La Traviata

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La Traviata
Giuseppe Verdi
Libretto Francesco Maria Piave
Künstlerische Diplomarbeit von Sandrina Schwarz
Eingereicht an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz
Institut 11 Bühnengestaltung
Künstlerischer Betreuer: O.Univ.Prof. Hans Schavernoch
Wissenschaftlicher Betreuer: Ao. Univ. Prof. Mag.phil. Dr.phil. Ernst Hötzl
Vorgelegt im März 2012
Abstract
Die Entwicklung eines Konzepts, basierend auf der persönlichen Interpretation
sowie die gestalterische Umsetzung der Bühne und des Kostüms für Giuseppe
Verdis Oper La Traviata bilden den Hauptteil der künstlerischen Diplomarbeit.
In einem wissenschaftlichen Teil möchte ich Einblick in das Leben des
Komponisten sowie in die Entstehungsgeschichte von La Traviata geben.
Weiters wird die Oper dem zugrunde liegenden Schauspiel Die Kameliendame
von Alexandre Dumas fils gegenübergestellt und vergleichend behandelt.
The main part of the artistic diploma thesis consists of the development of a
conception, based on a personal interpretation and the stage and costume
design for the opera La Traviata, composed by Giuseppe Verdi. The second
part contains a written examination of Giuseppe Verdi’s life, the facts concerning
La Traviata and the opera in comparison with the play Die Kameliendame,
written by Alexandre Dumas fils.
2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
S.4
Giuseppe Verdi
S. 5
Die neue Hoffnung Italiens
S. 5
Erste große Erfolge
S. 7
Internationale Entwicklungen
S. 9
La trilogia popolare
S. 11
Komponist und Politiker
S. 14
Pariser Durchbruch
S. 18
Die beiden letzten Opern
S. 22
Trauer einer Nation
S. 26
Entstehungsgeschichte La Traviata
S. 28
Reflexion über Oper und Schauspiel
S. 31
Konzept Bühne
S. 50
Konzept Kostüm
S. 52
Konzept im Ablauf
S. 56
Quellenangaben
S. 60
3
Einleitung
„Warum schreiben wir alle Opern in Kostümen, die in unwahren Zeiten spielen,
unwahre Gefühle vorspiegeln oder gar romantische Reflexionen? … Sollte man
nicht eine Oper schreiben, wo statt einer falsettierenden Eule im Trikot dieser
schmutzige Heizer vorkäme, der im Abstand den anderen nachtrottet?
Wäre das nicht ein Melodram, stärker, neuer als alle Siegfriede und
Nibelungen?
Ach, was für leere Einfälle mich den ganzen Tag belästigen!“ 1
„ ( … ) Einsamkeit und Studium: dies mein Leben!“
Verdi an den Bildhauer Luccardi, 1850
2
Die Geschichte einer Frau, einer Heimatlosen, deren Suche nach Geborgenheit
und
Glück
in
bitterer Einsamkeit
endet,
erweckt
Verdi
durch
seine
unvergleichbare Musik zum Leben.
Die auf einer wahren Begebenheit basierende Erzählung zeigt den Kampf einer
verzweifelten Seele gegen die harte Verurteilung einer kühlen, berechnenden
Gesellschaft.
Nicht die Liebesbeziehung steht im Mittelpunkt des Schicksals Violetta Valérys.
Das Scheitern an strukturierten Konventionen besiegelt das tragische Leben
der Kameliendame.
La Traviata ist für mich die beste Wiedergabe eines Gesellschaftssystems ohne
Bezug auf das Gegenüber.
Kalt und berechnend liegt einzig die eigene Befriedigung im Vordergrund und
verursacht somit oftmals das Scheitern Anderer.
Der Bezug zueinander ist nicht existent.
1
2
Werfel, Verdi, S. 114
Werfel, Verdi, S. 85
4
Giuseppe Verdi
Die neue Hoffnung Italiens
Joseph Fortunin Francois Verdi kam am 9. oder 10. Oktober 1813 als Sohn des
Gastwirts Carlo Verdi und dessen Gemahlin Luigia in dem Dorf Le Roncole,
einem damaligen Besatzungsgebiet Napoleons im „Département Taro“, zur
Welt.
Le Roncole liegt heute in der italienischen Provinz Parma, Region Emilia
Romagna, und trägt den Namen „Le Roncole Verdi“.
Am 22. Mai desselben Jahres wurde im 743 km entfernten Leipzig ein weiteres
Kind namens Richard Wagner geboren, das der Musikwelt gleichermaßen neue
Dimensionen eröffnen sollte.
Neun Tage nach Guiseppe Verdis Geburt brach am 19. Oktober 1813 die
„Völkerschlacht bei Leipzig“ aus und forderte Bonapartes Rückzug.
Als weitere Folge fiel beim Wiener Kongress die Entscheidung, Parma wieder
an das Kaiserreich Österreich anzugliedern.
An der westlichen Grenze lag das Königreich Sardinien-Piemont, welches
Vittorio Emanuele I. regierte. Von Rom aus herrschte Papst Pius VII. über den
bis Ferrara reichenden und einen großen Teil der Adriaküste einschließenden
Kirchenstaat.
Für das Volk Italiens galt in dieser Zeit der politischen Zerissenheit die Kultur,
ihre architektonischen, bildnerischen sowie musikalischen und literarischen
Errungenschaften, als Symbol des Zusammenhalts.
Die lokale Ungebundenheit der Musik machte sie zu einem der wichtigsten
Bestandteile dieses national- verbindenden Gedankenguts.
Musikalische Aktivitäten des Elternhauses und die dadurch früh entstehende
Prägung, welche den weiteren Lebens- und Schaffensweg vieler Komponisten
einleitete, trafen nicht auf Verdis familiären Hintergrund zu. Giuseppe Verdis
5
musikalische Begabung wurde jedoch von dem Dorforganisten Pietro
Baistrocchi, dessen Stelle er im Alter von zehn Jahren nach dessen Tod 1823
übernahm, erkannt und gefördert.
Weiteren Musik- und Kompositionsunterricht erhielt er nach Eintritt in das
Gymnasium von Busseto bei dessen „maestro di musica“ Ferdinando Provesi.
Als Schützling des wohlhabenden Kaufmanns Antonio Barezzi bemühte sich
Verdi um einen Platz am milanesischen Konservatorium.
Trotz einer Absage konnte der nun 19-jährige 1823 dank eines Stipendiums der
Stadt Busseto nach Mailand übersiedeln und nahm Privatunterricht bei
Vincenzo Lavigna.
Nach
seiner
Tätigkeit
als
chorleitender
„maestro
al
cembalo“
einer
Konzertgesellschaft kehrte er im Februar 1836 mit dem eindeutigen Drang zum
Komponieren und nicht zur Tätigkeit eines fremde Werke interpretierenden
Musikers nach Busetto zurück.
Er erhielt die Stelle als „maestro“, dessen Aufgabenbereich die „weltliche Musik“
betraf. Giovanni Ferrari galt als Zuständiger der Kirchenmusik.
1836 heiratete Giuseppe Verdi Margherita Barezzi, die Tochter seines
Ziehvaters, welche im folgenden Jahr ein Mädchen gebar.
Im Jahr der Hochzeit komponierte Verdi seine erste Oper namens Il Duca di
Rochester, die jedoch unaufgeführt blieb. Das Libretto verfasste Antonio Piazza.
Nach dem Tod des ersten Kindes Virginia und der Geburt des zweiten Kindes
Icilio beschloss die junge, durch den Kindesverlust überschattete Familie, von
dem Wunsch der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit getrieben, nach
Mailand zu gehen.
Verdis erste in Druck gehende Komposition war ein Werk, das sechs Lieder für
eine Singstimme und Klavier umfasste und von dem Mailänder Verleger Canti
veröffentlicht wurde.
Inzwischen hatten sich revolutionäre Strömungen von Vittorio Emanueles
Herrschaftsgebiet Sardinien-Piemont aus entwickelt.
6
Die Österreicher versuchten, die lombardischen Bürger und den Adel bei Laune
zu halten, nicht zuletzt mit der Oper am Teatro alla Scala.3
So
beauftragte
der
Impresario
Bartolomeo
Merelli,
der
sich
ebenso
künstlerischer Leiter des Kärntnertortheaters in Wien nennen durfte, Giuseppe
Verdi mit der Neukomposition einer Oper, die den Namen Oberto, Conte di San
Bonifacio trug und 1839 uraufgeführt wurde.
Giulio Ricordi, jener Verleger, der in Zukunft unzählige Werke des Komponisten
herausgeben sollte, erstand nach Obertos Erfolg die Rechte. Merelli schloss mit
Verdi einen Vertrag über drei weitere Opernkompositionen ab.
Die neue Hoffnung Italiens war geboren.
Der nächste Auftrag galt einer Buffo-Oper.
Zeitgleich mit der Entstehung von Un giorno di regno verstarb die schwer
erkrankte Margherita und folgte ihrem Sohn Icilio, welcher im Uraufführungsjahr
Obertos von der jungen Familie gegangen war.
Barezzis bestärkender Beistand zur Fertigstellung des Werks ließ Verdi trotz
dieser schweren Schicksalsschläge die Oper beenden.
Un giorno di regno fiel jedoch durch.
Erste große Erfolge
Opern galten zu jener Zeit nicht als
geschlossenes, hermetisches Werk,
sondern wurden aufgrund verschiedener Wünsche von Seiten der Veranstalter
sowie Leistungsfähigkeiten der Sänger umgeschrieben. Diese nach der
Uraufführung oft unaufhaltbar eintretenden Entwicklungen betrafen viele Werke
des Komponisten, ebenso den Oberto.
Als ein erfolgreicher Zeitgenosse Verdis galt Otto Nicolai. Dieser wies ein ihm
von Merelli angebotenes Libretto, welches aus der Feder Temistocle Soleras
stammte, zurück und erreichte dadurch unbewusst Verdis Rückkehr zum
3
Schwandt, Verdi, S.24
7
Komponieren, dem er nach den erlittenen, schmerzlichen Schicksalsschlägen
völlig entsagt hatte.
So feierte im Jahre 1842 eines der bedeutendsten Werke Verdis einen
bahnbrechenden Erfolg – Nabucodonosor, Nabucco war geboren.
Der
Chor
der
hebräischen
Sklaven
wurde
bald
zur
geheimen
Erkennungsmelodie eines noch nicht existierenden, auf verschiedenen
politischen Gedanken basierenden Staats.
Diese Entwicklung darf man jedoch nicht als Verdis angestrebte Absicht werten.
Es entstand eine neue Freundschaft zwischen der Sängerin Giuseppina
Strepponi und dem Komponisten Verdi – diese sollte noch weiter wachsen.
Verdis neue Komposition der Oper I Lombardi, welche durch die lokale
Festlegung des zweiten und vierten Aktes auf reale Orte in und um Mailand
einen direkten volksnahen Bezug aufbaute, feierte den nächsten Erfolg. Diese
Oper sollte vier Jahre später ihren Weg bis in die Vereinigten Staaten finden.
Verdi galt nun als der Komponist seiner Zeit und erweckte dadurch die
Aufmerksamkeit des Direktors des La Fenice, Graf Alvise Mocenigo, der ihn mit
einer neuen Oper für sein Theater beauftragte.
Als Verfasser des Textes wurde Francesco Maria Piave, der dortige
Hauslibrettist, verpflichtet.
Als erstes gemeinsames Werk der beiden Männer, deren Zusammenarbeit von
gegenseitiger Ergänzung und Inspiration geprägt war und die durchaus mit
jener Mozarts und da Pontes verglichen werden kann, sollte die Oper Ernani
entstehen.
Bei der Uraufführung 1844 erlebte das Publikum in Oronte das erste Mal einen
Typus, welcher in den weiteren Opern Verdis wiederkehren und von großer
Bedeutung sein sollte - der an eigenen Ansprüchen und Idealen scheiternde
Liebhaber4.
Auf den großen Erfolg des Werkes folgten die von Verdi selbst in einem Brief an
Clara Maffei 1858 bezeichneten „anni di galera“. Verdi empfand nämlich die
4
Schwandt, Verdi, S. 46
8
nächsten
Jahre
als
Zeit
beschränkter
Entscheidungsfreiheit
und
Selbstbestimmung.
Die drastische Schilderung dieser „Sklavenjahre“ muss jedoch mit Abstand zu
der schwerwiegenden Interpretation Verdis betrachtet werden, da allein die
Ernennung zum Gutsbesitzer 1851 von positiven Aspekten jener Arbeit zeugt.
Die zweite Oper, welche die Ernte der gemeinsamen Arbeit Piaves und Verdis
noch im selben Jahr des Ernani werden sollte, war die für das römische Teatro
Argentina komponierte Oper I due Foscari.
Die Uraufführung der Giovanna d'Arco an der Mailänder Scala war ein weiteres
Auftragswerk Merellis, dessen Verwirklichung
jedoch trotz großem Erfolg
zunächst schwerwiegende Folgen haben sollte.
Die Überforderung der Sänger sowie der Leistungsdruck, der in der Probenzeit
ausgeübt wurde, veranlassten Giuseppe Verdi, mit dem Opernhaus zu brechen
und ließ den Komponisten den Entschluss fassen, von nun an nie wieder ein
Werk für die Scala zu verfassen. Diese Entscheidung war jedoch später nicht
mehr von Bedeutung.
Internationale Entwicklungen
Galten das La Fenice sowie die Mailänder Scala als eigenständig geführte
Opernhäuser, unterstand die Opera San Carlo in Neapel dem königlichen Hof.
Der Impresario dieses Theaters, Vincenzo Flauto, beauftragte Verdi mit der
Opernkomposition von Alzira und ermöglichte somit dem Erfolg des
Komponisten den Einzug in den Süden Italiens.
Das durch die Aristokratie konservativ geprägte, neapolitanische Publikum
bejubelte Verdis Werk bei dessen Uraufführung im Jahre 1845.
Trotz des exotischen Themas der in Peru situierten Geschichte, verfiel Verdi
keiner „fremdartigen“ Melodienführung, welche in jener Zeit als äußerst modern
galt. Er hielt die Treue zu der italienischen Kultur, was in diesem Fall jedoch
9
nicht als eine das Werk konstruktiv unterstützende
Entscheidung gedeutet
werden darf.
Verdi erstand den Palazzo Cavalli in Busseto und demonstrierte dadurch seinen
erlangten Wohlstand und Erfolg, der bereits weit über die italienischen Grenzen
hinausreichte.
Das Vertragsbündnis zwischen dem namhaften Komponisten und dem Verleger
Ricordi bedeutete eine fixe Einnahmequelle beider Seiten.
Der französische Verleger Léon Escudier erwarb die Rechte aller Opern, die auf
französischen Opernbühnen dargebracht wurden sowie in Zukunft dargebracht
werden würden.
Verdis neue Oper Attila, dessen Libretto ursprünglich Solera verfasst hatte, ein
plötzlicher
Umzug
des
Textbuchverfassers
nach
Madrid
jedoch
die
Fertigstellung in die Hände Piaves fallen ließ, wurde 1846 uraufgeführt.
Eine seit der Arbeit an Alzira immer wiederkehrende Magenkrankheit
veranlasste den Komponisten im selben Jahr eine Kur zu absolvieren und
weitere Aufträge für Frankreich und England vorerst auf Eis zu legen.
Sämtliche Themenvorlagen bereits komponierter Opern Verdis entstammen der
Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Eine Shakespeare-Tragödie als Vorlage
für die nächste Komposition war jedoch nicht der einzige Aspekt einer
Neuorientierung. Auch der Wunsch nach phantastischen Geschehnissen auf
der Bühne, welche die technischen Möglichkeiten fordern – Webers Freischütz
galt als inspirierendes Vorbild– unterschied Macbeth von den bisherigen
Werken Verdis.
So wurde die Szene der „Phantasmagorie“ mit Hilfe der laterna-magicaProjektionen sowie bühnenmaschinellen Einsätzen gestaltet.
Verdi, der ebenso die Tätigkeit der Regie ausübte – die eigenständige
Berufsbezeichnung des Regisseurs wird sich erst in späterer Zeit entwickeln –
forderte bei diesem Werk die Solisten und die Damen und Herren des Chores
auf besondere Art. Hierbei lassen sich Ähnlichkeiten zur Arbeitsweise des mit
Verdi doch so unvergleichlichen Richard Wagner kaum leugnen.
Macbeth feierte 1847 seine Uraufführung in Florenz.
Im selben Jahr reiste Giuseppe Verdi nach England, wo die Premiere seines
neuen Werks
10
Die Räuber am Haymarket-Theatre stattfand.
Die Oper galt jedoch mehr als gesellschaftliches Ereignis – die Illustrated
London News betonten die „große Überlegenheit des Librettos über das jeder
anderen Oper, die Verdi geschrieben hat“.5
Verdi fasste den Entschluss, für längere Zeit nach Frankreich zu übersiedeln.
Zusammen mit Giuseppina Strepponi, mit welcher Verdi nun ein immer ernster
zu nehmendes Verhältnis führte, bezog er eine Wohnung in Paris.
Die Anpassung der I Lombardi an die Gepflogenheiten französischer
Opernwerke führte zu Änderungen in Musik und Handlung sowie des Titels.
Das Werk sollte nun den Namen Jérusalem tragen.
la trilogia popolare
Venedig wurde Republik. Während dieser Zeit hielt sich Giuseppe Verdi erneut
in Paris auf, ließ seine Einstellung jedoch in einem Brief an den der
venezianischen Nationalgarde angehörenden Piave zum Ausdruck kommen:
Ehre ganz Italien, das in diesem Augenblick wahrhaft groß ist!…Italien wird frei,
eines, republikanisch sein…6
Die Befreiung Italiens scheiterte jedoch und Mailand fiel erneut unter „deutsche“
Herrschaft.
Dieser
österreichische
Triumph
war
Feldmarschall
Graf
Radetzky
zuzuschreiben.
Verdis Rückkehr nach Italien wurde mit dem Kauf des Landguts Sant' Agata
verbunden.
5
6
Schwandt, Verdi, S. 78
Schwandt, Verdi, S. 85
11
1848 fand die Uraufführung der Oper Il Corsaro – das Libretto Piaves wollte er
schon lange Zeit vor der endgültigen Entstehung vertonen – in Triest statt. Der
Komponist wohnte dieser jedoch nicht bei.
Ein Jahr später feierte ein weiteres Werk im Teatro Argentina seine Entstehung.
Die Oper La battaglia di Legnano, dessen Textbuchverfasser Cammarano war,
nahm einen besonderen Bezug zu der aktuellen politischen Lage. Alleine die
nach der Ouvertüre folgenden Worte „Viva Italia“ stärkten den nicht zum
Ersticken bringenden Nationalgedanken.
Papst Pius IX., der einem Bündnis gegen Österreich widersprach und somit die
erzürnten „Rothemden“ mit Giuseppe Garibaldi an deren Spitze vor den Toren
Roms wusste, ließ nach der 1849 erteilten Ausrufung der römischen Republik
die Oper zensieren.
Bald war Italien wieder in österreichischer Hand, die Revolution war gescheitert.
Im Juli 1849 kehrte Verdi, der all jene verheerenden politischen Geschehnisse
von Frankreich aus beobachtet hatte, mit Giuseppina „Peppina“ Strepponi nach
Busseto zurück.
Die neue Frau an seiner Seite wurde von den konservativen Bewohnern
Bussetos nicht akzeptiert und sie ließen sie das durch offensichtlich kränkende
Verhaltensweisen spüren.
Der Komponist vertonte Luisa Miller - das auf Schillers Kabale und Liebe
basierende Textbuch verfasste Cammarano.
Das rein durch eine private Handlung getragene Werk wurde 1849 in Neapel
bejubelt.
Neben parallel verlaufender Arbeit an unterschiedlichen Opern wuchs Verdis
Interesse an einem Stück, welches die Grundlage zum mittleren Werk der
„trilogia popolare“ werden sollte –der von dem spanischen Schriftsteller Garcia
Gutiérrez verfasste El trovador.
Verdi, der die Librettisten eigenständig für seine Werke nach deren
unterschiedlichen Fähigkeiten wählte, erarbeitete zusammen mit Piave sein
nächstes Werk Stiffelio, das 1850 in Triest dem Publikum vorgestellt wurde.
12
Das 1832 in Paris uraufgeführte Versdrama Le roi s’amuse von Victor Hugo rief
ein sofortiges Verbot weiterer Darbietungen hervor. Jene tragische Erzählung
des Königs Francois I., dessen verhängnisvolle Affäre mit Blanche, der Tochter
seines Hofnarren Triboulet, und dem ungewollten Mord an der eigenen Tochter,
diente Francesco Maria Piave als Vorlage für ein neues Libretto.
Doch auch das Libretto unterlag einer sofortigen Zensur durch den
österreichischen Gouverneur zu Venedig von Gorzkowsky.
Erst nach der Unterzeichnung eines sieben Punkte beinhaltenden Kontrakts,
welcher auszuführende Vorschriften bezüglich des Inhalts aufwies, gelang es,
die Zustimmung zur Aufführung zu erhalten.
So konnte die Verhinderung der Entstehung eines der düstersten und
dramatischsten Werke des Musiktheaters abgewehrt werden.
Verdis Rigoletto feierte seinen überragenden Erfolg weit über den Ort der
Uraufführung, dem La Fenice, hinaus. Der Komponist setzte das Orchester als
Element handlungstragender Stimmungen ein, wie er es noch nie zuvor gewagt
hatte.
Das erste Werk der „trilogia popolare“ war geboren.
1851 folgte Verdis und Strepponis Umzug nach Sant‘ Agata, das bis dahin die
Eltern des Komponisten bewohnt hatten. Im selben Jahr starb Luigia Verdi.
Der Schmerz und die Trauer ließen Vater und Sohn einander wieder
näherkommen.
Zeitgleich wuchs jedoch der Konflikt mit Verdis „Ziehvater“ Barezzi, welcher die
seiner Tochter folgende Frau an der Seite des Komponisten nicht akzeptieren
konnte.
1852 wohnte Giuseppe Verdi der Uraufführung von Alexandre Dumas La dame
aux camélias im Vaudeville-Theater von Paris bei. Auf die Folgen jenes
Theaterbesuchs möchte ich im folgenden Kapitel genauer eingehen.
Nach Cammaranos Tod 1852 vollendete Leone Emanuele Bardare das vorerst
durch die Zensur gefallene Libretto zu Verdis neuem Werk, mit dessen Stoff er
sich schon drei Jahre zuvor befasst hatte. Il Trovatore sollte im Januar des
folgenden Jahres seine Uraufführung erleben, die neben der schon parallel
13
dazu laufenden Arbeit an der dritten Oper der „trilogia popolare“, La Traviata, in
Rom stattfand.
Die Musik des Troubadour fand beim Publikum Anklang, das Libretto jedoch
wurde mit Spott und Hohn überhäuft.
Ein Werk zog Verdis Aufmerksamkeit stets auf sich.
Immer wieder kreisten seine Gedanken um William Shakespeares Tragödie
King Lear, zu einer musikalischen Umsetzung sollte es jedoch nie kommen.
Komponist und Politiker
Giuseppe Verdi, der die Zurückgezogenheit favorisierte, mied öffentliche
Auftritte und Gesellschaften wie die französischen Salons, in welchen sich die
Künstler zum Austausch trafen.
Die Pariser Theater- und Musikszene bot ein vielfältiges, pulsierendes Angebot,
welches allerdings von konservativ-elitären Strukturen gekennzeichnet war.
Scribe, der zahlreiche Libretti, unter anderem für Meyerbeer, Auber und
Donizetti verfasst hatte, schuf mit seinem Mitarbeiter Duveyrier das Textbuch zu
Verdis ersten „Grande Opéra en cinque actes“ - Les vêpres siciliennes.
Das Werk wurde zur Zeit der Weltausstellung in Paris 1855 uraufgeführt.
Ein Jahr zuvor hatte ein Attentat in Parma dem Herzog Carlo Ferdinando III.
das Leben gekostet.
Es herrschte eine ablehnende Stimmung gegen alles Italienisch-Nationale und
die Oper feierte keinen großen Erfolg.
1856 erteilte der mittlerweile von der Kirche exkommunizierte Vittorio Emanuele
II. Giuseppe Verdi den Ritterschlag zum Ritter des „Ordine SS. Maurizio e
Lazaro“.
Der Gutsbesitz dehnte sich immer weiter aus und es konnten verbesserte
Voraussetzungen für die Instandhaltung geschaffen werden.
14
Als das von Somma verfasste Libretto zu Un ballo in maschera ohne
Inkenntnissetzung des Komponisten von dem Auftraggeber Teatro San Carlo
umgeschrieben wurde, fasste Giuseppe Verdi einen Entschluss, der zu einem
Moment couragierter künstlerischer Behauptung gegen Bürokratie und
Staatsmacht 7 führte.
Der Komponist stellte sich gegen die fortwährenden Forderungen, welche eine
Verstümmelung seiner Werke mit sich trugen und verklagte das Opernhaus.
Verdi, der als erfolgreicher und wohlhabender Mann galt, konnte dieses Risiko
eingehen und gewann letztendlich den Prozess.
Im Frühjahr 1858 soll in Neapel zum ersten Mal Verdis Name zur politischen
Parole gemacht worden sein. Indem man ihn, den Komponisten, hochleben ließ
und „Viva Verdi“ an Hauswände malte, meinte man „V.E.R.D.I.“ – Vittorio
Emanuele Rè d’Italia: Der auf dem Turiner Thron solle König von ganz Italien
werden.8
Die Oper „Un ballo in mascherra“ wurde schließlich 1859 uraufgeführt.
Das Werk beinhaltete zum ersten Mal Anmerkungen des Komponisten, die
Anweisungen zur szenischen Realisation gaben. Jene Angaben zur „mise en
scène“ waren in Frankreich schon lange bekannt.
Mittlerweile hatte sich der französische Kaiser mit dem Minister Graf Cavour
verbündet.
Es wurde der Entschluss gefasst, Krieg gegen Österreich zu führen und das
durch den Sieg errungene Land aufzuteilen, sowie Vittorio Emmanuele als
König von Oberitalien zu feiern.
Das Haus Habsburg, der Noch-Regent Italiens, rief zum Angriff gegen die
Machtstreiter, verlor jedoch Mailand und erlitt bei
Solferino 1859 eine
historische Niederlage.
Nachdem sich Russland und Preußen immer mehr in das Kriegsgeschehen
einmischten, stellte Napoleon III. ein Friedensangebot, auf welches der
österreichische Herrscher Franz Joseph I. einging. Er hatte ohnehin bereits die
7
8
Schwandt, Verdi, S. 143
Schwandt, Verdi, S. 143 f.
15
Lombardei abgeben müssen und wollte weiteren schweren Verlusten
vorbeugen. Die Bürger Italiens waren über diese Entwicklung bitter enttäuscht
und erbost und sträubten sich energisch gegen die nun drohenden alten
Verhältnisse.
Verdi, der in der politischen Entwicklung wohl primär durch seine Musik, die das
italienische Volk nicht nur im National- und somit im Kampfgedanken für ein
geeintes Land bestärkte, sondern auch tiefste Gefühlsregungen widerspiegelte,
seinen Beitrag leistete, war selbst ein Unterstützer jeglicher Wege Cavours.
Er wusste nicht, inwiefern die Entwicklungen dieser Unruhen ebenso über das
Schicksal Sant' Agatas, von wo aus er, abgeschieden von den blutigen
Geschehnissen, nur äußerst schwierig Informationen über die politische Lage
erhielt, bestimmen würden.
In diesem Jahr, das tausende Leben forderte, gaben sich Giuseppe Verdi und
„Peppina“ Strepponi in Savoyen das Ja-Wort.
Es wurde beschlossen, in der Toskana sowie der Emilia Parlamente
aufzustellen.
Der Vorschlag zur Kandidatur Verdis führte zu dessen Ernennung zum
Abgeordneten.
Der Komponist hatte nun direkten Eingriff in das politische Geschehen und traf
Cavour,
mit
welchem
er
sich
leidenschaftlich
über
agrartechnische
Möglichkeiten und Errungenschaften austauschte, persönlich.
Die folgende Zeit forderte, dass politische Tätigkeiten nun den Platz des
Komponierens einnahmen. Dies führte zu kontroversen Situationen, da es für
Verdi nur sehr schwierig zu vereinbaren war, dass er sich in politischer Hinsicht
gegen Frankreich wenden sollte, sein musikalisches Schaffen ihn jedoch zum
Mitglied des Institut de France berief.
Nach
weiterem
politischen
Vorantreiben
und
kämpferischen
Auseinandersetzungen gelangte der Süden Italiens 1860 ebenfalls unter die
herrschende Hand Vittorio Emanueles.
Die bourbonische Regierung war durch Garibaldi gestürzt.
In jenem Jahr erreichte Verdi ein Brief des Tenors Enrico Tamberlik.
16
Dieser hatte in zahlreichen Verdi-Partien geglänzt und ging seit einiger Zeit
seiner Tätigkeit am Hoftheater des russischen Zaren nach. Sein schriftliches
Anliegen galt der Bitte, Verdi solle ein Werk für seine neue Wahlheimat
komponieren – natürlich nicht ohne einer passenden, großen Tenor-Partie.
Verdi, der nun als Abgeordneter des Borgo S. Donnino im ersten italienischen
Parlament agierte und „eigentlich nicht mehr komponieren wollte“, ließ sich erst
nach langen Überredungskünsten auf das für ihn äußerst lukrativ ausgefallene
Vertragsangebot des russischen Herrschers ein.
Ursprünglich sollte Ruy Blas als Werkvorlage dienen. Die Themenwahl wurde
jedoch aufgrund des Sujets nicht zugelassen. Diese Entscheidung der Zensur
bedeutete für den Komponisten jedoch keinen Rückschlag, da sein Augenmerk
auf das Drama Don Álvaro o la fuerza del sino von Ángel de Saavedra y
Ramirez de Baquedano gefallen war.
So entstand nach einer mehr als dreijährigen Pause des Komponierens die
Oper La forza del destino, zu der Piave das Libretto verfasste.
1862 wurde die Uraufführung des Werkes, in welchem in der Figur der
Preziosilla eine Person mit musikalisch äußerst signifikanter Gestaltung sowie
politischer Gesinnung die Bühne betritt, gefeiert.
Eine Darbietung der forza del destino in Italien wurde vorerst von der Kirche, zu
der Verdi seit jeher die größte Abneigung hegte, verboten, da die Oper
„unmoralisch, unpolitisch (sic!) und ein schmutziges Machwerk moderner
Korruption“ sei.9
Für die Weltausstellung in London schuf der Komponist ein Werk, welches nicht
dem Musiktheater angehört.
Der Inno delle nazioni, dem jegliche Grundlage einer menschlichen Geschichte
von Leidenschaften, seelischer Zerrissenheit, gesellschaftlichen Situationen
und tragischen Wendungen fehlte, war nach jenem Anlass bald in
Vergessenheit geraten.
9
Schwandt, Verdi, S.175
17
Pariser Durchbruch
Verdi, der im Jahre 1863 auf ein halbes Jahrhundert erfolgreichen Schaffens
zurückblicken konnte, fand sich nun in der Rolle eines weltberühmten
Komponisten, dessen Opern zahlreichen Verlegern auf der ganzen Welt und
somit auch ihm profitreiche Geschäfte sicherten, sowie eines wohlhabenden
Gutbesitzers und aktiven Politikers.
Inzwischen war die junge italienische Musikwelt jedoch auf einen Mann
aufmerksam geworden, der als das Genie neuer Klangwelten und Reformator
des Musiktheaters gefeiert wurde.
Richard Wagner nahm in den Augen vieler den Platz auf dem über alles
herrschenden Thron ein.
Verdi arbeitete an einer neuen Version des „Macbeth“ für Paris, welcher unter
anderem durch die Einfügung eines Balletts erweitert wurde. Der Komponist
suchte nach weiteren Effekten, welche auch die szenisch-dramatische
Umsetzung mit mehr Bühneneffekten untermauern sollte. „Er wollte auch die
umfassendere theatrale und musikalische Wirkung, die er schon 1847 im Sinn
hatte, in Paris verfolgt wissen und forderte, dass die elfköpfige Bläsergruppe,
die die Erscheinung der Könige begleitet, „unter der Bühne postiert“ sein solle,
„in der Nähe einer offenen und genügend großen Versenkung, damit der Ton
herausdringen und sich im Theater ausweiten kann, aber mysteriös wie aus der
Ferne.“ 10
Sofort lassen uns diese Erörterungen an die Vorhaben des polarisierenden
Visionärs Wagner und an sein ab 1872 in Bayreuth errichtetes Festspielhaus
denken, dessen versenkter,
bis zur Mitte der Bühnentiefe reichende
Orchestergraben den Klang der zahlreich zerlegten Stimmen der einzelnen
Instrumentengruppen des Orchesters unvergleichlich mit den Stimmen der auf
der Bühne agierenden Personen zu mischen vermag.
10
Schwandt, Verdi, S. 180
18
Giuseppe Verdi übernahm die Ehrenpräsidentschaft der in Busseto 1865
gegründeten „Società Operaria“, die sich die Unterstützung in Not geratener
Lohn- & Industriearbeiter als Ziel gesetzt hatte. In jener Zeit des neu- vereinten
Italiens herrschte eine extreme soziale Diskrepanz zwischen Arm und Reich.
Den theatertechnischen sowie personellen Ansprüchen, die Giuseppe Verdis
Werke forderten und die der Komponist an die Opernhäuser stellte, war einzig
die Opéra Paris gewachsen. Nach dem Tod Meyerbeers, dessen Platz Verdi an
der Académie Francaise bereits eingenommen hatte, galten nun die Chancen
seines
endgültigen
Durchbruchs
in
der
französischen
Metropole
als
vielversprechend. Der Komponist arbeitete nun mit dieser Aussicht auf Erfolg an
„Don Carlos“, dessen Libretto aus der Feder Joseph Mérys und Camille du
Locles stammte.
Nach einem neu entfachten Krieg um Venetien zwischen Österreich, Italien und
Frankreich, retournierte der Sieger Frankreich seine Errungenschaft an Italien.
Dieser „Pseudo-Kriegsgewinn“ stärkte das italienische Ressentiment und der
Nationalgedanke erhielt einen neuen Aufschwung.
Die Probenzeit zu Don Carlos war von Ärger durchzogen.
So weigerte sich unter anderem der Interpret des Rodrigue Marquis de Posa,
nach dessen Bühnentod weiterhin als Leiche auf der Szene zu verharren.
Das dunkle Werk Verdis später Schaffensperiode feierte 1867 seine
Uraufführung in dem am Höhepunkt seines Reichtums stehenden Frankreich.
Dem Erfolg folgte die Anfrage für ein neues Werk, welches für die neu errichtete
Oper „Palais Garnier“ entstehen sollte. Der Komponist verabscheute jedoch die
in letzter Zeit durchlebten Geschehnisse künstlerischen Geltungsdrangs sowie
echauffierten Gebärdens seitens der Darsteller und reiste sogleich nach der
Premiere ab.
Die Trennung von dem im Sterben liegenden Vater sowie die Abwesenheit bei
dessen Tod, verstärkten das Bedürfnis, Paris so schnell als möglich zu
verlassen. Don Carlos wurde später in verschiedene Sprachen übersetzt und
von dem Komponisten für die italienische Version bearbeitet und gekürzt.
19
Bald ereilte Verdi eine weitere Schreckensnachricht – sein Librettist Francesco
Maria Piave hatte einen Schlaganfall erlitten, welcher ihm die Fähigkeit der
Bewegung sowie des Sprechens raubte.
Antonio Ghislanzoni wurde nun für eine Neufassung der forza del destino zu
Verdis Mitarbeiter.
Stellen des Textes verlangten nach neuer Gliederung. Das umgeschriebene
Werk wurde 1869 dem begeisterten Publikum der Mailänder Scala vorgestellt
und führte zum Bruch des Vorsatzes von 1845, nie wieder jenem Haus eine
Oper zu überlassen.
Während der Arbeit an einem Gemeinschaftswerk zahlreicher Komponisten,
kam es zur Entzweiung zwischen Verdi und dem Dirigenten und langjährigen
Freund Mariani.
Dieses Werk, die Messa per Rosini, wurde nun von den Kommunalpolitikern,
welchen sich die damit verbundenen Ausgaben als zu kostspielig darstellten,
zurückgezogen. Der Streit des Komponisten mit dem Interpreten zeigte sich als
brauchbarer und willkommener Grund zur Absage.
Nun waren Überredungskünste und langwierige Verhandlungen nötig, um Verdi
zu einem neuen Auftragswerk für Kairo zu gewinnen. 1870 begann der
Komponist letztendlich doch mit der Arbeit an Aida für die ägyptische
Hauptstadt.
Der ausgebrochene Krieg zwischen Deutschland und Frankreich führte den
Sturz Napoleons III. herbei. Die Möglichkeit, Rom einzunehmen war nun für die
italienischen Truppen gegeben.
So wurde 1871 die Stadt zur Hauptstadt des Landes erkoren.
Du Locle, Direktor der Opéra Comique, der mit dem Hintergedanken an
Aufführungsmöglichkeiten der neu entstehenden Verdi-Oper in Frankreich
spielte, arbeitete mit dem Komponisten an einem Prosaentwurf
des
französischen Archäologen Auguste Mariette, um diese Version Ghislanzoni als
Basis für das Libretto der Aida vorzulegen.
20
Die in Paris gefertigte Originaldekoration sowie die Kostüme verhinderten
jedoch, dass die Uraufführung den geplanten Termin einhalten konnte, da der
Transport nach Afrika durch die preußische Belagerung in Paris anfänglich
verhindert wurde.
Letztendlich feierte das Werk jedoch 1871 einen großen Erfolg, die erste
europäische Uraufführung fand an der Mailänder Scala statt.
In der Zwischenzeit waren die Partituren des polarisierenden Zeitgenossen
Wagner auch in Verdis Hände gefallen. Er studierte die Kompositionen, gab die
Klänge auch am Klavier wieder und besuchte eine Aufführung des Lohengrin in
Bologna. Man kann sich vorstellen, dass der von Interesse getriebene Verdi die
Werke Wagners mit gemischten Gefühlen untersuchte.
Das Ansehen des Komponisten wuchs weiterhin. Gewissenhaft kontrollierte der
Großgrundbesitzer seine Verwalter, das Personal und kümmerte sich um seinen
Reichtum.
Der Tod des italienischen Dichters Alessandro Manzoni veranlasste Verdi zu
einer Komposition, die einen wesentlichen Platz unter den Requien einnehmen
sollte. Das Werk wurde am einjährigen Todestag des Dichters zum ersten Mal
vorgetragen.
An jenem 22. Mai 1874 war auch der, von Cosima für Wagner verlassene Hans
von Bülow in der San Marco-Kirche Mailands anwesend. Die Kritik des
Dirigenten, die Totenmesse gleiche mehr einer Oper als einem Trauerstück, ist
nicht von der Hand zu weisen.
Giuseppe Verdi erhielt den Titel des „Comandeur der Ehrenlegion“, welcher ihm
in einer Privataudienz von seiner Majestät, dem österreichischen Kaiser,
verliehen wurde.
Dieser Akt der Huldigung ist besonders unter Beachtung der unterschiedlichen
politischen Gesinnung sowie der Vergangenheit
dieser Persönlichkeiten zu
betrachten. 1875 folgte die Ernennung durch den König zum Senator in Rom.
Ein politischer Wechsel der führenden Partei Italiens ließ die Linken unter
Agostino Depretis durch Stimmenmehrheit an die Macht gelangen.
21
1876 wurde Verdis engster und durch gegenseitige Inspiration verbundener
Textverfasser von seinen Leiden erlöst. Der Komponist finanzierte die
Bestattung Francesco Maria Piaves und diente mit Unterstützung der
hinterlassenen Familie.
Im selben Jahr feierte Verdis italienischer Zeitgenosse Amilcare Ponchielli mit
seinem Werk La Gioconda an der Scala den einzigen großen und anhaltenden
Erfolg seines Schaffens.
Das Libretto der Oper verfasste Arrigo Boito, welcher keine besonders große
Beachtung Verdis genoss. Dies sollte sich jedoch später ändern.
Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten war die Opéra Comique zum Verzicht auf
die französische Uraufführung der Aida gezwungen. So fand jene, neben einer
Darbietung des Requiems, im Théâtre Italien in Paris statt.
Eine Reise des Komponisten, welche seine erste Reise nach Deutschland
durch eine Einladung mit
offiziellem musikalischem Hintergrund war, führte
Giuseppe Verdi nach Köln, wo er jubelnd empfangen wurde.
Die beiden letzten Opern
Im Jahr 1878 wurde Italien durch den Verlust zweier Führungspersönlichkeiten
erschüttert. Vittorio Emanuele II. sowie der Papst starben. Das Land fiel nun
unter die weltliche Herrschaft König Umbertos I. und unter die klerikale Führung
Papst Leos XIII.
Rom wuchs in der folgenden Zeit zu einer pulsierenden Stadt und folgte somit
den Metropolen Paris, London und Berlin.
In den Landregionen zeigte sich jedoch, dass in Italien Armut und steter Wuchs
an Reichtum weiterhin nebeneinander existierten.
Giuseppe Verdi kämpfte gegen den fortlaufenden Verfall der Opernhäuser und
sah in der erneuten Füllung der Publikumssäle sein vorrangigstes Ziel – ganz
gleich welcher Werke es hierfür bedurfte.
22
Er komponierte in jener Zeit kleine Stücke, ohne diese jedoch an die
Öffentlichkeit zu bringen.
An der Erarbeitung einer neuen Oper zeigte er jegliches Desinteresse.
Das Libretto Boitos zu Shakespeares Otello überflog er erst nach langem
Zuspruch Ricordis und Faccios - allerdings ohne eine Regung persönlichen
Gefallens.
Mit der Zeit wandelte sich dieses Desinteresse. Verdi bekam Gefallen an dem
Werk und wollte das Textbuch des damals noch den Namen Jago tragenden
Otello vertonen.
Das distanzierte Verhältnis zu dem Verfasser blieb jedoch bestehen.
Der Grund einer neuen Reise nach Paris war die Aufführung der Aida der
soeben eröffneten Opéra Garnier, welche nun durch die neuwertige Ausstattung
der Bühnen- sowie Beleuchtungstechnik als einzigartig auf dem Kontinent galt.
Verdi kehrte mit der Ernennung zum Großoffizier in seine Heimat zurück.
Die Arbeit an der Komposition zu Otello wurde wieder eingestellt.
Der Wunsch der Scala, Simon Boccanegra auf die Bühne zu bringen,
veranlasste
den
unermüdlichen
Ricordi,
Giuseppe
Verdi
zu
einer
Neubeschäftigung mit der Partitur des vor dreiundzwanzig Jahren verfassten
Werkes zu gewinnen.
Boito überarbeitete Piaves Text, welchen er, die Worte des „Urverfassers“
respektierend, der Zeit anpasste.
Verdis erneute Schaffenspause wurde somit unterbrochen und das Werk feierte
1881 seine Bühnentaufe.
Der im selben Jahr ausgebrochene Ringtheaterbrand in Wien sollte die
technische Infrastruktur als auch die Sicherheit der zukünftigen Opernhäuser
durch Neueinführungen und Änderungen gravierend prägen.
Giuseppe Verdi ging weiterhin seinen sozialen und wirtschaftlichen Tätigkeiten
nach und ließ das Textbuch des Otello beseite.
Er finanzierte die Errichtung eines Krankenhauses in Villanova sull‘ Arda.
23
Der deutsche Journalist Adolf von Winterfeld stellte fest, Verdi wirke als ob ihn
der Ertrag eines Maisfelds kaum weniger zu interessieren schien als der Erfolg
einer von ihm komponierten Oper.11
1883 starb Richard Wagner.
Seine Verehrer hatten sich auf jene Tragödie eine andere Reaktion Verdis
erwartet.
Es kam keine Revanche für Wagners herablassende Meinung zur italienischen
Musik im Allgemeinen und der Verdis im Besonderen. Wagners Musik sei Verdi
als eine „philosophische Musik“, die über ihre eigentlichen Grenzen
hinausgehe, unverständlich, wiewohl er an Tannhäuser und Lohengrin manches
schätze.12
Im Jahr 1885 fuhr Giuseppe Verdi nun mit der Komposition des Otello fort und
stellte diese 1886 fertig. Es begannen die Proben an der Mailänder Scala, mit
welcher Verdi jedoch das Abkommen traf, dass die gesamte Probezeit ohne
jegliche öffentliche Kenntnisnahme erfolge und er jederzeit zu einer Revokation
des Werkes sowie einem Abbruch der In-Szene-Setzung berechtigt sei.
Nicht nur ein Giuseppe Verdi, sondern auch andere Komponisten hatten
mittlerweile durch die in Italien entstandene Società italiana autori ed editori, die
SIAE, eigene Rechte über ihre Werke.
In dem die Uraufführung des Otello wiedergebenden Orchester befand sich ein
Cellist, der durch seinen Lebensweg der Musikwelt als einer der bedeutendsten
Dirigenten erhalten bleiben sollte - Arturo Toscanini.
Ähnlich Mozarts Don Giovanni, in welchem dem Titelhelden lediglich eine Arie
zugeschrieben wird, wird auch die Rolle des Otello solistisch kaum
hervorgehoben – im Gegensatz dazu jedoch die Rolle des Widersachers Jago
umso mehr.
Verdis Melodien und Orchesterinstrumentierungen hatten in seiner gesamten
Schaffenszeit Verwandlungen durchlebt und nun einen neuen Höhepunkt
erreicht.
11
12
Schwandt, Verdi, S. 236
Schwandt, Verdi, S. 236
24
Folgt man Julian Budden, so sind manche der Fortschreitungen im Otello
wesentlich schwerer zu analysieren als irgendeine Stelle bei Wagner.13
Die 1887 erfolgte Ernennung Francesco Crispis zum Ministerpräsidenten ließ
die linke Partei an die Regierungsspitze treten und neue Entwicklungen
entstehen, die ihre Wurzeln nicht mehr im Risorgimento hatten.
Verdi ermöglichte Ricordi durch die finanzielle Leihgabe über 200.000 Lire den
Kauf des Verlagshauses Lucca. Somit wurden die Werke Verdis und Wagners
in einem Verlag vereinigt.
Zusammen mit Peppina beschloss der Komponist in Mailand ein Altenheim,
la Casa di Riposo, für Künstler ins Leben zu rufen. Er wollte die Existenz der
zahlreichen, nach ihrer Karriere vergessenen „artisti“ bis zu ihrem Tod sichern.
Der mittlerweile als Freund Verdis geltende Boito erreichte, dass seit dem
misslungenen Versuch der Vertonung eines Buffo-Stoffs aus Anfangszeiten des
Komponisten das Interesse für ein komisches Opernthema wieder in ihm
geweckt wurde.
Die Arbeit an Falstaff musste jedoch als Geheimnis bewahrt werden.
Das musikalisch-textliche Zusammenspiel lässt jedes Element das andere
untermalen und führt zu einer Ergänzung, wie sie zuvor noch niemals in Verdis
Werken zum Vorschein kam.
So galt auch eine Parallelität von neun, jeweils einen eigenen Text
wiedergebenden Stimmen als eine Innovation der italienischen Oper.
Die Doppelfuge am Ende des Werks zeugt von einer auf Weisheit beruhenden
Gelassenheit in Verdis hohem Alter, die anders nicht besser zum Ausdruck
kommen könnte als durch die Verbindung der diszipliniertesten Musikform mit
den Worten „Tutto nel mondo è burla“.
13
Budden, Verdi, S.165, zit. n. Schwandt, Verdi, S. 247
25
Verdi erreichte eine Nachricht von Hans von Bülow, in welcher er sich für seine
Missgunst gegenüber dem Komponisten entschuldigte, seine Kritik widerrief
und seine Verehrung aussprach.
Trotz Verdis Behauptungen, das Komponieren des Falstaff diene zur reinen
Vergnügung, wurde an eine Bühnenrealisation gedacht.
Adolf Hohenstein, Bühnenbildner und Chefgrafiker des Hauses Ricordi, hatte
sich auch schon Illustrationen aus England für ein möglichst authentisches
Bühnenbild und die Kostüme beschafft.14
1893 kam es letztendlich zur Uraufführung des „geheimen Werks“ an der
Mailänder Scala.
Zukünftig sollte besagtes Orchestermitglied der Otello-Premiere dem Falstaff
zu Weltruhm verhelfen.
Trauer einer Nation
Ein letztes Mal sollte Giuseppe Verdi mit dem Werk seiner Gedanken
konfrontiert werden.
Boito weckte die Erinnerung an Rè Lear - durch Peppinas Einschreiten jedoch
drangen der Librettist und ebenso der Komponist nicht weiter zu dem Sujet vor.
Im Alter von 81 Jahren reiste Verdi, die angehenden Mängel der Belastbarkeit
ignorierend, nach Paris, um dort der französischen Erstaufführung des Otello –
die französische Version hatte Boito selbst in Zusammenarbeit mit Du Locle
verfasst – sowie einer Falstaff - Darbietung beizuwohnen.
Seine zwei letzten Werke des Musiktheaters feierten in der Hauptstadt große
Erfolge.
Als Zeichen des Dankes und der Huldigung für solch unzählige Reichtümer der
Oper erhielt der Komponist das Großkreuz, welches ihm vom Staatspräsidenten
persönlich verliehen wurde.
14
Schwandt, Verdi, S.256
26
Diese
Auszeichnung
war
die
höchste
Anerkennung
der
Ehrenlegion
Frankreichs.
Mit Hochachtung erfüllt, sendete ein junger Komponist aus Deutschland dem
alten Meister sein frisch verfasstes Werk. Die Handschrift jenes Guntram mag
zwar Verdi nicht verwandt gewesen sein, jedoch sollte der Absender ein für die
Zukunft wegbereitender Musikschöpfer werden, der eine Ansicht Verdis ganz
besonders vertrat – den hohen Stellenwert positiver Symbiose von Text und
Melodie.
Er wird in Hugo von Hofmannsthal sein Pendant finden.
Verdi widmete sich nun der Komposition dreier geistlicher Werke, unter
anderem einem Stabat mater.
Im November 1897 holte der Tod Giuseppina in Folge einer Lungenentzündung.
Verdi versuchte diesen harten Verlust der treuen Lebensgefährtin in tiefer
Trauer und besorgniserregender Zurückgezogenheit zu verarbeiten.
1898 durfte sich Italien mit Turin als Gastgeber der Weltausstellung vorstellen.
Arturo Toscanini leitete die Aufführung jener pezzi sacri, welche Verdi vor
Peppinas Tod verfasst hatte.
Währenddessen führten die sozialen Missstände in Italien zu schweren
Unruhen, denen die Regierung nicht Herr werden konnte.
Nach zwei Jahren, die Guiseppe Verdi im Kreise seiner engsten Freunde, zu
denen Boito sowie die Sopranistin Teresa Stolz zählten, verbrachte, erlag der
Komponist und wohlhabende Gutsbesitzer in Mailand am 27. Januar 1901 den
Folgen eines Schlaganfalls.
Ganz Italien und mit ihm die Welt lagen in tiefer Trauer.
Guiseppina und Guiseppe Verdi finden nach der Fertigstellung der Casa di
Riposo in deren Krypta bis heute ihre letzte Ruhestätte.
27
Entstehungsgeschichte La Traviata
Die der Oper zugrunde liegende Geschichte führt zu dem französischen
Schriftsteller
Alexandre
Dumas
d.
J.
und
dessen
1848
erfolgreich
veröffentlichen Roman La Dame aux camélias.
Der Autor schuf das Werk als Bildnis der 1847 verstorbenen berühmten Pariser
Edelkurtisane Alphonsine Plessis (sie nannte sich Marie Duplessis), mit der er
für kurze Zeit ein Verhältnis einging.
Abbé Prévosts Roman Manon Lescaut, welcher
vierzig Jahre nach der
Uraufführung Verdis La Traviata als Vorlage für Giacomo Puccinis Oper Manon
Lescaut diente, ist die literarische Basis der Kameliendame.
1849 schuf Alexandre Dumas eine Bühnenfassung seines Werks, dessen
Uraufführung jedoch aufgrund von Konflikten mit der Zensur erst im Jahre 1852
im Vaudeville-Theater Paris stattfinden konnte.
Giuseppe Verdi, der sich im selben Jahr mit Giuseppina in jener Stadt aufhielt,
besuchte eine Aufführung der neu erschienenen Bühnenfassung, welche dies
für damalige Zeiten als gewagt und brisant geltende Thema behandelt.
Marguerite Gautier, Violetta Valery werden zu einem Mythos, einem Sinnbild
edlen Handelns. Diese aus der Pariser Halbwelt stammende Frau, gezeichnet
von der als unberechenbar und mythisch geltenden Krankheit TBC, wird zu
einem Ideal, einem Wesen, fähig zum schmerzvollsten Verzicht aus tief
empfundener Liebe.
Giuseppe Verdi hatte sich zu einer neuen Opernkomposition für das La Fenice
verpflichtet. Diese Oper wird die „trilogia popolare“, welche ebenso den
Rigoletto sowie Il Trovatore einschließt, vollenden. Der Premierentermin war
auf den Monat März im Jahr 1853 festgelegt.
Die Stoffwahl wurde von dem Komponisten lange hinausgezögert. Letztendlich
fiel seine Entscheidung und nach Zuspruch und Überredung gelang es Verdi
auch den festgelegten Verfasser des Librettos, Francesco Maria Piave, von
seinem Entschluss, La Dame aux camélias zu vertonen, zu überzeugen.
Das Werk sollte ursprünglich den Namen Amore e morte tragen.
Die Sorge, die Oper könne, ähnlich der literarischen Vorlage dem Schicksal der
Zensur erliegen, belastete Giuseppe Verdi wenig. So schrieb er am Neujahrstag
28
an De Sanctis: Für Venedig komponiere ich La Dame aux camélias, die
wahrscheinlich den Titel La Traviata erhalten wird. Ein Thema unserer Zeit.
Jeder andere Komponist hatte es wegen der Kostüme, der Zeit und tausend
anderer
alberner
Skrupel
abgelehnt;
mir
macht
es
jedoch
größtes
15
Vergnügen…
Die
Zensur forderte eine
zeitliche
Versetzung der Handlung in
die
Regierungszeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV.
Komponist und Librettist übernahmen Dumas Bühnenfassung ohne drastische
Änderungen. Der zweite Akt wurde jedoch gestrichen.
Am 21. Februar des Jahres der Uraufführung reiste Verdi nach Venedig, um
den Beginn der Proben zu leiten. Das Werk war jedoch noch nicht vollendet, die
Voraussetzungen des Ensembles nicht gegeben, geschweige denn Verdis
Ansprüchen gerecht werdend.
Felice Varesi, welcher ebenso Verdis ersten Macbeth sowie Rigoletto verkörpert
hatte, sollte die Rolle des Giorgio Germont übernehmen. Seine Leistung war
jedoch nicht mit jenen
Schottland
großen Erfolgen als herrschsüchtiger König von
oder verwachsener Hofnarr zu vergleichen. Ebenso wenig
überzeugte Alfredo, der von Ludovico Graziani interpretiert wurde. Die Violetta
der Uraufführung, Fanny Salvini-Donatelli, lieferte dem Komponisten zu wenig
an stimmlicher Leidenschaft,
ihr darstellerischer Einzelkampf sowie die
physische Erscheinung der Primadonna trugen zur Glaubhaftigkeit der Rolle
einer sterbenden, schwer kranken Traviata wenig bei.
So forderte Verdi eine Umbesetzung, welche jedoch nicht gewährt wurde.
..., denn nicht nur die Salvini, sondern auch das ganze Ensemble ist des Gran
Teatro La Fenice unwürdig...Für den Fall, daß (sic!) die Oper zur Aufführung
gelangt, kann ich Ihnen jedoch jetzt schon versichern, daß ich keinerlei
Hoffnung auf Erfolg habe. Es wird sogar ein totales Fiasko geben - ...16
Verdis Reaktion auf die Negierung seiner dringenden Anliegen, veranlasste das
Theaterdirektorium zu strengen Maßnahmen.
15
16
Budden, Entstehungsgeschichte der Oper (Online-Publikation), S.3
Budden, Entstehungsgeschichte der Oper (Online-Publikation), S.5 f.
29
Brenna wurde nach Sant' Agata geschickt, um den „geflüchteten“ Komponisten
an seine Pflichten zu erinnern17 und nach Venedig zurückzubringen. So musste
Giuseppe Verdi der für den 6. März angesetzten Uraufführung seines Werkes,
welcher er einen vernichtenden Ausgang vorherzusagen wagte, beiwohnen.
Seine Einschätzung jenes drastischen Ausmaßes mag jedoch nicht ganz der
Realität entsprochen haben.
Obwohl die Kritiker Verdis Leistung nicht verurteilten, konnte der Mißerfolg der
Premiere, welcher zum größten Teil der schwachen Darbietung der Sänger
zuzuschreiben war, nicht verleugnet werden.
Erst durch eine Wiederaufnahme am Teatro San Benedetto, der Verdi nur bei
Sicherstellung eines adäquaten Ensembles und nach vorgenommenen
Änderungen zustimmte, war dem Werk der gebührende Erfolg bestimmt – ein
Jahr nach der eigentlichen Uraufführung, am 6. Mai 1854.
Der Komponist wohnte diesem Ereignis jedoch nicht bei.
Maria Spezia triumphierte als Violetta und die Oper sollte von nun an einen
Erfolg nach dem nächsten feiern.
Die deutsche Erstaufführung fand im Jahre 1857 in Hamburg statt.
Neben unzähligen Inszenierungen können wir heute ebenso auf weitere
Umsetzungen jenes Stoffes blicken. John Neumeiers weltberühmte, zu der
Musik Frédéric Chopins erschaffene Choreographie La dame aux camélias,
welche er für sein Stuttgarter Ballett kreierte, sowie George Cukors Verfilmung
Die Kameliendame mit Greta Garbo in der Hauptrolle, stellen unabkömmliche
Schätze ihrer Genres dar.
17
Budden, Entstehungsgeschichte der Oper (Online-Publikation), S.6
30
Reflexion über Oper und Schauspiel
Gegenüberstellung der Personen
Schauspiel
Marguerite Gautier
Olympe
Oper
Violetta Valéry
Flora Bervoix
Anais
Nanine / Prudence Duvernoy
Armand Duval
Georges Duval
Gaston Rieux, ein junger Lebemann
Arthur de Varville
Annina
Alfred Germont
Georges Germont
Gaston, Vicomte von Letorière
Baron Duphol
Marquis d'Obigny
Graf de Giray
Seint-Gaudens, ein alter Lebemann
Nichette, eine junge Näherin
Gustave, ihr Freund
Arthur
Ein Arzt
Ein Diener
Doktor Grenvil
Joseph
Ein Lohndiener
Ein Diener Floras
Ein Kommissionär
Gäste
Chor
31
Erleben wir in Verdis Oper Violetta Valéry gleich zu Beginn mit ihrem Einsatz
nach den kräftigen Einleitungsakkorden des ersten Aktes als großzügige
Gastgeberin,
betritt
in
Alexandre
Dumas
fünfaktigen
Schauspiel
die
Protagonistin das erste Mal in der vierten Szene desselben Aktes die Bühne.
Im Gegensatz zur Oper wird dem Zuseher in den ersten drei Szenen der
Kameliendame durch die Konversation zwischen Nanine, Marguerite Gautiers
Zofe, und einem Verehrer der Nobelkurtisane, Arthur de Varville, Einblick in ihre
Vergangenheit sowie in ihre Lebensumstände gewährt.
Eindrücke, welche durch die zu Beginn des Schauspiels gewonnenen
Vorkenntnisse das Publikum nicht unvoreingenommen Marguerite das erste Mal
entgegentreten lassen.
In Verdis Oper gäbe allein das Preludio hierzu die Möglichkeit einer Vermittlung
einleitender Gedanken zu Violetta Valérys Leben.
Alexandre
Dumas
erzählt
von
Marguerites
früherer Arbeit
in
einem
Wäschegeschäft sowie der töchterlichen Beziehung zu Monsieur de Mauriac.
Der durch die unerfüllte Liebe zu ihr mit Misstrauen und Eifersucht geplagte
Varville verkörpert eine Seite jener Welt der oberflächlichen Beziehungen, die
allein durch ein gesellschaftliches Leben nach den Gesetzen des Geschäfts mit
Geld und äußerlichen Reizen, ein Leben des Müßigganges, erfüllt mit
Vergnügen und Unterhaltung bestehen kann.
Lässt uns die Oper Violettas schützende Kälte, ein gegenüber bestimmten
Personen abweisendes Verhalten sowie eine gespielte Unverletzlichkeit
während des ersten Aktes spüren und erahnen, so begegnen wir in Dumas
Schauspiel ebenso jener kühl- abweisenden Marguerite gegenüber Varville.
Akt I, fünfte Szene
Marguerite. Wie heiße ich?
Varville. Marguerite Gautier.
Marguerite. Und wie noch?
Varville. Die Kameliendame.
Marguerite. Warum?
32
Varville. Weil Sie immer nur Kamelien tragen.
Marguerite. Und das heißt: ich liebe nur sie allein. Darum ist es unnütz, mir
andere Blumen zu schicken. Wenn Sie denken, Sie könnten eine Ausnahme
machen, dann täuschen Sie sich. Blumenduft macht mich krank. 18
Zeigt uns Piaves Libretto Violettas Großzügigkeit besonders im letzten Akt, zu
einem Zeitpunkt ihres eigenen finanziellen Ruins, so zeichnet Alexandre Dumas
die Kameliendame schon im ersten Akt durch Gönnertum aus.
Akt I, sechste Szene
Saint-Gaudens. ...Was ist denn diese Prudence?
Olympe. Modistin.
Marguerite. Und nur ich allein kaufe ihre Hüte.
Olympe. Doch trägst du sie nie.
Marguerite. Sie sind schauderhaft. Aber sie ist eine anständige Person, und sie
braucht Geld.19
Die erste Begegnung mit Armand lässt Dumas durch Marguerites spontane
Einladung der Nachbarin Prudence und deren Freunden in ihrem Boudoir
stattfinden.
Jene Zusammenkunft erfolgt somit in einem nahezu privaten Umfeld.
Bei Piave und Verdi tritt Violetta hingegen vorerst im Rahmen eines großen
Festes Alfredo zum ersten Mal bewusst gegenüber.
Wie in der Oper beschwört auch im Schauspiel Armand seine schon lange
anhaltende und tiefe Liebe zu Marguerite.
Gefühle jener Art gelten in Marguerites Welt als irreal und somit unglaubwürdig.
Die binnen kurzer Zeit variierenden Sympathien herrschen für straffe Zeiträume.
18
19
Dumas, Die Kameliendame, S. 10
Dumas, Die Kameliendame, S. 11
33
Dies vermittelt Marguerits Reaktion auf
die Erzählung von Armands
Liebesschwüre in der Oper sowie im Schauspiel.
Akt I, siebte Szene
Prudence. Und diese Liebe geht schon ins zweite Jahr.
Marguerite. Fast schon ein Greis – diese Liebe! 20
Akt I, zweite Szene
Gaston. Immer denkt Alfred an Euch.
Violetta. Ihr scherzt?
Gaston. Ihr wart krank, und jeden Tag, voll Anteilnahme,
eilt' er hierher, nach Euch zu fragen.
Violetta. Hört auf! Nichts bedeute ich ihm.21
Im Gegensatz zur Oper wird das mit der Zeit zu einer der bekanntesten
Opernmelodie erkorene Brindisi im Schauspiel nicht von Violetta und Alfred im
Duett, sondern allein von Gaston, dem Freund Alfreds vorgetragen. Es handelt
sich hierbei um die gesanglich vorgetragenen Verse von Philogène, welcher
ebenso über Marguerite dichtete.
Der Umgang der Gesellschaft ist auf einem provozierenden- foppenden
Chargon, gemischt aus Ernst und Spaß, basierend.
Die plötzlich eintretende Atemnot Violettas wird bei Marguerite durch einen Tanz
mit Saint-Gaudens hervorgerufen. Gleich der Oper schickt die Hausherrin ihre
Gäste mit der Versicherung, augenblicklich zu folgen in den Nebenraum.
20
Dumas, Die Kameliendame, S. 14
21
Decca Booklet, Verdi: La Traviata, S.40
34
Der besorgte Armand kehrt jedoch zurück. In dem sich als Folge entwickelnden
Dialog schildert Marguerite ihr Leben voller Aufrichtigkeit. Diese Ehrlichkeit lässt
auch das Bewusstsein über die Vergänglichkeit ihrer Position hervortreten.
Die Darlegung der Armand erwartenden Möglichkeiten eines Lebens, welches
er mit ihr zu teilen gedenke, entfallen bei Betrachtung der Oper in jenem
Ausmaß.
Armand verlässt Marguerite mit einer Kamelie, welche er vor deren Verblühen
an sie retournieren solle.
In Piaves Libretto bittet Violetta um die Rückkehr Alfreds, wenn die Blüte bereits
verblüht ist.
Endet der erste Akt der Oper mit Violettas innerem Kampf zwischen Vertrauen
und Mißtrauen, Liebe und Rausch, Veränderung und Stetigkeit dargebracht in
der großen Arie È strano! È strano! ... Ah! Fors'è lui … sowie der attacca
folgenden seelischen Widersetzung der vorhergegangenen Gedanken in
Follie! … Sempre libera, so hat sich Marguerite bereits auf eine leichtfertigwirkende Entscheidung für ein Zusammenleben mit Armand eingelassen.
Der zweite Akt des Schauspiels ist im Ankleidekabinett Marguerites situiert.
Die folgenden Ereignisse sind in der Oper übersprungen, da Piave den Akt
bereits in das von Violetta finanzierte Landhaus bei Paris verlegt.
Die Zeitspanne seit der Begegnung des ersten Akts umfasst jedoch im Sprechsowie im Musiktheater jene von drei Monden.
Durch Annina erfahren wir Violettas Ausgaben und Opfer, welche sie für die
geschaffene Idylle erbrachte. Das Schauspiel hingegen lässt uns an jener
Planungsphase teilhaben.
Marguerite Gautier empfängt den Graf de Giray, welcher bei ihrem Vorhaben
behilflich sein soll.
Das ständige Bedürfnis nach Versicherung der Liebe gilt als auffallender
Schwerpunkt der Beziehung der Kameliendame zu Armand.
Ist Marguerites Vertrauen schwer zu gewinnen, so ist auch Armand erfüllt von
Eifersucht und Zweifel an der ausnahmslosen Entscheidung der Frau für ihn.
35
Akt II, vierte Szene
Armand. Mein Vater hat mir geschrieben;
er wollte mich in Tours treffen, aber ich habe ihm geantwortet,
er könne nicht auf mich zählen.
Ich bin doch jetzt nicht in der Stimmung für eine Reise nach Tours!
Marguerite. Immerhin sollten Sie ihren Vater nicht erzürnen.
Armand. Das hat keine Gefahr. 22
Wie eine schreckliche Vorahnung klingen Marguerites Worte, wie eine
leichtfertige Annahme Armands Erwiderung.
Piaves Verzicht auf jene Dialoge des zweiten Akts von Alexandre Dumas Werk
hat eine Veränderung der Charakterzüge Armands zur Folge. Wir erleben den
jungen Duval mit mehr Ehrgefühl und Stolz ausgezeichnet als Alfred.
Akt II, vierte Szene
Armand. Haben Sie einmal >Manon Lescaut< gelesen, Marguerite?
Marguerite. Ja, der Band liegt drüben im Salon.
Armand. Schätzen Sie Des Grieux?
Marguerite. Was soll die Frage?
Armand. Da gibt es eine Szene, in der Manon – sie auch –
eine Lösung gefunden hat, nämlich die, sich von Monsieur de B.
Geld geben zu lassen, um es mit Des Grieux auszugeben.
Marguerite, Sie haben mehr Herz als Manon,
und ich habe mehr Ehrgefühl als Des Grieux.
Marguerite. Und das heißt?
Armand. Sollte Ihre Lösung auf der gleichen Linie liegen,
so kann ich sie nicht annehmen.23
22
Dumas, Die Kameliendame, S. 28
36
Tiefere Eindrücke von Marguerites Gedanken erhalten wir zunächst durch die
fünfte Szene des zweiten Akts.
Ihr Monolog erschließt uns den Unglauben an die Möglichkeit einer wirklichen,
ihr allein geltenden und widerfahrenden Liebe sowie die Angst vor dem Risiko,
Vertrauen in jene Hingebung zu setzen.
Die Präsenz der existenziellen Angst vor der durch die Krankheit bedingten
Zukunft, sowie der Altersunterschied zu Armand tragen in meinen Augen zu
dem nagenden Zweifel
bei – so hatte die Kameliendame den abgöttisch
Verehrenden zuletzt mit den Worten Leb wohl, du großes Kind 24 verabschiedet.
Die Seite der erfahrenen Geschäftsfrau Marguerite Gautier tritt dem Zuseher in
dem Dialog mit de Giray noch tiefer ins Bewusstsein.
Auch in der Oper wird jener Charakterstolz, jener kühle, analysierende Blick der
Kameliendame selbstverständlich vermittelt.
Marguerites
Perspektiven
und
Einstellungen
entsprechen
jenen
einer
pragmatisch-kalkulierenden Person von höherer Position.
Akt II, sechste Szene
Marguerite. Mein Lieber, wenn ein Mann von Welt
ein Mädchen wie Adèle heiratet, dann begeht nicht er eine Dummheit,
sondern sie macht ein schlechtes Geschäft.
Ihr Pole ist ruiniert, er hat einen miserablen Ruf,
und wenn er Adèle heiratet, dann tut er das wegen der
zwölftausend oder fünfzehntausend Francs Rente, die Ihr
ihr einer nach dem anderen geschenkt habt. 25
Armand packt eine wütende Eifersucht, als er den Grafen Marguerites Haus
betreten sieht.
23
24
25
Dumas, Die Kameliendame, S. 29
Dumas, Die Kameliendame, S. 31
Dumas, Die Kameliendame, S. 29
37
Der verfasste Brief – welcher durchaus verbindende Gedanken zu Marguerites
Brief an Armand auszulösen weiß – kann, gleich der Entscheidung zu der
gemeinsamen Zukunft, als übereilte Handlung verstanden werden.
Die Reaktion Marguerites auf das Schreiben zeugt von einer innerer Fassung
und dem bewusst gehaltenen Abstand zu Armands Beschwörungen.
Fast gleichgültig wirken ihre Worte zu dem soeben Gelesenen.
Akt II, siebte Szene
Marguerite. ( … ) , aber ich hatte mich verliebt, mein Freund.
( …)
Giray. Und in wen, guter Gott?
Marguerite. In einen Mann, der mich nicht wiedergeliebt hat,
wie das häufig so geht;
in einen Mann ohne Vermögen, wie das immer so geht.26
Wird in Verdis La Traviata die essentielle Handlung fast ausschließlich durch die
drei Protagonisten Violetta Valéry, Alfred und Georges Germont erzeugt,
beteiligen sich entscheidend in Dumas Werk eine nicht geringe Anzahl weiterer
Personen.
Allein Nanine spielt im Gegensatz zu der in der Oper entsprechenden Annina
eine gravierende Rolle.
Auch in jener brisanten Situation der anscheinend ernstlichen Trennung wird die
weitere Entwicklung aufgrund der Vermittlung von Nanine und Prudence in eine
neue Richtung gelenkt.
Trotz der Versöhnung zwischen den beiden „Liebenden“, vernehmen wir
Marguerites düstere Vorahnung in tiefster Bitterkeit.
26
Dumas, Die Kameliendame, S. 35
38
Akt II, elfte Szene
Marguerite. Der Junge wird mich noch ins Unglück stürzen.27
Der folgende Dialog zwischen Marguerite und Armand lässt die Kameliendame
in einer durch
pragmatische Einschätzung, klare Sachlichkeit und ehrliche
Begründung gefestigten Position erscheinen, deren Weg auf das Ziel einer
endgültigen Trennung zuzusteuern scheint.
Armand hingegen, kontinuierlich die unerschütterliche Liebe beteuernd und sich
auf diese berufend, drängt auf eine gemeinsame Zukunft.
Marguerites Schilderung ihres Lebens kann nur durch ihre eigenen Worte in
gesamter Realität dargestellt werden.
Akt II, dreizehnte Szene
Marguerite. ( … ) Tatsächlich, wir haben Liebhaber, die sich ruinieren,
nicht unseretwegen, wie sie sagen,
sondern aus Eitelkeit;
in ihrer Eigenliebe behaupten wir die erste Stellung,
die letzte in ihrer Achtung.
Wir haben Freunde, Freundinnen, ( … )
deren Freundschaft bis zur Knechtschaft geht,
aber nie ohne Eigennutz ist.
Was wir tun, interessiert sie kaum, Hauptsache,
man sieht sie in unseren Logen oder
sie fahren in unseren Wagen spazieren.
So ist alles um uns herum Lüge, Schande und Ruin. 28
27
28
Dumas, Die Kameliendame, S. 38
Dumas, Die Kameliendame, S. 41
39
Armand, welcher sich in die Position des abhängigen Bewunderers begibt, ist
Marguerites starkem Charakterstolz unterlegen, ihren Anforderungen an
Vertrauen und vollkommener Verschreibung nicht gewachsen.
Ihre
Zuneigung
zu
Armand
entspringt
dem
bloßen
Zufall
des
Aufeinandertreffens einer Frau, die berechnend nach einem, ihre Bedürfnisse
stillenden und Sicherheit spendenden Begleiter sucht, mit einem jungen Mann,
attraktiv in der Erscheinung und voller Leidenschaft sowie fanatischem
Idealismus.
Akt II, dreizehnte Szene
Marguerite. ( …) Mitunter habe ich gehofft, ohne es jemandem zu gestehen,
einem Mann zu begegnen, hochherzig genug,
um keinerlei Rechenschaft von mir zu fordern,
und willens, mich zu lieben, wie ich erscheine.
Diesen Mann hatte ich im Herzog gefunden;
aber das Alter schützt nicht und tröstet nicht,
und meine Seele verlangt nach anderem.
Da bin ich dir begegnet, jung, leidenschaftlich, glücklich.29
Der zweite Akt des Sprechstücks beschließt mit der Bekennung Marguerites zu
Armand.
Jene
Entscheidung
lässt
die
aufkommende
Vermutung
eines,
einer
momentanen Laune entsprungenen Beschlusses nicht unterdrücken.
Der zweite Akt der Oper beschreibt sich nun im dritten Akt der Kameliendame.
Das die ersten Takte aufgeregt-treibende Orchester begleitet in La Traviata den
nun als Solist im Allegro vivace über die jüngsten Geschehnisse repetierenden
Alfred, welcher folgend die Seligkeit seiner Gefühle in einem Andante darstellt.
Erst in der zweiten Szene erfährt der von Glück Verblendete durch Annina von
Violettas Geldnot.
29
Dumas, Die Kameliendame, S. 41
40
Der solistische Beginn bei Piave wird bei Dumas zwar ebenso im Landhaus bei
Paris, jedoch mit einem Dialog zwischen Prudence und Armand eingeleitet.
In folgendem Zwiegespräch vernimmt der junge Mann sogleich die Wahrheit
über Marguerites finanzielle Lage.
Armands sowie Alfreds Naivität und ihre der Realität entrückten Träume, zeigen
sich in beider erzürnten Reaktion auf die eigentlich als Geheimnis geheißene
Tatsache.
Ein jedoch von Armand schon kürzlich getroffenes Vorhaben der finanziellen
Beteiligung durch die Schenkung des Erbes der Mutter, zeigt im Gegensatz zu
Alfred eine gewisse Vorahnung.
Vermittelt uns die Oper das Bild einer abgeschiedenen Zweisamkeit Violettas
und Alfreds, so spiegelt das Sprechstück ein beruhigtes, jedoch weiterhin von
gesellschaftlichen Besuchen der Freunde und Bekannten belebtes Leben wider.
Nichettes und Gustaves Erzählung über die Tatsache der Inakzeptanz dieser
Verbindung wirkt wie ein Vorgriff, wie eine Vorwarnung der folgenden Szenen.
Marguerites erneut sachliche Ansicht über Armands und ihre Situation kommt in
Piaves Libretto nicht zum Ausdruck.
Akt III, dritte Szene
Marguerite. ( ... ) Siehst du Nichette,
es gibt Kapitel im Leben einer Frau, die sich nicht wegstreichen lassen;
und man sollte es vermeiden,
daß (sic!) ein Gatte ihr deswegen Vorwürfe machen könnte.
Wenn ich wollte, Armand würde mich noch morgen heiraten;
aber ich liebe ihn zu sehr,
um ein solches Opfer von ihm zu fordern.30
30
Dumas, Die Kameliendame, S. 47
41
Trotz jener pragmatischen Ansichten, stürzt Marguerite gleich Violetta durch
Monsieur Duvals bzw. Georges Germonts Erscheinen und Forderung in
Verzweiflung.
Im Glauben, den erwarteten Geschäftsmann willkommen zu heißen, empfängt
Marguerite Monsieur Duval, Violetta Georges Germont.
Der in der Oper durch die Baßgruppe begleitete Auftritt Alfreds Vater, erweckt
eine bittere Vorahnung.
Der Zorn Monsieur Duvals über Armands geplante Schenkung bleibt durch die
schon zuvor ausgelassene Schilderung des Vorhabens in La Traviata aus.
Trotz des Vaters Erkenntnis über Marguerites/ Violettas reine Gedanken und
ihre für Armand/ Alfred erbrachten Opfer, überwiegt Egoismus sowie die Angst
vor sozialer Verachtung und lässt den Mann mit der falschen Rechtfertigung
des „wahren Liebesbeweises“ das Unertragbare verlangen.
In Pura siccome un angelo schildert Germont das Schicksal seiner Tochter.
Durch Violettas Unglück soll ihre Zukunft dem Glück gegeben sein.
Ahnend hält Violetta den vernichtenden Worten entgegen, versucht das
Unfassbare
mit
einer
nur
vorläufigen
Trennung
zu
verhindern.
Die
aufkommenden Unruhen der Violinen treiben den Dialog zur Aussprache der
endgültigen Forderung und lassen Violetta nach dem letzten kraftvollen
Aufbäumen in eine bittende, von kurzatmigen Staccato begleitete Verzweiflung
ausbrechen.
Fast zynisch erklingen Germonts antwortende, durch Legato aneinander
gebundene Worte, die Violettas Todesgedanken folgen.
Von innerer Kälte und Selbstsucht getrieben, schildert der Vater Monsieur Duval
eine mögliche zukünftige Haltung seines Sohnes.
42
Akt III, vierte Szene
Duval. Ihre Begegnung ist nicht die Frucht reiner Sympathien,
die Vereinigung zweier unschuldiger Neigungen;
es ist Leidenschaft in ihrer irdischsten und menschlichsten Gestalt,
geboren aus der Laune des einen und der Phantasie des anderen.
Was bleibt davon am Ende, wenn ihr beide älter geworden seid?
Wer sagt Ihnen, ob nicht die ersten Falten auf Ihrer Stirn
den Schleier von seinen Augen ziehen
und ob seine Verzauberung nicht mit Ihrer Jugend schwindet? 31
Unter dem Aspekt der väterlichen Befürchtung sind jene Argumente nicht von
der Hand zu weisen und ruft Zustimmung hervor - nicht jedoch unter dem
aktuellen Aspekt des erbarmungslosen Kampfes um den eigenen Willen.
Duvals Unfähigkeit sowie die Unfähigkeit der Gesellschaft, Vergangenes zu
tolerieren, veranlassen ihn, Marguerite als wertloses Geschöpf zu werten.
Seine fanatische, konventionelle Haltung, macht es unmöglich, die Frau gelöst
von ihrer Vorzeit zu akzeptieren.
Die folgende Regieanweisung unterstreicht jene innerliche Abwehr zu jeglicher
Sympathie für Marguerite.
Akt III, vierte Szene
Duval. (wider Willen bewegt) Armes Geschöpf! 32
Marguerites / Violettas letztendliche Zustimmung zu Duvals / Germonts
Forderung, besiegelt die Gebrochene in einem Brief an den Geliebten.
31
32
Dumas, Die Kameliendame, S. 55
Dumas, Die Kameliendame, S. 56
43
Der Inhalt des Schreibens bleibt dem Zuseher verborgen. Von der
Soloklarinette begleitet, verfasst Violetta die letzten Worte an die als neues
Lebensglück geglaubte Welt.
Gilt das gesprochene Wort als tragendes Hauptelement im Schauspiel, so liegt
die Differenzierung des Verhaltens der Charaktere im Text. Das Musiktheater
verfügt über eine weitere Dimension, welche die tragende Funktion ausübt.
Die Musik ist hier die tiefgründig Vermittelnde und Beschreibende der Seelenund Gefühlszustände.
Erfährt das Publikum zu Beginn des zweiten Aktes durch Violetta von Floras
Einladung zu einem Fest, so wird jene dem Amusement dienende
Veranstaltung bei Dumas erst in der siebten Szene von dem über Violettas
plötzliche Abwesenheit beunruhigten Armand erwähnt. Erneut greift der
Verfasser der Kameliendame in jener Szene auf die Geschichte von Manon
Lescaut zurück.
Der in der Oper auf Alfreds panische Reaktion folgende Auftritt Germonts,
welcher eine der berühmtesten Bariton-Arien, Di Provenza il mar, il suol …,
beinhaltet, ist im Sprechstück in dieser Form nicht vorhanden.
Der dritte Akt der Kameliendame endet mit einem verlassenen, von Wut und
Verzweiflung gepeinigten Armand, dessen Vater erst am Schluss der Szene,
wortlos die Bühne betritt.
Sind Armands letzte Worte des Aktes der dem Vater zugewandte, Hilfe und
Trost suchende Ausruf Ach, Vater, lieber Vater!, so stürmt Alfred mit dem Ziel,
Violetta auf Floras Fest anzutreffen fort.
Der folgende Akt kann in der Oper La Traviata als zweites Bild des zweiten
Aktes sowie als dritter Akt bezeichnet werden. Im Sprechstück entspricht jenes
Geschehen dem vierten Akt.
Durch die erste Szene lässt Dumas den Zuseher in den Spielort eintauchen.
Die oberflächlichen Unterhaltungen der Gäste beim Glücksspiel, an welchem
sich im Gegensatz zur Oper auch weibliche Personen beteiligen, beinhalten
44
gleichermaßen kurze Erwähnungen über die Trennung von Armand und
Marguerite.
In La Traviata bietet der Auftritt des Coro di Zingarelle sowie des Coro di
Mattadori spagnuoli ein kleines Zwischenspiel der Handlung.
In der zweiten Szene des Sprechstücks erscheint Armand, welcher einen Dialog
mit der ebenfalls anwesenden Prudence führt. Der im Stolz zutiefst Verletzte
versucht durch Kühle den Anschein von Desinteresse an Marguerite zu
vermitteln.
Im Gegensatz zur Oper erfährt das Publikum im Sprechstück von Marguerites
jetziger Lebensweise, welche sie in den Tod führen wird.
Akt IV, zweite Szene
Prudence. Übrigens habe ich sie noch nie so gesehen, wie sie jetzt ist;
(…)
Wenn sie so weitermacht, kann es nicht mehr lange dauern. 33
Folgt in La Traviata der dritte Akt zeitlich sogleich auf den zweiten - jene Bilder
sind zu einem Akt zusammengefasst - befindet sich in Dumas Sprechstück ein
Zeitraum von vier Wochen.
Der Versuch Armands, ein Leben ohne Marguerite zu führen und dessen
Erkenntnis der Unmöglichkeit einer solchen Option, schildert der Verzweifelte
seinem Freund Gustave.
Verbirgt die Oper dem Zuseher Alfreds verbales Geständnis seiner seelischen
Depression, so spüren wir dennoch seinen Versuch, die ungebändigten Gefühle
der Enttäuschung durch forderndes Glücksspiel zu ersticken.
An Violettas Seite erscheint Baron Duphol, Marguerite wird von de Varville
begleitet.
33
Dumas, Die Kameliendame, S. 67
45
Die Anwesenheit des Arztes bei Floras Fest könnte sich grundsätzlich auf seine
Erscheinung im letzten Akt auswirken. Wir werden in jenen letzten Szenen
ebenso an die dem Arzt geltenden Worte der Hochachtung denken.
Akt IV, vierte Szene
Arzt. Nein, aber lange kann ich nicht mehr bleiben.
Ich habe einen Patienten, den ich täglich zur selben Stunde besuchen
muß (sic!), und das schon seit einem halben Jahr.
Marguerite. So eine Treue! 34
In dem folgenden Dialog zwischen Marguerite und Armand erfährt der
Zuschauer ein Fragment des Briefes an den jungen Duval.
Marguerite behauptet somit, sie sei die Geliebte eines Anderen.
Piave lässt uns jenen Inhalt eigenständig erahnen.
Betritt Georges Germont nach Violettas Todesstoß die Bühne um den Sohn
zurechtzuweisen, so erscheint Monsieur Duval in jenem Akt nicht.
Arthur de Varville spricht in der Kameliendame die letzten mahnenden Worte.
Die zu Boden gesunkene Violetta Valéry trägt verzeihende Worte in weichem
Legato über die Chorstimmen, Marguerite Gautier hingegen bricht unter jener
Bloßstellung ohne jegliche Kraft für weitere Erläuterung zusammen.
Zu Beginn des fünften und letzten Akts des Sprechstücks kümmert sich der
Freund Gaston liebevoll-fürsorglich um die zu Tode erkrankte Marguerite.
Jener hat die übernächtige Nanine vertreten.
Der vierte Akt der La Traviata hingegen zeigt uns eine verlassene Violetta, an
deren Seite einzig die treue Annina wacht.
34
Dumas, Die Kameliendame, S. 70
46
Der
Arzt
erscheint.
Marguerites
Worte
lassen
uns
an
jene
des
vorangegangenen Aktes denken, als sie die eigene bittere Zukunft noch als weit
entfernt hoffte.
Akt V, zweite Szene
Marguerite. Der gute Dokter! Seine erste Visite gilt immer mir. 35
Im Gegensatz zu Violetta, welche der Versicherung einer baldigen Genesung
des Arztes ihren letzten hoffenden Glauben schenkt, beurteilt Marguerite ihre
Situation mit einem klaren Wissen um den nahenden Tod.
Akt V, dritte Szene
Marguerite. ( … ) Als Gott die Lüge eine Sünde nannte,
hat er für den Arzt eine Ausnahme gemacht
und hat ihm die Erlaubnis gegeben,
täglich so oft zu lügen, wie er Kranke besucht. 36
Die temporäre Festlegung setzt Alexandre Dumas auf den ersten Januar,
Francesco Maria Piave hingegen verlegt Violettas letzte Stunden in die Zeit des
Karnevals.
Freunde der Vergangenheit lassen Marguerite Geschenke schicken, die
Kameliendame der La Traviata ist von jener Welt gnadenlos abgeschnitten.
Doch nicht einzig aufmerksame Wünsche, auch berechnende Bekanntschaften
jener Vorzeit erscheinen in Dumas Sprechstück.
Die Güte Marguerites macht sich die um Geld bittende Prudence zunutze.
35
36
Dumas, Die Kameliendame, S. 80
Dumas, Die Kameliendame, S. 81
47
Akt V, fünfte Szene
Marguerite. Wieviel ist noch drin?
Prudence. Fünfhundert Francs.
Marguerite. Also, dann nehmen Sie nur die zweihundert Francs,
die Sie brauchen.
(…)
Nanine. Sie ist doch wieder wegen Geld gekommen?
Marguerite. Ja. 37
Auch in der Oper gibt die barmherzige Violetta ihr letztes Geld den Armen.
Nach der Monsieur Duvals Brief wiedergebenden Rezitation Marguerites sowie
dem erzählenden Parlando Violettas, erscheint der lang ersehnte Armand/
Alfred.
Die Kraft schöpfende Violetta glaubt an eine gemeinsame Zukunft, an die
Besiegung des wartenden Todes. Auch Marguerite klammert sich für Sekunden
an neue Hoffnung -
das unaufhaltsame Ende, welches Violetta weiter
verdrängt, tritt jedoch sogleich erneut in ihr Bewusstsein.
37
Dumas, Die Kameliendame, S. 83
48
Akt V, achte Szene
Marguerite. ( … ) Früher oder später
muß (sic!) die menschliche Kreatur an dem sterben,
wovon sie gelebt hat.
(…)
Marguerite. ( … ) Eben bin ich für einen Augenblick zornig gewesen
gegen den Tod;
das bereue ich jetzt;
er ist notwendig, und ich liebe ihn,
denn er hat ja gewartet mit seinem Zugriff. 38
Monsieur Duval bittet einzig in seinem Schreiben um Vergebung, Georges
Germont hingegen erscheint nach Alfred an Violettas Seite.
Marguerite Gautier stirbt im Kreise der noch heran eilenden, frisch vermählten
Freunde Nichette und Gustave, Nanine und Armand.
Violetta Valéry weiß Alfred, Georges Germont, Annina und den Arzt als Begleiter
ihrer letzten Atemzüge.
38
Dumas, Die Kameliendame, S. 87 f.
49
Konzept Bühne
Anders als im Libretto festgelegt, verzichte ich auf die lokalen Bestimmungen
der einzelnen Akte bzw. zugeteilten Schauplätze der einzelnen Szenen.
Ein monumentales Treppenelement verwandelt den Raum fortwährend durch
die Möglichkeit einer Drehscheibe, welche aus zwei unabhängig voneinander
steuerbaren Elementen - Kernscheibe sowie Außenring - besteht.
Skalpellscharfe, dem Verlauf der Scheibenteilung angepasste Schnitte zerlegen
jenes Element in vier unterschiedliche Bruchstücke.
Die Treppe, die sich in einem Schwung um eine gedachte Vertikalachse windet,
scheint mit dem Bühnenraum verwachsen zu sein.
Ein sich in die Höhe windender, konischer Verlauf verringert die Stufenbreiten
immerzu. Unterschiedliche Höhen sowie Tiefen der Trittflächen strukturieren
den Verlauf.
Schmale, kaum dem Fuß Platz bietende und zum Weiterlaufen drängende
Streifen, ausgedehnte Ebenen, mit einem Schritt schwer überwindbare
Höhendistanzen sowie geringe, fast unmerkliche Unterschiede bauen die
Treppe auf.
Ein jäher Abbruch des Treppenverlaufs lässt vor einer einem Abgrund gleichen
Kante innehalten.
Das durch und durch gläserne Gebilde wird von einem schwarzen Sockel
getragen.
Die harte Oberfläche ist kalt und abweisend, wirkt jedoch zugleich zerbrechlich.
Jegliche
Lichtschattierungen
werden
aufgenommen
und
glühend
wiedergegeben.
Im unteren Teil überzieht eine schwarze Lackschicht die Ebenen und bildet eine
amorphe Oberfläche. Diese dient einmal als Sitz- und Liegemöglichkeit, einmal
lässt sie an achtlos gelagerte Leichensäcke erinnern.
50
Die Treppe, jene „Lebensspirale“ Violettas, wird
von
zwei keilförmig
zusammenlaufenden Wandsystemen eingeschlossen und lässt somit die Flucht
aus dieser Umgebung zur Unmöglichkeit werden. Bedrohlich fallen die in ihrer
Neigung unterschiedlichen Oberkanten ab.
Einmal finden sich die Personen vor einer abweisenden Wand, welche
schonungslos ihren Bewegungsraum reflektiert. Ein harter Spiegel wirft das Bild
jener Welt in den Raum zurück.
Dann wiederum wird die Wand zu einer erbarmungslosen Grenze, welche dem
Blick das „Erfassen“ des dahinter liegenden Bereichs gewährt. Gleich Schatten
erscheinen die Gestalten in verschiedenen Ebenen – beobachtend, vorbei
eilend, isoliert oder als bedrohliche Masse.
Auch als dunkle, abweisende Mauer kann die Wand im Raum stehen – sie rückt
somit in den Hintergrund, verschwindet ins Unmerkliche.
Der dahinter liegende Wandaufbau nimmt die Farbstimmungen auf und
reflektiert sie.
Wie ein schillernder Keil wächst er über die vordere Wand hinaus.
Getrieben, suchend und flüchtend – Unzufriedenheit, Einsamkeit und Angst
jagen Violetta Valéry in ein rauschhaftes Leben der Oberflächlichkeit und
Verdrängung.
Jeder Einzelne ihrer Gesellschaft ist Bestandteil einer gesichtslosen Masse, die
sich den Gesetzen von Reichtum und Äußerlichkeiten ergibt. Für Individuen
wird kein Platz geboten.
Gleich dem Treppenaufbau, welcher sich von der erdrückenden, an die
ständige Gegenwart des Todes erinnernden Schicht zu befreien und ihr zu
entwachsen sucht, weckt die Begegnung mit Alfred in Violetta den Glauben an
eine Chance der Abwendung von jener Umgebung.
Das seit jeher entbehrte Gefühl von Geborgenheit und Liebe sucht die
Verzweifelte nun in der Verbindung zu jenem Mann, welcher in Violetta
einerseits durch den „Exotismus einer fremden Welt“ und andererseits durch
das Verlangen einer Rebellion gegen das Elternhaus angezogen wird, zu
finden.
51
Konzept Kostüm
Chor
Baron Duphol
Gaston, Vicomte von Letorière / Marquis d'Obigny /
ein Diener Floras / Doktor Grenvil ( Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild)
Akt I sowie Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild
Hauteng legt sich das hochglänzend-schwarze Material an den Körper.
Die Personen scheinen ein Teil der die Treppe befallenden Schicht zu sein – die
von
der
glamourösen
Welt
Abhängigen
sind
wie
Gefangene
ihres
Lebensrausches. Teilweise aufgebrochene Stellen des Gewandes legen Haut
frei, glänzende aus dem Inneren herausbrechende Steine und Kristalle sowie
dunkle Arabesken bedecken die Glieder, entfremden die gesichtslosen Häupter
noch mehr. Individuen finden keinen Platz in jener Welt – die Physiognomie
lässt keine Identifizierung Einzelner zu.
Nackte Haut und maßloses Verlangen nach Reichtum verschmelzen zu einer
den gesellschaftlichen Niedergang verkörpernden und somit dem Tod
geweihten Masse, welche sich zu einem Gebilde abgestorbener wie in
Leichensäcke gehüllte Körper verwandeln kann.
Violetta Valéry
Akt I
Über und über ist Violettas Körper mit Steinen besetzt. Die vom Tod Verfolgte
dominiert die dem Untergang geweihte Welt und hebt sich schimmerndglänzend heraus.
Gleich der Treppe nimmt Traviata die Lichtstimmungen der schnelllebigen,
oberflächlichen Umgebung auf und gibt sie schillernd wieder.
Einschnürend legt sich das Oberteil über den Brustkorb, fließend fällt der
gläsern-transparente Stoff zu Boden.
52
Flora Bervoix
Akt I
Wie auf einer Zwischenstufe von Violetta und der Masse bewegt sich Flora im
Raum.
Alfred Germont
Akt I
Unscheinbar versucht sich Alfred der Gesellschaft anzupassen.
Fasziniert und mitgerissen von jener „verbotenen Welt“ bleibt er kaum auffallend
im Hintergrund - beobachtend, bewundernd, fremd.
Violetta Valéry
Akt II
Den Versuch, die Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen, bekräftigt
Violetta durch die optische Veränderung. So verstärkt sie den Wunsch einer
„seriösen“ Welt anzugehören und mit dem Gewesenen zu brechen mit ihrer
äußeren Erscheinung.
Sie unterstreicht die Situation des von ihr nun als gefunden geglaubten
Lebensglückes zusätzlich und trägt ihre vorübergehende Seligkeit nach außen.
Alfred Germont
Akt II
Die Errungenschaft aus der faszinierend-exotischen Welt lässt Alfred stolz seine
als unzerstörbar scheinende Lebenssituation genießen.
Farblich an Violetta angepasst fühlt sich der junge Mann irrtümlich wie ein Teil
von ihr, mit ihr verbunden - als Retter, Eroberer, Verstehender.
53
Georges Germont
Akt II sowie Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild sowie Akt IV / bzw. Akt III
Erstarrt in Regeln und Konventionen - auch Germont ein Gefangener.
Getrieben von der inneren Besessenheit einer mustergültigen Welt, zieht er in
einen alleinigen Kampf gegen die in seinen Augen herrschende Sittenwidrigkeit.
Annina
Akt II sowie Akt IV / bzw. Akt III
Wie eine Vorbotin gleicht sie den abweisenden, isolierten Gestalten des vierten
Aktes, in welchem auch sie ohne Individualität erscheinen wird.
Violetta Valéry
Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild
Als Gebrochene kehrt Violetta in die unveränderte Vergangenheit zurück.
Ihre Position ist neu besetzt - wie eine Fremde findet sie sich in der alten Welt
wieder.An dem Versuch der Rückkehr und eines erneuten Anpassens scheitert
die Verzweifelte.
Violetta erscheint ganz in Rot gekleidet – kämpfend und kraftvoll jedoch einzig
die äußere Erscheinung - mühsam trägt sie den schweren Stoff an ihrem
Körper.
Funkelnde Steine, glänzende Kristalle, im Licht changierende, den Körper
verführerisch einhüllende Stoffe sind Teil einer Welt, die für Violetta nicht mehr
zu ertragen ist.
54
Flora Bervoix
Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild
Sie hat Violettas Stelle eingenommen.
Alfred Germont
Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild sowie Akt IV / bzw. Akt III
Wutentbrannt, in seinem Stolz verletzt und zutiefst gekränkt taucht Alfred erneut
in die für ihn ursprünglich das ungewisse Abenteuer verkörpernde Welt ein.
Offensichtlich demonstriert er diesmal seine Abneigung gegenüber der ihm
„Violetta raubenden“ Gesellschaft.
War sein Versuch zu Beginn sich möglichst anzupassen, erscheint er nun in
einem farblichen Kontrast – sich seiner Herkunft offen bekennend, dem Vater
unterordnend, zieht Alfred in seinen vernichtenden Rachefeldzug.
Sein durch Violetta an seiner Seite neu-errungenes Selbstbewusstsein wird zu
ihrem Todesstoß.
Violetta Valéry
Akt IV / bzw. Akt III
Langsam entkleidet sich Violetta, befreit sich von der schweren Last.
Einzig das Untergewand bleibt ihr.
Im Tod erst wird sie die endgültige Befreiung und Erlösung finden.
Chor
Akt IV / bzw. Akt III
Leblos ist Violettas Umfeld.
Die farblosen Personen, welche in der Welt des nächtlichen Rausches Violetta
umgaben, treten nun teilnahmslos der Sterbenden gegenüber.
55
Konzept im Ablauf
Vorspiel / Preludio
Der Blick ist nicht auf die Bühne freigegeben.
Ein dunkler Schleier bedeckt den Portalausschnitt, sodass einzig feine Konturen
des dahinter Liegenden zu erahnen sind.
Allein die Musik erfüllt den Raum.
Kraftvoll erklingen die einleitenden Takte des ersten Aktes.
Der Schleier fällt und wird rasch weggezogen.
Die in rotes Licht getauchte Bühne entfaltet sich vor dem Publikum.
Akt I
Wie eine Showtreppe glüht das Glasgebilde im Licht. Ein Festgelage
versammelt die Gesellschaft, welche sich auf und um das Torsionselement
drängt. Die gesichtslose Menge scheint wie ein Teil der erdrückenden
schwarzen Schicht - als wären sie zu einer Masse verschmolzen.
Einzig Violetta betritt die oberen Flächen der Stufen, welche sich empor
windend zu befreien suchen.
Ihr wird Alfred vorgestellt.
Violettas Position in dieser ihn magisch anziehenden Gesellschaft „der
Verruchten“ sowie die damit verbundene Distanzierung und Rebellion gegen
den Vater lassen Alfred in einem Moment abseits der Gesellschaft seine
vermeintliche „Liebe“ gestehen.
Eine Kamelie soll, wenn diese verwelkt ist, einen weiteren Besuch erlauben.
Die allein zurückgebliebene Violetta versinkt in Gedanken.
Die Hoffnung auf eine Geborgenheit und Sicherheit schenkende Umgebung ist
erweckt.
56
Die Angst lässt sie jedoch erneut in ihr schillerndes, ablenkendes Leben
flüchten.
Akt II
Die Form der Treppe hat eine neue Gestalt angenommen.
Es wurde versucht, die durch die Bewegung in Fragmente zerteilte Treppe zu
verbergen, aus dem Leben zu verdrängen. Dennoch scheint es unmöglich, die
scharf durchschnittenen Formen in Vergessenheit geraten zu lassen.
Das mittlere Treppenfragment ist abgesenkt und hinterlässt einen weitflächigleeren Ort. Wie ein gefährlicher Schlund liegt die entstandene Öffnung, ein
steter Abgrund, im Raum.
Violetta hat durch die Verbindung zu Alfred neue Sicherheit gefunden.
Selbst die ständige Anwesenheit des bevorstehenden Todes ist vergessen.
Teuer erkauft sie sich dieses neue Leben.
Als der naive, liebestrunkene Alfred von Violettas Kostenaufwand erfährt, eilt er
fort um eine Möglichkeit zu finden, selbst seiner weiblichen Errungenschaft zur
Seite zu stehen.
In der Zeit Alfreds Abwesenheit erscheint dessen Vater, Georges Germont.
Für den ebenso Regeln und Gesetzen oberflächlichen Ansehens und
Äußerlichkeiten unterlegenen Germont, ein in Konventionen gefangener Mann,
gilt der momentane Lebenszustand seines Sohnes mit Violetta als schändlich.
Er fordert von ihr, Alfred zu verlassen.
Für Violetta bedeutet dieses Verlangen den Zusammenbruch ihres neuen
Lebens, ihrer neuen Welt.
All ihre nun als erfüllt geglaubten Sehnsüchte, das Vergessen des ständigen
Begleiters Tod, die Wärme und Geborgenheit fallen in Scherben vor ihr zu
Boden.
Die wieder Suchende will sich in ihr vorheriges Leben flüchten, den Schmerz
über das Verlorene im alten Rausch des schillernden Nachtlebens ertränken.
57
Alfred glaubt an ihre Abhängigkeit von jener Vergangenheit und an den Verrat
an seiner Liebe.
Der Vater vermag es nicht, den Sohn zu beruhigen. Wutentbrannt stürmt Alfred
zu Floras Fest um Violetta zu finden.
Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild
Die
Kameliendame findet sich
erneut an
dem verdrängten
Ort
der
Vergangenheit. Nur die Perspektive hat sich transformiert.
Violettas Abwesenheit hat nichts verändert, einzig ihre Position wurde von Flora
eingenommen.
An der Seite von Baron Duphol kehrt die Heimatlose zurück.
Auf die Szene der Zigeunerinnen und Stierkämpfer möchte ich verzichten, da
diese Einlagen nach meinem Empfinden in die sich jagenden Geschehnisse
einfallen, den Handlungsstrang unterbrechen.
Als Alfred erscheint ist es Violetta kaum möglich, die auswegslose Situation
ihrer Gefühle zu ertragen.
Sie drängt ihn zu gehen, da sein Leben auf Grund der Anwesenheit Duphols in
Gefahr ist.
Als dieser nur mit ihr den Ort zu verlassen gedenkt und nach ihrer Liebe zu dem
Baron fragt, antwortet Violetta um seines Schutzes willen zustimmend.
Von Eifersucht getrieben ruft Alfred die Menge herbei und erniedrigt Violetta, in
dem er ihr das soeben beim Spiel gewonnene Geld als Entschädigung ihrer
„Liebesdienste” vor die Füße wirft.
Er wagt es, die weiter oben liegenden Flächen des Glasgebildes zu betreten, in
Violettas Bereich vorzudringen.
Die Treppe setzt sich in Bewegung und bricht auseinander. Verwelkte Kamelien
ergießen sich aus dem Inneren des Sockels über die Bodenfläche.
Violetta bricht zusammen.
58
Georges Germont, welcher die empörte Reaktion der Gesellschaft auf Alfreds
Tat nicht zur Last des Rufs seiner Familie werden lassen möchte, weist diesen
zurecht.
Baron Duphol fordert den Reue fühlenden Alfred zum Duell.
Akt IV / bzw. Akt III
Der Übergang erfolgt fließend.
Alleine findet sich Violetta an dem Ort der Bloßstellung zurück. Langsam setzen
sich die Treppenfragmente in Bewegung.
Verlassen, den Tod fühlend irrt Violetta durch die zerstörte Umgebung ihres
Lebens. Wahnvorstellungen jagen Visionen und lassen die Verzweifelte nicht
zur Ruhe kommen.
Immerfort sind die Treppenfragmente in Bewegung – kaum merklich schieben
sie sich in ständig wechselnde Positionen. Der Raum ist in ein fahles, kühles
Licht getaucht – tot, fast farblos.
Gestalten erscheinen. Es sind jene Personen, die einst ein Teil Violettas
rauschender Welt waren. Für die von ihrem Nachtleben isolierten Menschen hat
Violetta Valéry keine Bedeutung.
Kühl-abweisend scheinen sie die Sterbende nicht wahrzunehmen.
Alleine irrt die vom Weg Abgekommene zwischen den zerstörten Zeugen ihrer
gescheiterten Suche nach Erfüllung durch die endzeitliche Landschaft.
Unzählige Personen bewegen sich im Raum, lassen ihre Umrisse durch die
Wand erkennen.
Teilnahmslos zerstreuen sich die isolierten Erscheinungen, welche sich nun von
ihrer anderen Seite, fernab des Nachtlebens, zu erkennen geben.
Regungslos
lassen
sie
einen
verzweifelten,
sich
in
letzte
rettende
Wahnvorstellungen flüchtenden Menschen in ihrer Mitte sterben.
Verloren fällt Violetta in die vom Leben erlösenden Arme des Todes.
59
Quellenangaben
Literaturverzeichnis
Budden, Julian: Entstehungsgeschichte der Oper. Online-Publikation.
URL:http://www.opernair.at/downloads/geschichte.pdf. Stand: 02.10.2011.
Dumas fils, Alexandre: Die Kameliendame. Schauspiel in fünf Akten.
Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 1974.
Kloiber, Rudolf / Konold, Wulf / Maschka, Robert: Handbuch der Oper.
11.Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG 2006.
Schwandt, Christoph: Verdi. Eine Biographie.
Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2000.
Werfel, Franz: Verdi. Roman der Oper.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1976.
Klavierauszug
Verdi, Giuseppe: La Traviata. Oper in drei Akten.
Kassel: Bärenreiter-Verlag, 1961.
Diskografie
Giuseppe Verdi, La Traviata.
National Philharmonic Orchestra, Richard Bonynge.Audio-CD.
London: DECCA 1981.
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