenüber haben sich innovativ neue Zusammenarbeiten während der Zeit der Perestroika herausgebildet. Wettbewerbe werden immer öfter als Mechanismen der Erfüllung des staatlichen sozialen Auftrages veranstaltet. Zum einen geht es um die Ausführung bestimmter sozialer Dienstleitungen wie z.B. Resozialisierungsprogramme, Finanzierung von Pflegefamilien und Rehabilitationsprogramme für Alkoholsüchtige. Zum anderen werden neue Organisationsstrukturen in Zusammenarbeit zwischen Regierungsorganen und zivilen Vereinigungen gegründet, in deren Aufgabenbereich die Lösung bestimmter sozialer Probleme vom Staat delegiert und 21 Sozialpolitik „ausgelagert“ wird, wie z.B. das Zentrum „Kinder der Straße“ in Moskau. Ein dritter Bereich innovativer Zusammenarbeit ist die gemeinsame Errichtung eines System prozeduraler Mechanismus zur sozialen Arbeit durch, z.B. Gesetzesinitiativen, Veranstaltung von Bürgerforen und runder Tische. Ein devianter Auswuchs der intersektoralen Wechselbeziehungen sind mutierte Kooperationen. Quasi-politische Vereinigungen, welche nur die Interessen ihres Besitzers vertreten und quasigesellschaftliche Organisationen, welche nur in Kontakt mit dem Regierungsapparat treten, um ihn zu kontrollieren, schwächen den strukturellen Aufbau einer zivilen Sphäre genauso wie die Gründung von Vereinigungen durch staatliche und wirtschaftliche Akteure, um finanzielle Mittel aus öffentlichen Kassen in die Taschen der vermeintlichen Wohltäter fließen zu lassen. Der Wachstum einer nicht-staatlichen Sphäre der Gesellschaft ist in russischen Debatten einer der Hauptindikatoren gesellschaftlicher Konsolidierung. Eduard Fomin beschreibt diese als einen Zwischenlink zwischen Staat und Markt und als die Repräsentation gesellschaftlicher Institutionen auf einem eigenständigen, dritten Sektor14. Hier erfolgt die Integration der Individuen in die bestehende Gesellschaftsform nach nicht-staatlichen und nicht-marktwirtschaftlichen Prinzipien. Die Tätigkeiten der Individuen und Organisationen des dritten Sektors bestehen im allgemeinen darin, staatliche und private (also privatwirtschaftliche) Mittel in Übereinstimmung mit den sich ändernden sozialen Situationen adäquat, d.h. den Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten entsprechend, umzuverteilen in Form von sozialen Programmen. Die bisher existierenden Formen ziviler Institutionen einer nicht-staatlichen Sphäre in Russland sind Resultate langjähriger Konflikte und Kompromisse zwischen staatlicher Macht, Marktsubjekten und den eigentlichen Bürgern des Landes über die Anteile ihrer Verantwortung und über das Ausmaß ihrer Teilhabe an der sozialen Reproduktion. Die Kompromissfindung begrenzt damit „eine Tendenz zur Polarisation von Lebenshorizonten verschiedener Menschen und sichert den Erhalt gesellschaftlicher Zustimmung“ (Fomin 1996: 18). In der ehemaligen UDSSR waren gesellschaftliche Organisationen Elemente des Staates, sie wurden durch ihn gegründet und beendet. Ihre zentralistische, hierarchische Struktur umfasste den gesamten Bereich öffentlichen Lebens und funktionierte zur rituellen Teilhabe eines Jeden an den Dingen der gesamten Gesellschaft und zur symbolischen Demonstration gegenüber dem sowjetischen Regime. Die Mitgliedschaft in einer dieser Vereinigungen war gleichzusetzen mit Vertrauenswürdigkeit und unterstützte den Weg in 14 in der russischen Zivilgesellschaftsdebatte wird der gesellschaftliche Raum meist aufgeteilt in den 1. Sektor (Staat), den 2. Sektor (Markt) und den 3. Sektor (gesellschaftliche Organisationen) 22 bestimmte Machtpositionen und den Zugang zu status-privilegierten Gruppen. Die Zugehörigkeit zu einer Organisation diente vor allem der Unterstreichung der Allgemeinheit, zur Demonstration der Kollektivität und schloss eine Verschiedenartigkeit und Individualität aus. Während also in den westlichen Demokratien zivilgesellschaftliche Organisationen meist als Reaktion auf eine sterbende Vergesellschaftung, als Begrenzung der Individualität und als Bestärkung solidarischer und kollektiver Interessen gegründet wurden und werden, ereignet sich der Entstehungsprozess für Fomin in postsowjetischen Russland genau anders herum. Hier geht es um die moralische Rechtfertigung der Individualität und um die radikale Entstaatlichung und Entvergesellschaftung dessen, was gewaltsam sozialisiert wurde. Zum einem deshalb und zum anderen wegen der verschiedenartigen, sozialen Natur der Organisationen, die aus der Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse, als deren Antwort die einzelnen Vereinigungen entstehen, formieren sich bisher auf dem russischen dritten Sektor keine einheitlichen, gesellschaftlichen Kräfte. Es existiert eine bedeutende Anzahl an Organisation, welche noch in der Sowjetzeit gegründet worden sind und Personen mit besonderen sozialen Status vereinigen (z.B. Veteranenvereine). Heute sehen sie ihre Aufgabe im Streben um die Wiederaufnahme staatlich-finanziellen Mittelflusses durch politischen Lobbyismus. Seit den 90er Jahren gründete der russische Staat selbst oder initiiert Gründungen von gesellschaftlichen Organisationen. Durch dieses Element sozial-ökonomischer Reformen verzichtet die staatliche Bürokratie auf den Paternalismus als leitendes Motiv seiner Sozialpolitik. Damit reagiert er auf sein eigenes Handlungsvakuum, das sich als Folge seiner Unvorbereitetheit auf eine institutionelle, soziale Sicherung nach dem Ende der Planwirtschaft und einem kollektivistischen Gesellschaftsregime ergab. Marktwirtschaftliche Risiken sollten nun außerhalb des staatlichen Rahmens durch die staatlich initiierte Gründung einer quasigesellschaftlichen Struktur aufgefangen werden, welche nun eine Demokratisierung des offiziellen Systems sozialer Einrichtungen sozusagen „von oben“ vorantreiben sollte. Die Mehrheit nicht-staatlicher Vereinigungen wurde in der Periode massenhafter Investitionen ausländischer humanitärer Hilfsorganisationen in den 1990er Jahren gegründet. Ihre Aufgabe war die sichere Leitung humanitärer Hilfe an die bedürftigen Bevölkerungsschichten. Durch ihren juristischen Empfängerstatus, der sie zum Erhalt bestimmter Volumina humanitärer Fracht berechtigte, waren sie eher Vereinigungen von Wohltätigkeitsempfängern. Da nun der Strom humanitärer Hilfe abgeebbt ist und viele Organisationen ihre Aufgaben erledigt haben, stellt sich die Notwendigkeit neuer Aufgabenstellungen. Doch die Rückkehr vom Objekt von Wohltätigkeit zum Subjekt 23 aktiver Sozialpolitik ist unter dem Erbe sozialistischer Verteilungsideologie bei vielen Vereinigungen nur schwerlich ein Thema. So fehlen zum Beispiel außer in Moskau und St. Petersburg in vielen Regionen der russischen Förderation Menschenrechtsorganisationen als Indikator des Aufbaus und der Unabhängigkeit eines dritten Sektors. Die Artenvielfalt der Organisationen und eine unzureichende Gesetzgebung, eine in den Anfängen steckende Reglementierung der staatlichen Ressourcenverteilung und das Fehlen legitimer Prozeduren von Konkurrenz lässt den dritten Sektor aber zu einem diffusen Geflecht von unklaren Kooperationen und harten materiellen Kämpfen werden, welches partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Organen der Macht auf der einen, und mit dem einzelnen Bürger auf der anderen Seite ineffektiv macht und oft schon die Anfänge von sozialen Projekten empfindlich stört. Auf der mikrosoziologischen Ebene haben sich einige russische Autoren mit konkreten zivilgesellschaftlichen Akteuren beschäftigt. Elena Dsrawomyslowa hat in einer sozialhistorischen Arbeit am Beispiel eines Leningrader Kaffees die Formierung und Nutzung eines öffentlichen Raumes zur Konstitutionierung einer Kontrakultur in der sowjetischen Gesellschaft der 1970er bis 1990er Jahre beschrieben. In diesen Jahren begann sich in den russischen Industriezentren eine Voraussetzung von Zivilgesellschaft zu bilden, nämlich eine vom Staat unabhängige Sphäre kollektiver Initiativen, welche sich gegen die Rahmenbedingungen der sowjetischen Gesellschaft wie Schattenwirtschaft, Klientelismus, begrenzter Arbeitsmarkt und nichtlegale Tätigkeiten legaler Organisationen abzugrenzen versuchten. Die sich in der Breschnew-Epoche öffnenden Möglichkeiten eines öffentlichen Raumes alternativer Kommunikation verwirklichten sich in der großstädtischen Kaffeekultur, z.B. im Leningrader Kaffee „Saigon“. Diese Kaffees waren Konzentrationspunkte bestimmter kultureller Praktiken und Einstellungen, welche in einer Opponentenrolle zur dominierenden, offiziellen Kultur der Sowjetunion zu sehen sind. Die Träger dieser alternativen kulturellen Sphäre drückten somit Kritik und Reflexion gegenüber der verstaatlichten, durchideologisierten Sowjetkultur aus, zielten aber in ihrem eigenen Kommunikationsraum ebenfalls auf die Bildung und Wahrung einer kollektiven Identität ab. Innere, kommunikative Konflikte hatten keine Bedeutung, denn die gemeinsame Zielrichtung der Formierung eines eigenen Raumes in der sozialen Infrastruktur der sowjetischen Herrschaft, in dem bestimmte Werte, Glaube, Attitüden und Lebensstile als Bausteine einer alternativen Gemeinschaft galten, einte die Kräfte und Interessen. Aus der Gegenposition zu herrschenden Normen und Werten des sowjetischen Lebensstils, des Familienlebens und der üblichen Statusvergabe waren die Mitglieder einer 24 Kontrakultur starken existentiellen Risiken ausgesetzt, welchen sich aber in Gemeinschaft besser begegnen ließ, ob nun mit psychischer Unterstützung oder der Vermittlung von Arbeitsplätzen. Das Bewusstsein als Risikogemeinschaft als konstituierendes Element zivilgesellschaftlicher Organisationen beschreibt auch Larissa Boitschenko in ihrer Untersuchung zu Frauenorganisationen in der nordrussischen Republik Karelien. Die Problemfelder der weiblichen Bevölkerung in der Russischen Förderation sind demnach nicht begrenzt auf Familie und Kindererziehung, sondern verbunden mit Veränderungen der Tätigkeitsfelder in der russischen Wirtschaft, mit der strukturellen Reorganisation der Produktion, mit der sozialen Infrastruktur postsowjetsicher Gesellschaften und mit breiten Migrationsprozessen. Seit dem Anfang der Perestroika in den 1980er Jahren gründeten sich auch Frauenbewegungen und Vereinigungen als nichtstaatliche und gesellschaftliche Organisationen. Die gleiche Bedeutung aller Menschen, Männer wie Frauen, im entstehenden Pluralismus diente als Kritikschablone im gesellschaftlichen Öffnungsprozess der Perestroika. Seit den 1990er Jahren teilt sich die Tätigkeit der Mitglieder von Frauenvereinigungen in drei Richtungen. Zum einen wird zur Risikokompensation Haushaltshilfe zur Verfügung gestellt und Programme zur Ausbildung von (Haus- und Hof-) Wirtschaftsführerinnen angeboten. Zum anderen engagieren sich die Mitglieder im politischen Feld, wo sie entweder selber aktiv werden und sich z.B. als Abgeordnete in den Stadtrat wählen lassen, oder andere Frauen bei solchen Wahlen, wie zur gesetzgebenden Versammlung, unterstützen. In diesen Positionen ist eine Kritik struktureller und gesellschaftlicher Zustände zu verwirklichen, welche, und das ist das dritte Tätigkeitsfeld, durch Diskussionsprozesse in Frauenklubs und durch wissenschaftliche Untersuchungen in Institutionen zu Gender-Studien entwickelt werden. Dabei gehen die Akteurinnen dieser Organisationen davon aus, dass eine effektive Tätigkeit der politischen bzw. staatlichen Machtrepräsentanten ohne Brücksichtung der öffentlichen Meinung und der aktiven Partnerschaft mit gesellschaftlichen Vereinigungen nicht möglich ist. Denn durch ihre Tätigkeiten stellen sie Dienste zur Verfügung, die ein fragiles soziales Netz stärken, welches von staatlichen Einrichtungen nicht mehr erhalten werden kann. Um die Formierung von Zivilgesellschaft in Russland in Entstehungsetappen anschaulich zu machen, untersucht Viktor Woronkov die Bildung ethnischer Gemeinschaften in St. Petersburg. An diesem Beispiel erkennt er die Formierung der Angehörigen verschiedener Ethnien zu freien Assoziationen, welche in organisierter, kollektiver Tätigkeit mit dem 25 staatlichen System um ihr Existenzrecht kämpfen und versuchen, außerhalb staatlicher Kontrolle ihre Interessen zu verwirklichen. Während des Sowjetregimes wurden alle Entwicklungen ethnischer Identitäten außerhalb der ideologischen Selbstsicht als Sowjetmensch hart kontrolliert und unterdrückt. Die seltenen Versuche einzelner Aktivisten zur Bewusstseinsformierung ethnischer Minderheiten fanden im Rahmen der Dissidentenbewegung bis Mitte der 80er Jahre statt. In der UDSSR existierten zwar legale gesellschaftliche Organisationen, doch waren sie keineswegs freie Interessensassoziationen, sondern Teil der umfassenden staatlichen Kontrolle aller gesellschaftlichen Tätigkeit. Freie organisierte Tätigkeiten als Elemente einer Zivilgesellschaft fanden entweder illegal oder unter verschlossenen Augen der lokalen Machtrepräsentanten statt. Ethnische Minderheiten fanden sich in halb- oder nichtlegalen Organisationen religiösen, kulturellen oder politischen Typs zusammen, organisierten Seminare und Fonds zur gegenseitigen Hilfe oder errichteten nach ethnischen Prinzipien soziale Netzwerke. Erst mit dem Einsetzen der gesellschaftlichen Transformation und der Entwicklung zu einer immer weniger sanktionierenden staatlichen Macht verbanden sich einzelne zivilgesellschaftliche Elemente zu einer nichtstaatlichen Sphäre. In denen nun um Legalisierung kämpfenden ethnischen Organisationen formierten sich immer neue Interessen, welche nun gemeinschaftlich ihre Realisierungschancen steigern. Zum einen nährt sich dort der politische Kampf um die Verabschiedung von Gesetzen zur Anerkennung und Unterstützung ethnischer Minderheiten und die Kritik an den demokratischen Zuständen in Bezug auf Teilhaberechten am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gemeingut. Zum anderen bieten diese Organisationen Überlebens- und Existenzstrategien für ihre Mitglieder an, für die ihre ethnische Zugehörigkeit nun zu einer instrumentellen Ressource zur Risikoabsicherung wird. Die Verwurzelung in ethnifizierten Wirtschaftsräumen, wie z.B. die Lebensmittelbranche, oder die Arbeitsplatzvermittlung innerhalb der ethnischen Gemeinschaften sichert die Existenzen der Zugehörigen und bindet sie ein in die Hilfe ethnischer, sozialer Netzwerke. Schlussbetrachtungen Wenn man die russischen Überlegungen und Beobachtungen bezüglich einer Zivilgesellschaft im Spiegel der vorangestellten deutschen Konzeptionen betrachtet, lassen sich schnell zwei Bemerkungen machen. Zum einen zielt in der russischen Debatte wie in 26 der deutschen zivilgesellschaftliche Tätigkeit immer auf die res publica und auf die Ausbildung demokratischer Grundbausteine wie Fairness, Bürgersinn und Gewaltlosigkeit hin. Zum anderen ist das Merkmal der staatlichen Unabhängigkeit gesellschaftlicher Tätigkeiten im russischen Kontext nicht so eindeutig auszumachen. Entweder versuchen staatliche Strukturen selbst Bausteine gesellschaftlicher Institutionen zu gründen oder sie beziehen nicht-staatliche Organisationen in eine von ihnen festgelegte (sozial-)politische Richtung mit ein. Das Potential einer Initiation von Demokratieentwicklung in Russland kommt in den theoretischen Konzeptionen allerdings politischen Parteien, den Medien und den nicht-staatlichen Organisationen zu, die in einer Opponentenrolle zu staatlichen Strukturen gesehen werden. Bürgersinn und soziales Kapital sollen als Moralfaktoren eine Interessensformierung in der Gesellschaft aktivieren und durch die Tätigkeiten gesellschaftlicher Organisationen als grundlegende Ausrichtungen des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbaus Russlands fungieren. Mit der Formierung einer öffentlichen Sphäre durch die Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen sollen kollektive Interessen der Gesellschaftsmitglieder entweder durch politische Parteien aufgenommen und in politische Prozesse übersetzt werden oder durch intersektorale Partnerschaften gesellschaftliche Probleme gelöst werden. Die in den Tätigkeiten, Forderungen und Interessensartikulationen von öffentlichen Vereinigungen eingeprägte Systemkritik bzw. Kritik an der Entwicklungsrichtung einer „russischen“ Demokratie stellt sich doch in den Ausführungen der russischen Soziologen als Drang zur Teilhabe an politischen Prozessen dar, der die gesetzlichen und institutionellen Grundlagen bislang noch fehlen. Allerdings sind die Zivilgesellschaftskonzepte immer eine Idealschablone, an denen sich die realen Zustände messen lassen müssen. Der Streit über die demokratische Zukunft der russischen Gesellschaft kommt in den Vorstellungen und Aufgabenkonzeptionen einer zivilen Sphäre zum Ausdruck. Eine starke Ausprägung erfährt hier der Aspekt einer Risikogemeinschaft, welcher in Form von gesellschaftlicher Selbstverwaltung als Risikoabfederung gegen die Systemlogiken von Wirtschaft und staatlicher Bürokratie funktioniert. Das daraus resultierende, proklamierte Zusammenarbeitsstreben aller gesellschaftlicher Kräfte ist immer auf eine Reduzierung von Konflikten aus und schreibt Konflikten und Kompromissen Funktionen für gesellschaftliche Einheit und sozialen Zusammenhalt zu. Zivilgesellschaft wird als ein Mittel gesehen, Polarisationen in der russischen Öffentlichkeit zu vermeiden und die Richtung auf der Suche nach einer neuen, gemeinschaftlichen Identität zu weisen. Dies soll explizit in einer öffentlichen Sphäre 27 geschehen und koppelt diese Entwicklung zwangsläufig von staatlichen Strukturen ab. Das dadurch aber die im russischen Kontext spezifischen Negativattribute von gesellschaftlichen Organisationen, wie undemokratisch interne Verfasstheit, Ziellosigkeit, bloßer Protest und Fehlleitung finanzieller Mittel, und die wachsenden sozialen Spaltungen die öffentliche Sphäre zum Ort der Verunmöglichung von institutionellen Reformen und der Abschwächungen einer sozialen und ökonomischen Transformation hin zu demokratischen Formen werden lassen können, schwebt wie ein Schatten über den Forderungen einer freiheitlichen und handlungsfähigen zivilen Sphäre. Es ist möglich, dass der Wegfall zivilgesellschaftlicher Blockadepotentiale einen wichtigen Effizienz- und Legitimationszuwachs für die Entscheidungsfähigkeit repräsentativer, demokratischer Institutionen in einschneidenden Reformvorhaben bedeutet. Diese Stabilisierung junger Demokratien müsste dann im weiteren durch partizipatorische Aspekte einer revitalisierten Zivilgesellschaft ergänzt werden, um öffentliche Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbau zu gewährleisten und um die Legitimationsgrundlage des demokratischen Staates zu verstärken. Dies könnte gelingen, wenn sich die politische und die zivile Sphäre in wechselseitiger Selbstbeschränkung kooperativ verhalten (Lauth/Merkel 1997: 46). 28 Literatur Dubiel, Helmut (1994), Ungewissheit und Politik, Frankfurt/Main. Lauth, Hans-Joachim/Merkel, Wolfgang (1997), Zivilgesellschaft und Transformation. In: Lauth, Hans-Joachim/Merkel, Wolfgang, Zivilgesellschaft im Transformationsprozess, Mainz. Бойченко, Л. (1996), Участие женских организаций Карелии в становлениии гражданское общество. В: Здравомыслова, Э./Хейккинен, К., Гражданское общество на Европейском Севере: понятие и контекст, Санкт Петербург. Волков, В. 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