Schwerpunkt Seit September vergangenen Jahres hat Haide Tenner die Künstlerische Leitung des Radio-Symphonieorchesters Wien inne, Österreichs einzigem Rundfunksinfonieorchester. Das breit gefächerte Repertoire des Orchesters umfasst in großem Maße Werke des 20. Jahrhunderts bzw. der Musik nach 1945 sowie Werke selten gespielter Komponisten. Regelmäßig ist das Orchester zu Gast bei den Salzburger Festspielen, den Bregenzer Festspielen und beim Steirischen Herbst. Nicole Dantrimont sprach mit Haide Tenner über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftspläne des Radio-Symphonieorchesters Wien. Präzise Aufgabenteilung, genaue Positionierung Nicole Dantrimont im Gespräch mit Haide Tenner, Künstlerische Leiterin des Radio-Symphonieorchesters Wien In Deutschland gibt es sowohl Orchester, die einer öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalt angeschlossen sind, als auch Orchester, die von der Kommune, dem Land und/oder dem Staat finanziert werden. Wie sieht das in Österreich aus? Worin liegen die Unterschiede dieser Orchesterformen im Hinblick auf Programmgestaltung und Marketing? Selbstverständlich gibt es auch in Österreich, einem Land, in dem die Musik so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit von Publikum und Medien steht, ein Nebeneinander von regional wichtigen und international bedeutenden Orchestern. Das Rundfunkorchester nimmt seit jeher eine Mittelposition zwischen diesen beiden Orchesterfunktionen ein. In den mehr als 30 Jahren seines Bestehens hat sich das RSO als Spezialistenorchester für zeitgenössische Musik positioniert. Daneben wurde aus orchestertechnischen Gründen und zur Steigerung der Publikumsakzeptanz immer auch Musik aus früheren Jahrhunderten gespielt. Die Präsentation neuer Musik ist die Hauptaufgabe des RSO, wobei unter „neu“ nicht nur Uraufführungen fallen, sondern Musik, die für das Publikum neu oder in Vergessenheit 16 geraten ist. Diese Programmlinie entspricht dem Kultur- und Informationsauftrag des ORF und bedeutet eine wesentliche programmatische Abgrenzung von anderen Orchestern, bei denen das gängige Repertoire im Mittelpunkt steht. Das RSO Wien ist im Vergleich zu den Deutschen Rundfunkorchestern ein relativ junger Klangkörper – gegründet 1969. Mit welchen Zielen wurde das Orchester gegründet bzw. worin liegt der Auftrag des Orchesters? Das RSO ging 1969 aus dem Orchester des Österreichischen Rundfunks hervor, das gemäß den damaligen Programmbedürfnissen hauptsächlich Unterhaltungsmusik eingespielt hat. Nach dem Vorbild der deutschen Rundfunkorchester und des BBC-Orchesters wurde im Zuge der Umstrukturierung des ORF ein Symphonieorchester gegründet, das seine Hauptaufgabe in der Wiedergabe und Aufnahmetätigkeit von zeitgenössischer Orchestermusik sah. Die Präsentation zeitgenössischer Musik war Ende der 60er Jahre durch die Gründung von Spezialistenensembles in die Konzertprogramme eingeflossen, aber ohne das Das Orchester 4/04 Schwerpunkt Haide Tenner, Künstlerische Leiterin von Österreichs einzigem Rundfunkorchester Foto: ORF/Günther Pichlkostner rant für die ständige Verfügbarkeit gängiger Orchesterliteratur innerhalb der Abonnementkonzerte in Wien. Hier zu Lande ist man gewohnt, in den alten Kategorien 1. Philharmoniker, 2. Symphoniker, 3. RSO zu denken, aber inzwischen ist aus diesem so genannten dritten Orchester ein Spitzenklangkörper geworden, der auch im Bewusstsein der musikinteressierten Öffentlichkeit das modernste Orchester Österreichs ist. Symphonieorchester des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hätten zeitgenössische Komponisten kaum Möglichkeiten gefunden, dass ihre Werke für großes Orchester aufgeführt werden. Worin unterscheidet sich der Auftrag zwischen kommunalem Orchester und Rundfunk-Orchester in Österreich? Wo sehen Sie Synergie-Effekte? Österreich hat eine sehr dichte Orchesterlandschaft, und durch den hohen Stellenwert der Musik im Allgemeinen (vor allem in Wien) gibt es sehr viele Gastspiele der besten Orchester der Welt, was nicht nur für die heimischen Orchester eine starke Konkurrenzsituation darstellt, sondern auch eine genaue Positionierung innerhalb dieser Musikszene notwendig macht. Die regionalen Orchester in den Bundesländern haben traditionell die Aufgabe der musikalischen Grundversorgung der jeweiligen Region, lassen sich aber zunehmend auch originellere Programme einfallen. Die Wiener Philharmoniker stehen außerhalb der Konkurrenz, und das Orchester der Wiener Symphoniker bestreitet in Wien den Großteil des Konzertlebens, ist also ein Ga- Das Orchester 4/04 Wie spiegelt sich das in den Programmen wider? Können Sie ein konkretes Beispiel für Programmgestaltung nennen? Die von mir vorhin als „neu“ bezeichnete Musik bezieht sich selbstverständlich auch auf das Genre Oper. Das RSO hat sich in den letzten Jahren auch als Opernorchester positioniert. Das bedeutet nicht nur die Mitwirkung beim Festival Klangbogen im Theater an der Wien und fallweise auch bei den Salzburger Festspielen, sondern beinhaltet auch die inzwischen zur Tradition gewordene Aufführung von konzertanten Opern im Wiener Konzerthaus. In dieser Saison stehen gleich acht Bühnenwerke auf dem Programm des RSO. Der musikhistorische Bogen reicht dabei von Egon Wellesz’ Bacchantinnen über Dvořáks Dimitri bis zu Blochs Macbeth. Opern also, die es gilt, einem größeren Publikumskreis zugänglich zu machen, Werke, die im Repertoire der Opernhäuser selten auftauchen. Auch innerhalb der Konzertprogramme dominiert das „Unbekannte“. Zirka 40 Prozent der Werke in unseren Programmen sind nach 1945 komponiert. Selbstverständlich wird z. B. die Uraufführung des Requiems von Friedrich Cerha durch das RSO stattfinden. Ein weiteres typisches Programm für das RSO: Dutilleux, Boulez, Debussy, Jarrell. Das RSO ist bei beiden großen Konzertveranstaltern in Wien, dem Musikverein und dem Konzerthaus, mit jeweils einem eigenen Zyklus vertreten. Das Publikum dieser Abonnementkonzerte erwartet in jedem Konzert etwas „Besonderes“, wobei traditionellerweise die Konzerte im Wiener Musikverein oft eine Mischung mit Musik des 18. oder 19. Jahrhunderts beinhalten, um das Publikum durch interessante Kombinationen für neuere Musik zu begeistern. Jeder Chefdirigent hatte seine 17 Schwerpunkt Foto: ORF-PHOTOGRAPHIE Selbstverständlich wird jede Aktivität des Radio-Symphonieorchesters in diesem Programm wiedergegeben. Zurückgegangen sind die Produktionen, die in früheren Zeiten ausschließlich für das Radio gemacht wurden. In diesen Fällen ergibt sich jetzt zumeist eine Zusammenarbeit mit einem Plattenlabel, sodass sich ein Synergie-Effekt einstellt, wobei der Rundfunk bei der Bewerbung der CD hilft, was dem Image des Orchesters und den Verkaufszahlen zugute kommt, und das Plattenlabel durch den internationalen Vertrieb für den Bekanntheitsgrad des Orchesters nützlich ist. Darüber hinaus besteht so auch die Möglichkeit, für Aufnahmen ein zumindest geringes Entgelt zu erhalten. Da im Programm Österreich 1 sehr viele moderierte Musiksendungen stattfinden, gibt es immer wieder Hintergrundberichte, Interviews, Programmhinweise und Konzertanalysen, die sich auf das RSO beziehen. In verstärktem Ausmaß ist das seit ca. einem Jahr der Fall, wo zwischen der Leitung des Orchesters und der Musikabteilung wieder Personalunion hergestellt wurde. programmlichen Schwerpunkte. Seit zwei Jahren leitet der Franzose Bertrand de Billy das RSO, und so finden sich in vielen Programmen auch Werke französischer Komponisten – wie sich davor unter Dennis Russell Davies viele amerikanische Stücke im Programm fanden. Kümmern Sie sich auch um die musikalische Jugendbildung? Seit dieser Saison gibt es eine neue Veranstaltungsreihe: „Klassische Verführung“. In Zusammenarbeit mit der Jeunesses Musicales und dem Stadtschulrat wurde eine Reihe entwickelt, in der ein bekannter Hörfunkmoderator vor Publikum (am Vormittag für die Schulen, am Abend für ein erwachsenes Publikum) ein Stück mit dem Orchester gemeinsam auseinander nimmt, analysiert und spannend aufbereitet. Diese neue Aktivität wurde sehr gut aufgenommen und soll in der nächsten Saison verstärkt werden. Die musikalische Jugendbildung bezieht sich auch auf die Schulung des Musikernachwuchses. So ist das RSO regelmäßiger Begleiter bei den Abschlusskonzerten der Dirigentenklassen, pflegt eine Zusammenarbeit mit den Musiklehranstalten des Landes und hat innerhalb der eigenen Reihen eine Orchesterakademie von zwölf Musikern. Wie stark ist Ihr Klangkörper im ORF präsent? Der ORF hat mit dem Programm Österreich 1 ein Kultur- und Informationsradio, das zu mehr als 50 Prozent Musik sendet. 18 Gibt es eine Quote für österreichische Musik im Radio – ähnlich wie in Frankreich? Wie stehen Sie dazu? Eine Quote für österreichische Musik im Radio gibt es nicht, ich halte in der Kunst auch nichts von Quoten. Selbstverständlich ist ein nationales Rundfunkorchester vorrangig dazu da, die heimische Musikproduktion zu unterstützen, zu fördern und zu präsentieren. Der Grund für eine Präsentation im Radio kann aber ausschließlich die Qualität sein. Wie stark ist die Tourneetätigkeit ausgeprägt? Das RSO ist außerhalb von Wien immer wieder in den Bundesländern präsent (wir wollen das in den nächsten Jahren noch verstärken), darüber hinaus gibt es pro Saison zumeist eine Auslandstournee. Wie beurteilen Sie aus Sicht des Nachbarn die Situation der deutschen Rundfunkorchester im Gegensatz zum einzigen Rundfunkorchester Österreichs? Die Situation in Deutschland und Österreich ist nicht vergleichbar, da durch die Existenz mehrerer Rundfunkorchester in Deutschland die Aufgabentrennung präzise sein muss. Durch den Größenunterschied der beiden Länder stellt sich diese Aufgabe in Österreich nicht. Ist es ein Vorteil, dass es in Ihrem Land nur einen Rundfunkklangkörper gibt? In Anbetracht der Größe des Landes, ja. Bewahrt das den Klangkörper vor Diskussionen, wie sie in Deutschland schon des Öfteren entfacht wurden? Ich denke da an vehemente Forderungen von Seiten der Politik, die Anzahl der Rundfunkklangkörper zu reduzieren. Das Orchester 4/04 Schwerpunkt Die Frage nach der Finanzierbarkeit von Klangkörpern wird immer und überall gestellt werden. Auch das RSO als einziges Rundfunkorchester Österreichs kann sich dieser Fragestellung nicht entziehen. In der öffentlichen Meinung jedoch ist das RSO als Orchester für zeitgenössische Musik nicht mehr wegzudenken. Ihr Orchester hat in den vergangenen Jahren immer wieder mit spritzigen Kampagnen auf sich aufmerksam gemacht. Zum Beispiel wurden bei den Salzburger Festspielen beim Eingang Gratis-CDs mit einem Repertoirequerschnitt an die Konzertbesucher verteilt. Oder die Orchestermitglieder mitsamt dem Dirigenten Bertrand de Billy trugen T-Shirts, um auf die Wichtigkeit ihres Orchesters aufmerksam zu machen. Warum solche Aktionen? Seit ich im September des vergangenen Jahres das Orchester übernommen habe ist es mein großes Anliegen, die unbestrittene musikalische Qualität dieses Orchesters einem größeren Publikumskreis bekannt zu machen. Da sich in den vergangenen Jahren die Konzerttätigkeit des RSO hauptsächlich in Abonnementkonzerten abgespielt hat, gilt es neue Publikumsschichten zu erreichen. Geplant ist daher jetzt eine Marketingkampagne, bei der die Mittel von Radio und Fernsehen des ORF eingesetzt werden. Erstmals wird auch die Marketingabteilung des Unternehmens an einer solchen Werbekampagne für das Orchester teilnehmen. Wie gewinnt das Orchester sein Publikum? Welche konkreten Aktionen gibt es in dieser Hinsicht? Wir arbeiten gerade an einem neuen Marketingkonzept, das der Erschließung neuer Publikumsschichten dienen soll. Die mediale Unterstützung ist dabei ein wesentlicher Punkt. Stärkere Präsenz in der Öffentlichkeit ist das Ziel dieser Aktion. Als Außenstehende könnte ich nun annehmen, wenn es nur ein Rundfunkorchester in einem Land gibt, dann gibt es auch keine Rivalität oder Konkurrenz zwischen den verschiedenen Orchestern. Ist das so? In einem freien Markt gibt es immer eine Konkurrenzsituation. Das an klassischer Musik interessierte Publikum ist nicht beliebig vergrößerbar, sodass alle, die sich in diesem Markt bewegen, um Aufmerksamkeit buhlen. Schon dadurch ergibt sich eine gesunde Konkurrenz, die aber nichts mit einer inhaltlichen Konkurrenz im Sinne gleicher Programmgestaltung zu tun hat. ■ Foto: ORF/Johannes Cizek 1999 feierte das ORF-Radio-Symphonieorchester sein 30-jähriges Bestehen – hier im großen Saal des Wiener Musikvereins mit dem damaligen Chefdirigenten Dennis Russell Davies. Linke Seite: Bertrand de Billy, seit September 2002 Chefdirigent des RSO Wien Das Orchester 4/04 19