Zum Verhältnis von westlicher und östlicher Philosophie Werner Gabriel Universidad de Viena, Austria Über den Streit philosophischer Standpunkte und Schulen sagt Zhuang zi: „Angenommen ich disputiere mit dir; du besiegst mich und ich besiege dich nicht. Hast du nun wirklich recht? Habe ich nun wirklich unrecht? Oder aber ich besiege dich, und du besiegst mich nicht. Habe ich nun wirklich recht und du wirklich unrecht? Hat einer von uns recht und einer unrecht, oder haben wir beide recht oder beide unrecht? Ich und du, wir können das nicht wissen. Wenn sich die Menschen aber in einer solch unklaren Situation befinden, wen sollen sie rufen, um zu entscheiden? Sollen wir einen holen, der mit dir übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit dir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Oder sollen wir einen holen, der mit mir übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit mir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Sollen wir einen holen, der von uns beiden abweicht, um zu entscheiden? Da er doch von uns beiden abweicht, wie kann er entscheiden? Oder sollen wir einen holen, der mit uns beiden übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit uns beiden übereinstimmt, wie kann er entscheiden? 237 So können also ich und du und die andern einander nicht verstehen, und da sollten wir uns von etwas, das außer uns ist, abhängig machen! Vergiß die Zeit! Vergiß die Meinungen! Erhebe dich ins Grenzenlose! Und wohne im Grenzenlosen!1 Das Wohnen jenseits eines Ortes und eines Standpunkts wäre also das Wohnen jenseits von Standpunkten, Kulturen, ein wahrhaft „objektiver“ Standpunkt, aber wie Zhuang zi sagt, ist das ein Wohnen im Nirgendwo. Heißt aber nirgends wohnen überhaupt wohnen? Bevor wir aber in diesen luftigen Höhen ankommen, bleibt uns nichts anderen übrig, als uns mit den Mühseligkeiten des Verhaftetseins in den verschiedenen Regionen der Erde herumzuschlagen. Vielleicht hilft es einfach, die verschiedenen Standpunkte zu betrachten, ohne gleich ungeduldig eine Entscheidung zu fordern. Nun gibt es, das meint ja Zhuang zi, schon innerhalb einer philosophischen Tradition die verschiedensten Standpunkte, die manchmal vorgeben, ganz und gar nichts miteinander zu tun zu haben. Um wieviel schwieriger ist es dann, philosophische Traditionen, die in ganz verschiedenen Teilen der Erde entstanden sind und noch immer ein verhältnismäßig selbständiges Leben führen, miteinander zu vergleichen. 1 Zhuang zi II 10. 238 Wenn wir einen Anfang für den Vergleich suchen, ist es vielleicht nicht schlecht, dort zu beginnen, wo die beiden Traditionen selbst ihren Anfang sehen. In Europa werden die griechischen Vorsokratiker von alters her für diejenigen gehalten, die mit dem Philosophieren –und mit der Wissenschaft– begonnen haben. Für den Anfang der europäischen Philosophie ist es wichtig, daß sie sich bewußt in einen Gegensatz zu einem anderen Weltbild setzt, nämlich der griechischen Welt der Götter und Heroen und deren Streitigkeiten untereinander und mit den Menschen. So betrachtet, meinen die Vorsokratiker, bietet die Welt und die menschliche Existenz nur ein Bild sinnloser Verwirrung. Können wir die Welt in einer Weise darstellen, die dem Menschen eine einsichtige Ordnung und die Möglichkeit einer sinnvollen Lebensgestaltung bietet? Welches sind die Voraussetzungen, um solche Erkenntnisse gewinnen zu können? Die Fragestellung am anderen Ende der Welt ist ganz ähnlich. Auch hier wird das anscheinend unüberwindlich immer wieder ins Elend führende Schicksal menschlichen Strebens beklagt. Aber schuld an diesem Unglück sind hier nicht oder nur zum geringen Teil übermächtige Götter, sondern Menschen in Gestalt von Königen, die nicht Wissen, wie sie richtig regieren sollen, um den Menschen eine wohnliche oder gar behagliche Behausung zu bieten. 239 Der Ausgangspunkt ist ganz ähnlich. Die scheinbar geringen Unterschiede in der Fragestellung erzeugen aber grundlegende Unterschiede in den Antworten, sodaß es auf die Dauer schwierig wird, zu verstehen, daß die Ausgangspunkte ganz ähnlich waren. Als Bedingung einer richtigen Antwort wird in beiden Traditionen die Antwort auf die Frage gesucht, wie die Welt „wirklich“ ist. Das, was „wirklich“ ist, ergibt sich als Gegensatz zu den enttäuschenden Lügen und Irrtümern, denen man aufgesessen ist. Da es die jeweiligen göttlichen und menschlichen Autoritäten gewesen sind, die den Menschen in die Irre geführt haben, besteht der erste und wichtigste Schritt in einer trotzigen Artikulation dieser Enttäuschung. Das Mißtrauen gegenüber den Autoritäten hat zur Folge, daß der Mensch beschließt, selbständig einen Ausweg zu suchen. Dazu muß er sich Orientierungspunkte, Markie-rungen, suchen, um sich zurechtzufinden. Es ist ganz klar, daß es hier wieder zu großen Unterschieden kommen kann. Schließlich wäre es ja ein unwahrschein-licher Zufall, wenn überall die gleichen Markierungen angebracht würden. In anderer Hinsicht sind die Markierungen aber nicht willkürlich gesetzt. Sie sollen ja etwas über die Welt aussagen, wie sie wirklich ist. Man versteht sie daher nicht als zufällige oder willkürliche Setzungen, sondern als wirkliche, oder jetzt besser, wahre Methode, um die Welt zu verstehen. 240 Damit ist in beiden Traditionen etwas vorausgesetzt, von dem wir später annehmen zu müssen glauben, daß hier ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Europa und China gegeben sein müßte, nämlich die Vorstellung von der Einheit von Mensch und Natur. Hätten die menschlichen Zeichen, Symbole, Markierungen und Methoden nämlich nicht die Fähigkeit eben diese Natur, Welt, so zu erklären wie sie ist, so müßte man das Unternehmen sofort als gescheitert ansehen. Der mehr oder weniger verborgene Zweifel an dieser Voraussetzung treibt den Erkenntnisprozeß nun weiter voran, weil der Mensch nun jedesmal, wenn ein Erkenntniskonzept zu scheitern droht, verzweifelt und trotzig darauf besteht, die ursprüngliche Einheitsthese zu rechtfertigen. Es ist ganz klar, daß aus diesen ständigen Versuchen ganz verschiedene Unterkonzepte folgen müssen, und zwar sowohl innerhalb der Traditionen als auch erst recht dann, wenn wir zwei Traditionen miteinander vergleichen. Mit diesem Gedankengang müssen wir auch begreifen, daß wir auch diesen Vergleich mit vorgegebenen Mustern führen, nämlich nach dem Muster der uns vertrauten philosophischen Schulstreitigkeiten. Es ist nun gewissermaßen ein Glück, daß es offensichtlich ist, daß sowohl in der europäischen als auch in der chinesischen Tradition der philosophische und wissenschaftliche Fortschritt mit dem Mittel dieses Streits voran getrieben 241 wird. Es könnte sein, daß es diesen Streit in anderen Kulturen in dieser Form nicht gibt, und wir deswegen sagen, dort gibt es keine Philosophie und keine Wissenschaft. Die Weisen der Lösung und Auflösung des Streits der Methoden und Positionen können nun wieder eine ganz verschiedene Charakteristik haben. Nach der üblichen Auffassung beginnt das europäische Verständnis der Natur mit der Frage nach dem Urstoff. Einige Stoffe, deren universeller Charakter offensichtlich ist, werden als Quelle aller anderen Stoffe angegeben, die von ihnen abgeleitet oder Varianten des Urstoffes sind. Das Hauptinteresse dieser Theorien scheint darin zu liegen, der Welt eine unumstößliche und unbezweifelbare Stabilität zu geben. Diese Stabilität bezieht sich sowohl auf die Welt selbst, als auf die Sicherheit des Erkennens der Welt. Es ist wieder offensichtlich, daß beide Momente einander zuarbeiten müssen. Gäbe es Grund zur Annahme, daß sich die Welt dem Erkenntnisvermögen des Menschen notorisch entzieht, wären alle Bemühungen vergeblich. Daher ist das Hauptinteresse der europäischen Tradition auf die Einrichtung von stabilen Beziehungen von Mensch und Natur, in der Folge auch in den Beziehungen der Menschen untereinander, also in Moral und Politik, gerichtet. In Vorwegnahme späterer Entwicklungen kann man bei diesem Konzept auch davon sprechen, daß das 242 Stabilitätsinteresse so stark dominiert, daß es zu einer Diskriminierung der erscheinenden Natur kommt. In der chinesischen Tradition wird ein anderer Weg eingeschlagen. Hier wird von vornherein versucht, die Harmonie mit der Natur dadurch zu erreichen, daß sich der Mensch bemüht, ihr zu folgen, also wenn man will, ihr zu gehorchen. Dazu ist es notwendig, die Grundtendenzen der Natur genau und bis in alle Einzelheiten zu kennen, um auf ihre Forderungen antworten zu können. Der Natur werden daher keine festen und festgelegten Strukturen übergestülpt, sondern die Struktur ist von vornherein eine solche, die nicht festgelegt werden kann. Daraus ergibt sich dann das Problem, wie trotzdem die notwendige Harmonie und Verläßlichkeit hergestellt werden können. Anders ausgedrückt kann man sagen, daß in der chinesischen Tradition das Unverlässliche der Natur akzeptiert wird. Indem man diese Unverlässlichkeit akzeptiert, ist man genötigt, ihren Wegen genau und pedantisch zu folgen. Die Unverlässlichkeit der Natur liegt eben darin, daß sie keine Beständigkeit bietet, sondern immer anders wird als man gerade erwartet. Das heißt Wandlung, Verwandlung. Die Stabilität der Natur liegt gerade in Instabilität. Zu erwarten ist immer das Unerwartete. In dieser Struktur gibt es aber doch einen Orientierungspunkt. Der Mensch muß eben 243 immer mit dem Unerwarteten rechnen. Der einzige Fehler, den er machen kann, besteht darin, sich an feste Erwartungen zu fesseln und sich dadurch unbeweglich zu machen. Versuchen wir die Struktur und die Konsequenzen aus den skizzierten Grundhaltungen näher zu untersuchen. Neben der sozusagen „materiellen“ Festigkeit und Stabilität des Stoffes tritt bei den Griechen sehr bald eine andere hervor, die sich wieder auf das Verhältnis des Menschen zur Welt bezieht. Die Stabilität einer Wahrheit hängt nicht nur von der Gültigkeit des Erkannten und Ausgesagten ab, sondern auch von der Gültigkeit der Form der Aussage. Wie kann ich eine gefundene Erkenntnis festhalten? Kann ich sie überhaupt festhalten? Die Darstellung der erkannten Welt erfolgt in einer bestimmten Redeweise. Insofern gleicht die neue Sichtweise der Philosophie der althergebrachten, dem Mythos. Die Verkündigung der Gebote der Götter erfolgt in meist wortreichen Reden. Diese Reden beziehen ihren Wahrheitsgehalt direkt oder indirekt von der göttlichen Autorität, manchmal auch vom hohen Ansehen eines Menschen. Diese Rede verfällt nun einer radikalen Kritik. Ist das, was die Götter sagen, wahr? Kann in diesem wortreichen Gerede überhaupt etwas Wahres gesagt werden? Was ist in diesen Reden wahr und was ist Schwindel oder Täuschung? 244 Wenn ich so frage, unterscheide ich Wahres von Falschem, das, was ist, von dem, was nicht ist. Wenn ich sage, etwas ist so und nicht anders, berufe ich mich nicht mehr auf die Autorität des Sprechenden, sondern auf die Autorität der Sache, von der ich spreche. Die Sachen der Welt, der Natur, sagen gewissermaßen selbst, was und wie sie sind. Wenn ich sage, etwas ist so und nicht anders, dann ist es so und nicht anders. Daher wird das Problem des Verhältnisses von Mensch und Natur zum Problem dieses Ist-Sagens, zum Seinsproblem. Die Natur soll dem Menschen, wie der viel spätere Terminus heißt, „ontologisch“ vermittelt werden. Das Seinsproblem wird zum zentralen Thema der europäischen Philosophie. Mit Parmenides von Elea wird die letztmögliche Radikalität in der Beantwortung dieser Frage erreicht, die nie mehr übertroffen wurde, wohl weil sie nicht übertroffen werden kann. Sein berühmter Grundsatz lautet: "Das Ist ist, das NichIst kann niemals sein."2 Daraus ergibt sich, dass die phänomenale Realität in ihrem Sein nicht gesichert werden kann. Sie ist Schein. Schein ist das, was so aussieht, als ob es wäre, aber in Wahrheit nicht ist. Alles, was einer Begründung bedarf ist nicht, sofern es nicht auf ein unbezweifelbar Seiendes zurückgeführt werden kann. 2 Kranz, Walter: Vorsokratische Denker. 245 Diese Unbezweifelbarkeit kann den Phänomenen auch aus einem anderen Grund nicht zugesprochen werden. Sie zweifeln gewissermaßen selbst an ihrer Existenz, weil sie werden und vergehen, d.h. sind und nicht sind. Daher ist die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung bei Parmenides eine negative. Die Welt wird unerklärlich, absurd, und dabei bleibt es auch, weil sich mit der radikalen Kritik des Parmenides auch die Erklärungen des Mythos auflösen. Diese sind erst recht absurd. Trotzdem ist die geforderte Sicherheit, wenn auch auf überraschende und befremdliche Weise, erreicht. Das Sein selbst kann nicht bezweifelt werden. Es „leistet“ auch einiges. So kann jetzt der Anspruch von allem, was nicht ist, aber so tut, als ob es wäre, zurückgewiesen werden. Dieses Sein ist eine radikale kritische Instanz. Die zweite Sicherheit, die das europäische Denken in Zukunft weitgehend bestimmen wird, liegt im zweiten berühmten Grundsatz des Parmenides: „Denken und Sein ist dasselbe.“3 Das Sein, befreit sich damit von aller Stofflichkeit. Das Ist muß notwendigerweise gedacht werden, oder es ist nicht. Eine Trennung von Denken und Sein würde keine Wahrheit ermöglichen. Diese wurde ja zuerst als Einheit von Mensch und Natur angestrebt, kann in 3 Ebenda. 246 dieser Form nicht erreicht werden und findet sich als Einheit von Denken und Sein wieder. Das Ist-Sagen bleibt die Bedingung von Wahrheit. Das reine sich-selbst-gleiche Sein erhält bei Platon und Aristoteles eine differenzierte Struktur. Diese Struktur besteht in den Weisen des Ist-Sagens, das im Satz, in der prädikativen Aussage möglich ist. Diese grundlegenden Aussageweisen sind die ewigen Ideen, die die Wahrheit einer Aussage und damit Erkenntnis garantieren. Durch diese Strukturen werden dann auch wieder wahre Aussagen über die Welt der Phänomene möglich. Diese Struktur der Wahrheit hält sich in Europa bis in die Gegenwart. Wenn Wittgenstein sagt, daß die Welt alles ist, was der Fall ist und diese Fälle in Sätzen ausgesagt werden müssen, so steht er genau in dieser alten Tradition. Auch Wissenschaft und wissenschaftlich ist nur das, was in wahren Sätzen als bewiesen ausgesagt werden kann. Die manchmal auch verzweifelte Suche nach der Sicherheit eines festen Grundes kann man also als Charakteristikum der europäischen Tradition angeben. Man kann versuchen, die chinesische Tradition als Gegenentwurf zur europäischen aufzufassen. Wir haben schon gesagt, daß in der chinesischen Tradition, sich derjenige, der Wissen will, bemüht, der Natur zu folgen. Natur bedeutet einfach die Vielfalt der Phänomene. 247 Diese Vielfalt wird nun nicht unbedingt vereinheitlicht, um einen sicheren Grund des Wissens zu erreichen. Der Natur folgen heißt zunächst, diese so sein lassen wie sie ist. Man muß sie also auch chaotisch sein lassen, wenn sie chaotisch ist. Daher entwickelt die chinesische Tradition eine Bevorzugung der Vielfalt vor der Einheit. Je vielfältiger und differenzierter ein Wissen sich anzubieten vermag, desto größer ist seine Autorität. Dies widerspricht nur scheinbar der vielfältigen Rede von der Einheit, auch die Einheit zeigt sich nur in der Vielfalt. Je größer die Vielfalt, desto größer auch die Einheit. Jedenfalls kann es wegen dieses Ausgangspunktes gar nicht dazu kommen, die Wirklichkeit der sinnlich wahrnehmbaren Phänomene anzuzweifeln. Wenn der Mensch dem richtigen Weg folgt, enthüllt sich ihm auch die Wahrheit der Phänomene in ihrem Zusammenhang. Alles was erscheint, muß in gewisser Weise wahr sein. Mit dieser Charakteristik hängt auch eine andere zusammen, die wohl der Grund dafür ist, daß das Wissen gerade diesen Anfang nimmt. Der Mensch begreift sich selbst ebenfalls als Erscheinung dieser Natur. Er ist nichts anderes. Wäre er etwas anderes, wäre das Bemühen um die Einheit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn der Mensch die Welt zum trügerischen Schein erklärt, macht er sich selbst zum Trugbild. Daher verwirklicht er sich, indem er in richtiger Weise auf die 248 Erscheinungen reagiert und damit eine Einheit mit der Natur herstellt, die seine Existenz in dieser Natur sichert. Daraus folgt unmittelbar eine weitere Charakteristik des chinesischen Wahrheitsbegriffes. Er bezieht sich erstens auf das menschliche Handeln und damit zweitens auf die Zukunft. Wenn einer etwas tun will, so heißt das, daß in Zukunft die Welt anders aussehen wird. Wenn sie dann nicht anders aussieht, heißt das, daß die Handlung gescheitert ist. Daher besteht in allen Kulturen, besonders aber in der chinesischen, ein massives Interesse an der richtigen Voraussage des Ausgangs von Handlungen. Wissen ist Vorauswissen. Nun ist gerade dieses Wissen eines, das vom wissenschaftlichen Wissen als unwissenschaftlich, höflicher als vorwissenschaftlich abqualifiziert wird. Die chinesische Tradition hat aber das größte Interesse, gerade dieses Wissen von seinem abergläubischen und mythologischen Charakter zu befreien und zu einem Wissen zu machen, das sich allein auf das menschliche Erkenntnisvermögen stützt. Ein solcher Versuch scheint im „Buch der Wandlungen“ vorzuliegen. Ganz allgemein wird die Verantwortung für das Handeln dem Menschen, natürlich vor allem dem König und Weisen, auferlegt. Der Himmel und die Erde spielen zwar eine wichtige Rolle, aber vor allem in der Form, daß der Mensch in richtiger Weise mit ihnen 249 zusammenar-beiten muß. Außerdem gibt es einige Stellen, die sich schwerlich anders als ein Programm deuten lassen, in dem der Mensch aufgefordert wird, aber auch befähigt erscheint, die Welt zu durchschauen und daraus die richtigen Schlußfolgerungen für sein Handeln zu ziehen. Besonders deutlich scheint mir die folgende Stelle zu sein: Als in der Urzeit Bao Hi die Welt beherrschte, da blickte er empor und betrachtete die Bilder am Himmel, blickte nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er betrachtete die Zeichnungen der Vögel und Tiere und die Anpassungen an die Orte. Zuerst ging er von sich aus [von seinem Leib], dann ging er von den Dingen aus. So erfand er die acht Zeichen, um mit der Kraft der Geister in Verbindung zu kommen und aller Wesen Verhältnisse zu ordnen.4 Die Trigramme und Hexagramme, von denen gleich noch die Rede sein wird, sind hier eindeutig als Ordnungsmuster bestimmt, mit deren Hilfe man sich in der Welt orientieren kann. Sie sind gleichzeitig jene Muster, in denen sich Himmel, Erde und alle Wesen zeigen. Den Kern des Werkes, auf den sich alle Texte beziehen, sind die befremdlichen und zunächst völlig unverständlichen Strichfolgen, die aus unterbrochenen 4) I Ging Great Appendix II 2 1. 250 und nicht unterbrochenen Strichen bestehen. Mit diesen 64 Hexagrammen soll der ganze Kosmos erklärt werden. Auffällig ist zunächst, daß diese Zeichen nichts mit den chinesischen Schriftzeichen zu tun haben, die es wohl schon lange vor der Erfindung dieser neuen Zeichen gegeben hat, und die auch zur Erklärung der Hexagramme dienen. Aber was steckt in diesen Formeln, die gedeutet werden können und müssen? Auch hier ist die Antwort ganz klar, gibt sie doch der ganzen Textsammlung ihren Namen. Die Wandlungen sind ein Buch, von dem man sich nicht entfernen kann. Sein Dao ist durch den Wechsel gekennzeichnet. Veränderung, Bewegung ohne Rast, durchfließen die sechs Plätze. Sie steigen und fallen ohne Dauer. Die Festen und die Weichen verwandeln sich ineinander. Sie haben kein Gesetz. Nur Änderung wird angezeigt.5 Der Grundcharakter der Phänomene besteht also darin, daß sie keinen Bestand haben, daß sie sich ständig wandeln und verwandeln. Auch aus der zitierten Stelle kann man schließen, daß dieser Wandlungscharakter grundlegend ist, d.h. es gibt kein identifizierbares Zugrundeliegendes, von dem man sagen könnte, es ist das, was sich wandelt, also keine Substanz, an die sich 5 I Ging Great Appendix II 8 1. 251 verändernde Qualitäten binden müßten. Es wird also der Grundcharakter der Phänomene, ihr Werden und Vergehen, ihre Zeitlichkeit, erkannt, es wird aber nicht wie in der europäischen Tradition darüber geklagt, dass dieser Charakter sie undurchschaubar machte. Die Stelle scheint das ziemlich deutlich zu machen, weil zu allem Überfluß noch betont wird, daß es kein bestimmbares Gesetz gibt, nach dem sich der Wandel vollzieht. Es gibt auch eine kurze Formel, die man in ihrer Gegensätzlichkeit als Entsprechung zum Satz von der Identität von Denken und Sein auffassen kann: "Einmal yin, einmal yang. Das ist dao."6 Der für das chinesische Denken grundlegende Doppelbegriff von yin und yang bestimmt die Verwandlung selbst als grundlegende Qualität des Seins. Für das europäische Denken ist es schwierig, an der Möglichkeit einer Erkenntnis ohne feste Gesetzmäßigkeit festzuhalten. Es gibt aber anscheinend Regelmäßigkeiten, die gerade von dieser Qualität der Verwandlung ableitbar sind. Jedes Handeln ist Verwandeln. Vergangenheit wird in Zukunft verwandelt. Wenn der Mensch aber ein Naturphänomen ist, heißt das, daß auch die anderen Phänomene sich deswegen ständig verwandeln, weil sie handeln. So wie meine Handlungen Reaktionen, d.h. Handlungen, anderer Menschen hervorrufen, so lösen meine Handlungen auch Reaktionen der Natur 6 I Ging Great Appendix V 1. 252 aus. Die Regelmäßigkeit natürlicher Phänomene ist daher am besten mit dem Begriff der Erwartung zu beschreiben. Erwartungen können erfüllt werden, es ist aber ebenso damit zu rechnen, daß eine Erwartung nicht erfüllt wird. Die Worte des Weisen bewegen Himmel und Erde. Kann man da ohne Vorsicht sein?7 Daher ist Vorsicht die wichtigste Tugend des Weisen. Erkennen besteht im Abschätzen und Beurteilen von Situationen, nicht im Durchschauen strenger Gesetzmäßigkeiten. Das Problem der Verwandlung bleibt das große Thema der chinesischen Philosophie und wird in der klassischen Zeit von verschiedensten Seiten her betrachtet. Die radikalsten Konsequenzen aus dem Verwandlungskonzept zieht zweifellos der philosophische Taoismus des Laozi und Zhuangzi. Hier wird an der Tradition, insbesondere an den Konfuzianern, kritisiert, daß sie den Begriff der Verwandlung, und das ist die Natur selbst, nicht ernst genug nehmen. Der Konflikt entzündet sich an den „Namen“. Während die Konfuzianer meinen, daß der richtige Gebrauch der Namen die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung bildet, 7 I Ging Great Appendix I 8 5. 253 Regieren findet dann statt, wenn der Fürst Fürst, der Beamte Beamter, der Vater Vater, der Sohn Sohn ist.8 Die Taoisten meinen, daß diese Namen viel zu starr sind, um den Verwandlungen folgen zu können. Sie verhindern gerade eine echte Erkenntnis der Natur und ein Leben in Eintracht mit ihr und den Mitmenschen. Der bestimmte Name ist kein Name.9 Der Name ist in seiner Starrheit unfähig, die Phänomene in ihrer Lebendigkeit festzuhalten. Daher muß sich der Mensch von den Namen und den Institutionen, die sie herstellen, befreien, um an die Erscheinungen der Natur heranzukommen. Erkenntnis besteht daher in der methodischen Befreiung von den Namen und damit von den Zwängen der Zivilisation. Die taoistische Erkenntnistheorie hat daher durchaus ein methodisches Bewußtsein und verfällt nicht in die blinde Behaglichkeit eines erkenntnislosen Zustands. Die Methode wird auch deutlich angegeben: Die andere Seite ist die Kraft des Dao. Das Schwachwerden ist das Mittel des dao. In der Welt entstehen alle Dinge aus dem Sein, das Sein aber entsteht aus dem Nichts10 Konfuzius Gespräche XII 11. Dao de jing Kap. 1. 10 Daodejing Kap. 40. 8 9 254 Dort, wo gegensätzliche Bestimmungen aufbrechen, wo der Name also schwach wird, dort ist Erkenntnis zu finden, weil der Mensch dann direkt, ohne Vermittlung der Namen, auf die Dinge blicken kann. Die Namen töten die lebendigen Erscheinungen, weil sie alles in ihre Enge hinein pressen wollen. Daher gibt es Erkenntnis nur, wo das Unerwartete, Unbestimmte, das "Wunder" (miaò)11 auftaucht. Das Erstaunliche des Wunders besteht ja darin, daß es noch ohne Namen ist, d.h. nirgends eingeordnet werden. Auch dieser Begriff des Wunders ist kein religiöser, sondern ein philosophischer, methodischer. Ich muss die Grenzen der bestimmenden Erkenntnis überwinden, um echte Erkenntnis zu gewinnen. Damit haben wir eine Idee erreicht, die wohl den größten Gegensatz des chinesischen zum europäischen Denken darstellt, die These von der Freiheit der Naturwesen und der Unfreiheit des sich Gesetzen unterwerfenden Menschen. Das Gesetz des Menschen ist die Erde. Das Gesetz der Erde ist der Himmel. Das Gesetz des Himmels ist das Dao. Das Gesetz des Dao ist zì rán.12 11 12 Daodejing Kap. 1. Daodejing Kap. 25. 255 Das dao selber folgt überraschenderweise einem Gesetz, nämlich, so ist zunächst zu übersetzen, dem Gesetz der "Natur". Das Wort, das hier aber für Natur steht, ist, und das ist bestimmt kein Zufall, gar nicht übersetzbar. Es heißt nämlich Selbigkeit, Spontaneität, Freiheit, etwas, was aus sich selbst so ist, wie es ist. Während also in Europa die Natur als Feld der Gesetze und der Mensch als Ort der Freiheit auftritt, ist es im Taoismus gerade umgekehrt. Damit sind wohl die Punkte der größten Entfernung zwischen den beiden Traditionen angegeben. Für die Logik der chinesischen Philosophie ergibt sich aber noch eine andere wichtige Folge, nämlich die zentrale Rolle, die das Gefühl für das Erkennen spielt. In der europäischen Tradition sind Gefühle die unsichersten Erkenntnisquellen. Im Konfuzianismus sind Gefühle der Ausgangspunkt des Erkennens, weil sich der Mensch in ihnen der Welt öffnet, sie berührt. Freude, Zorn, Trauer, Furcht, Liebe, Haß: diese sieben Dinge braucht der Mensch nicht erst zu lernen, um sie zu kennen.13 Wichtig ist, daß diese Gefühle allgemein gelten. Jeder Mensch muß sie haben. So können wir sie am anderen nur erkennen, wenn wir sie selbst schon kennen. Daher öffnen die Gefühle insbesondere auch die Möglichkeit 13 Buch der Riten 3. 256 der Kommunikation und des menschlichen Zusammenlebens. Die Gefühle sind das Allgemeine, nicht die Begriffe. Ein für das europäische Denken wieder sehr befremdlicher Gedanke. Die positiven, sozialen, Gefühle sind auch die Grundlage für die Formulierung von Regeln für das menschliche Zusammenleben. Daher ist die Sinneserfahrung auch für die Logik grundlegend. Die obersten Kategorien bilden sich nach den fünf Sinnen. Der Mensch unterscheidet die Welt zuerst nach dem, was er sieht, hört usw. Wie kommen Ähnlichkeiten und Unterschiede zustande? Durch die Sinnesorgane. Alle Lebewesen sind gleich geartet und haben dieselben Empfindungen, mit denen sie die Dinge wahrnehmen…. Form und Farbe werden vom Auge unterschieden. Deutliche und undeutliche Klänge… werden vom Ohr unterschieden… Darum gibt es Ähnliches und Verschiedenes.14 Die Sinnesqualitäten sind daher keineswegs eine Quelle des Irrtums und der Täuschung, sondern die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens und der Orientierung in der Welt. Dieser unmittelbare Zugang zum Phänomen bestimmt auch den Charakter der chinesischen Auffassung von Wissenschaft. Das Konzept der neuzeitlichen Wissenschaft 14 Xunzi zheng ming 22. 257 in Europa ist ja dadurch charakterisiert, daß es eine ideale Sprache gibt, die der Mathematik, der sich die Phänomene unterwerfen müssen, damit sie sich in unbezweifelbaren Gesetzen darstellen können. In der chinesischen Wissenschaft zeigen sich die allgemeinen Strukturen der Welt in Mustern, die sich demjenigen enthüllen, der mit offenen Sinnen die Welt beobachtet und auf diese Weise die feinsten Unterscheidungen treffen kann. Galileo Galilei schreibt: Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben, und seine Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es unmöglich ist ein einziges Wort zu verstehen, und ohne die man vergeblich suchend durch ein dunkles Labyrinth wandert.15 Die Erfahrung allein liefert überhaupt keine Erkenntnisse. Der ganz andere Zugang in China zeigt sich bei einem Problem, das der große Denker und Forscher der Sung-Zeit, Cheng Yi chuan zu lösen versucht. Er fragt: Wenn man die Gesetzmäßigkeiten in der Natur erkennen will, wie viele Phänomene einer Klasse muß man untersuchen. Müssen alle untersucht werden, oder genügt eines. Die Antwort lautet, weder noch: 15 Galilei Galileo, Opera IV 171. 258 Es ist notwendig, ein Ding nach dem anderen Tag für Tag zu untersuchen. Dann, nachdem man viele Erfahrungen angehäuft hat, werden sich plötzlich die Beziehungen unter den Dingen enthüllen.16 Die chinesische Tradition könnte man tatsächlich empiristisch nennen, wenn dieser Terminus in Europa nicht schon in anderer Weise gebraucht würde. Wenn wir durch die Welt wandern, wandern wir keineswegs durch ein Labyrinth. Wenn wir auf die Erscheinungen zugehen und nicht versuchen, sie gewaltsam nach unserem Willen zu formen, dann enthüllen sie sich in ihrer Wahrheit und geben dem Menschen einen Platz, in dem er gut leben kann. Um die Frage des Zhuang zi vom Beginn nochmals aufzunehmen, können wir sagen, daß wir im Vergleich der beiden Traditionen, die Grenzen beider vielleicht ein wenig überwinden könnten. Das Grenzenlose ist allerdings wohl nicht in einem Sprung, sondern nur in vielen kleinen Schritten zu erreichen. 16 Zitiert nach Needham Joseph, Science and Civilisation in China III 164. 259 260