Zivilgesellschaft und Demokratie. Ein Blick in die russische

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Zivilgesellschaft und Demokratie
Ein Blick in die russische Suche nach gesellschaftlicher Zukunft im
Transformationsprozess
vorgelegt von:
Christian Fröhlich
Universität Leipzig
Matr.Nr. 8714211
Soziologie:
6. Fachsemester
Kulturwissenschaft: 6. Fachsemester
eMail: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
Ein geschichtlicher Abriss
2
Ein theoretisches Konzept von Zivilgesellschaft
3
Demokratiebedeutung von Zivilgesellschaft
4
Reflexionen zur Zivilgesellschaft I: Demokratiekritik
8
Reflexionen zur Zivilgesellschaft II: Risikogemeinschaft
9
Reflexionen zur Zivilgesellschaft III: Integration und Konflikt
10
Kritik an der Übernahme des Zivilgesellschaftskonzept in der russischen Debatte
11
Blick auf die russische Zivilgesellschaftsdebatte
14
Schlussbetrachtungen
26
Literatur
28
1
Einleitung
Als russische Behörden das Flugzeug des sibirischen Ölmagnaten Michail Chodorkowskij
stürmten und den Chef des Energieriesen Yukos in Haft nahmen, ging ein lautes Raunen
durch die internationalen Medien, und in verschiedensten, öffentlichen Bereichen
entfachten sich Diskussionen und Reflexionen über eine sogenannte russische
Zivilgesellschaft. Die internationale Menschenrechtsorganisation Memorial veröffentlichte
ein Papier1, in dem sie diesen Arrest eines Hauptverantwortlichen der nach der Perestroika
stattgefundenen,
raubtierhaften
Privatisierung
der
sowjetischen
Wirtschaft
mit
„Schlägen auf die russische Freiheit, die Demokratie und die Herrschaft des Rechts“ in
einen Zusammenhang stellte. In ihrer Beurteilung ist die Situation einer „gelenkten
Demokratie“ eine Herausforderung zivilgesellschaftlicher Organisationen, unabhängige
Gewerkschaften, sozial verantwortliche Unternehmen und demokratische politische
Bewegungen in Russland, der drohenden autoritären Herrschaft durch die Initiierung
gesellschaftlicher Konsolidierung entgegenzuwirken. Chodorkowskijs Unterstützung
sozialer und bildungspolitischer Projekte stehen als Beispiel unabhängiger politischer
Initiativen, die Werte und Interessen verschiedenster, gesellschaftlicher Akteure zu
vereinen scheinen und damit soziale Verantwortungsnahme zu einem öffentlichen Ziel von
Gemeinwohl werden lassen.
Der französische Philosoph André Glucksmann sieht einen Rechtsstaat und persönliche
Freiheiten als Merkmale demokratischer Gesellschaftsentwicklung ebenfalls vom rasanten
Zug der russischen Modernisierung hinten runterfallen. Blinder Fortschrittsglaube und das
Vertrauen an eine liberale Ökonomie stehen ihm nach neben einer nihilistischen
Gesellschaft, „die von Korruption, privaten und öffentlichen Mafias, vom Geist der
„speznaz“, der Depression und der freiwilligen Unterordnung der Mehrheit [beherrscht
wird]“2. Die öffentliche Meinung und die freien Massenkommunikationsmittel seien von
einer „Diktatur des Gesetzes“ gefesselt, und die Entwicklung von Bürgersinn und
Bürgerrechten in der Gefahr, in einer autoritären Restauration unterzugehen.
In diesem verwirrenden Geflecht aus der Suche nach Schutz gegen einen Rückfall in
totalitäre Strukturen, dem Umgang mit dem vielfältigen Erbe einer über 70 jährigen
Diktatur, der Initiierung demokratischer Entwicklungen in politischen und wirtschaftlichen
1
Erklärung der Allrussischen Konferenz Zivilgesellschaftlicher Organisationen in Moskau, 28.10.2003.
Diese Erklärung wurde vom Vorstand der Internationalen Gesellschaft Memorial vorgelegt und von
inzwischen mehr als 50 NGO aus ganz Russland unterzeichnet.
2
Glucksmann, Andrè, Russisches Roulette - Die Anbetung der Führer im Osten hat im Westen Tradition.
Die Welt. 10.01.2004
2
Bereichen der russischen Gesellschaft und den Rufen nach einem freiheitlichen,
individuellen Leben aller Bürger in diesem Lande fällt immer wieder der Begriff der
Zivilgesellschaft. Wie einer Art kommunikativer Mutterboden scheint er alle Keime einer
Diskussion über die Zukunft einer postsowjetischen Gesellschaft in sich aufzunehmen. Das
sich an dem Säen westliche wie osteuropäische Sozialwissenschaftler beteiligen, birgt die
Gefahr der „Verengung der Zivilgesellschaftsdebatte auf die Theoriebestände einer
voraussetzungsvoll konzeptualisierten Zivilgesellschaft (civil society), die sich im
wesentlichen auf die Frage der gesellschaftlich organisierten partizipativen Unterfütterung
„reifer“ repräsentativer Demokratien konzentriert“ (Lauth/Merkel 1997: 15). In den
folgenden
Zeilen
soll
zum
einen
eine
allgemeine
Demokratiebedeutung
von
Zivilgesellschaft herausgearbeitet werden, um sie zum anderen in russischen,
wissenschaftlichen Beschäftigungen mit einer zivilen Gesellschaftssphäre entdecken zu
können.
Ein geschichtlicher Abriss
Es gibt nach Charles Taylor zwei neuzeitliche Ansätze zum Verständnis von
Zivilgesellschaft. Dem kontraktivistischen Ansatz von Locke folgend, schützt die
bürgerliche Gesellschaft ihre Individualrechte in einer Sphäre, die dem Staat als
außerpolitische Realität vorgeordnet ist und in diesem Sinne als „zivil“ verstanden werden
kann. Montesquieu dagegen beschreibt verbindende Strukturen zwischen dem politischen
System und der außerpolitischen Sphäre, durch welche letztere in ersteres integriert wird.
Diese Verbindungen wurden von Tocqueville als Assoziationen benannt, die allerdings
partiell jenseits des Staates eine Basis für gesellschaftliche Kräfte bilden.
Modifiziert und erweitert wurden diese Zivilgesellschaftskonzepte durch neo- und
postmarxistische Theorieansätze und in der Kritischen Theorie, in denen sich vor allem die
Trennung zwischen einer zivilen und einer politischen Sphäre schwächte. In den Schriften
von
Antonio
Gramsci
richtet
sich
die
Analyse
mehr
auf
Dominanz-
und
Herrschaftsfunktionen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, während bei Jürgen
Habermas die Kommunikationsstrukturen im Kontaktraum zwischen Öffentlichkeit und
Politik untersucht werden.
Begriffsgeschichtlich nahm Zivilgesellschaft ihren Anfang schon bei Aristoteles, in dem es
eine politisch geeinte Gemeinschaft aller männlichen Besitzbürger meinte, die als
3
Gleichgesinnte in herrschaftsfreien Assoziationen miteinander verbunden waren. Die
Mehrheit der Bewohner eines Staates waren somit also ausgeschlossen. Im Absolutismus
wurde die politische Entscheidungsgewalt aus der Gesellschaft herausgezogen und dem
Monarchen übertragen. Der Bürger war nunmehr unpolitisch geworden. Die deutsche
Tradition knüpft an dieser Stelle mit Hegel an und beschreibt eine mit der Zentralisierung
der Politik im fürstlichen und dann revolutionären Staat einhergehende Herausbildung
einer entpolitisierten bürgerlichen Gesellschaft, die eher eine Wirtschaftsgesellschaft ist, in
der alle über den Markt vermittelte Aktivitäten ausschließlich auf wechselseitige
Bedürfnisbefriedigung gerichtet sind. Doch die Verbindung zwischen „Bürger“ und
„Staat“ wird auch hier nicht ganz aufgehoben, denn diese Wirtschaftsgesellschaft kann sich
bei Hegel nur außerwirtschaftlich, also politische stabilisieren (Dubiel 1994: 73). Die
angelsächsische Tradition ergänzt nun bei der Betrachtung moderne, kapitalistischer
Gesellschaften eine moralische Komponente, um das Problem der gesellschaftlichen
Integration des Marktes zu lösen. Nicht nur die egozentrischen Motive individueller
Nutzenverfolgung halten demnach moderne Gesellschaften zusammen, sondern auch
moralische
Motive
wie
Verantwortung
für
andere,
Anerkennung
von
Rechtsverpflichtungen und politisch kulturellen Traditionen haben für das Handeln des
Bürgers Relevanz, welcher in der sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft
Träger vielfältiger sozialer und politischer Merkmale ist und sich auf diese nicht mehr als
isoliertes Individuum, sondern als vielfältig assoziiertes Wesen (z.B. als Familienvater und
als Vereinsmitglied) bezieht.
Ein theoretisches Konzept von Zivilgesellschaft
Wichtig in einem Theoriekonzept über Zivilgesellschaft sind die Merkmale ihrer
„Mitglieder“ bzw. der Akteure, welche die zivile Sphäre zum einen überhaupt empirisch
fassbar machen, und zum anderen diese anhand ihrer Merkmale von anderen
gesellschaftlichen Teilsystemen unterscheiden. Dies sind plurale, auf freiwilliger Basis
gegründete Organisationen und Assoziationen (manchmal auch einzelne „Bürger“), welche
in einem nicht-staatlichen Handlungsraum ihre jeweiligen Zielsetzungen auf die res
publica beziehen. In diesem Zwischenbereich zwischen Staat und Privatsphäre artikulieren
und organisieren höchst unterschiedliche Akteure (oft auch in Konkurrenz) ihre
spezifischen materiellen und normativen Interessen auf der Basis eines gemeinsam
4
geteilten normativen Minimalkonsens. Da dieser die demokratischen Prinzipien der
Toleranz, der Fairness, des Bürgersinns und den Ausschluss von nicht legitimer physischer
Gewalt beinhaltet, ist zivilgesellschaftliches Handeln in diesem Sinne immer auch an der
Demokratisierung des Gemeinwesens orientiert (Lauth/Merkel 1997: 22). Dieser Konsens
als Merkmal einer zivilgesellschaftlichen Mitgliedschaft wird noch ergänzt und somit
verschärft durch den Aspekt der relativen Unabhängigkeit vom Staat. Nach diesem
Konzept kommen also nur diejenigen Verbände und Interessensgruppen, kulturelle und
religiöse Vereinigungen, Bildungs- und Informationseinrichtungen, die zur besseren
Unterrichtung der Öffentlichkeit beitragen, Entwicklungsorganisationen, Bürgerinitiativen,
Bürgerrechtsgruppen und soziale Bewegungen als zivilgesellschaftliche Akteure in Frage,
welche den zivilen Grundkonsens teilen, nicht fest kooperativ in staatliche Strukturen
eingebunden sind und sich nicht am politischen Machterwerb orientieren3.
Lauth und Merkel betonen in Anlehnung an Tocqueville, wie lang andauerndes, an
öffentliche Angelegenheiten orientiertes, kommunikatives Engagement und Handeln der
Akteure in der zivilgesellschaftlichen Sphäre auf der individuellen Ebene einen Bürgersinn
entwickeln, und ein in gesellschaftlicher Selbstorganisation geformtes soziales Kapital
Formen staatlicher Herrschaft zivilisieren und die Funktionen politischer Institutionen
effektivieren kann.
Demokratiebedeutung von Zivilgesellschaft
Die wichtigsten Antworten auf die theoriegeschichtlich traditionelle Frage nach der
Bedeutung von Zivilgesellschaft für die Entwicklung von Demokratie sollen im folgenden
kurz zusammengetragen werden. In der auf John Locke zurückgehenden Denktradition
sichert eine vom Staat abgetrennte zivile Sphäre die Freiheit des Individuums und dessen
Eigentumsrechte vor staatlichen Eingriffen. Pluralismustheoretiker wie Truman oder
Putnam stellen dagegen gerade auf eine Verbindung zwischen ziviler Gesellschaft und
staatlicher Herrschaft ab. Zivilgesellschaftliches Handeln entlastet den Staat durch
Leistungsübernahmen und erfüllt wichtige Funktionsleistungen zur Bestandserhaltung
repräsentativer
Demokratie.
Ein
dichtes,
sich
überschneidendes
ziviles
Kommunikationsnetz trägt zum Abbau von gesellschaftlichen Spaltungen bei. Dieses Netz
3
Politischer Machterwerb ist hier eindeutig von politischer Einflussnahme abzugrenzen, zu der
zivilgesellschaftliche Akteure sehr wohl streben, um die durch sie repräsentierten gesellschaftlichen bzw.
kooperativen Interessen verwirklichen zu können.
5
wird in der Tradition von Tocqueville durch gesellschaftliche Assoziationen und
Vereinigungen gebildet, welche wie in einer Schule der Demokratie demokratisches
Denken und Verhalten durch die Vermittlung von normativen und partizipatorischen
Tugenden wie Toleranz, gegenseitige Akzeptanz, Kompromissbereitschaft, Vertrauen etc.
fördern und somit Demokratie gegen autoritäre Übergriffe immunisieren. Die von der
kritischen Theorie beeinflussten Konzepte verstärken den partizipatorischen Aspekt von
Zivilgesellschaft und stellen ihn in den Bereich eines „vorpolitischen“ pluralistischen
Interessensgeflechts (Lauth/Merkel 1997: 27), in dem sich Interessen artikulieren und so
für
sich
eine
Öffentlichkeit
herstellen
können.
Die
dortige
Thematisierung
gesellschaftlicher Konflikte und die Kumulierung informeller öffentlicher Meinung stellt
einen unverzichtbaren Input-Faktor für die Willensbildung in demokratischen Institutionen
wie Parteien und Verbänden dar. Zivilgesellschaft und Demokratie meinen in dieser
partizipatorischen Perspektive ein und dasselbe.
Gegenüber diesen positiven Funktionen von Zivilgesellschaften machen Lauth und Merkel
auf
negative
bzw.
problematische
Aspekte
aufmerksam.
Zum
einen
ist
der
zivilgesellschaftliche Bereich kein herrschaftsfreier Raum. Es existieren Machthierarchien
und Vermachtungstendenzen, die eine Zivilgesellschaft
Konfliktgesellschaft
machen,
in
welcher
verschiedene,
immer
mit
auch
zu
einer
unterschiedlichen
Durchsetzungschancen ausgestattete Interessen und Weltanschauungen miteinander um
Geltung und Handlungslegitimität konkurrieren. Zum anderen muss die interne
Verfasstheit von zivilgesellschaftlichen Akteuren keineswegs immer demokratischen
Prinzipien entsprechen. Auch wenn ihr Handeln dem normativen, zivilen Grundkonsens
folgt, so kann der binnenstrukturelle Aufbau eine streng hierarchische Gliederung
aufweisen (z.B. in Kirchen), oder Organisationen stecken in klientelistischen
Abhängigkeitsverhältnissen fest. Des weiteren kann das der Zivilgesellschaft immanente
staatskritische Potential zur Ausbildung eines fundamentalen Misstrauens gegenüber dem
Staat führen (Lauth/Merkel, 1997: 29). Die damit einsetzende staatliche Delegitimation
und
ein
Dominanzanspruch
sozialer
Selbstorganisation
können
Gewalt-
und
Machtverhältnisse provozieren, deren Destruktivität auf demokratische Verhältnisse wie
die Integration von demokratisch legitimierter Institutionen, rechtsstaatlicher Verfahren
und Sozialstaatlichkeit nicht zu unterschätzen ist. So ist die Art und Weise und die
Richtung des Einflusses von Zivilgesellschaft auf Demokratie für diese Autoren abhängig
vom gesellschaftshistorischen bzw. Regimekontext, den man jeweils betrachtet und
6
welcher unterschiedliche Akteure, Strukturen und Funktionen einer Zivilgesellschaft
zusammenbringt.
In der Mitteleuropäischen Bürgerrechtsbewegung, wie etwa in Ungarn oder Polen, wurde
ein Handlungskonzept notwendig, das gleichermaßen entfernt war von den Vorstellungen
einer kommunistischen Revolution wie von denen eines traditionellen Antikommunismus.
Eine politische Strategie musste sich jenseits eines revolutionären Umsturzes und
gleichzeitig außerhalb einer beschränkten, das bestehende Machtsystem stärkenden
Reform formulieren, wollte sie nicht in die schon geschriebenen, geschichtlichen Spuren
einer russischen Oktoberrevolution oder einer Perestroika verfallen. Zivile Gesellschaft
stand in klarer Opposition zu einem totalitären Staat. In ihr und durch sie versuchten auf
das Gemeinschaftswohl gerichtete Assoziationen, soziale Bewegungen und vielfältige,
Interessen
vereinigende
Öffentlichkeiten,
dem
totalitären
Staat
eigene
Handlungsspielräume abzuringen. Zivilgesellschaft wurde so in seiner Rolle als Subjekt
der
Transformation
zur
Demokratie
zu
einem
Begründungs-
und
Erklärungszusammenhang für den Zerfall des kommunistischen Systems. Auf die
potentielle Möglichkeit der staatlichen Machtübernahme verzichteten die Hauptakteure
zivilgesellschaftlicher Bewegungen zum Zwecke der Institutionalisierung der Differenz
zwischen Staat und Gesellschaft. Dem totalitären Staat sollte eine Selbstbeschränkung
seiner Handlungsmacht aufgezwungen und gleichzeitig verhindert werden, dass eine
soziale Bewegung die Stelle der Staatsgewalt einnehmen kann, denn „auch nach der
Revolution sollte [...] die „zivile Gesellschaft“ bleiben, was sie vorher war, nämlich eine
konfliktive Sphäre der Selbstorganisation und Artikulation aller sozialer Kräfte“ (Dubiel
1994: 76). Die eigene soziale Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure sollte auch nach der
Etablierung einer nachtotalitären Macht erhalten bleiben, um weiterhin sich selbst als
Quelle von Dissidenz, Innovation und öffentlicher Revision garantieren zu können.
Mit diesem Anspruch waren aber nach 1989 zwei verschiedene Bedeutungsinhalte von
Zivilgesellschaft zusammengekommen. In der Vorgeschichte des Umbruchs meinte sie die
Herausbildung
freiwilliger,
demokratischer
Prinzipien
verpflichteter,
autonomer
Assoziationen, die gegen den Staat gewaltfrei eine Öffentlichkeit bildeten. Nach dem
Umbruch wurde sie als eine Quelle von politisch-kultureller, ökonomischer und
sozialstruktureller Trägergruppen und Motivpotentiale verstanden, die als stabilisierendes
und legitimierendes Fundament der neuen mittel- und osteuropäischen Demokratien dienen
sollte. Dass dieses theoretische bzw. ideenverpflichtete Einheitskonzept nur sehr
problematisch auf die tatsächliche Situation der Zivilgesellschaft in Mittel- und Osteuropa
7
anzuwenden ist, soll in Anlehnung an Helmut Dubiel in den folgenden Ausführungen
gezeigt werden.
Das eine Problem ist, ob Trägergruppen ziviler Gesellschaft ihre Ziele außerhalb, wie es
vor dem politischen Umbruch geschah, oder innerhalb politischer Institutionen, wie es nun
angestrebt und in einer Demokratie vorgesehen ist, verfolgen. Ein aus der
Bürgerrechtsbewegung
stammender,
vormals
notwendig
anti-institutioneller,
eher
staatsfeindlicher Politikstil hat nun äußerste Schwierigkeiten, verfassungsimmanente Kritik
im Rahmen eines Systems staatlicher und rechtlicher Institutionen zu üben. Entweder
zivile, „vordemokratische“ Motivbestände und Trägergruppen sind schnell durch das
Konkurrenzsystem politischer Parteien verdrängt worden, oder ihre Absorption stärkt den
Reflex des totalitären Erbes in Gestalt einer irritierten Fremdheit gegenüber der generellen
Handlungslogik von politischen Akteuren in einer Konkurrenzdemokratie. Hinzu kommt,
dass eine funktional differenzierte und demokratisch kontrollierte interne Verfasstheit von
bürgerrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Trägerorganisationen mitnichten in Mittelund Osteuropa selbstverständlich ist, was natürlich ihre Einbindung in ein System
demokratischer Handlungsweisen erheblich behindert.
Die
historische
Gleichzeitigkeit
des
Aufbaus
einer
Markwirtschaft
und
einer
Konkurrenzdemokratie in den Ländern Ost- und Mitteleuropas ist das zweite Problem.
Verschärft wird dieses Problem zum einen durch den historisch kurzen Schritt des sozialen
Wandels, welcher sich im Westen in mehreren Jahrhunderten vollzogen hatte, und zum
anderen dadurch, dass im Osten der Kapitalismus ein politischer von Anfang an ist.
Errichtet auf der Basis einer, am Westen orientierten Eliten-Vision, trifft er doch auf eine
artikulationslose Gesellschaft, da eine Sozialstruktur, auf der sich ökonomische Interessen
bilden könnten, überhaupt erst mit der marktwirtschaftlichen Transformation gebildet
werden soll. Dieses Dilemma der Zivilgesellschaft, welche in diesem Sinne eine leere
Blase noch nicht geformter Interessen bildet, weil sie sich in einem sozialstrukturellen
Vakuum politisch nicht formieren kann, machen sich nationalistische, ethnozentristische,
fundamentalistische
und
populistische
Ideologien
für
ihre
politischen
Mobilisierungsstrategien zu nutze, was u.a. am Wahlerfolg der LDPR im Dezember 2003
und dem Einzug von Wladimir Schirinowski in die russische Duma gut zu erkennen ist.
8
Reflexionen zur Zivilgesellschaft I: Demokratiekritik
Bis 1989 wurde im Begriff der Zivilgesellschaft immer der Gegenzustand zu einem
totalitären System gedacht. Im konkreten Falle westlicher Demokratien kam dem Aufbau
und Erhalt einer zivilen Gesellschaft die Garantie- und Schutzfunktion gegen einen
totalitären Sozialismus zu. Nach dem Umbruch in den Mittel- und Osteuropäischen Staaten
fehlt der Konkurrenzdemokratie ihr jahrzehntelanges Pandon. Die liberale Demokratieform
soll nun auch hier den Rahmen aller zukünftigen politischen Strategien bilden. Doch muss
diese sich nun aus sich selbst heraus konstituieren und legitimieren, weil der Totalitarismus
als
abgleichendes
Negativ
wegfällt.
Eine
ausdrücklich
immanente
Kritik
als
Konstitutionsmotor liberaler Demokratien schlägt Helmut Dubiel in einem normativen
Konzept von Zivilgesellschaft vor. Ein solches Konzept beinhaltet Normbestände, die in
der Realität nicht vollends für alle Mitglieder einer Gesellschaft gewährleistet sind, wie
z.B. die ungeteilte Sicherung von Bürger- und Menschenrechten und die Garantie der
öffentlichen Sphäre durch eine institutionelle Kommunikationsfreiheit, welche den Status
eines abgleichenden Regulativs bekommen, an denen sich die institutionelle Realität
liberaler Demokratie ständig messen lassen muss (Dubiel 1994: 94).
Die Kritikpunkte einer heutigen Konkurrenzdemokratie treten ohne Gegenlicht totalitärer
Unfreiheit wieder zutage. Gemessen an dem Kritikmaßstab einer normativen
Zivilgesellschaft wird sichtbar, dass Verbände, Interessensgruppen und gesellschaftliche
Assoziationen keineswegs immer intern demokratisch organisiert sind. Eine weitgehend
inaktive Mitgliederschaft lässt in hochbürokratisierten Organisationen ihre Führungselite
unkontrolliert. Und es wird auch klar, dass die Zahl gruppenförmig organisierter Interessen
nicht frei und offen ist, und vielfältige kooperative Schließungsmechanismen durch
herausgehobene Interessen die Artikulation neuer Problemlagen blockieren. Die Gefahr
einer autoritären Richtung von Gesellschaftsentwicklung wird sichtbar und die
Verletzlichkeit von Demokratie zeigt sich z.B. im extrem gestiegenen Wählerfrust und an
den hohen Wahlergebnissen vom russischen Protestblock „Gegen alle“, der bei den
russischen Staatsdumawahlen landesweit 6 % erhielt.
9
Reflexionen zur Zivilgesellschaft II: Risikogemeinschaft
In modernen Gesellschaften ist die funktionale Differenzierung in verschiedene
Teilbereiche der Indikator ihres Fortschreitens. In diesen Teilbereichen ist eine
Leistungssteigerung gesellschaftlicher Produktivität möglich geworden, an dem sich
kulturelles, wirtschaftliches und wissenschaftliches Niveau einer Gemeinschaft messen
lässt. Allerdings ist die Beurteilung der Realität nicht mehr aus dem Blickwinkel des
Ganzen möglich, sondern meist nur in oder aus den Logiken der funktional
ausdifferenzierten Teilbereiche einer Gesellschaft. Diese schließen sich selbstbezüglich in
die rekursive Geschlossenheit ihrer Operationsweisen und erreichen ein Autonomieniveau,
das sie nicht mehr von „außen“ steuerbar werden lässt. Die politische Sphäre kann den an
sie gestellten Anspruch der Integration der verschiedenen Sphären und einer Garantie der
gesellschaftlichen Einheit nicht mehr erfüllen. Ihre Aufgabe, den Logiken anderer
Teilsysteme mit ihrer Exekutivgewalt Grenzen zu setzen, wird verunmöglicht durch die
vielfältigen Handlungsoptionen der Subsysteme, denen sich die einzelnen Politiker
autoritätslos gegenübersehen. Als Folge der Erfahrung von Gefährdungen und Krisen
durch
destruktive,
ungesteuerte
Funktionssysteme
gewinnt
der
Begriff
der
„Risikogesellschaft“ als eine negative Vereinheitlichung der Gesellschaft an Bedeutung.
Politik und Ökonomie als die größten Teilsysteme bieten nach Helmut Dubiel keine
Rezepte zum Abfangen spezifischer Modernisierungsrisiken, wie z.B. ökologische
Verschmutzungen oder sozialer Existenzverlust, da eben das eine dem subsystemspezifisch
überkomplexen Möglichkeitshorizont mit seiner institutionellen Kapazität nicht entspricht
und das andere ja durch seine Verwertungsrationalität die Problemursache bildet. Um nun
Risikolagen abzufedern und die Handlungsnot politischer Akteure zu entschärfen, bedeutet
Zivilgesellschaft alle Formen nicht-staatlichen Handelns, welche in Form von Initiativen
und Trägerschaften aus dem politischen Bereich übergehen auf die Akteure der
Gesellschaft. Dadurch wird ein gesellschaftliches Kräftepotential aufgebaut, welches zum
einen die Macht des Staates, der kapitalistischen Ökonomie und der Wissenschaften zwar
nicht abschaffen, aber begrenzen soll, und zum anderen eben jenen Staat und die
Ökonomie durch demokratische Kritik oder handfesten Protest davon abhalten soll, die
Gesellschaft zu entmachten. Durch die rechtliche Gewährleistung einer zivilen Sphäre und
dem Miteinbezug ziviler Akteure in die staatlichen, kapitalistischen und technokratischen
Prozesse wird eine systeminterne Demokratisierung ermöglicht, die es verhindert, dass sich
die
Subsysteme
in
ihren
Rationalitätskriterien
selbstreferentiell
abschließen.
Zivilgesellschaft ist in diesem Sinne ein Begriff „für jene Kommunikationspraktiken,
10
Diskursrituale und öffentliche Arenen, in denen sich kollektive Akteure über die Einheit
und Zukunft ihrer Gesellschaft streiten“ (Dubiel 1994: 97).
Reflexionen zur Zivilgesellschaft III: Integration und Konflikt
Historische Gesellschaften waren im Gegensatz zu modernen durch ein einheitliches,
religiöses Weltdeutungssystem integriert, in dem alle politischen Handlungen auf die eine
Wahrheit, auf eine letzte Begründung bezogen worden sind. In der modernen,
säkularisierten Welt steht ein höchst vielfältiges Repertoire an sozialtechnischen Mitteln
zur Steuerung und Reglementierung von Gesellschaften zur Verfügung, deren Einsatz
durch politische Entscheidungen gesteuert wird, welche durch die verschiedensten
Weltbilder begründet sind. Während in einem totalitären System alle Bedingungen der
gesellschaftlichen Existenz in herrschaftlicher Regie lagen, so hat sich in einem
demokratischen Staat die Anerkennung gefestigt, dass die Bedingungen seiner sinnhaften
Reproduktion ihm selbst nicht zur Disposition stehen.
Über die Frage, wie denn nun moderne Gesellschaften zusammenhalten, wenn eine
Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten, beruhend auf einem Pluralismus an
Weltanschauungen, nicht mehr in zentraler Hand liegen, trägt sich in der politischen und
soziologischen Theorie der Liberalismus-Kommunitarismus-Streit aus. In der liberalen
Position ist das einigende Band die Anerkennung eines moralisch neutralen Staates
gesetzter Verfahrensregeln und Rechte zur individuellen Nutzenverfolgung seiner Bürger.
Dieser „modus vivendi“ beruht in der gemäßigten liberalen Sicht selbst auf abstrakten
normativen Vorstellungen wie die Freiheit und Gleichheit einer Person. Doch ansonsten
werden strittige, normative Fragen des Lebens in den Privatbereich verschoben, welcher
strikt von der öffentlichen Sphäre getrennt ist. In der kommunitaristischen Argumentation
bestehen politische Minimalprinzipien und eine Akzeptanz gemeinsamer Rechte aus
privaten, vorpolitischen, identitätsstiftenden Grundüberzeugungen, welche in einer
partizipatorischen, politischen Kultur durch öffentliche und soziale Teilhabechancen die
demokratischen Institutionen eines Staates immer wieder legitimieren.
Beiden Positionen gemeinsam ist eine Krisenwahrnehmung moderner Gesellschaften, in
denen sie die zur Integration notwendigen Minimalprinzipien und Konsensbestände
abhanden gekommen glauben. Die daraus für die Vertreter dieser Sichtweisen
resultierenden Anomien wie politische Apathie, politisch motivierte Gewalt, Drogensucht
11
und der Wucher egozentrischer Einstellungen in der Bevölkerung sind demnach mit der
Wiederherstellung eines normativen Grundkonsens und einer gemeinschaftlichen Identität
zu beheben. Für Helmut Dubiel verfehlt gerade diese Sicht die Eigenart der
Integrationsweise moderner, demokratischer Systeme. Durch die immer weiter
fortschreitende Abtrennung der staatlichen Macht von der zivilen Sphäre wächst das
Potential gesellschaftlicher Selbsteinwirkung, was in immer weiterem Maße politische
Fragen nach einem guten und richtigen Leben entstehen und sich artikulieren lässt. Doch
eine öffentliche Dauerreflexion in der Zivilgesellschaft über eine richtige und gerechte
Gesellschaftsordnung nährt sich aus den immer mehr vertiefenden ökonomischen, sozialen
und kulturellen Spaltungen in der Bevölkerung und wird daher immer gegensätzlicher.
Eine Vermehrung von Konsens wird in dieser Sicht verunmöglicht und vielmehr durch
Konflikt ersetzt. Das Ziel einer Übereinstimmung von politischen Zielen und
Legitimationen weicht einer konflikthaften Form der Selbstthematisierung, in der die
Pluralität der Lebensformen und die soziale Relativität der eigenen Meinung und des
eigenen Interesses als Grundvoraussetzungen einer allgemeinen Zerrissenheit allen Sinnes
anerkannt sind (Dubiel 1994: 114). Integration erfolgt durch eine strukturelle
Konfrontation konfliktierender Gruppen, in deren Vollzug sich eine kollektive Identität
durch die Herausbildung eines Bewusstseins eines gemeinsam geteilten, auf gemeinsam
verstandenen symbolischen Beständen gegründeten, gesellschaftlichen Raumes. In ihm
streiten die politischen Akteure über die Zielsetzungen ihrer Gesellschaft und werden
gleichsam durch ihn integriert. Jede Konfliktlösung basiert auf einem strategischen
Interessenskompromiss und fungiert somit als ein alle Beteiligten integrierendes Moment.
Durch eine Kette solcher Kompromisse kann sich in ein gemeinschaftliches, schwach
normatives Band durch eine Praxis erfolgreich gehegter Konflikte bilden.
Kritik an der Übernahme des Zivilgesellschaftskonzept in der russischen Debatte
Konzepte über Zivilgesellschaft sind in westlichen demokratischen Gesellschaft meist
einheitlich an denselben Strukturmerkmalen wie Marktökonomie, Staat und eine
öffentliche Sphäre mit freien Bürgerinitiativen orientiert. Die Vorstellungen von einer
zivilen Sphäre sind aus einer mehrerer Jahrhunderte andauernden Entwicklung
demokratischer Gesellschaftsorganisation entstanden und haben politische und kulturelle
Elemente hervorgebracht, auf denen die heutige westliche Konkurrenzdemokratie fußt. In
12
den Jahren der Perestroika und vor allem seit dem Umsturz des sowjetischen
Gesellschaftssystems
wurde
der
Begriff
der
Zivilgesellschaft
in
denen
sich
transformierenden Staaten benutzt, um durch eine Projektion dieses Konzeptes in der
russischen Gesellschaftssphäre ähnliche Elemente finden zu können und mit ihnen zum
einen die Transformation zu beschreiben und um zum anderen deren Ziel angeben zu
können. Seit der Gorbatschow-Ära herrscht die Überzeugung vor, dass mit der Entlehnung
und Benutzung des Begriffes auch die Transplantation der eigentlichen demokratischen
Praktiken ermöglicht wird, welche sich in zivilgesellschaftlichen Institutionen kristallieren
mögen. Vadim Wolkov plädiert dagegen in seinem Aufsatz für eine „russische Variante
des Zivilgesellschaftskonzeptes“. Für ihn ist der Begriff der Zivilgesellschaft in der
russischen Politik leer und seiner Geschichte verlustig. Vielmehr kommt es darauf an, ihn
adäquat auf die russischen Verhältnisse zu übersetzen, indem man durch historische
Untersuchungen ein Verständnisäquivalent als Schlüsselterminus in der russischen Kultur
findet. Dieser Begriff ist in seinem Verständnis die „Öffentlichkeit“4.
Im beginnenden 19. Jahrhundert bezeichnete Öffentlichkeit die soziale Sphäre der nicht
zum Adel gehörenden Intellektuellen. Dessen Idee vom solidarischen, gesellschaftlichen
Zusammenleben stellte den Begriff der eigentlichen, aristokratischen Gesellschaft5
gegenüber. Die Öffentlichkeit stellte den progressiven Teil der Gesellschaft dar, welcher
nun kollektive Subjekte und soziale Agenden in sich aufnahm und die Entwicklungsquelle
einer russischen Bürgerlichkeit wurde. Die im Zuge der Alexandrinischen Reformen
wachsende unabhängige Presse und die sich verbreitende Lesepraxis in der Bevölkerung
formierte nun eine Sphäre öffentlicher Meinung als eine vergegenwärtigte Gemeinschaft
der Lesenden und Diskutierenden, die verschiedene Gesellschaftsschichten vereinte. Die
sich immer weiter differenzierenden öffentlichen Meinungen und Interessensassoziationen
verstärkten eine Autorität der Gesellschaft, die immer häufiger der (durch das Geschlecht
der Romanows aristokratisch geprägten) Staatsmacht gegenüberstand. Bis zum
Revolutionsjahr 1917 nahm diese durch öffentliche Diskussionen und die von organisierten
Gruppen angetriebene Bildung der öffentlichen Meinung die Form einer diffusen, vom
Staat abgetrennten, politischen Gemeinschaft an.
Die
Alexandrinischen
Reformen
schufen
ab
den
1860er
Jahren
lokale
Selbstverwaltungsorgane6, unter deren Regie Bildung, Gerichtswesen und gesellschaftliche
4
Im modernen Russisch bedeutet „obschestwenost“ zum einen Öffentlichkeit und zum anderen ist es ein
Oberbegriff für gesellschaftliche Organisationen (Daum/Schenk: Schulwörterbuch Russisch-Deutsch)
5
russ. „obschestwo“
6
im russischen Sprachgebrauch „Semstwo“ genannt
13
Ordnungsprozesse fielen und relativ unabhängig von der zentralen, russischen Regierung
agieren konnten. Das dadurch ermöglichte kollektive, soziale Leben auf lokaler Ebene ließ
den Begriff der Öffentlichkeit schnell zu einem Synonym für Selbstverwaltung werden.
Die Erfahrungen unabhängiger, sozialer Selbstorganisation wurden dann 1903/04 politisch
stark im Kampf für konstitutionelle Reformen in der russischen Gesellschaft. Anfang des
20. Jahrhunderts assoziierte man nun Öffentlichkeit mit dem Potential kritischer,
gesellschaftlicher Meinungen und mit Gruppen von Menschen, die gesellschaftliche
Pflichten wahrnahmen und der staatlichen Dienstverpflichtung vorarbeiteten – die res
publica war nun zu einer „gesellschaftlichen Sache“7 geworden.
Zwei wichtige Elemente des Verständnisses von Zivilgesellschaft sind also im russischen
Verständnis vom Öffentlichkeit enthalten: zum einen eine Sphäre öffentlichen
Meinungsaustauschs und staatsunabhängiger Diskussionsprozesse, und zum anderen die
Praxis
gesellschaftlicher
zivilgesellschaftlicher
Selbstverwaltung.
Entwicklung ist
Marktwirtschaft
im russischen,
als
dritte
historischen
Grundlage
Kontext
nie
entpolitisiert oder nicht-staatlich zu sehen. Die ökonomische Bourgeoisie zur
Jahrhundertwende identifizierte sich nicht mit der Öffentlichkeit, sondern schloss
Allianzen mit der staatlichen Bürokratie und mit konservativen Parteien. Eine
Marktwirtschaft, welche die Privateigentümer eint, fehlt in Russland historisch. Zu
Sowjetzeiten existierte ein System interpersonaler Beziehungen, welches um Distribution
und Bedarf herum organisiert war, allerdings inoffiziell und nicht-öffentlich in
Freundschaftsstrukturen oder Händel- und Klientelbeziehungen eingebettet. Dieses System
nicht-staatlichen, quasi-ökonomischen Austauschs war eine sehr wichtige Form des
gesellschaftlichen Zusammenhaltes außerhalb des Staates und bildete eine paradoxe,
private und gleichzeitig gesellschaftliche Sphäre. Sie konnte den Staat untergraben und ihn
privatisieren, übte jedoch keinerlei Einfluss auf die Entwicklung von legalen Rechten
wirtschaftlicher Tätigkeit aus. Während also in westlichen Gesellschaften durch
wirtschaftlichen Wachstum und Wohlstand eine politische Interessensartikulation und
somit die Formierung einer zivilen Sphäre und die Entwicklung eines umfassenden
Rechtssystems möglich wurde, kann dieser Prozess in Russland zu wirtschaftlicher Freiheit
und Entwicklung der Marktwirtschaft nur anders herum, also durch die Errungenschaften
einer lange erkämpften, öffentlichen Sphäre verlaufen. Dies ist für Wolkov der Schlüssel
zum Verständnis der russischen Zivilgesellschaft. Das Erbe einer langen, instabilen und
jahrzehntelangen Unterdrückung und ihre spezifischen Entstehungsvoraussetzungen
7
russ. „delo obschestwennoje“
14
markieren
die
entscheidenden
Unterschiede
zu
westlichen
Konzepten
von
Zivilgesellschaft.
Blick auf die russische Zivilgesellschaftsdebatte
Es existieren nur wenige theoretisch ausgearbeitete Untersuchungen zum Thema der
Zivilgesellschaft im modernen Russland. An einigen Beispielen aus der russischen,
sozialwissenschaftlichen Literatur sollen nun die wichtigsten Merkmale einer russischen
Beschäftigung mit Demokratisierungsprozessen, denn dafür steht das Konzept der
Entwicklung einer zivilen Sphäre in postsowjetischen Gesellschaften, erläutert werden.
Alexander Schulepov bringt den moralischen Ansatz aller russischen Beschäftigungen mit
Zivilgesellschaft auf den Punkt: „Zivilgesellschaft ist in Russland der Schlüssel zur Tür der
Welt der Freiheit [...], der Hebel zur Bildung von Demokratie und Marktwirtschaft“
(Schulepov 2001: 3). Die Vorstellung von einer offenen Gesellschaft, welche gegründet ist
auf politischen Pluralismus, bürgerlichen Konsens und sozialen Partnerschaften
verschiedener Gruppen der Gesellschaftsmitglieder, münden in ein basales Konzept von
Zivilgesellschaft. Durch die Sozialisation der Individuen in einer nicht-staatlichen,
gesellschaftlichen Sphäre gelangt es in den Status eines sozialen Subjektes, welches mit
der
Möglichkeit
zur
Selbstäußerung
in
Wechselbeziehungen
mit
anderen,
interessenbehafteten Subjekten tritt. Der äußere, allgemeine Rahmen dieser Beziehungen,
welche sich in Selbstverwaltung aller Teilnehmer organisieren, bildet ein für alle
verbindliches Zivilrecht, welches sich stützt auf externe, staatliche und flexible
Reglementierungen und auf innere, dauerhafte Regulatoren wie Sitte, Gewohnheit,
Tradition, moralische Normen und Stereotype des Benehmens – eben auf einen normativen
Minimalkonsens. Die Integration der einzelnen, selbstorganisierten Teile der Gesellschaft
erfolgt über ein System horizontal, also hierarchisch vernetzter Verbindungen und
Informationskanäle,
welche
auf
der
Basis
einer
gegebenen,
sozial-kulturellen
Gemeinschaft, einem gemeinsam geteilten Sinnverständnis und Symbolverstand
funktionieren. Die dadurch geschaffene basale Form interpersonaler Solidarität entfaltet
sich in einem breiten Diskurs gesellschaftlich-politischer Kräfte, die als Mittel zur
Erreichung von Übereinstimmung und Stabilität spezielle Abstimmungsmechanismen
auseinandergehender Interessen und Konfliktregulationen nutzen - eine Konfliktsphäre
also, die immer auf eine Einheit und auf Konsens zustrebt.
15
Die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen als interessensgeleiteter
Zusammenschluss sozialer Subjekte in Assoziationen und Institutionen sollte sich für
Schulepov durch die Formierung von gesellschaftlicher Meinung aus der sozialen
Umgebung der Organisationen selbst bilden. Als ein demokratisches Potential jeder
solcher Vereinigung ist die Erkenntnis zur Notwendigkeit der gemeinsamen Teilhabe der
Bürger am politischen Prozess handlungsleitend. Die Quelle einer sich entwickelnden
Zivilgesellschaft ist also die Massenaktivität. Genau hier liegt aber auch für Schulepov der
Grund für den langsamen und unzureichenden Fortschritt des Aufbaus einer
Zivilgesellschaft in Russland. Die Mobilisierung gesellschaftlicher Massenaktivität ist für
ihn an gesellschaftliche Einrichtungen und Institutionsstrukturen geknüpft, welche die
demokratischen Aktivitäten der Bevölkerung stimulieren und bündeln sollen. Dazu
gehören vor allem politische Parteien und gesellschaftliche Zusammenschlüsse, deren
definitorische Bedeutungen sich in der Praxis nicht immer trennen lassen. Beide drücken
sie aber Interessen bestimmter gesellschaftlicher Kräfte aus, welche sie gegen den Staat zu
schützen und durchzusetzen versuchen. Kirchen und religiöse Vereinigungen und
unabhängige Medien gehören ebenfalls zur Grundstruktur zivilgesellschaftlicher
Institutionen, deren Existenz die demokratische Entwicklung der Gesellschaft im sich
reformierenden Russland bedingt. Allerdings stehen dem einige Situationsmerkmale im
gegenwärtigen Russland entgegen.
Die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Strukturelementen findet unter Bedingungen
eines akuten Defizits an Vertrauen der Bevölkerung zu Institutionen sowohl des Staates als
zu den neuentstehenden zivilen Vereinigungen statt. Die Tätigkeiten letzterer beziehen sich
meist in sogenannten „nicht-staatlichen Organisationen“ auf zivile Initiativen wie sozialkulturelle Zusammenschlüsse, welche die Interessen verschiedener, z.B. ethnischer
Gruppen präsentieren und beschützen. Dennoch herrscht hier die gesellschaftliche
Meinung vor, dass die Leiter solcher Organisationen nur ihre eigenen Interessen vertreten.
Das höchste Vertrauen genießt die Prawoslawische Kirche, während Berufsverbände und
Parteien nur das geringste Vertrauen für sich verbuchen dürfen8.
Mit dem niedrigen Vertrauensniveau geht ein generell niedriges politisches Engagement
und
soziale
Passivität
der
Mehrheit
der
russischen
Bevölkerung
einher.
In
Meinungsumfragen kam heraus, dass nur noch sehr wenige regelmäßig in einen
Gottesdienst
8
gehen
und
das
Teilnehmen
an
Veranstaltungen
nicht-staatlicher
Rossija: Zentr i regionij. Wypusk 5, Moskwa 2000, c. 242.
16
Organisationen nicht erwünscht ist9. Die Untersuchungen machen auch deutlich, dass die
Tätigkeiten politischer Vereinigungen und zivilgesellschaftlicher Institutionen in der
Meinung der Befragten sich über ihre eigenen Strukturen oder über die immer mehr
politisierten Medien regeln. Kaum jemand glaubt, dass jede Partei die gleichen
Präsentationschancen in den Medien hat oder dass die Parlamentswahlen nicht manipuliert
sind.
An diesem Punkt gerät nun der Staat bzw. die Regierung ins Blicklicht, welche durch eine
entsprechende Gesetzgebung die Beziehung zwischen staatlichen Machtorganen und nichtstaatlichen Institutionen harmonisieren soll, indem sie zum einen gesellschaftliche
Initiativen unterstützt und sich zum anderen von „fremden“ Funktionen befreit. Im Spiegel
von Meinungsumfragen erkennt man aber, wie wenig die Befragten von der staatlichen
Erfüllung von Demokratisierungsnormen (z.B. soziale Sicherheit und Gleichheit aller vor
dem Gesetz) überzeugt sind10.
Politische Parteien und unabhängige Medien sind für Schulepov die wichtigsten Träger
eines Demokratisierungsprozesses im sich transformierenden Russland, welche das größte
Einflusspotential auf die russische Bevölkerung auszuüben in der Lage sind. Die Bildung
politischer Parteien ist in der postsowjetischen Gesellschaft aus der seit der Perestroika
sich etablierenden nicht-staatlichen Sphäre hervorgegangen. Vormals staatlich kontrollierte
Organisationen gingen in gesellschaftliche Obhut über (wie Berufsverbände oder
Handelsvereinigungen und Kulturvereine) und bildeten zusammen mit neu gegründeten
Interessensvereinigungen und gesellschaftlichen Organisationen den Mutterboden, aus dem
alleine bis 1995 200 allgemein politische Organisationen und 50 Parteien wuchsen
(Schulepov 2001: 16). In einer Situation, in der zerrissene politische und ökonomische
Interessen
sozialer
Subjekte
in
einem
chaotischen,
unregulierten
Kampf
um
gesellschaftliche Macht stehen, kommen Parteien Ordnungsfunktionen als wichtigen
Beitrag zur Bildung einer politischen Kultur zu. Indem sie Wissen (z.B. über Problemlagen
im Land) verteilen, emotionale Anknüpfungspunkte für ein individuelles und
intersubjektives Zugehörigkeitsgefühl zum staatlichen Ganzen bieten und bestimmte Werte
durch die Vertretung bestimmter Weltanschauungen und Lebensauffassungen bestärken,
tragen sie zu ordnenden Aggregierungen politischer Interessen und zur Integration in einen
politischen Konfliktraum bei.
9
Soziologija meschdunarodnich otnoschenije w zifrach. Moskwa 1999, c. 106
Rossija: Zentr i regionij. Wypusk 6, Moskwa 2000, c. 66: „Sind folgende demokratische Normen erfüllt?“ :
z.B. soziale Sicherheit – 12 %, Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz – 8 %.
10
17
Doch diese Funktionen können politische Parteien im gegenwärtigen Russland aus
mehreren Gründen immer weniger erfüllen. Zum einen liegt das an der chronischen
Kurzlebigkeit vieler parteilicher Zusammenschlüsse, deren Handlungsfähigkeit durch ihre
ideologische Undefiniertheit und der instabilen Kraft von Führungspersönlichkeiten und
PR-Kampagnen äußerst gering ist. Zum anderen verlaufen parallel zu einer extremen
Verarmung breiter Teile der russischen Bevölkerung11 Prozesse sozialer Spaltungen durch
die russische, postkommunistische Gesellschaft, welche die Menschen teilt in politische
Gewinner und Verlierer, in Befürworter einer freien Marktökonomie und in die in dessen
Vandalismus Überzeugten, und in diejenigen, welche sich mit der Russischen Förderation
identifizieren, und die, welche die UDSSR als ihre Heimat betrachten. Einer Manipulation
sozialer Identifikationen von Individuen und sozialen Gruppen sind unter diesen
Bedingungen
günstige
Weichen
gestellt.
Nischen-
und
Unterstützungsgruppen
charismatischer Führungspersönlichkeiten reagieren auf einzelne gesellschaftliche Impulse
und bedingen massiven Wählerumschwung, Protestwählerschaft und kurzweiligen Auftritt
einzelner Parteien auf der politischen Bühne. Eine kontinuierliche Aggregierung und
Entwicklung allgemein politischer Interessen im Sinne demokratischer Orientierungen ist
unter den Bedingungen eines ausufernden, undifferenzierten, instabil polarisierenden
Parteienpluralismus hoch erschwert.
Unabhängige Medien sind für Schulepov ein weiteres Merkmal und zugleich Institution
von Zivilgesellschaft. Neben der Informationsverbreitung über Entwicklungen und
Ereignissen auf allen geografischen Ebenen erfüllen die Medien auch ein Reihe
spezifischer, sozialer Funktionen. Im Kontext eines gegenwärtigen Russlands, also in einer
polarisierten, sozial angespannten Gesellschaft, sind die Medienorgane Quellen der
Entwicklung von Toleranz und der Vorstellung einer „Schicksalseinheit und der
Notwendigkeit gemeinsamer Bemühungen aller Russen“ (Schulepov 2001: 39) zur
Verbesserung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lage. Diese ideologische
Funktion der Verbreitung von Gedanken und der Bildung eines psychologischen Klimas
zur Mobilisierung und Unterstützung der Menschen im Land soll zusammen mit dem
professionellen, administrativen Apparat, den politischen Parteien und gesellschaftlichen
Organisationen den eigentlichen Stoff des Politischen weben.
Doch die Spannungen mehren sich zwischen der Privatisierung staatlicher Medienorgane
(und mittlerweile auch der Rückverstaatlichung am Beispiel des Kanals NTW) und der
Gesetzgebung zur Medienfreiheit. Trotzdem können die Medien in Abwesenheit von
11
ungefähr 30 Millionen Russen lebten 2003 unter dem Existenzminimum von umgerechnet ca. 60 Euro
18
effektiven Parteien und in der Schwäche von linker und rechter Opposition eine reale
Plattform bieten zur demokratischen Einflussnahme auf die Politik Russlands. Medien
vermitteln Macht, sind der Anknüpfungspunkt zur Erfassung der Wählerschaft und der
Brennpunkt der Bildung öffentlicher Meinung. Doch ist die Entwicklung einer
unabhängigen
Medienlandschaft
als
eine
Kommunikationsplattform
und
freie,
gesellschaftliche Institution von Zivilgesellschaft an erschwerende Besonderheiten
geknüpft. In Russland hat zwar die Mehrheit der Bevölkerung einen Fernseher, doch
außerhalb der Großstädte empfängt man oft nur einen Sender. Journalisten sind in einer
Presse, die stark auf Skandale und Sensationen ausgerichtet ist, so sehr vom Markt
abhängig, dass im Namen der Freiheit des Wortes eine unkontrollierte Flut an populären
Inhalten produziert wird und das Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und
Journalisten auf „richtige“ Informationen heftig schwindet.
Neben Parteien und Medien gibt es in der russischen Beschäftigung mit Zivilgesellschaft
noch eine dritte Institution in der gesellschaftlichen Sphäre. Für die Autoren Konowalowa
und Jakimez sind modernisierende Prozesse in Russland zwar auf Veränderungen in der
Organisation der Machtstrukturen im Lande gerichtet, doch schaffen diese keine
Möglichkeiten zur Teilhabe der Bevölkerung und rücken jene nicht als ihr zentrales Objekt
in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten. Ihrer Meinung nach kann sich die Realisation der
demokratischen Reformierung und Transformierung des staatlichen Apparates nur unter
Berücksichtigung der gesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen ausdrücken.
In diesem Sinne muss es zu einer gemeinsamen Verantwortungsnahme der Teilnehmer am
gesellschaftlichen, unternehmerischen und staatlichen Aufbau in Form von sozialen
Partnerschaften zur Entwicklung einer gemeinsamen, effektiven Sozialpolitik kommen.
Zivilgesellschaft darf in diesem Rahmen nicht auf die Existenz von NichtRegierungsorganisationen (NGO´s) oder auf nicht-kommerzielle Organisationen (NKO´s)
reduziert werden, da sich durch die Veränderungen in allen drei (staatlichen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen) Sektoren gegenseitige Handlungskompetenzen nur
in der Gründung von rechtlichen, ökonomischen und organisatorischen Bedingungen in
partnerschaftlichen
Wechselbeziehungen
der
örtlichen
Selbstverwaltung,
der
Wirtschaftstruktur und der staatlichen Verwaltung bzw. Entscheidungsvollmachten
realisieren und sichern lassen. So ist die zivile Sphäre in diesem Sinne eher ein Kontakt-,
Kommunikations- und Handlungsraum, in dem souveräne Individuen in der Trägerrolle
eines Sozialsinns und gleichzeitig als eines seiner Objekte die Entstehung, Entwicklung
und Institutionalisierung von bürgerlichen Initiativen begründen. Die staatliche Macht
19
kann nicht aus sich allein heraus seine Kraft realisieren, sondern die Wechselbeziehungen
mit der sozialen Macht des sich in Initiativen und gesellschaftlichen Vereinigungen
verwirklichenden Sozialsinns ergänzen und bedingen ihre Existenz. Zivilgesellschaft ist
also zum einen die Gesamtheit aller selbsttätigen Organisationen, welche institutionell die
Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen formulieren und bestärken, und zum
anderen ein System von Beziehungen und Verbindungen dieser Gruppen zum Staat,
welche die Legitimität des politischen Regimes unterstützen oder negieren. Neben
unabhängigen Bildungs-, Wirtschaftseinrichtungen, Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen
haben demnach solche Assoziationen und Fonds einen besonderen Platz in der zivilen
Sphäre, welche die Interessen verschiedener Alters-, Berufs- und Sozialgruppen
präsentieren. NGO´s bilden ein Handlungsfeld, um innerhalb eines gesetzlichen Rahmens
Druck auf die staatliche Macht auszuüben (z.B. durch Lobbyismus oder Massenprotest),
um Gesetze vorzubereiten, staatlich strategische Entscheidungen zu beobachten und zu
beurteilen, und um an Sozialprogrammen der Regierung teilzunehmen12.
Allerdings gibt es einige Gründe für die sehr schwache, reale Position und Kraft vieler
gegenwärtiger NGO´s in Russland. Zum einen verringern zweifelhafte Machenschaften
einiger Organisationen (z.B. die Zurückhaltung oder „Fremdnutzung“ finanzieller Mittel
der Gründungsmitglieder) den Tätigkeitsrahmen aller anderen Vereinigungen, und zum
anderen bringt eine unvollkommene Gesetzgebung, z.B. im Besteuerungssystem nichtkommerzieller Organisationen, in der Rechenschaftslegung und Transparenz und in der
Regelung von Lobbyismus und Finanzmittelvergabe, soziale Vorhaben auf eine
Eisschollenlage. Dass dann noch viele NGO´s keine konkreten Zielvorgaben pflegen,
sondern meist nur in der Rolle des Bittstellers verharren, trägt genauso wenig zur
Errichtung eines institutionellen Tätigkeitsrahmen bei, wie die Fremdheit und der fehlende
praktische Austausch von Organisationen, welche sich auf demselben Gebiet engagieren13.
Vor dem Hintergrund scharfer sozialer Spaltungen in der russischen Gesellschaft,
einer Vielzahl von (bürokratischen) Barrieren für die Entwicklung von Unternehmertum,
der politischen Apathie großer Teile der Bevölkerung und einer hohen Korruption auf
verschiedenen, staatlichen Machtebenen wird sich Zivilgesellschaft in der Rolle eines
organisatorischen Vermittlers zwischen der Gesellschaft und dem Staat bzw. der einzelnen
12
Eine Statistik der UNESCO (1999) zeigt, dass 34,8 % der russischen NGO´s auf dem Gebiet der Bildung,
Wissenschaft und Kultur tätig sind, 16,5 % professionelle Arbeit für Berufsgruppen und 15,8 % humanitäre,
wohltätige Hilfe leisten und es 13,2 % Frauenorganisationen sind. Nur 5,2 % sind Menschenrechtsorganisationen.
13
Deshalb besteht ein bedeutender Teil von großen NGO´s gegenwärtig darin, Seminare, Konferenzen und
Netzwerke für Mitglieder von anderen NGO´s zu gründen, Informationen zu verteilen und
Zusammenschlüsse zu organisieren.
20
Person
und
dem
Staat
vorgestellt.
Das
Problem
der
gesellschaftlichen
und
parlamentarischen Kontrolle des staatlichen Apparates, z.B. in der Aufdeckung und
Abschwächung von Korruption und in der gesellschaftlichen Mitbestimmung von
Budgetnutzungen, ist unter den Bedingungen von ausbleibender Rechenschaftslegung
politischer Akteure, inexistenter Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse und der
Vorgesetztentreue und Bürgerignoranz vieler Beamten eine der schwersten Aufgaben
zivilgesellschaftlicher Akteure.
Die Realisierung sozialer Tätigkeiten sehen Konowalowa und Jakimez in intersektoralen
Partnerschaften zwischen staatlichen Organen, wirtschaftlichen Unternehmen und nichtkommerziellen Organisationen, welche in der russischen Praxis meist in Dialogen und
zeitlich festgelegten, sozialen Allianzen für konkrete Ziele realisiert werden, z.B. in
Wechselbeziehungen zwischen Berufsverbänden und Arbeitgebern, um über Arbeitsschutz
zu beraten und zu verhandeln. Diese Partnerschaften haben allerdings meist lokalen und
kurzweiligen Charakter, da es zum einen in der Wirtschaft an klaren, verständlichen,
realistisch strategischen Orientierungen zur Umgestaltung des Landes fehlt, und zum
anderen auch in den gesellschaftlichen Initiativen konkrete Pläne für intersektorale
Zusammenarbeit nur selten existieren.
Zwischen dem sich transformierenden Staat und dem entstehenden, nicht-kommerziellen
Sektor gibt es drei verschiedene Felder von Wechselbeziehungen bei der Realisation von
Projekten
und
Programmen
zur
Lösung
sozialer
Probleme.
Quasi-sowjetische
Beziehungsstrukturen sind das Erbe traditioneller, also noch in der Sowjetperiode
gebildeter Möglichkeiten der Wechselbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürger. In
engen Bindungen an Regierungsstrukturen erhalten gesellschaftliche Organisationen
repräsentative Funktionen, wird gezielte Unterstützung elitären Vereinigungen (z.B.
Veteranenorganisationen) zuteil und werden finanzielle Mittel schon lange im Budget
bereitgehalten für Veranstaltungen, welche von gesellschaftlichen Organisationen weit
vorher in Absprache vorbereitet wurden. Dem gegenüber haben sich innovativ neue
Zusammenarbeiten während der Zeit der Perestroika herausgebildet. Wettbewerbe werden
immer öfter als Mechanismen der Erfüllung des staatlichen sozialen Auftrages veranstaltet.
Zum einen geht es um die Ausführung bestimmter sozialer Dienstleitungen wie z.B.
Resozialisierungsprogramme, Finanzierung von Pflegefamilien und Rehabilitationsprogramme für Alkoholsüchtige. Zum anderen werden neue Organisationsstrukturen in
Zusammenarbeit zwischen Regierungsorganen und zivilen Vereinigungen gegründet, in
deren Aufgabenbereich die Lösung bestimmter sozialer Probleme vom Staat delegiert und
21
Sozialpolitik „ausgelagert“ wird, wie z.B. das Zentrum „Kinder der Straße“ in Moskau. Ein
dritter Bereich innovativer Zusammenarbeit ist die gemeinsame Errichtung eines System
prozeduraler Mechanismus zur sozialen Arbeit durch, z.B. Gesetzesinitiativen,
Veranstaltung von Bürgerforen und runder Tische. Ein devianter Auswuchs der
intersektoralen Wechselbeziehungen sind mutierte Kooperationen. Quasi-politische
Vereinigungen, welche nur die Interessen ihres Besitzers vertreten und quasigesellschaftliche Organisationen, welche nur in Kontakt mit dem Regierungsapparat treten,
um ihn zu kontrollieren, schwächen den strukturellen Aufbau einer zivilen Sphäre genauso
wie die Gründung von Vereinigungen durch staatliche und wirtschaftliche Akteure, um
finanzielle Mittel aus öffentlichen Kassen in die Taschen der vermeintlichen Wohltäter
fließen zu lassen.
Der Wachstum einer nicht-staatlichen Sphäre der Gesellschaft ist in russischen Debatten
einer der Hauptindikatoren gesellschaftlicher Konsolidierung. Eduard Fomin beschreibt
diese als einen Zwischenlink zwischen Staat und Markt und als die Repräsentation
gesellschaftlicher Institutionen auf einem eigenständigen, dritten Sektor14. Hier erfolgt die
Integration der Individuen in die bestehende Gesellschaftsform nach nicht-staatlichen und
nicht-marktwirtschaftlichen Prinzipien. Die Tätigkeiten der Individuen und Organisationen
des dritten Sektors bestehen im allgemeinen darin, staatliche und private (also
privatwirtschaftliche) Mittel in Übereinstimmung mit den sich ändernden sozialen
Situationen adäquat, d.h. den Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten entsprechend,
umzuverteilen in Form von sozialen Programmen. Die bisher existierenden Formen ziviler
Institutionen einer nicht-staatlichen Sphäre in Russland sind Resultate langjähriger
Konflikte und Kompromisse zwischen staatlicher Macht, Marktsubjekten und den
eigentlichen Bürgern des Landes über die Anteile ihrer Verantwortung und über das
Ausmaß ihrer Teilhabe an der sozialen Reproduktion. Die Kompromissfindung begrenzt
damit „eine Tendenz zur Polarisation von Lebenshorizonten verschiedener Menschen und
sichert den Erhalt gesellschaftlicher Zustimmung“ (Fomin 1996: 18).
In der ehemaligen UDSSR waren gesellschaftliche Organisationen Elemente des Staates,
sie wurden durch ihn gegründet und beendet. Ihre zentralistische, hierarchische Struktur
umfasste den gesamten Bereich öffentlichen Lebens und funktionierte zur rituellen
Teilhabe eines Jeden an den Dingen der gesamten Gesellschaft und zur symbolischen
Demonstration gegenüber dem sowjetischen Regime. Die Mitgliedschaft in einer dieser
Vereinigungen war gleichzusetzen mit Vertrauenswürdigkeit und unterstützte den Weg in
14
in der russischen Zivilgesellschaftsdebatte wird der gesellschaftliche Raum meist aufgeteilt in den 1.
Sektor (Staat), den 2. Sektor (Markt) und den 3. Sektor (gesellschaftliche Organisationen)
22
bestimmte Machtpositionen und den Zugang zu status-privilegierten Gruppen. Die
Zugehörigkeit zu einer Organisation diente vor allem der Unterstreichung der
Allgemeinheit, zur Demonstration der Kollektivität und schloss eine Verschiedenartigkeit
und Individualität aus. Während also in den westlichen Demokratien zivilgesellschaftliche
Organisationen meist als Reaktion auf eine sterbende Vergesellschaftung, als Begrenzung
der Individualität und als Bestärkung solidarischer und kollektiver Interessen gegründet
wurden und werden, ereignet sich der Entstehungsprozess für Fomin in postsowjetischen
Russland genau anders herum. Hier geht es um die moralische Rechtfertigung der
Individualität und um die radikale Entstaatlichung und Entvergesellschaftung dessen, was
gewaltsam sozialisiert wurde. Zum einem deshalb und zum anderen wegen der
verschiedenartigen, sozialen Natur der Organisationen, die aus der Unterschiedlichkeit der
Bedürfnisse, als deren Antwort die einzelnen Vereinigungen entstehen, formieren sich
bisher auf dem russischen dritten Sektor keine einheitlichen, gesellschaftlichen Kräfte. Es
existiert eine bedeutende Anzahl an Organisation, welche noch in der Sowjetzeit gegründet
worden
sind
und
Personen
mit
besonderen
sozialen Status vereinigen (z.B.
Veteranenvereine). Heute sehen sie ihre Aufgabe im Streben um die Wiederaufnahme
staatlich-finanziellen Mittelflusses durch politischen Lobbyismus. Seit den 90er Jahren
gründete der russische Staat selbst oder initiiert Gründungen von gesellschaftlichen
Organisationen. Durch dieses Element sozial-ökonomischer Reformen verzichtet die
staatliche Bürokratie auf den Paternalismus als leitendes Motiv seiner Sozialpolitik. Damit
reagiert er auf sein eigenes Handlungsvakuum, das sich als Folge seiner Unvorbereitetheit
auf eine institutionelle, soziale Sicherung nach dem Ende der Planwirtschaft und einem
kollektivistischen Gesellschaftsregime ergab. Marktwirtschaftliche Risiken sollten nun
außerhalb des staatlichen Rahmens durch die staatlich initiierte Gründung einer quasigesellschaftlichen Struktur aufgefangen werden, welche nun eine Demokratisierung des
offiziellen Systems sozialer Einrichtungen sozusagen „von oben“ vorantreiben sollte. Die
Mehrheit nicht-staatlicher Vereinigungen wurde in der Periode massenhafter Investitionen
ausländischer humanitärer Hilfsorganisationen in den 1990er Jahren gegründet. Ihre
Aufgabe
war
die
sichere
Leitung
humanitärer
Hilfe
an
die
bedürftigen
Bevölkerungsschichten. Durch ihren juristischen Empfängerstatus, der sie zum Erhalt
bestimmter Volumina humanitärer Fracht berechtigte, waren sie eher Vereinigungen von
Wohltätigkeitsempfängern. Da nun der Strom humanitärer Hilfe abgeebbt ist und viele
Organisationen ihre Aufgaben erledigt haben, stellt sich die Notwendigkeit neuer
Aufgabenstellungen. Doch die Rückkehr vom Objekt von Wohltätigkeit zum Subjekt
23
aktiver Sozialpolitik ist unter dem Erbe sozialistischer Verteilungsideologie bei vielen
Vereinigungen nur schwerlich ein Thema. So fehlen zum Beispiel außer in Moskau und St.
Petersburg in vielen Regionen der russischen Förderation Menschenrechtsorganisationen
als Indikator des Aufbaus und der Unabhängigkeit eines dritten Sektors. Die Artenvielfalt
der Organisationen und eine unzureichende Gesetzgebung, eine in den Anfängen steckende
Reglementierung der staatlichen Ressourcenverteilung und das Fehlen legitimer
Prozeduren von Konkurrenz lässt den dritten Sektor aber zu einem diffusen Geflecht von
unklaren
Kooperationen
und
harten
materiellen
Kämpfen
werden,
welches
partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Organen der Macht auf der einen, und mit dem
einzelnen Bürger auf der anderen Seite ineffektiv macht und oft schon die Anfänge von
sozialen Projekten empfindlich stört.
Auf der mikrosoziologischen Ebene haben sich einige russische Autoren mit konkreten
zivilgesellschaftlichen Akteuren beschäftigt. Elena Dsrawomyslowa hat in einer
sozialhistorischen Arbeit am Beispiel eines Leningrader Kaffees die Formierung und
Nutzung eines öffentlichen Raumes zur Konstitutionierung einer Kontrakultur in der
sowjetischen Gesellschaft der 1970er bis 1990er Jahre beschrieben. In diesen Jahren
begann sich in den russischen Industriezentren eine Voraussetzung von Zivilgesellschaft zu
bilden, nämlich eine vom Staat unabhängige Sphäre kollektiver Initiativen, welche sich
gegen die Rahmenbedingungen der sowjetischen Gesellschaft wie Schattenwirtschaft,
Klientelismus, begrenzter Arbeitsmarkt und nichtlegale Tätigkeiten legaler Organisationen
abzugrenzen versuchten. Die sich in der Breschnew-Epoche öffnenden Möglichkeiten
eines öffentlichen Raumes alternativer Kommunikation verwirklichten sich in der
großstädtischen Kaffeekultur, z.B. im Leningrader Kaffee „Saigon“. Diese Kaffees waren
Konzentrationspunkte bestimmter kultureller Praktiken und Einstellungen, welche in einer
Opponentenrolle zur dominierenden, offiziellen Kultur der Sowjetunion zu sehen sind. Die
Träger dieser alternativen kulturellen Sphäre drückten somit Kritik und Reflexion
gegenüber der verstaatlichten, durchideologisierten Sowjetkultur aus, zielten aber in ihrem
eigenen Kommunikationsraum ebenfalls auf die Bildung und Wahrung einer kollektiven
Identität ab. Innere, kommunikative Konflikte hatten keine Bedeutung, denn die
gemeinsame Zielrichtung der Formierung eines eigenen Raumes in der sozialen
Infrastruktur der sowjetischen Herrschaft, in dem bestimmte Werte, Glaube, Attitüden und
Lebensstile als Bausteine einer alternativen Gemeinschaft galten, einte die Kräfte und
Interessen. Aus der Gegenposition zu herrschenden Normen und Werten des sowjetischen
Lebensstils, des Familienlebens und der üblichen Statusvergabe waren die Mitglieder einer
24
Kontrakultur starken existentiellen Risiken ausgesetzt, welchen sich aber in Gemeinschaft
besser begegnen ließ, ob nun mit psychischer Unterstützung oder der Vermittlung von
Arbeitsplätzen.
Das
Bewusstsein
als
Risikogemeinschaft
als
konstituierendes
Element
zivilgesellschaftlicher Organisationen beschreibt auch Larissa Boitschenko in ihrer
Untersuchung zu Frauenorganisationen in der nordrussischen Republik Karelien. Die
Problemfelder der weiblichen Bevölkerung in der Russischen Förderation sind demnach
nicht begrenzt auf Familie und Kindererziehung, sondern verbunden mit Veränderungen
der Tätigkeitsfelder in der russischen Wirtschaft, mit der strukturellen Reorganisation der
Produktion, mit der sozialen Infrastruktur postsowjetsicher Gesellschaften und mit breiten
Migrationsprozessen. Seit dem Anfang der Perestroika in den 1980er Jahren gründeten sich
auch Frauenbewegungen und Vereinigungen als nichtstaatliche und gesellschaftliche
Organisationen. Die gleiche Bedeutung aller Menschen, Männer wie Frauen, im
entstehenden
Pluralismus
diente
als
Kritikschablone
im
gesellschaftlichen
Öffnungsprozess der Perestroika. Seit den 1990er Jahren teilt sich die Tätigkeit der
Mitglieder von Frauenvereinigungen in drei Richtungen. Zum einen wird zur
Risikokompensation Haushaltshilfe zur Verfügung gestellt und Programme zur Ausbildung
von (Haus- und Hof-) Wirtschaftsführerinnen angeboten. Zum anderen engagieren sich die
Mitglieder im politischen Feld, wo sie entweder selber aktiv werden und sich z.B. als
Abgeordnete in den Stadtrat wählen lassen, oder andere Frauen bei solchen Wahlen, wie
zur gesetzgebenden Versammlung, unterstützen. In diesen Positionen ist eine Kritik
struktureller und gesellschaftlicher Zustände zu verwirklichen, welche, und das ist das
dritte
Tätigkeitsfeld,
durch
Diskussionsprozesse
in
Frauenklubs
und
durch
wissenschaftliche Untersuchungen in Institutionen zu Gender-Studien entwickelt werden.
Dabei gehen die Akteurinnen dieser Organisationen davon aus, dass eine effektive
Tätigkeit der politischen bzw. staatlichen Machtrepräsentanten ohne Brücksichtung der
öffentlichen Meinung und der aktiven Partnerschaft mit gesellschaftlichen Vereinigungen
nicht möglich ist. Denn durch ihre Tätigkeiten stellen sie Dienste zur Verfügung, die ein
fragiles soziales Netz stärken, welches von staatlichen Einrichtungen nicht mehr erhalten
werden kann.
Um die Formierung von Zivilgesellschaft in Russland in Entstehungsetappen anschaulich
zu machen, untersucht Viktor Woronkov die Bildung ethnischer Gemeinschaften in St.
Petersburg. An diesem Beispiel erkennt er die Formierung der Angehörigen verschiedener
Ethnien zu freien Assoziationen, welche in organisierter, kollektiver Tätigkeit mit dem
25
staatlichen System um ihr Existenzrecht kämpfen und versuchen, außerhalb staatlicher
Kontrolle ihre Interessen zu verwirklichen. Während des Sowjetregimes wurden alle
Entwicklungen ethnischer Identitäten außerhalb der ideologischen Selbstsicht als
Sowjetmensch hart kontrolliert und unterdrückt. Die seltenen Versuche einzelner
Aktivisten zur Bewusstseinsformierung ethnischer Minderheiten fanden im Rahmen der
Dissidentenbewegung bis Mitte der 80er Jahre statt. In der UDSSR existierten zwar legale
gesellschaftliche
Organisationen,
doch
waren
sie
keineswegs
freie
Interessensassoziationen, sondern Teil der umfassenden staatlichen Kontrolle aller
gesellschaftlichen
Tätigkeit.
Freie
organisierte
Tätigkeiten
als
Elemente
einer
Zivilgesellschaft fanden entweder illegal oder unter verschlossenen Augen der lokalen
Machtrepräsentanten statt. Ethnische Minderheiten fanden sich in halb- oder nichtlegalen
Organisationen religiösen, kulturellen oder politischen Typs zusammen, organisierten
Seminare und Fonds zur gegenseitigen Hilfe oder errichteten nach ethnischen Prinzipien
soziale Netzwerke. Erst mit dem Einsetzen der gesellschaftlichen Transformation und der
Entwicklung zu einer immer weniger sanktionierenden staatlichen Macht verbanden sich
einzelne zivilgesellschaftliche Elemente zu einer nichtstaatlichen Sphäre. In denen nun um
Legalisierung kämpfenden ethnischen Organisationen formierten sich immer neue
Interessen, welche nun gemeinschaftlich ihre Realisierungschancen steigern. Zum einen
nährt sich dort der politische Kampf um die Verabschiedung von Gesetzen zur
Anerkennung und Unterstützung ethnischer Minderheiten und die Kritik an den
demokratischen Zuständen in Bezug auf Teilhaberechten am gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Gemeingut. Zum anderen bieten diese Organisationen Überlebens- und
Existenzstrategien für ihre Mitglieder an, für die ihre ethnische Zugehörigkeit nun zu einer
instrumentellen Ressource zur Risikoabsicherung wird. Die Verwurzelung in ethnifizierten
Wirtschaftsräumen, wie z.B. die Lebensmittelbranche, oder die Arbeitsplatzvermittlung
innerhalb der ethnischen Gemeinschaften sichert die Existenzen der Zugehörigen und
bindet sie ein in die Hilfe ethnischer, sozialer Netzwerke.
Schlussbetrachtungen
Wenn man die russischen Überlegungen und Beobachtungen bezüglich einer
Zivilgesellschaft im Spiegel der vorangestellten deutschen Konzeptionen betrachtet, lassen
sich schnell zwei Bemerkungen machen. Zum einen zielt in der russischen Debatte wie in
26
der deutschen zivilgesellschaftliche Tätigkeit immer auf die res publica und auf die
Ausbildung demokratischer Grundbausteine wie Fairness, Bürgersinn und Gewaltlosigkeit
hin. Zum anderen ist das Merkmal der staatlichen Unabhängigkeit gesellschaftlicher
Tätigkeiten im russischen Kontext nicht so eindeutig auszumachen. Entweder versuchen
staatliche Strukturen selbst Bausteine gesellschaftlicher Institutionen zu gründen oder sie
beziehen nicht-staatliche Organisationen in eine von ihnen festgelegte (sozial-)politische
Richtung mit ein. Das Potential einer Initiation von Demokratieentwicklung in Russland
kommt in den theoretischen Konzeptionen allerdings politischen Parteien, den Medien und
den nicht-staatlichen Organisationen zu, die in einer Opponentenrolle zu staatlichen
Strukturen gesehen werden. Bürgersinn und soziales Kapital sollen als Moralfaktoren eine
Interessensformierung in der Gesellschaft aktivieren und durch die Tätigkeiten
gesellschaftlicher Organisationen als grundlegende Ausrichtungen des sozialen, politischen
und wirtschaftlichen Umbaus Russlands fungieren. Mit der Formierung einer öffentlichen
Sphäre durch die Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen sollen kollektive
Interessen der Gesellschaftsmitglieder entweder durch politische Parteien aufgenommen
und in politische Prozesse übersetzt werden oder durch intersektorale Partnerschaften
gesellschaftliche Probleme gelöst werden.
Die in den Tätigkeiten, Forderungen und Interessensartikulationen von öffentlichen
Vereinigungen eingeprägte Systemkritik bzw. Kritik an der Entwicklungsrichtung einer
„russischen“ Demokratie stellt sich doch in den Ausführungen der russischen Soziologen
als Drang zur Teilhabe an politischen Prozessen dar, der die gesetzlichen und
institutionellen Grundlagen bislang noch fehlen. Allerdings sind die Zivilgesellschaftskonzepte immer eine Idealschablone, an denen sich die realen Zustände messen lassen
müssen. Der Streit über die demokratische Zukunft der russischen Gesellschaft kommt in
den Vorstellungen und Aufgabenkonzeptionen einer zivilen Sphäre zum Ausdruck. Eine
starke Ausprägung erfährt hier der Aspekt einer Risikogemeinschaft, welcher in Form von
gesellschaftlicher Selbstverwaltung als Risikoabfederung gegen die Systemlogiken von
Wirtschaft und staatlicher Bürokratie funktioniert.
Das daraus resultierende, proklamierte Zusammenarbeitsstreben aller gesellschaftlicher
Kräfte ist immer auf eine Reduzierung von Konflikten aus und schreibt Konflikten und
Kompromissen Funktionen für gesellschaftliche Einheit und sozialen Zusammenhalt zu.
Zivilgesellschaft wird als ein Mittel gesehen, Polarisationen in der russischen
Öffentlichkeit zu vermeiden und die Richtung auf der Suche nach einer neuen,
gemeinschaftlichen Identität zu weisen. Dies soll explizit in einer öffentlichen Sphäre
27
geschehen und koppelt diese Entwicklung zwangsläufig von staatlichen Strukturen ab. Das
dadurch aber die im russischen Kontext spezifischen Negativattribute von gesellschaftlichen Organisationen, wie undemokratisch interne Verfasstheit, Ziellosigkeit, bloßer
Protest und Fehlleitung finanzieller Mittel, und die wachsenden sozialen Spaltungen die
öffentliche Sphäre zum Ort der Verunmöglichung von institutionellen Reformen und der
Abschwächungen einer sozialen und ökonomischen Transformation hin zu demokratischen
Formen werden lassen können, schwebt wie ein Schatten über den Forderungen einer
freiheitlichen und handlungsfähigen zivilen Sphäre.
Es ist möglich, dass der Wegfall zivilgesellschaftlicher Blockadepotentiale einen wichtigen
Effizienz- und Legitimationszuwachs für die Entscheidungsfähigkeit repräsentativer,
demokratischer Institutionen in einschneidenden Reformvorhaben bedeutet. Diese
Stabilisierung junger Demokratien müsste dann im weiteren durch partizipatorische
Aspekte einer revitalisierten Zivilgesellschaft ergänzt werden, um öffentliche Teilhabe am
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbau zu gewährleisten und um die
Legitimationsgrundlage des demokratischen Staates zu verstärken. Dies könnte gelingen,
wenn sich die politische und die zivile Sphäre in wechselseitiger Selbstbeschränkung
kooperativ verhalten (Lauth/Merkel 1997: 46).
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