La Traviata Giuseppe Verdi Libretto Francesco Maria Piave Künstlerische Diplomarbeit von Sandrina Schwarz Eingereicht an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz Institut 11 Bühnengestaltung Künstlerischer Betreuer: O.Univ.Prof. Hans Schavernoch Wissenschaftlicher Betreuer: Ao. Univ. Prof. Mag.phil. Dr.phil. Ernst Hötzl Vorgelegt im März 2012 Abstract Die Entwicklung eines Konzepts, basierend auf der persönlichen Interpretation sowie die gestalterische Umsetzung der Bühne und des Kostüms für Giuseppe Verdis Oper La Traviata bilden den Hauptteil der künstlerischen Diplomarbeit. In einem wissenschaftlichen Teil möchte ich Einblick in das Leben des Komponisten sowie in die Entstehungsgeschichte von La Traviata geben. Weiters wird die Oper dem zugrunde liegenden Schauspiel Die Kameliendame von Alexandre Dumas fils gegenübergestellt und vergleichend behandelt. The main part of the artistic diploma thesis consists of the development of a conception, based on a personal interpretation and the stage and costume design for the opera La Traviata, composed by Giuseppe Verdi. The second part contains a written examination of Giuseppe Verdi’s life, the facts concerning La Traviata and the opera in comparison with the play Die Kameliendame, written by Alexandre Dumas fils. 2 Inhaltsverzeichnis Einleitung S.4 Giuseppe Verdi S. 5 Die neue Hoffnung Italiens S. 5 Erste große Erfolge S. 7 Internationale Entwicklungen S. 9 La trilogia popolare S. 11 Komponist und Politiker S. 14 Pariser Durchbruch S. 18 Die beiden letzten Opern S. 22 Trauer einer Nation S. 26 Entstehungsgeschichte La Traviata S. 28 Reflexion über Oper und Schauspiel S. 31 Konzept Bühne S. 50 Konzept Kostüm S. 52 Konzept im Ablauf S. 56 Quellenangaben S. 60 3 Einleitung „Warum schreiben wir alle Opern in Kostümen, die in unwahren Zeiten spielen, unwahre Gefühle vorspiegeln oder gar romantische Reflexionen? … Sollte man nicht eine Oper schreiben, wo statt einer falsettierenden Eule im Trikot dieser schmutzige Heizer vorkäme, der im Abstand den anderen nachtrottet? Wäre das nicht ein Melodram, stärker, neuer als alle Siegfriede und Nibelungen? Ach, was für leere Einfälle mich den ganzen Tag belästigen!“ 1 „ ( … ) Einsamkeit und Studium: dies mein Leben!“ Verdi an den Bildhauer Luccardi, 1850 2 Die Geschichte einer Frau, einer Heimatlosen, deren Suche nach Geborgenheit und Glück in bitterer Einsamkeit endet, erweckt Verdi durch seine unvergleichbare Musik zum Leben. Die auf einer wahren Begebenheit basierende Erzählung zeigt den Kampf einer verzweifelten Seele gegen die harte Verurteilung einer kühlen, berechnenden Gesellschaft. Nicht die Liebesbeziehung steht im Mittelpunkt des Schicksals Violetta Valérys. Das Scheitern an strukturierten Konventionen besiegelt das tragische Leben der Kameliendame. La Traviata ist für mich die beste Wiedergabe eines Gesellschaftssystems ohne Bezug auf das Gegenüber. Kalt und berechnend liegt einzig die eigene Befriedigung im Vordergrund und verursacht somit oftmals das Scheitern Anderer. Der Bezug zueinander ist nicht existent. 1 2 Werfel, Verdi, S. 114 Werfel, Verdi, S. 85 4 Giuseppe Verdi Die neue Hoffnung Italiens Joseph Fortunin Francois Verdi kam am 9. oder 10. Oktober 1813 als Sohn des Gastwirts Carlo Verdi und dessen Gemahlin Luigia in dem Dorf Le Roncole, einem damaligen Besatzungsgebiet Napoleons im „Département Taro“, zur Welt. Le Roncole liegt heute in der italienischen Provinz Parma, Region Emilia Romagna, und trägt den Namen „Le Roncole Verdi“. Am 22. Mai desselben Jahres wurde im 743 km entfernten Leipzig ein weiteres Kind namens Richard Wagner geboren, das der Musikwelt gleichermaßen neue Dimensionen eröffnen sollte. Neun Tage nach Guiseppe Verdis Geburt brach am 19. Oktober 1813 die „Völkerschlacht bei Leipzig“ aus und forderte Bonapartes Rückzug. Als weitere Folge fiel beim Wiener Kongress die Entscheidung, Parma wieder an das Kaiserreich Österreich anzugliedern. An der westlichen Grenze lag das Königreich Sardinien-Piemont, welches Vittorio Emanuele I. regierte. Von Rom aus herrschte Papst Pius VII. über den bis Ferrara reichenden und einen großen Teil der Adriaküste einschließenden Kirchenstaat. Für das Volk Italiens galt in dieser Zeit der politischen Zerissenheit die Kultur, ihre architektonischen, bildnerischen sowie musikalischen und literarischen Errungenschaften, als Symbol des Zusammenhalts. Die lokale Ungebundenheit der Musik machte sie zu einem der wichtigsten Bestandteile dieses national- verbindenden Gedankenguts. Musikalische Aktivitäten des Elternhauses und die dadurch früh entstehende Prägung, welche den weiteren Lebens- und Schaffensweg vieler Komponisten einleitete, trafen nicht auf Verdis familiären Hintergrund zu. Giuseppe Verdis 5 musikalische Begabung wurde jedoch von dem Dorforganisten Pietro Baistrocchi, dessen Stelle er im Alter von zehn Jahren nach dessen Tod 1823 übernahm, erkannt und gefördert. Weiteren Musik- und Kompositionsunterricht erhielt er nach Eintritt in das Gymnasium von Busseto bei dessen „maestro di musica“ Ferdinando Provesi. Als Schützling des wohlhabenden Kaufmanns Antonio Barezzi bemühte sich Verdi um einen Platz am milanesischen Konservatorium. Trotz einer Absage konnte der nun 19-jährige 1823 dank eines Stipendiums der Stadt Busseto nach Mailand übersiedeln und nahm Privatunterricht bei Vincenzo Lavigna. Nach seiner Tätigkeit als chorleitender „maestro al cembalo“ einer Konzertgesellschaft kehrte er im Februar 1836 mit dem eindeutigen Drang zum Komponieren und nicht zur Tätigkeit eines fremde Werke interpretierenden Musikers nach Busetto zurück. Er erhielt die Stelle als „maestro“, dessen Aufgabenbereich die „weltliche Musik“ betraf. Giovanni Ferrari galt als Zuständiger der Kirchenmusik. 1836 heiratete Giuseppe Verdi Margherita Barezzi, die Tochter seines Ziehvaters, welche im folgenden Jahr ein Mädchen gebar. Im Jahr der Hochzeit komponierte Verdi seine erste Oper namens Il Duca di Rochester, die jedoch unaufgeführt blieb. Das Libretto verfasste Antonio Piazza. Nach dem Tod des ersten Kindes Virginia und der Geburt des zweiten Kindes Icilio beschloss die junge, durch den Kindesverlust überschattete Familie, von dem Wunsch der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit getrieben, nach Mailand zu gehen. Verdis erste in Druck gehende Komposition war ein Werk, das sechs Lieder für eine Singstimme und Klavier umfasste und von dem Mailänder Verleger Canti veröffentlicht wurde. Inzwischen hatten sich revolutionäre Strömungen von Vittorio Emanueles Herrschaftsgebiet Sardinien-Piemont aus entwickelt. 6 Die Österreicher versuchten, die lombardischen Bürger und den Adel bei Laune zu halten, nicht zuletzt mit der Oper am Teatro alla Scala.3 So beauftragte der Impresario Bartolomeo Merelli, der sich ebenso künstlerischer Leiter des Kärntnertortheaters in Wien nennen durfte, Giuseppe Verdi mit der Neukomposition einer Oper, die den Namen Oberto, Conte di San Bonifacio trug und 1839 uraufgeführt wurde. Giulio Ricordi, jener Verleger, der in Zukunft unzählige Werke des Komponisten herausgeben sollte, erstand nach Obertos Erfolg die Rechte. Merelli schloss mit Verdi einen Vertrag über drei weitere Opernkompositionen ab. Die neue Hoffnung Italiens war geboren. Der nächste Auftrag galt einer Buffo-Oper. Zeitgleich mit der Entstehung von Un giorno di regno verstarb die schwer erkrankte Margherita und folgte ihrem Sohn Icilio, welcher im Uraufführungsjahr Obertos von der jungen Familie gegangen war. Barezzis bestärkender Beistand zur Fertigstellung des Werks ließ Verdi trotz dieser schweren Schicksalsschläge die Oper beenden. Un giorno di regno fiel jedoch durch. Erste große Erfolge Opern galten zu jener Zeit nicht als geschlossenes, hermetisches Werk, sondern wurden aufgrund verschiedener Wünsche von Seiten der Veranstalter sowie Leistungsfähigkeiten der Sänger umgeschrieben. Diese nach der Uraufführung oft unaufhaltbar eintretenden Entwicklungen betrafen viele Werke des Komponisten, ebenso den Oberto. Als ein erfolgreicher Zeitgenosse Verdis galt Otto Nicolai. Dieser wies ein ihm von Merelli angebotenes Libretto, welches aus der Feder Temistocle Soleras stammte, zurück und erreichte dadurch unbewusst Verdis Rückkehr zum 3 Schwandt, Verdi, S.24 7 Komponieren, dem er nach den erlittenen, schmerzlichen Schicksalsschlägen völlig entsagt hatte. So feierte im Jahre 1842 eines der bedeutendsten Werke Verdis einen bahnbrechenden Erfolg – Nabucodonosor, Nabucco war geboren. Der Chor der hebräischen Sklaven wurde bald zur geheimen Erkennungsmelodie eines noch nicht existierenden, auf verschiedenen politischen Gedanken basierenden Staats. Diese Entwicklung darf man jedoch nicht als Verdis angestrebte Absicht werten. Es entstand eine neue Freundschaft zwischen der Sängerin Giuseppina Strepponi und dem Komponisten Verdi – diese sollte noch weiter wachsen. Verdis neue Komposition der Oper I Lombardi, welche durch die lokale Festlegung des zweiten und vierten Aktes auf reale Orte in und um Mailand einen direkten volksnahen Bezug aufbaute, feierte den nächsten Erfolg. Diese Oper sollte vier Jahre später ihren Weg bis in die Vereinigten Staaten finden. Verdi galt nun als der Komponist seiner Zeit und erweckte dadurch die Aufmerksamkeit des Direktors des La Fenice, Graf Alvise Mocenigo, der ihn mit einer neuen Oper für sein Theater beauftragte. Als Verfasser des Textes wurde Francesco Maria Piave, der dortige Hauslibrettist, verpflichtet. Als erstes gemeinsames Werk der beiden Männer, deren Zusammenarbeit von gegenseitiger Ergänzung und Inspiration geprägt war und die durchaus mit jener Mozarts und da Pontes verglichen werden kann, sollte die Oper Ernani entstehen. Bei der Uraufführung 1844 erlebte das Publikum in Oronte das erste Mal einen Typus, welcher in den weiteren Opern Verdis wiederkehren und von großer Bedeutung sein sollte - der an eigenen Ansprüchen und Idealen scheiternde Liebhaber4. Auf den großen Erfolg des Werkes folgten die von Verdi selbst in einem Brief an Clara Maffei 1858 bezeichneten „anni di galera“. Verdi empfand nämlich die 4 Schwandt, Verdi, S. 46 8 nächsten Jahre als Zeit beschränkter Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung. Die drastische Schilderung dieser „Sklavenjahre“ muss jedoch mit Abstand zu der schwerwiegenden Interpretation Verdis betrachtet werden, da allein die Ernennung zum Gutsbesitzer 1851 von positiven Aspekten jener Arbeit zeugt. Die zweite Oper, welche die Ernte der gemeinsamen Arbeit Piaves und Verdis noch im selben Jahr des Ernani werden sollte, war die für das römische Teatro Argentina komponierte Oper I due Foscari. Die Uraufführung der Giovanna d'Arco an der Mailänder Scala war ein weiteres Auftragswerk Merellis, dessen Verwirklichung jedoch trotz großem Erfolg zunächst schwerwiegende Folgen haben sollte. Die Überforderung der Sänger sowie der Leistungsdruck, der in der Probenzeit ausgeübt wurde, veranlassten Giuseppe Verdi, mit dem Opernhaus zu brechen und ließ den Komponisten den Entschluss fassen, von nun an nie wieder ein Werk für die Scala zu verfassen. Diese Entscheidung war jedoch später nicht mehr von Bedeutung. Internationale Entwicklungen Galten das La Fenice sowie die Mailänder Scala als eigenständig geführte Opernhäuser, unterstand die Opera San Carlo in Neapel dem königlichen Hof. Der Impresario dieses Theaters, Vincenzo Flauto, beauftragte Verdi mit der Opernkomposition von Alzira und ermöglichte somit dem Erfolg des Komponisten den Einzug in den Süden Italiens. Das durch die Aristokratie konservativ geprägte, neapolitanische Publikum bejubelte Verdis Werk bei dessen Uraufführung im Jahre 1845. Trotz des exotischen Themas der in Peru situierten Geschichte, verfiel Verdi keiner „fremdartigen“ Melodienführung, welche in jener Zeit als äußerst modern galt. Er hielt die Treue zu der italienischen Kultur, was in diesem Fall jedoch 9 nicht als eine das Werk konstruktiv unterstützende Entscheidung gedeutet werden darf. Verdi erstand den Palazzo Cavalli in Busseto und demonstrierte dadurch seinen erlangten Wohlstand und Erfolg, der bereits weit über die italienischen Grenzen hinausreichte. Das Vertragsbündnis zwischen dem namhaften Komponisten und dem Verleger Ricordi bedeutete eine fixe Einnahmequelle beider Seiten. Der französische Verleger Léon Escudier erwarb die Rechte aller Opern, die auf französischen Opernbühnen dargebracht wurden sowie in Zukunft dargebracht werden würden. Verdis neue Oper Attila, dessen Libretto ursprünglich Solera verfasst hatte, ein plötzlicher Umzug des Textbuchverfassers nach Madrid jedoch die Fertigstellung in die Hände Piaves fallen ließ, wurde 1846 uraufgeführt. Eine seit der Arbeit an Alzira immer wiederkehrende Magenkrankheit veranlasste den Komponisten im selben Jahr eine Kur zu absolvieren und weitere Aufträge für Frankreich und England vorerst auf Eis zu legen. Sämtliche Themenvorlagen bereits komponierter Opern Verdis entstammen der Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Eine Shakespeare-Tragödie als Vorlage für die nächste Komposition war jedoch nicht der einzige Aspekt einer Neuorientierung. Auch der Wunsch nach phantastischen Geschehnissen auf der Bühne, welche die technischen Möglichkeiten fordern – Webers Freischütz galt als inspirierendes Vorbild– unterschied Macbeth von den bisherigen Werken Verdis. So wurde die Szene der „Phantasmagorie“ mit Hilfe der laterna-magicaProjektionen sowie bühnenmaschinellen Einsätzen gestaltet. Verdi, der ebenso die Tätigkeit der Regie ausübte – die eigenständige Berufsbezeichnung des Regisseurs wird sich erst in späterer Zeit entwickeln – forderte bei diesem Werk die Solisten und die Damen und Herren des Chores auf besondere Art. Hierbei lassen sich Ähnlichkeiten zur Arbeitsweise des mit Verdi doch so unvergleichlichen Richard Wagner kaum leugnen. Macbeth feierte 1847 seine Uraufführung in Florenz. Im selben Jahr reiste Giuseppe Verdi nach England, wo die Premiere seines neuen Werks 10 Die Räuber am Haymarket-Theatre stattfand. Die Oper galt jedoch mehr als gesellschaftliches Ereignis – die Illustrated London News betonten die „große Überlegenheit des Librettos über das jeder anderen Oper, die Verdi geschrieben hat“.5 Verdi fasste den Entschluss, für längere Zeit nach Frankreich zu übersiedeln. Zusammen mit Giuseppina Strepponi, mit welcher Verdi nun ein immer ernster zu nehmendes Verhältnis führte, bezog er eine Wohnung in Paris. Die Anpassung der I Lombardi an die Gepflogenheiten französischer Opernwerke führte zu Änderungen in Musik und Handlung sowie des Titels. Das Werk sollte nun den Namen Jérusalem tragen. la trilogia popolare Venedig wurde Republik. Während dieser Zeit hielt sich Giuseppe Verdi erneut in Paris auf, ließ seine Einstellung jedoch in einem Brief an den der venezianischen Nationalgarde angehörenden Piave zum Ausdruck kommen: Ehre ganz Italien, das in diesem Augenblick wahrhaft groß ist!…Italien wird frei, eines, republikanisch sein…6 Die Befreiung Italiens scheiterte jedoch und Mailand fiel erneut unter „deutsche“ Herrschaft. Dieser österreichische Triumph war Feldmarschall Graf Radetzky zuzuschreiben. Verdis Rückkehr nach Italien wurde mit dem Kauf des Landguts Sant' Agata verbunden. 5 6 Schwandt, Verdi, S. 78 Schwandt, Verdi, S. 85 11 1848 fand die Uraufführung der Oper Il Corsaro – das Libretto Piaves wollte er schon lange Zeit vor der endgültigen Entstehung vertonen – in Triest statt. Der Komponist wohnte dieser jedoch nicht bei. Ein Jahr später feierte ein weiteres Werk im Teatro Argentina seine Entstehung. Die Oper La battaglia di Legnano, dessen Textbuchverfasser Cammarano war, nahm einen besonderen Bezug zu der aktuellen politischen Lage. Alleine die nach der Ouvertüre folgenden Worte „Viva Italia“ stärkten den nicht zum Ersticken bringenden Nationalgedanken. Papst Pius IX., der einem Bündnis gegen Österreich widersprach und somit die erzürnten „Rothemden“ mit Giuseppe Garibaldi an deren Spitze vor den Toren Roms wusste, ließ nach der 1849 erteilten Ausrufung der römischen Republik die Oper zensieren. Bald war Italien wieder in österreichischer Hand, die Revolution war gescheitert. Im Juli 1849 kehrte Verdi, der all jene verheerenden politischen Geschehnisse von Frankreich aus beobachtet hatte, mit Giuseppina „Peppina“ Strepponi nach Busseto zurück. Die neue Frau an seiner Seite wurde von den konservativen Bewohnern Bussetos nicht akzeptiert und sie ließen sie das durch offensichtlich kränkende Verhaltensweisen spüren. Der Komponist vertonte Luisa Miller - das auf Schillers Kabale und Liebe basierende Textbuch verfasste Cammarano. Das rein durch eine private Handlung getragene Werk wurde 1849 in Neapel bejubelt. Neben parallel verlaufender Arbeit an unterschiedlichen Opern wuchs Verdis Interesse an einem Stück, welches die Grundlage zum mittleren Werk der „trilogia popolare“ werden sollte –der von dem spanischen Schriftsteller Garcia Gutiérrez verfasste El trovador. Verdi, der die Librettisten eigenständig für seine Werke nach deren unterschiedlichen Fähigkeiten wählte, erarbeitete zusammen mit Piave sein nächstes Werk Stiffelio, das 1850 in Triest dem Publikum vorgestellt wurde. 12 Das 1832 in Paris uraufgeführte Versdrama Le roi s’amuse von Victor Hugo rief ein sofortiges Verbot weiterer Darbietungen hervor. Jene tragische Erzählung des Königs Francois I., dessen verhängnisvolle Affäre mit Blanche, der Tochter seines Hofnarren Triboulet, und dem ungewollten Mord an der eigenen Tochter, diente Francesco Maria Piave als Vorlage für ein neues Libretto. Doch auch das Libretto unterlag einer sofortigen Zensur durch den österreichischen Gouverneur zu Venedig von Gorzkowsky. Erst nach der Unterzeichnung eines sieben Punkte beinhaltenden Kontrakts, welcher auszuführende Vorschriften bezüglich des Inhalts aufwies, gelang es, die Zustimmung zur Aufführung zu erhalten. So konnte die Verhinderung der Entstehung eines der düstersten und dramatischsten Werke des Musiktheaters abgewehrt werden. Verdis Rigoletto feierte seinen überragenden Erfolg weit über den Ort der Uraufführung, dem La Fenice, hinaus. Der Komponist setzte das Orchester als Element handlungstragender Stimmungen ein, wie er es noch nie zuvor gewagt hatte. Das erste Werk der „trilogia popolare“ war geboren. 1851 folgte Verdis und Strepponis Umzug nach Sant‘ Agata, das bis dahin die Eltern des Komponisten bewohnt hatten. Im selben Jahr starb Luigia Verdi. Der Schmerz und die Trauer ließen Vater und Sohn einander wieder näherkommen. Zeitgleich wuchs jedoch der Konflikt mit Verdis „Ziehvater“ Barezzi, welcher die seiner Tochter folgende Frau an der Seite des Komponisten nicht akzeptieren konnte. 1852 wohnte Giuseppe Verdi der Uraufführung von Alexandre Dumas La dame aux camélias im Vaudeville-Theater von Paris bei. Auf die Folgen jenes Theaterbesuchs möchte ich im folgenden Kapitel genauer eingehen. Nach Cammaranos Tod 1852 vollendete Leone Emanuele Bardare das vorerst durch die Zensur gefallene Libretto zu Verdis neuem Werk, mit dessen Stoff er sich schon drei Jahre zuvor befasst hatte. Il Trovatore sollte im Januar des folgenden Jahres seine Uraufführung erleben, die neben der schon parallel 13 dazu laufenden Arbeit an der dritten Oper der „trilogia popolare“, La Traviata, in Rom stattfand. Die Musik des Troubadour fand beim Publikum Anklang, das Libretto jedoch wurde mit Spott und Hohn überhäuft. Ein Werk zog Verdis Aufmerksamkeit stets auf sich. Immer wieder kreisten seine Gedanken um William Shakespeares Tragödie King Lear, zu einer musikalischen Umsetzung sollte es jedoch nie kommen. Komponist und Politiker Giuseppe Verdi, der die Zurückgezogenheit favorisierte, mied öffentliche Auftritte und Gesellschaften wie die französischen Salons, in welchen sich die Künstler zum Austausch trafen. Die Pariser Theater- und Musikszene bot ein vielfältiges, pulsierendes Angebot, welches allerdings von konservativ-elitären Strukturen gekennzeichnet war. Scribe, der zahlreiche Libretti, unter anderem für Meyerbeer, Auber und Donizetti verfasst hatte, schuf mit seinem Mitarbeiter Duveyrier das Textbuch zu Verdis ersten „Grande Opéra en cinque actes“ - Les vêpres siciliennes. Das Werk wurde zur Zeit der Weltausstellung in Paris 1855 uraufgeführt. Ein Jahr zuvor hatte ein Attentat in Parma dem Herzog Carlo Ferdinando III. das Leben gekostet. Es herrschte eine ablehnende Stimmung gegen alles Italienisch-Nationale und die Oper feierte keinen großen Erfolg. 1856 erteilte der mittlerweile von der Kirche exkommunizierte Vittorio Emanuele II. Giuseppe Verdi den Ritterschlag zum Ritter des „Ordine SS. Maurizio e Lazaro“. Der Gutsbesitz dehnte sich immer weiter aus und es konnten verbesserte Voraussetzungen für die Instandhaltung geschaffen werden. 14 Als das von Somma verfasste Libretto zu Un ballo in maschera ohne Inkenntnissetzung des Komponisten von dem Auftraggeber Teatro San Carlo umgeschrieben wurde, fasste Giuseppe Verdi einen Entschluss, der zu einem Moment couragierter künstlerischer Behauptung gegen Bürokratie und Staatsmacht 7 führte. Der Komponist stellte sich gegen die fortwährenden Forderungen, welche eine Verstümmelung seiner Werke mit sich trugen und verklagte das Opernhaus. Verdi, der als erfolgreicher und wohlhabender Mann galt, konnte dieses Risiko eingehen und gewann letztendlich den Prozess. Im Frühjahr 1858 soll in Neapel zum ersten Mal Verdis Name zur politischen Parole gemacht worden sein. Indem man ihn, den Komponisten, hochleben ließ und „Viva Verdi“ an Hauswände malte, meinte man „V.E.R.D.I.“ – Vittorio Emanuele Rè d’Italia: Der auf dem Turiner Thron solle König von ganz Italien werden.8 Die Oper „Un ballo in mascherra“ wurde schließlich 1859 uraufgeführt. Das Werk beinhaltete zum ersten Mal Anmerkungen des Komponisten, die Anweisungen zur szenischen Realisation gaben. Jene Angaben zur „mise en scène“ waren in Frankreich schon lange bekannt. Mittlerweile hatte sich der französische Kaiser mit dem Minister Graf Cavour verbündet. Es wurde der Entschluss gefasst, Krieg gegen Österreich zu führen und das durch den Sieg errungene Land aufzuteilen, sowie Vittorio Emmanuele als König von Oberitalien zu feiern. Das Haus Habsburg, der Noch-Regent Italiens, rief zum Angriff gegen die Machtstreiter, verlor jedoch Mailand und erlitt bei Solferino 1859 eine historische Niederlage. Nachdem sich Russland und Preußen immer mehr in das Kriegsgeschehen einmischten, stellte Napoleon III. ein Friedensangebot, auf welches der österreichische Herrscher Franz Joseph I. einging. Er hatte ohnehin bereits die 7 8 Schwandt, Verdi, S. 143 Schwandt, Verdi, S. 143 f. 15 Lombardei abgeben müssen und wollte weiteren schweren Verlusten vorbeugen. Die Bürger Italiens waren über diese Entwicklung bitter enttäuscht und erbost und sträubten sich energisch gegen die nun drohenden alten Verhältnisse. Verdi, der in der politischen Entwicklung wohl primär durch seine Musik, die das italienische Volk nicht nur im National- und somit im Kampfgedanken für ein geeintes Land bestärkte, sondern auch tiefste Gefühlsregungen widerspiegelte, seinen Beitrag leistete, war selbst ein Unterstützer jeglicher Wege Cavours. Er wusste nicht, inwiefern die Entwicklungen dieser Unruhen ebenso über das Schicksal Sant' Agatas, von wo aus er, abgeschieden von den blutigen Geschehnissen, nur äußerst schwierig Informationen über die politische Lage erhielt, bestimmen würden. In diesem Jahr, das tausende Leben forderte, gaben sich Giuseppe Verdi und „Peppina“ Strepponi in Savoyen das Ja-Wort. Es wurde beschlossen, in der Toskana sowie der Emilia Parlamente aufzustellen. Der Vorschlag zur Kandidatur Verdis führte zu dessen Ernennung zum Abgeordneten. Der Komponist hatte nun direkten Eingriff in das politische Geschehen und traf Cavour, mit welchem er sich leidenschaftlich über agrartechnische Möglichkeiten und Errungenschaften austauschte, persönlich. Die folgende Zeit forderte, dass politische Tätigkeiten nun den Platz des Komponierens einnahmen. Dies führte zu kontroversen Situationen, da es für Verdi nur sehr schwierig zu vereinbaren war, dass er sich in politischer Hinsicht gegen Frankreich wenden sollte, sein musikalisches Schaffen ihn jedoch zum Mitglied des Institut de France berief. Nach weiterem politischen Vorantreiben und kämpferischen Auseinandersetzungen gelangte der Süden Italiens 1860 ebenfalls unter die herrschende Hand Vittorio Emanueles. Die bourbonische Regierung war durch Garibaldi gestürzt. In jenem Jahr erreichte Verdi ein Brief des Tenors Enrico Tamberlik. 16 Dieser hatte in zahlreichen Verdi-Partien geglänzt und ging seit einiger Zeit seiner Tätigkeit am Hoftheater des russischen Zaren nach. Sein schriftliches Anliegen galt der Bitte, Verdi solle ein Werk für seine neue Wahlheimat komponieren – natürlich nicht ohne einer passenden, großen Tenor-Partie. Verdi, der nun als Abgeordneter des Borgo S. Donnino im ersten italienischen Parlament agierte und „eigentlich nicht mehr komponieren wollte“, ließ sich erst nach langen Überredungskünsten auf das für ihn äußerst lukrativ ausgefallene Vertragsangebot des russischen Herrschers ein. Ursprünglich sollte Ruy Blas als Werkvorlage dienen. Die Themenwahl wurde jedoch aufgrund des Sujets nicht zugelassen. Diese Entscheidung der Zensur bedeutete für den Komponisten jedoch keinen Rückschlag, da sein Augenmerk auf das Drama Don Álvaro o la fuerza del sino von Ángel de Saavedra y Ramirez de Baquedano gefallen war. So entstand nach einer mehr als dreijährigen Pause des Komponierens die Oper La forza del destino, zu der Piave das Libretto verfasste. 1862 wurde die Uraufführung des Werkes, in welchem in der Figur der Preziosilla eine Person mit musikalisch äußerst signifikanter Gestaltung sowie politischer Gesinnung die Bühne betritt, gefeiert. Eine Darbietung der forza del destino in Italien wurde vorerst von der Kirche, zu der Verdi seit jeher die größte Abneigung hegte, verboten, da die Oper „unmoralisch, unpolitisch (sic!) und ein schmutziges Machwerk moderner Korruption“ sei.9 Für die Weltausstellung in London schuf der Komponist ein Werk, welches nicht dem Musiktheater angehört. Der Inno delle nazioni, dem jegliche Grundlage einer menschlichen Geschichte von Leidenschaften, seelischer Zerrissenheit, gesellschaftlichen Situationen und tragischen Wendungen fehlte, war nach jenem Anlass bald in Vergessenheit geraten. 9 Schwandt, Verdi, S.175 17 Pariser Durchbruch Verdi, der im Jahre 1863 auf ein halbes Jahrhundert erfolgreichen Schaffens zurückblicken konnte, fand sich nun in der Rolle eines weltberühmten Komponisten, dessen Opern zahlreichen Verlegern auf der ganzen Welt und somit auch ihm profitreiche Geschäfte sicherten, sowie eines wohlhabenden Gutbesitzers und aktiven Politikers. Inzwischen war die junge italienische Musikwelt jedoch auf einen Mann aufmerksam geworden, der als das Genie neuer Klangwelten und Reformator des Musiktheaters gefeiert wurde. Richard Wagner nahm in den Augen vieler den Platz auf dem über alles herrschenden Thron ein. Verdi arbeitete an einer neuen Version des „Macbeth“ für Paris, welcher unter anderem durch die Einfügung eines Balletts erweitert wurde. Der Komponist suchte nach weiteren Effekten, welche auch die szenisch-dramatische Umsetzung mit mehr Bühneneffekten untermauern sollte. „Er wollte auch die umfassendere theatrale und musikalische Wirkung, die er schon 1847 im Sinn hatte, in Paris verfolgt wissen und forderte, dass die elfköpfige Bläsergruppe, die die Erscheinung der Könige begleitet, „unter der Bühne postiert“ sein solle, „in der Nähe einer offenen und genügend großen Versenkung, damit der Ton herausdringen und sich im Theater ausweiten kann, aber mysteriös wie aus der Ferne.“ 10 Sofort lassen uns diese Erörterungen an die Vorhaben des polarisierenden Visionärs Wagner und an sein ab 1872 in Bayreuth errichtetes Festspielhaus denken, dessen versenkter, bis zur Mitte der Bühnentiefe reichende Orchestergraben den Klang der zahlreich zerlegten Stimmen der einzelnen Instrumentengruppen des Orchesters unvergleichlich mit den Stimmen der auf der Bühne agierenden Personen zu mischen vermag. 10 Schwandt, Verdi, S. 180 18 Giuseppe Verdi übernahm die Ehrenpräsidentschaft der in Busseto 1865 gegründeten „Società Operaria“, die sich die Unterstützung in Not geratener Lohn- & Industriearbeiter als Ziel gesetzt hatte. In jener Zeit des neu- vereinten Italiens herrschte eine extreme soziale Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Den theatertechnischen sowie personellen Ansprüchen, die Giuseppe Verdis Werke forderten und die der Komponist an die Opernhäuser stellte, war einzig die Opéra Paris gewachsen. Nach dem Tod Meyerbeers, dessen Platz Verdi an der Académie Francaise bereits eingenommen hatte, galten nun die Chancen seines endgültigen Durchbruchs in der französischen Metropole als vielversprechend. Der Komponist arbeitete nun mit dieser Aussicht auf Erfolg an „Don Carlos“, dessen Libretto aus der Feder Joseph Mérys und Camille du Locles stammte. Nach einem neu entfachten Krieg um Venetien zwischen Österreich, Italien und Frankreich, retournierte der Sieger Frankreich seine Errungenschaft an Italien. Dieser „Pseudo-Kriegsgewinn“ stärkte das italienische Ressentiment und der Nationalgedanke erhielt einen neuen Aufschwung. Die Probenzeit zu Don Carlos war von Ärger durchzogen. So weigerte sich unter anderem der Interpret des Rodrigue Marquis de Posa, nach dessen Bühnentod weiterhin als Leiche auf der Szene zu verharren. Das dunkle Werk Verdis später Schaffensperiode feierte 1867 seine Uraufführung in dem am Höhepunkt seines Reichtums stehenden Frankreich. Dem Erfolg folgte die Anfrage für ein neues Werk, welches für die neu errichtete Oper „Palais Garnier“ entstehen sollte. Der Komponist verabscheute jedoch die in letzter Zeit durchlebten Geschehnisse künstlerischen Geltungsdrangs sowie echauffierten Gebärdens seitens der Darsteller und reiste sogleich nach der Premiere ab. Die Trennung von dem im Sterben liegenden Vater sowie die Abwesenheit bei dessen Tod, verstärkten das Bedürfnis, Paris so schnell als möglich zu verlassen. Don Carlos wurde später in verschiedene Sprachen übersetzt und von dem Komponisten für die italienische Version bearbeitet und gekürzt. 19 Bald ereilte Verdi eine weitere Schreckensnachricht – sein Librettist Francesco Maria Piave hatte einen Schlaganfall erlitten, welcher ihm die Fähigkeit der Bewegung sowie des Sprechens raubte. Antonio Ghislanzoni wurde nun für eine Neufassung der forza del destino zu Verdis Mitarbeiter. Stellen des Textes verlangten nach neuer Gliederung. Das umgeschriebene Werk wurde 1869 dem begeisterten Publikum der Mailänder Scala vorgestellt und führte zum Bruch des Vorsatzes von 1845, nie wieder jenem Haus eine Oper zu überlassen. Während der Arbeit an einem Gemeinschaftswerk zahlreicher Komponisten, kam es zur Entzweiung zwischen Verdi und dem Dirigenten und langjährigen Freund Mariani. Dieses Werk, die Messa per Rosini, wurde nun von den Kommunalpolitikern, welchen sich die damit verbundenen Ausgaben als zu kostspielig darstellten, zurückgezogen. Der Streit des Komponisten mit dem Interpreten zeigte sich als brauchbarer und willkommener Grund zur Absage. Nun waren Überredungskünste und langwierige Verhandlungen nötig, um Verdi zu einem neuen Auftragswerk für Kairo zu gewinnen. 1870 begann der Komponist letztendlich doch mit der Arbeit an Aida für die ägyptische Hauptstadt. Der ausgebrochene Krieg zwischen Deutschland und Frankreich führte den Sturz Napoleons III. herbei. Die Möglichkeit, Rom einzunehmen war nun für die italienischen Truppen gegeben. So wurde 1871 die Stadt zur Hauptstadt des Landes erkoren. Du Locle, Direktor der Opéra Comique, der mit dem Hintergedanken an Aufführungsmöglichkeiten der neu entstehenden Verdi-Oper in Frankreich spielte, arbeitete mit dem Komponisten an einem Prosaentwurf des französischen Archäologen Auguste Mariette, um diese Version Ghislanzoni als Basis für das Libretto der Aida vorzulegen. 20 Die in Paris gefertigte Originaldekoration sowie die Kostüme verhinderten jedoch, dass die Uraufführung den geplanten Termin einhalten konnte, da der Transport nach Afrika durch die preußische Belagerung in Paris anfänglich verhindert wurde. Letztendlich feierte das Werk jedoch 1871 einen großen Erfolg, die erste europäische Uraufführung fand an der Mailänder Scala statt. In der Zwischenzeit waren die Partituren des polarisierenden Zeitgenossen Wagner auch in Verdis Hände gefallen. Er studierte die Kompositionen, gab die Klänge auch am Klavier wieder und besuchte eine Aufführung des Lohengrin in Bologna. Man kann sich vorstellen, dass der von Interesse getriebene Verdi die Werke Wagners mit gemischten Gefühlen untersuchte. Das Ansehen des Komponisten wuchs weiterhin. Gewissenhaft kontrollierte der Großgrundbesitzer seine Verwalter, das Personal und kümmerte sich um seinen Reichtum. Der Tod des italienischen Dichters Alessandro Manzoni veranlasste Verdi zu einer Komposition, die einen wesentlichen Platz unter den Requien einnehmen sollte. Das Werk wurde am einjährigen Todestag des Dichters zum ersten Mal vorgetragen. An jenem 22. Mai 1874 war auch der, von Cosima für Wagner verlassene Hans von Bülow in der San Marco-Kirche Mailands anwesend. Die Kritik des Dirigenten, die Totenmesse gleiche mehr einer Oper als einem Trauerstück, ist nicht von der Hand zu weisen. Giuseppe Verdi erhielt den Titel des „Comandeur der Ehrenlegion“, welcher ihm in einer Privataudienz von seiner Majestät, dem österreichischen Kaiser, verliehen wurde. Dieser Akt der Huldigung ist besonders unter Beachtung der unterschiedlichen politischen Gesinnung sowie der Vergangenheit dieser Persönlichkeiten zu betrachten. 1875 folgte die Ernennung durch den König zum Senator in Rom. Ein politischer Wechsel der führenden Partei Italiens ließ die Linken unter Agostino Depretis durch Stimmenmehrheit an die Macht gelangen. 21 1876 wurde Verdis engster und durch gegenseitige Inspiration verbundener Textverfasser von seinen Leiden erlöst. Der Komponist finanzierte die Bestattung Francesco Maria Piaves und diente mit Unterstützung der hinterlassenen Familie. Im selben Jahr feierte Verdis italienischer Zeitgenosse Amilcare Ponchielli mit seinem Werk La Gioconda an der Scala den einzigen großen und anhaltenden Erfolg seines Schaffens. Das Libretto der Oper verfasste Arrigo Boito, welcher keine besonders große Beachtung Verdis genoss. Dies sollte sich jedoch später ändern. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten war die Opéra Comique zum Verzicht auf die französische Uraufführung der Aida gezwungen. So fand jene, neben einer Darbietung des Requiems, im Théâtre Italien in Paris statt. Eine Reise des Komponisten, welche seine erste Reise nach Deutschland durch eine Einladung mit offiziellem musikalischem Hintergrund war, führte Giuseppe Verdi nach Köln, wo er jubelnd empfangen wurde. Die beiden letzten Opern Im Jahr 1878 wurde Italien durch den Verlust zweier Führungspersönlichkeiten erschüttert. Vittorio Emanuele II. sowie der Papst starben. Das Land fiel nun unter die weltliche Herrschaft König Umbertos I. und unter die klerikale Führung Papst Leos XIII. Rom wuchs in der folgenden Zeit zu einer pulsierenden Stadt und folgte somit den Metropolen Paris, London und Berlin. In den Landregionen zeigte sich jedoch, dass in Italien Armut und steter Wuchs an Reichtum weiterhin nebeneinander existierten. Giuseppe Verdi kämpfte gegen den fortlaufenden Verfall der Opernhäuser und sah in der erneuten Füllung der Publikumssäle sein vorrangigstes Ziel – ganz gleich welcher Werke es hierfür bedurfte. 22 Er komponierte in jener Zeit kleine Stücke, ohne diese jedoch an die Öffentlichkeit zu bringen. An der Erarbeitung einer neuen Oper zeigte er jegliches Desinteresse. Das Libretto Boitos zu Shakespeares Otello überflog er erst nach langem Zuspruch Ricordis und Faccios - allerdings ohne eine Regung persönlichen Gefallens. Mit der Zeit wandelte sich dieses Desinteresse. Verdi bekam Gefallen an dem Werk und wollte das Textbuch des damals noch den Namen Jago tragenden Otello vertonen. Das distanzierte Verhältnis zu dem Verfasser blieb jedoch bestehen. Der Grund einer neuen Reise nach Paris war die Aufführung der Aida der soeben eröffneten Opéra Garnier, welche nun durch die neuwertige Ausstattung der Bühnen- sowie Beleuchtungstechnik als einzigartig auf dem Kontinent galt. Verdi kehrte mit der Ernennung zum Großoffizier in seine Heimat zurück. Die Arbeit an der Komposition zu Otello wurde wieder eingestellt. Der Wunsch der Scala, Simon Boccanegra auf die Bühne zu bringen, veranlasste den unermüdlichen Ricordi, Giuseppe Verdi zu einer Neubeschäftigung mit der Partitur des vor dreiundzwanzig Jahren verfassten Werkes zu gewinnen. Boito überarbeitete Piaves Text, welchen er, die Worte des „Urverfassers“ respektierend, der Zeit anpasste. Verdis erneute Schaffenspause wurde somit unterbrochen und das Werk feierte 1881 seine Bühnentaufe. Der im selben Jahr ausgebrochene Ringtheaterbrand in Wien sollte die technische Infrastruktur als auch die Sicherheit der zukünftigen Opernhäuser durch Neueinführungen und Änderungen gravierend prägen. Giuseppe Verdi ging weiterhin seinen sozialen und wirtschaftlichen Tätigkeiten nach und ließ das Textbuch des Otello beseite. Er finanzierte die Errichtung eines Krankenhauses in Villanova sull‘ Arda. 23 Der deutsche Journalist Adolf von Winterfeld stellte fest, Verdi wirke als ob ihn der Ertrag eines Maisfelds kaum weniger zu interessieren schien als der Erfolg einer von ihm komponierten Oper.11 1883 starb Richard Wagner. Seine Verehrer hatten sich auf jene Tragödie eine andere Reaktion Verdis erwartet. Es kam keine Revanche für Wagners herablassende Meinung zur italienischen Musik im Allgemeinen und der Verdis im Besonderen. Wagners Musik sei Verdi als eine „philosophische Musik“, die über ihre eigentlichen Grenzen hinausgehe, unverständlich, wiewohl er an Tannhäuser und Lohengrin manches schätze.12 Im Jahr 1885 fuhr Giuseppe Verdi nun mit der Komposition des Otello fort und stellte diese 1886 fertig. Es begannen die Proben an der Mailänder Scala, mit welcher Verdi jedoch das Abkommen traf, dass die gesamte Probezeit ohne jegliche öffentliche Kenntnisnahme erfolge und er jederzeit zu einer Revokation des Werkes sowie einem Abbruch der In-Szene-Setzung berechtigt sei. Nicht nur ein Giuseppe Verdi, sondern auch andere Komponisten hatten mittlerweile durch die in Italien entstandene Società italiana autori ed editori, die SIAE, eigene Rechte über ihre Werke. In dem die Uraufführung des Otello wiedergebenden Orchester befand sich ein Cellist, der durch seinen Lebensweg der Musikwelt als einer der bedeutendsten Dirigenten erhalten bleiben sollte - Arturo Toscanini. Ähnlich Mozarts Don Giovanni, in welchem dem Titelhelden lediglich eine Arie zugeschrieben wird, wird auch die Rolle des Otello solistisch kaum hervorgehoben – im Gegensatz dazu jedoch die Rolle des Widersachers Jago umso mehr. Verdis Melodien und Orchesterinstrumentierungen hatten in seiner gesamten Schaffenszeit Verwandlungen durchlebt und nun einen neuen Höhepunkt erreicht. 11 12 Schwandt, Verdi, S. 236 Schwandt, Verdi, S. 236 24 Folgt man Julian Budden, so sind manche der Fortschreitungen im Otello wesentlich schwerer zu analysieren als irgendeine Stelle bei Wagner.13 Die 1887 erfolgte Ernennung Francesco Crispis zum Ministerpräsidenten ließ die linke Partei an die Regierungsspitze treten und neue Entwicklungen entstehen, die ihre Wurzeln nicht mehr im Risorgimento hatten. Verdi ermöglichte Ricordi durch die finanzielle Leihgabe über 200.000 Lire den Kauf des Verlagshauses Lucca. Somit wurden die Werke Verdis und Wagners in einem Verlag vereinigt. Zusammen mit Peppina beschloss der Komponist in Mailand ein Altenheim, la Casa di Riposo, für Künstler ins Leben zu rufen. Er wollte die Existenz der zahlreichen, nach ihrer Karriere vergessenen „artisti“ bis zu ihrem Tod sichern. Der mittlerweile als Freund Verdis geltende Boito erreichte, dass seit dem misslungenen Versuch der Vertonung eines Buffo-Stoffs aus Anfangszeiten des Komponisten das Interesse für ein komisches Opernthema wieder in ihm geweckt wurde. Die Arbeit an Falstaff musste jedoch als Geheimnis bewahrt werden. Das musikalisch-textliche Zusammenspiel lässt jedes Element das andere untermalen und führt zu einer Ergänzung, wie sie zuvor noch niemals in Verdis Werken zum Vorschein kam. So galt auch eine Parallelität von neun, jeweils einen eigenen Text wiedergebenden Stimmen als eine Innovation der italienischen Oper. Die Doppelfuge am Ende des Werks zeugt von einer auf Weisheit beruhenden Gelassenheit in Verdis hohem Alter, die anders nicht besser zum Ausdruck kommen könnte als durch die Verbindung der diszipliniertesten Musikform mit den Worten „Tutto nel mondo è burla“. 13 Budden, Verdi, S.165, zit. n. Schwandt, Verdi, S. 247 25 Verdi erreichte eine Nachricht von Hans von Bülow, in welcher er sich für seine Missgunst gegenüber dem Komponisten entschuldigte, seine Kritik widerrief und seine Verehrung aussprach. Trotz Verdis Behauptungen, das Komponieren des Falstaff diene zur reinen Vergnügung, wurde an eine Bühnenrealisation gedacht. Adolf Hohenstein, Bühnenbildner und Chefgrafiker des Hauses Ricordi, hatte sich auch schon Illustrationen aus England für ein möglichst authentisches Bühnenbild und die Kostüme beschafft.14 1893 kam es letztendlich zur Uraufführung des „geheimen Werks“ an der Mailänder Scala. Zukünftig sollte besagtes Orchestermitglied der Otello-Premiere dem Falstaff zu Weltruhm verhelfen. Trauer einer Nation Ein letztes Mal sollte Giuseppe Verdi mit dem Werk seiner Gedanken konfrontiert werden. Boito weckte die Erinnerung an Rè Lear - durch Peppinas Einschreiten jedoch drangen der Librettist und ebenso der Komponist nicht weiter zu dem Sujet vor. Im Alter von 81 Jahren reiste Verdi, die angehenden Mängel der Belastbarkeit ignorierend, nach Paris, um dort der französischen Erstaufführung des Otello – die französische Version hatte Boito selbst in Zusammenarbeit mit Du Locle verfasst – sowie einer Falstaff - Darbietung beizuwohnen. Seine zwei letzten Werke des Musiktheaters feierten in der Hauptstadt große Erfolge. Als Zeichen des Dankes und der Huldigung für solch unzählige Reichtümer der Oper erhielt der Komponist das Großkreuz, welches ihm vom Staatspräsidenten persönlich verliehen wurde. 14 Schwandt, Verdi, S.256 26 Diese Auszeichnung war die höchste Anerkennung der Ehrenlegion Frankreichs. Mit Hochachtung erfüllt, sendete ein junger Komponist aus Deutschland dem alten Meister sein frisch verfasstes Werk. Die Handschrift jenes Guntram mag zwar Verdi nicht verwandt gewesen sein, jedoch sollte der Absender ein für die Zukunft wegbereitender Musikschöpfer werden, der eine Ansicht Verdis ganz besonders vertrat – den hohen Stellenwert positiver Symbiose von Text und Melodie. Er wird in Hugo von Hofmannsthal sein Pendant finden. Verdi widmete sich nun der Komposition dreier geistlicher Werke, unter anderem einem Stabat mater. Im November 1897 holte der Tod Giuseppina in Folge einer Lungenentzündung. Verdi versuchte diesen harten Verlust der treuen Lebensgefährtin in tiefer Trauer und besorgniserregender Zurückgezogenheit zu verarbeiten. 1898 durfte sich Italien mit Turin als Gastgeber der Weltausstellung vorstellen. Arturo Toscanini leitete die Aufführung jener pezzi sacri, welche Verdi vor Peppinas Tod verfasst hatte. Währenddessen führten die sozialen Missstände in Italien zu schweren Unruhen, denen die Regierung nicht Herr werden konnte. Nach zwei Jahren, die Guiseppe Verdi im Kreise seiner engsten Freunde, zu denen Boito sowie die Sopranistin Teresa Stolz zählten, verbrachte, erlag der Komponist und wohlhabende Gutsbesitzer in Mailand am 27. Januar 1901 den Folgen eines Schlaganfalls. Ganz Italien und mit ihm die Welt lagen in tiefer Trauer. Guiseppina und Guiseppe Verdi finden nach der Fertigstellung der Casa di Riposo in deren Krypta bis heute ihre letzte Ruhestätte. 27 Entstehungsgeschichte La Traviata Die der Oper zugrunde liegende Geschichte führt zu dem französischen Schriftsteller Alexandre Dumas d. J. und dessen 1848 erfolgreich veröffentlichen Roman La Dame aux camélias. Der Autor schuf das Werk als Bildnis der 1847 verstorbenen berühmten Pariser Edelkurtisane Alphonsine Plessis (sie nannte sich Marie Duplessis), mit der er für kurze Zeit ein Verhältnis einging. Abbé Prévosts Roman Manon Lescaut, welcher vierzig Jahre nach der Uraufführung Verdis La Traviata als Vorlage für Giacomo Puccinis Oper Manon Lescaut diente, ist die literarische Basis der Kameliendame. 1849 schuf Alexandre Dumas eine Bühnenfassung seines Werks, dessen Uraufführung jedoch aufgrund von Konflikten mit der Zensur erst im Jahre 1852 im Vaudeville-Theater Paris stattfinden konnte. Giuseppe Verdi, der sich im selben Jahr mit Giuseppina in jener Stadt aufhielt, besuchte eine Aufführung der neu erschienenen Bühnenfassung, welche dies für damalige Zeiten als gewagt und brisant geltende Thema behandelt. Marguerite Gautier, Violetta Valery werden zu einem Mythos, einem Sinnbild edlen Handelns. Diese aus der Pariser Halbwelt stammende Frau, gezeichnet von der als unberechenbar und mythisch geltenden Krankheit TBC, wird zu einem Ideal, einem Wesen, fähig zum schmerzvollsten Verzicht aus tief empfundener Liebe. Giuseppe Verdi hatte sich zu einer neuen Opernkomposition für das La Fenice verpflichtet. Diese Oper wird die „trilogia popolare“, welche ebenso den Rigoletto sowie Il Trovatore einschließt, vollenden. Der Premierentermin war auf den Monat März im Jahr 1853 festgelegt. Die Stoffwahl wurde von dem Komponisten lange hinausgezögert. Letztendlich fiel seine Entscheidung und nach Zuspruch und Überredung gelang es Verdi auch den festgelegten Verfasser des Librettos, Francesco Maria Piave, von seinem Entschluss, La Dame aux camélias zu vertonen, zu überzeugen. Das Werk sollte ursprünglich den Namen Amore e morte tragen. Die Sorge, die Oper könne, ähnlich der literarischen Vorlage dem Schicksal der Zensur erliegen, belastete Giuseppe Verdi wenig. So schrieb er am Neujahrstag 28 an De Sanctis: Für Venedig komponiere ich La Dame aux camélias, die wahrscheinlich den Titel La Traviata erhalten wird. Ein Thema unserer Zeit. Jeder andere Komponist hatte es wegen der Kostüme, der Zeit und tausend anderer alberner Skrupel abgelehnt; mir macht es jedoch größtes 15 Vergnügen… Die Zensur forderte eine zeitliche Versetzung der Handlung in die Regierungszeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Komponist und Librettist übernahmen Dumas Bühnenfassung ohne drastische Änderungen. Der zweite Akt wurde jedoch gestrichen. Am 21. Februar des Jahres der Uraufführung reiste Verdi nach Venedig, um den Beginn der Proben zu leiten. Das Werk war jedoch noch nicht vollendet, die Voraussetzungen des Ensembles nicht gegeben, geschweige denn Verdis Ansprüchen gerecht werdend. Felice Varesi, welcher ebenso Verdis ersten Macbeth sowie Rigoletto verkörpert hatte, sollte die Rolle des Giorgio Germont übernehmen. Seine Leistung war jedoch nicht mit jenen Schottland großen Erfolgen als herrschsüchtiger König von oder verwachsener Hofnarr zu vergleichen. Ebenso wenig überzeugte Alfredo, der von Ludovico Graziani interpretiert wurde. Die Violetta der Uraufführung, Fanny Salvini-Donatelli, lieferte dem Komponisten zu wenig an stimmlicher Leidenschaft, ihr darstellerischer Einzelkampf sowie die physische Erscheinung der Primadonna trugen zur Glaubhaftigkeit der Rolle einer sterbenden, schwer kranken Traviata wenig bei. So forderte Verdi eine Umbesetzung, welche jedoch nicht gewährt wurde. ..., denn nicht nur die Salvini, sondern auch das ganze Ensemble ist des Gran Teatro La Fenice unwürdig...Für den Fall, daß (sic!) die Oper zur Aufführung gelangt, kann ich Ihnen jedoch jetzt schon versichern, daß ich keinerlei Hoffnung auf Erfolg habe. Es wird sogar ein totales Fiasko geben - ...16 Verdis Reaktion auf die Negierung seiner dringenden Anliegen, veranlasste das Theaterdirektorium zu strengen Maßnahmen. 15 16 Budden, Entstehungsgeschichte der Oper (Online-Publikation), S.3 Budden, Entstehungsgeschichte der Oper (Online-Publikation), S.5 f. 29 Brenna wurde nach Sant' Agata geschickt, um den „geflüchteten“ Komponisten an seine Pflichten zu erinnern17 und nach Venedig zurückzubringen. So musste Giuseppe Verdi der für den 6. März angesetzten Uraufführung seines Werkes, welcher er einen vernichtenden Ausgang vorherzusagen wagte, beiwohnen. Seine Einschätzung jenes drastischen Ausmaßes mag jedoch nicht ganz der Realität entsprochen haben. Obwohl die Kritiker Verdis Leistung nicht verurteilten, konnte der Mißerfolg der Premiere, welcher zum größten Teil der schwachen Darbietung der Sänger zuzuschreiben war, nicht verleugnet werden. Erst durch eine Wiederaufnahme am Teatro San Benedetto, der Verdi nur bei Sicherstellung eines adäquaten Ensembles und nach vorgenommenen Änderungen zustimmte, war dem Werk der gebührende Erfolg bestimmt – ein Jahr nach der eigentlichen Uraufführung, am 6. Mai 1854. Der Komponist wohnte diesem Ereignis jedoch nicht bei. Maria Spezia triumphierte als Violetta und die Oper sollte von nun an einen Erfolg nach dem nächsten feiern. Die deutsche Erstaufführung fand im Jahre 1857 in Hamburg statt. Neben unzähligen Inszenierungen können wir heute ebenso auf weitere Umsetzungen jenes Stoffes blicken. John Neumeiers weltberühmte, zu der Musik Frédéric Chopins erschaffene Choreographie La dame aux camélias, welche er für sein Stuttgarter Ballett kreierte, sowie George Cukors Verfilmung Die Kameliendame mit Greta Garbo in der Hauptrolle, stellen unabkömmliche Schätze ihrer Genres dar. 17 Budden, Entstehungsgeschichte der Oper (Online-Publikation), S.6 30 Reflexion über Oper und Schauspiel Gegenüberstellung der Personen Schauspiel Marguerite Gautier Olympe Oper Violetta Valéry Flora Bervoix Anais Nanine / Prudence Duvernoy Armand Duval Georges Duval Gaston Rieux, ein junger Lebemann Arthur de Varville Annina Alfred Germont Georges Germont Gaston, Vicomte von Letorière Baron Duphol Marquis d'Obigny Graf de Giray Seint-Gaudens, ein alter Lebemann Nichette, eine junge Näherin Gustave, ihr Freund Arthur Ein Arzt Ein Diener Doktor Grenvil Joseph Ein Lohndiener Ein Diener Floras Ein Kommissionär Gäste Chor 31 Erleben wir in Verdis Oper Violetta Valéry gleich zu Beginn mit ihrem Einsatz nach den kräftigen Einleitungsakkorden des ersten Aktes als großzügige Gastgeberin, betritt in Alexandre Dumas fünfaktigen Schauspiel die Protagonistin das erste Mal in der vierten Szene desselben Aktes die Bühne. Im Gegensatz zur Oper wird dem Zuseher in den ersten drei Szenen der Kameliendame durch die Konversation zwischen Nanine, Marguerite Gautiers Zofe, und einem Verehrer der Nobelkurtisane, Arthur de Varville, Einblick in ihre Vergangenheit sowie in ihre Lebensumstände gewährt. Eindrücke, welche durch die zu Beginn des Schauspiels gewonnenen Vorkenntnisse das Publikum nicht unvoreingenommen Marguerite das erste Mal entgegentreten lassen. In Verdis Oper gäbe allein das Preludio hierzu die Möglichkeit einer Vermittlung einleitender Gedanken zu Violetta Valérys Leben. Alexandre Dumas erzählt von Marguerites früherer Arbeit in einem Wäschegeschäft sowie der töchterlichen Beziehung zu Monsieur de Mauriac. Der durch die unerfüllte Liebe zu ihr mit Misstrauen und Eifersucht geplagte Varville verkörpert eine Seite jener Welt der oberflächlichen Beziehungen, die allein durch ein gesellschaftliches Leben nach den Gesetzen des Geschäfts mit Geld und äußerlichen Reizen, ein Leben des Müßigganges, erfüllt mit Vergnügen und Unterhaltung bestehen kann. Lässt uns die Oper Violettas schützende Kälte, ein gegenüber bestimmten Personen abweisendes Verhalten sowie eine gespielte Unverletzlichkeit während des ersten Aktes spüren und erahnen, so begegnen wir in Dumas Schauspiel ebenso jener kühl- abweisenden Marguerite gegenüber Varville. Akt I, fünfte Szene Marguerite. Wie heiße ich? Varville. Marguerite Gautier. Marguerite. Und wie noch? Varville. Die Kameliendame. Marguerite. Warum? 32 Varville. Weil Sie immer nur Kamelien tragen. Marguerite. Und das heißt: ich liebe nur sie allein. Darum ist es unnütz, mir andere Blumen zu schicken. Wenn Sie denken, Sie könnten eine Ausnahme machen, dann täuschen Sie sich. Blumenduft macht mich krank. 18 Zeigt uns Piaves Libretto Violettas Großzügigkeit besonders im letzten Akt, zu einem Zeitpunkt ihres eigenen finanziellen Ruins, so zeichnet Alexandre Dumas die Kameliendame schon im ersten Akt durch Gönnertum aus. Akt I, sechste Szene Saint-Gaudens. ...Was ist denn diese Prudence? Olympe. Modistin. Marguerite. Und nur ich allein kaufe ihre Hüte. Olympe. Doch trägst du sie nie. Marguerite. Sie sind schauderhaft. Aber sie ist eine anständige Person, und sie braucht Geld.19 Die erste Begegnung mit Armand lässt Dumas durch Marguerites spontane Einladung der Nachbarin Prudence und deren Freunden in ihrem Boudoir stattfinden. Jene Zusammenkunft erfolgt somit in einem nahezu privaten Umfeld. Bei Piave und Verdi tritt Violetta hingegen vorerst im Rahmen eines großen Festes Alfredo zum ersten Mal bewusst gegenüber. Wie in der Oper beschwört auch im Schauspiel Armand seine schon lange anhaltende und tiefe Liebe zu Marguerite. Gefühle jener Art gelten in Marguerites Welt als irreal und somit unglaubwürdig. Die binnen kurzer Zeit variierenden Sympathien herrschen für straffe Zeiträume. 18 19 Dumas, Die Kameliendame, S. 10 Dumas, Die Kameliendame, S. 11 33 Dies vermittelt Marguerits Reaktion auf die Erzählung von Armands Liebesschwüre in der Oper sowie im Schauspiel. Akt I, siebte Szene Prudence. Und diese Liebe geht schon ins zweite Jahr. Marguerite. Fast schon ein Greis – diese Liebe! 20 Akt I, zweite Szene Gaston. Immer denkt Alfred an Euch. Violetta. Ihr scherzt? Gaston. Ihr wart krank, und jeden Tag, voll Anteilnahme, eilt' er hierher, nach Euch zu fragen. Violetta. Hört auf! Nichts bedeute ich ihm.21 Im Gegensatz zur Oper wird das mit der Zeit zu einer der bekanntesten Opernmelodie erkorene Brindisi im Schauspiel nicht von Violetta und Alfred im Duett, sondern allein von Gaston, dem Freund Alfreds vorgetragen. Es handelt sich hierbei um die gesanglich vorgetragenen Verse von Philogène, welcher ebenso über Marguerite dichtete. Der Umgang der Gesellschaft ist auf einem provozierenden- foppenden Chargon, gemischt aus Ernst und Spaß, basierend. Die plötzlich eintretende Atemnot Violettas wird bei Marguerite durch einen Tanz mit Saint-Gaudens hervorgerufen. Gleich der Oper schickt die Hausherrin ihre Gäste mit der Versicherung, augenblicklich zu folgen in den Nebenraum. 20 Dumas, Die Kameliendame, S. 14 21 Decca Booklet, Verdi: La Traviata, S.40 34 Der besorgte Armand kehrt jedoch zurück. In dem sich als Folge entwickelnden Dialog schildert Marguerite ihr Leben voller Aufrichtigkeit. Diese Ehrlichkeit lässt auch das Bewusstsein über die Vergänglichkeit ihrer Position hervortreten. Die Darlegung der Armand erwartenden Möglichkeiten eines Lebens, welches er mit ihr zu teilen gedenke, entfallen bei Betrachtung der Oper in jenem Ausmaß. Armand verlässt Marguerite mit einer Kamelie, welche er vor deren Verblühen an sie retournieren solle. In Piaves Libretto bittet Violetta um die Rückkehr Alfreds, wenn die Blüte bereits verblüht ist. Endet der erste Akt der Oper mit Violettas innerem Kampf zwischen Vertrauen und Mißtrauen, Liebe und Rausch, Veränderung und Stetigkeit dargebracht in der großen Arie È strano! È strano! ... Ah! Fors'è lui … sowie der attacca folgenden seelischen Widersetzung der vorhergegangenen Gedanken in Follie! … Sempre libera, so hat sich Marguerite bereits auf eine leichtfertigwirkende Entscheidung für ein Zusammenleben mit Armand eingelassen. Der zweite Akt des Schauspiels ist im Ankleidekabinett Marguerites situiert. Die folgenden Ereignisse sind in der Oper übersprungen, da Piave den Akt bereits in das von Violetta finanzierte Landhaus bei Paris verlegt. Die Zeitspanne seit der Begegnung des ersten Akts umfasst jedoch im Sprechsowie im Musiktheater jene von drei Monden. Durch Annina erfahren wir Violettas Ausgaben und Opfer, welche sie für die geschaffene Idylle erbrachte. Das Schauspiel hingegen lässt uns an jener Planungsphase teilhaben. Marguerite Gautier empfängt den Graf de Giray, welcher bei ihrem Vorhaben behilflich sein soll. Das ständige Bedürfnis nach Versicherung der Liebe gilt als auffallender Schwerpunkt der Beziehung der Kameliendame zu Armand. Ist Marguerites Vertrauen schwer zu gewinnen, so ist auch Armand erfüllt von Eifersucht und Zweifel an der ausnahmslosen Entscheidung der Frau für ihn. 35 Akt II, vierte Szene Armand. Mein Vater hat mir geschrieben; er wollte mich in Tours treffen, aber ich habe ihm geantwortet, er könne nicht auf mich zählen. Ich bin doch jetzt nicht in der Stimmung für eine Reise nach Tours! Marguerite. Immerhin sollten Sie ihren Vater nicht erzürnen. Armand. Das hat keine Gefahr. 22 Wie eine schreckliche Vorahnung klingen Marguerites Worte, wie eine leichtfertige Annahme Armands Erwiderung. Piaves Verzicht auf jene Dialoge des zweiten Akts von Alexandre Dumas Werk hat eine Veränderung der Charakterzüge Armands zur Folge. Wir erleben den jungen Duval mit mehr Ehrgefühl und Stolz ausgezeichnet als Alfred. Akt II, vierte Szene Armand. Haben Sie einmal >Manon Lescaut< gelesen, Marguerite? Marguerite. Ja, der Band liegt drüben im Salon. Armand. Schätzen Sie Des Grieux? Marguerite. Was soll die Frage? Armand. Da gibt es eine Szene, in der Manon – sie auch – eine Lösung gefunden hat, nämlich die, sich von Monsieur de B. Geld geben zu lassen, um es mit Des Grieux auszugeben. Marguerite, Sie haben mehr Herz als Manon, und ich habe mehr Ehrgefühl als Des Grieux. Marguerite. Und das heißt? Armand. Sollte Ihre Lösung auf der gleichen Linie liegen, so kann ich sie nicht annehmen.23 22 Dumas, Die Kameliendame, S. 28 36 Tiefere Eindrücke von Marguerites Gedanken erhalten wir zunächst durch die fünfte Szene des zweiten Akts. Ihr Monolog erschließt uns den Unglauben an die Möglichkeit einer wirklichen, ihr allein geltenden und widerfahrenden Liebe sowie die Angst vor dem Risiko, Vertrauen in jene Hingebung zu setzen. Die Präsenz der existenziellen Angst vor der durch die Krankheit bedingten Zukunft, sowie der Altersunterschied zu Armand tragen in meinen Augen zu dem nagenden Zweifel bei – so hatte die Kameliendame den abgöttisch Verehrenden zuletzt mit den Worten Leb wohl, du großes Kind 24 verabschiedet. Die Seite der erfahrenen Geschäftsfrau Marguerite Gautier tritt dem Zuseher in dem Dialog mit de Giray noch tiefer ins Bewusstsein. Auch in der Oper wird jener Charakterstolz, jener kühle, analysierende Blick der Kameliendame selbstverständlich vermittelt. Marguerites Perspektiven und Einstellungen entsprechen jenen einer pragmatisch-kalkulierenden Person von höherer Position. Akt II, sechste Szene Marguerite. Mein Lieber, wenn ein Mann von Welt ein Mädchen wie Adèle heiratet, dann begeht nicht er eine Dummheit, sondern sie macht ein schlechtes Geschäft. Ihr Pole ist ruiniert, er hat einen miserablen Ruf, und wenn er Adèle heiratet, dann tut er das wegen der zwölftausend oder fünfzehntausend Francs Rente, die Ihr ihr einer nach dem anderen geschenkt habt. 25 Armand packt eine wütende Eifersucht, als er den Grafen Marguerites Haus betreten sieht. 23 24 25 Dumas, Die Kameliendame, S. 29 Dumas, Die Kameliendame, S. 31 Dumas, Die Kameliendame, S. 29 37 Der verfasste Brief – welcher durchaus verbindende Gedanken zu Marguerites Brief an Armand auszulösen weiß – kann, gleich der Entscheidung zu der gemeinsamen Zukunft, als übereilte Handlung verstanden werden. Die Reaktion Marguerites auf das Schreiben zeugt von einer innerer Fassung und dem bewusst gehaltenen Abstand zu Armands Beschwörungen. Fast gleichgültig wirken ihre Worte zu dem soeben Gelesenen. Akt II, siebte Szene Marguerite. ( … ) , aber ich hatte mich verliebt, mein Freund. ( …) Giray. Und in wen, guter Gott? Marguerite. In einen Mann, der mich nicht wiedergeliebt hat, wie das häufig so geht; in einen Mann ohne Vermögen, wie das immer so geht.26 Wird in Verdis La Traviata die essentielle Handlung fast ausschließlich durch die drei Protagonisten Violetta Valéry, Alfred und Georges Germont erzeugt, beteiligen sich entscheidend in Dumas Werk eine nicht geringe Anzahl weiterer Personen. Allein Nanine spielt im Gegensatz zu der in der Oper entsprechenden Annina eine gravierende Rolle. Auch in jener brisanten Situation der anscheinend ernstlichen Trennung wird die weitere Entwicklung aufgrund der Vermittlung von Nanine und Prudence in eine neue Richtung gelenkt. Trotz der Versöhnung zwischen den beiden „Liebenden“, vernehmen wir Marguerites düstere Vorahnung in tiefster Bitterkeit. 26 Dumas, Die Kameliendame, S. 35 38 Akt II, elfte Szene Marguerite. Der Junge wird mich noch ins Unglück stürzen.27 Der folgende Dialog zwischen Marguerite und Armand lässt die Kameliendame in einer durch pragmatische Einschätzung, klare Sachlichkeit und ehrliche Begründung gefestigten Position erscheinen, deren Weg auf das Ziel einer endgültigen Trennung zuzusteuern scheint. Armand hingegen, kontinuierlich die unerschütterliche Liebe beteuernd und sich auf diese berufend, drängt auf eine gemeinsame Zukunft. Marguerites Schilderung ihres Lebens kann nur durch ihre eigenen Worte in gesamter Realität dargestellt werden. Akt II, dreizehnte Szene Marguerite. ( … ) Tatsächlich, wir haben Liebhaber, die sich ruinieren, nicht unseretwegen, wie sie sagen, sondern aus Eitelkeit; in ihrer Eigenliebe behaupten wir die erste Stellung, die letzte in ihrer Achtung. Wir haben Freunde, Freundinnen, ( … ) deren Freundschaft bis zur Knechtschaft geht, aber nie ohne Eigennutz ist. Was wir tun, interessiert sie kaum, Hauptsache, man sieht sie in unseren Logen oder sie fahren in unseren Wagen spazieren. So ist alles um uns herum Lüge, Schande und Ruin. 28 27 28 Dumas, Die Kameliendame, S. 38 Dumas, Die Kameliendame, S. 41 39 Armand, welcher sich in die Position des abhängigen Bewunderers begibt, ist Marguerites starkem Charakterstolz unterlegen, ihren Anforderungen an Vertrauen und vollkommener Verschreibung nicht gewachsen. Ihre Zuneigung zu Armand entspringt dem bloßen Zufall des Aufeinandertreffens einer Frau, die berechnend nach einem, ihre Bedürfnisse stillenden und Sicherheit spendenden Begleiter sucht, mit einem jungen Mann, attraktiv in der Erscheinung und voller Leidenschaft sowie fanatischem Idealismus. Akt II, dreizehnte Szene Marguerite. ( …) Mitunter habe ich gehofft, ohne es jemandem zu gestehen, einem Mann zu begegnen, hochherzig genug, um keinerlei Rechenschaft von mir zu fordern, und willens, mich zu lieben, wie ich erscheine. Diesen Mann hatte ich im Herzog gefunden; aber das Alter schützt nicht und tröstet nicht, und meine Seele verlangt nach anderem. Da bin ich dir begegnet, jung, leidenschaftlich, glücklich.29 Der zweite Akt des Sprechstücks beschließt mit der Bekennung Marguerites zu Armand. Jene Entscheidung lässt die aufkommende Vermutung eines, einer momentanen Laune entsprungenen Beschlusses nicht unterdrücken. Der zweite Akt der Oper beschreibt sich nun im dritten Akt der Kameliendame. Das die ersten Takte aufgeregt-treibende Orchester begleitet in La Traviata den nun als Solist im Allegro vivace über die jüngsten Geschehnisse repetierenden Alfred, welcher folgend die Seligkeit seiner Gefühle in einem Andante darstellt. Erst in der zweiten Szene erfährt der von Glück Verblendete durch Annina von Violettas Geldnot. 29 Dumas, Die Kameliendame, S. 41 40 Der solistische Beginn bei Piave wird bei Dumas zwar ebenso im Landhaus bei Paris, jedoch mit einem Dialog zwischen Prudence und Armand eingeleitet. In folgendem Zwiegespräch vernimmt der junge Mann sogleich die Wahrheit über Marguerites finanzielle Lage. Armands sowie Alfreds Naivität und ihre der Realität entrückten Träume, zeigen sich in beider erzürnten Reaktion auf die eigentlich als Geheimnis geheißene Tatsache. Ein jedoch von Armand schon kürzlich getroffenes Vorhaben der finanziellen Beteiligung durch die Schenkung des Erbes der Mutter, zeigt im Gegensatz zu Alfred eine gewisse Vorahnung. Vermittelt uns die Oper das Bild einer abgeschiedenen Zweisamkeit Violettas und Alfreds, so spiegelt das Sprechstück ein beruhigtes, jedoch weiterhin von gesellschaftlichen Besuchen der Freunde und Bekannten belebtes Leben wider. Nichettes und Gustaves Erzählung über die Tatsache der Inakzeptanz dieser Verbindung wirkt wie ein Vorgriff, wie eine Vorwarnung der folgenden Szenen. Marguerites erneut sachliche Ansicht über Armands und ihre Situation kommt in Piaves Libretto nicht zum Ausdruck. Akt III, dritte Szene Marguerite. ( ... ) Siehst du Nichette, es gibt Kapitel im Leben einer Frau, die sich nicht wegstreichen lassen; und man sollte es vermeiden, daß (sic!) ein Gatte ihr deswegen Vorwürfe machen könnte. Wenn ich wollte, Armand würde mich noch morgen heiraten; aber ich liebe ihn zu sehr, um ein solches Opfer von ihm zu fordern.30 30 Dumas, Die Kameliendame, S. 47 41 Trotz jener pragmatischen Ansichten, stürzt Marguerite gleich Violetta durch Monsieur Duvals bzw. Georges Germonts Erscheinen und Forderung in Verzweiflung. Im Glauben, den erwarteten Geschäftsmann willkommen zu heißen, empfängt Marguerite Monsieur Duval, Violetta Georges Germont. Der in der Oper durch die Baßgruppe begleitete Auftritt Alfreds Vater, erweckt eine bittere Vorahnung. Der Zorn Monsieur Duvals über Armands geplante Schenkung bleibt durch die schon zuvor ausgelassene Schilderung des Vorhabens in La Traviata aus. Trotz des Vaters Erkenntnis über Marguerites/ Violettas reine Gedanken und ihre für Armand/ Alfred erbrachten Opfer, überwiegt Egoismus sowie die Angst vor sozialer Verachtung und lässt den Mann mit der falschen Rechtfertigung des „wahren Liebesbeweises“ das Unertragbare verlangen. In Pura siccome un angelo schildert Germont das Schicksal seiner Tochter. Durch Violettas Unglück soll ihre Zukunft dem Glück gegeben sein. Ahnend hält Violetta den vernichtenden Worten entgegen, versucht das Unfassbare mit einer nur vorläufigen Trennung zu verhindern. Die aufkommenden Unruhen der Violinen treiben den Dialog zur Aussprache der endgültigen Forderung und lassen Violetta nach dem letzten kraftvollen Aufbäumen in eine bittende, von kurzatmigen Staccato begleitete Verzweiflung ausbrechen. Fast zynisch erklingen Germonts antwortende, durch Legato aneinander gebundene Worte, die Violettas Todesgedanken folgen. Von innerer Kälte und Selbstsucht getrieben, schildert der Vater Monsieur Duval eine mögliche zukünftige Haltung seines Sohnes. 42 Akt III, vierte Szene Duval. Ihre Begegnung ist nicht die Frucht reiner Sympathien, die Vereinigung zweier unschuldiger Neigungen; es ist Leidenschaft in ihrer irdischsten und menschlichsten Gestalt, geboren aus der Laune des einen und der Phantasie des anderen. Was bleibt davon am Ende, wenn ihr beide älter geworden seid? Wer sagt Ihnen, ob nicht die ersten Falten auf Ihrer Stirn den Schleier von seinen Augen ziehen und ob seine Verzauberung nicht mit Ihrer Jugend schwindet? 31 Unter dem Aspekt der väterlichen Befürchtung sind jene Argumente nicht von der Hand zu weisen und ruft Zustimmung hervor - nicht jedoch unter dem aktuellen Aspekt des erbarmungslosen Kampfes um den eigenen Willen. Duvals Unfähigkeit sowie die Unfähigkeit der Gesellschaft, Vergangenes zu tolerieren, veranlassen ihn, Marguerite als wertloses Geschöpf zu werten. Seine fanatische, konventionelle Haltung, macht es unmöglich, die Frau gelöst von ihrer Vorzeit zu akzeptieren. Die folgende Regieanweisung unterstreicht jene innerliche Abwehr zu jeglicher Sympathie für Marguerite. Akt III, vierte Szene Duval. (wider Willen bewegt) Armes Geschöpf! 32 Marguerites / Violettas letztendliche Zustimmung zu Duvals / Germonts Forderung, besiegelt die Gebrochene in einem Brief an den Geliebten. 31 32 Dumas, Die Kameliendame, S. 55 Dumas, Die Kameliendame, S. 56 43 Der Inhalt des Schreibens bleibt dem Zuseher verborgen. Von der Soloklarinette begleitet, verfasst Violetta die letzten Worte an die als neues Lebensglück geglaubte Welt. Gilt das gesprochene Wort als tragendes Hauptelement im Schauspiel, so liegt die Differenzierung des Verhaltens der Charaktere im Text. Das Musiktheater verfügt über eine weitere Dimension, welche die tragende Funktion ausübt. Die Musik ist hier die tiefgründig Vermittelnde und Beschreibende der Seelenund Gefühlszustände. Erfährt das Publikum zu Beginn des zweiten Aktes durch Violetta von Floras Einladung zu einem Fest, so wird jene dem Amusement dienende Veranstaltung bei Dumas erst in der siebten Szene von dem über Violettas plötzliche Abwesenheit beunruhigten Armand erwähnt. Erneut greift der Verfasser der Kameliendame in jener Szene auf die Geschichte von Manon Lescaut zurück. Der in der Oper auf Alfreds panische Reaktion folgende Auftritt Germonts, welcher eine der berühmtesten Bariton-Arien, Di Provenza il mar, il suol …, beinhaltet, ist im Sprechstück in dieser Form nicht vorhanden. Der dritte Akt der Kameliendame endet mit einem verlassenen, von Wut und Verzweiflung gepeinigten Armand, dessen Vater erst am Schluss der Szene, wortlos die Bühne betritt. Sind Armands letzte Worte des Aktes der dem Vater zugewandte, Hilfe und Trost suchende Ausruf Ach, Vater, lieber Vater!, so stürmt Alfred mit dem Ziel, Violetta auf Floras Fest anzutreffen fort. Der folgende Akt kann in der Oper La Traviata als zweites Bild des zweiten Aktes sowie als dritter Akt bezeichnet werden. Im Sprechstück entspricht jenes Geschehen dem vierten Akt. Durch die erste Szene lässt Dumas den Zuseher in den Spielort eintauchen. Die oberflächlichen Unterhaltungen der Gäste beim Glücksspiel, an welchem sich im Gegensatz zur Oper auch weibliche Personen beteiligen, beinhalten 44 gleichermaßen kurze Erwähnungen über die Trennung von Armand und Marguerite. In La Traviata bietet der Auftritt des Coro di Zingarelle sowie des Coro di Mattadori spagnuoli ein kleines Zwischenspiel der Handlung. In der zweiten Szene des Sprechstücks erscheint Armand, welcher einen Dialog mit der ebenfalls anwesenden Prudence führt. Der im Stolz zutiefst Verletzte versucht durch Kühle den Anschein von Desinteresse an Marguerite zu vermitteln. Im Gegensatz zur Oper erfährt das Publikum im Sprechstück von Marguerites jetziger Lebensweise, welche sie in den Tod führen wird. Akt IV, zweite Szene Prudence. Übrigens habe ich sie noch nie so gesehen, wie sie jetzt ist; (…) Wenn sie so weitermacht, kann es nicht mehr lange dauern. 33 Folgt in La Traviata der dritte Akt zeitlich sogleich auf den zweiten - jene Bilder sind zu einem Akt zusammengefasst - befindet sich in Dumas Sprechstück ein Zeitraum von vier Wochen. Der Versuch Armands, ein Leben ohne Marguerite zu führen und dessen Erkenntnis der Unmöglichkeit einer solchen Option, schildert der Verzweifelte seinem Freund Gustave. Verbirgt die Oper dem Zuseher Alfreds verbales Geständnis seiner seelischen Depression, so spüren wir dennoch seinen Versuch, die ungebändigten Gefühle der Enttäuschung durch forderndes Glücksspiel zu ersticken. An Violettas Seite erscheint Baron Duphol, Marguerite wird von de Varville begleitet. 33 Dumas, Die Kameliendame, S. 67 45 Die Anwesenheit des Arztes bei Floras Fest könnte sich grundsätzlich auf seine Erscheinung im letzten Akt auswirken. Wir werden in jenen letzten Szenen ebenso an die dem Arzt geltenden Worte der Hochachtung denken. Akt IV, vierte Szene Arzt. Nein, aber lange kann ich nicht mehr bleiben. Ich habe einen Patienten, den ich täglich zur selben Stunde besuchen muß (sic!), und das schon seit einem halben Jahr. Marguerite. So eine Treue! 34 In dem folgenden Dialog zwischen Marguerite und Armand erfährt der Zuschauer ein Fragment des Briefes an den jungen Duval. Marguerite behauptet somit, sie sei die Geliebte eines Anderen. Piave lässt uns jenen Inhalt eigenständig erahnen. Betritt Georges Germont nach Violettas Todesstoß die Bühne um den Sohn zurechtzuweisen, so erscheint Monsieur Duval in jenem Akt nicht. Arthur de Varville spricht in der Kameliendame die letzten mahnenden Worte. Die zu Boden gesunkene Violetta Valéry trägt verzeihende Worte in weichem Legato über die Chorstimmen, Marguerite Gautier hingegen bricht unter jener Bloßstellung ohne jegliche Kraft für weitere Erläuterung zusammen. Zu Beginn des fünften und letzten Akts des Sprechstücks kümmert sich der Freund Gaston liebevoll-fürsorglich um die zu Tode erkrankte Marguerite. Jener hat die übernächtige Nanine vertreten. Der vierte Akt der La Traviata hingegen zeigt uns eine verlassene Violetta, an deren Seite einzig die treue Annina wacht. 34 Dumas, Die Kameliendame, S. 70 46 Der Arzt erscheint. Marguerites Worte lassen uns an jene des vorangegangenen Aktes denken, als sie die eigene bittere Zukunft noch als weit entfernt hoffte. Akt V, zweite Szene Marguerite. Der gute Dokter! Seine erste Visite gilt immer mir. 35 Im Gegensatz zu Violetta, welche der Versicherung einer baldigen Genesung des Arztes ihren letzten hoffenden Glauben schenkt, beurteilt Marguerite ihre Situation mit einem klaren Wissen um den nahenden Tod. Akt V, dritte Szene Marguerite. ( … ) Als Gott die Lüge eine Sünde nannte, hat er für den Arzt eine Ausnahme gemacht und hat ihm die Erlaubnis gegeben, täglich so oft zu lügen, wie er Kranke besucht. 36 Die temporäre Festlegung setzt Alexandre Dumas auf den ersten Januar, Francesco Maria Piave hingegen verlegt Violettas letzte Stunden in die Zeit des Karnevals. Freunde der Vergangenheit lassen Marguerite Geschenke schicken, die Kameliendame der La Traviata ist von jener Welt gnadenlos abgeschnitten. Doch nicht einzig aufmerksame Wünsche, auch berechnende Bekanntschaften jener Vorzeit erscheinen in Dumas Sprechstück. Die Güte Marguerites macht sich die um Geld bittende Prudence zunutze. 35 36 Dumas, Die Kameliendame, S. 80 Dumas, Die Kameliendame, S. 81 47 Akt V, fünfte Szene Marguerite. Wieviel ist noch drin? Prudence. Fünfhundert Francs. Marguerite. Also, dann nehmen Sie nur die zweihundert Francs, die Sie brauchen. (…) Nanine. Sie ist doch wieder wegen Geld gekommen? Marguerite. Ja. 37 Auch in der Oper gibt die barmherzige Violetta ihr letztes Geld den Armen. Nach der Monsieur Duvals Brief wiedergebenden Rezitation Marguerites sowie dem erzählenden Parlando Violettas, erscheint der lang ersehnte Armand/ Alfred. Die Kraft schöpfende Violetta glaubt an eine gemeinsame Zukunft, an die Besiegung des wartenden Todes. Auch Marguerite klammert sich für Sekunden an neue Hoffnung - das unaufhaltsame Ende, welches Violetta weiter verdrängt, tritt jedoch sogleich erneut in ihr Bewusstsein. 37 Dumas, Die Kameliendame, S. 83 48 Akt V, achte Szene Marguerite. ( … ) Früher oder später muß (sic!) die menschliche Kreatur an dem sterben, wovon sie gelebt hat. (…) Marguerite. ( … ) Eben bin ich für einen Augenblick zornig gewesen gegen den Tod; das bereue ich jetzt; er ist notwendig, und ich liebe ihn, denn er hat ja gewartet mit seinem Zugriff. 38 Monsieur Duval bittet einzig in seinem Schreiben um Vergebung, Georges Germont hingegen erscheint nach Alfred an Violettas Seite. Marguerite Gautier stirbt im Kreise der noch heran eilenden, frisch vermählten Freunde Nichette und Gustave, Nanine und Armand. Violetta Valéry weiß Alfred, Georges Germont, Annina und den Arzt als Begleiter ihrer letzten Atemzüge. 38 Dumas, Die Kameliendame, S. 87 f. 49 Konzept Bühne Anders als im Libretto festgelegt, verzichte ich auf die lokalen Bestimmungen der einzelnen Akte bzw. zugeteilten Schauplätze der einzelnen Szenen. Ein monumentales Treppenelement verwandelt den Raum fortwährend durch die Möglichkeit einer Drehscheibe, welche aus zwei unabhängig voneinander steuerbaren Elementen - Kernscheibe sowie Außenring - besteht. Skalpellscharfe, dem Verlauf der Scheibenteilung angepasste Schnitte zerlegen jenes Element in vier unterschiedliche Bruchstücke. Die Treppe, die sich in einem Schwung um eine gedachte Vertikalachse windet, scheint mit dem Bühnenraum verwachsen zu sein. Ein sich in die Höhe windender, konischer Verlauf verringert die Stufenbreiten immerzu. Unterschiedliche Höhen sowie Tiefen der Trittflächen strukturieren den Verlauf. Schmale, kaum dem Fuß Platz bietende und zum Weiterlaufen drängende Streifen, ausgedehnte Ebenen, mit einem Schritt schwer überwindbare Höhendistanzen sowie geringe, fast unmerkliche Unterschiede bauen die Treppe auf. Ein jäher Abbruch des Treppenverlaufs lässt vor einer einem Abgrund gleichen Kante innehalten. Das durch und durch gläserne Gebilde wird von einem schwarzen Sockel getragen. Die harte Oberfläche ist kalt und abweisend, wirkt jedoch zugleich zerbrechlich. Jegliche Lichtschattierungen werden aufgenommen und glühend wiedergegeben. Im unteren Teil überzieht eine schwarze Lackschicht die Ebenen und bildet eine amorphe Oberfläche. Diese dient einmal als Sitz- und Liegemöglichkeit, einmal lässt sie an achtlos gelagerte Leichensäcke erinnern. 50 Die Treppe, jene „Lebensspirale“ Violettas, wird von zwei keilförmig zusammenlaufenden Wandsystemen eingeschlossen und lässt somit die Flucht aus dieser Umgebung zur Unmöglichkeit werden. Bedrohlich fallen die in ihrer Neigung unterschiedlichen Oberkanten ab. Einmal finden sich die Personen vor einer abweisenden Wand, welche schonungslos ihren Bewegungsraum reflektiert. Ein harter Spiegel wirft das Bild jener Welt in den Raum zurück. Dann wiederum wird die Wand zu einer erbarmungslosen Grenze, welche dem Blick das „Erfassen“ des dahinter liegenden Bereichs gewährt. Gleich Schatten erscheinen die Gestalten in verschiedenen Ebenen – beobachtend, vorbei eilend, isoliert oder als bedrohliche Masse. Auch als dunkle, abweisende Mauer kann die Wand im Raum stehen – sie rückt somit in den Hintergrund, verschwindet ins Unmerkliche. Der dahinter liegende Wandaufbau nimmt die Farbstimmungen auf und reflektiert sie. Wie ein schillernder Keil wächst er über die vordere Wand hinaus. Getrieben, suchend und flüchtend – Unzufriedenheit, Einsamkeit und Angst jagen Violetta Valéry in ein rauschhaftes Leben der Oberflächlichkeit und Verdrängung. Jeder Einzelne ihrer Gesellschaft ist Bestandteil einer gesichtslosen Masse, die sich den Gesetzen von Reichtum und Äußerlichkeiten ergibt. Für Individuen wird kein Platz geboten. Gleich dem Treppenaufbau, welcher sich von der erdrückenden, an die ständige Gegenwart des Todes erinnernden Schicht zu befreien und ihr zu entwachsen sucht, weckt die Begegnung mit Alfred in Violetta den Glauben an eine Chance der Abwendung von jener Umgebung. Das seit jeher entbehrte Gefühl von Geborgenheit und Liebe sucht die Verzweifelte nun in der Verbindung zu jenem Mann, welcher in Violetta einerseits durch den „Exotismus einer fremden Welt“ und andererseits durch das Verlangen einer Rebellion gegen das Elternhaus angezogen wird, zu finden. 51 Konzept Kostüm Chor Baron Duphol Gaston, Vicomte von Letorière / Marquis d'Obigny / ein Diener Floras / Doktor Grenvil ( Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild) Akt I sowie Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild Hauteng legt sich das hochglänzend-schwarze Material an den Körper. Die Personen scheinen ein Teil der die Treppe befallenden Schicht zu sein – die von der glamourösen Welt Abhängigen sind wie Gefangene ihres Lebensrausches. Teilweise aufgebrochene Stellen des Gewandes legen Haut frei, glänzende aus dem Inneren herausbrechende Steine und Kristalle sowie dunkle Arabesken bedecken die Glieder, entfremden die gesichtslosen Häupter noch mehr. Individuen finden keinen Platz in jener Welt – die Physiognomie lässt keine Identifizierung Einzelner zu. Nackte Haut und maßloses Verlangen nach Reichtum verschmelzen zu einer den gesellschaftlichen Niedergang verkörpernden und somit dem Tod geweihten Masse, welche sich zu einem Gebilde abgestorbener wie in Leichensäcke gehüllte Körper verwandeln kann. Violetta Valéry Akt I Über und über ist Violettas Körper mit Steinen besetzt. Die vom Tod Verfolgte dominiert die dem Untergang geweihte Welt und hebt sich schimmerndglänzend heraus. Gleich der Treppe nimmt Traviata die Lichtstimmungen der schnelllebigen, oberflächlichen Umgebung auf und gibt sie schillernd wieder. Einschnürend legt sich das Oberteil über den Brustkorb, fließend fällt der gläsern-transparente Stoff zu Boden. 52 Flora Bervoix Akt I Wie auf einer Zwischenstufe von Violetta und der Masse bewegt sich Flora im Raum. Alfred Germont Akt I Unscheinbar versucht sich Alfred der Gesellschaft anzupassen. Fasziniert und mitgerissen von jener „verbotenen Welt“ bleibt er kaum auffallend im Hintergrund - beobachtend, bewundernd, fremd. Violetta Valéry Akt II Den Versuch, die Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen, bekräftigt Violetta durch die optische Veränderung. So verstärkt sie den Wunsch einer „seriösen“ Welt anzugehören und mit dem Gewesenen zu brechen mit ihrer äußeren Erscheinung. Sie unterstreicht die Situation des von ihr nun als gefunden geglaubten Lebensglückes zusätzlich und trägt ihre vorübergehende Seligkeit nach außen. Alfred Germont Akt II Die Errungenschaft aus der faszinierend-exotischen Welt lässt Alfred stolz seine als unzerstörbar scheinende Lebenssituation genießen. Farblich an Violetta angepasst fühlt sich der junge Mann irrtümlich wie ein Teil von ihr, mit ihr verbunden - als Retter, Eroberer, Verstehender. 53 Georges Germont Akt II sowie Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild sowie Akt IV / bzw. Akt III Erstarrt in Regeln und Konventionen - auch Germont ein Gefangener. Getrieben von der inneren Besessenheit einer mustergültigen Welt, zieht er in einen alleinigen Kampf gegen die in seinen Augen herrschende Sittenwidrigkeit. Annina Akt II sowie Akt IV / bzw. Akt III Wie eine Vorbotin gleicht sie den abweisenden, isolierten Gestalten des vierten Aktes, in welchem auch sie ohne Individualität erscheinen wird. Violetta Valéry Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild Als Gebrochene kehrt Violetta in die unveränderte Vergangenheit zurück. Ihre Position ist neu besetzt - wie eine Fremde findet sie sich in der alten Welt wieder.An dem Versuch der Rückkehr und eines erneuten Anpassens scheitert die Verzweifelte. Violetta erscheint ganz in Rot gekleidet – kämpfend und kraftvoll jedoch einzig die äußere Erscheinung - mühsam trägt sie den schweren Stoff an ihrem Körper. Funkelnde Steine, glänzende Kristalle, im Licht changierende, den Körper verführerisch einhüllende Stoffe sind Teil einer Welt, die für Violetta nicht mehr zu ertragen ist. 54 Flora Bervoix Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild Sie hat Violettas Stelle eingenommen. Alfred Germont Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild sowie Akt IV / bzw. Akt III Wutentbrannt, in seinem Stolz verletzt und zutiefst gekränkt taucht Alfred erneut in die für ihn ursprünglich das ungewisse Abenteuer verkörpernde Welt ein. Offensichtlich demonstriert er diesmal seine Abneigung gegenüber der ihm „Violetta raubenden“ Gesellschaft. War sein Versuch zu Beginn sich möglichst anzupassen, erscheint er nun in einem farblichen Kontrast – sich seiner Herkunft offen bekennend, dem Vater unterordnend, zieht Alfred in seinen vernichtenden Rachefeldzug. Sein durch Violetta an seiner Seite neu-errungenes Selbstbewusstsein wird zu ihrem Todesstoß. Violetta Valéry Akt IV / bzw. Akt III Langsam entkleidet sich Violetta, befreit sich von der schweren Last. Einzig das Untergewand bleibt ihr. Im Tod erst wird sie die endgültige Befreiung und Erlösung finden. Chor Akt IV / bzw. Akt III Leblos ist Violettas Umfeld. Die farblosen Personen, welche in der Welt des nächtlichen Rausches Violetta umgaben, treten nun teilnahmslos der Sterbenden gegenüber. 55 Konzept im Ablauf Vorspiel / Preludio Der Blick ist nicht auf die Bühne freigegeben. Ein dunkler Schleier bedeckt den Portalausschnitt, sodass einzig feine Konturen des dahinter Liegenden zu erahnen sind. Allein die Musik erfüllt den Raum. Kraftvoll erklingen die einleitenden Takte des ersten Aktes. Der Schleier fällt und wird rasch weggezogen. Die in rotes Licht getauchte Bühne entfaltet sich vor dem Publikum. Akt I Wie eine Showtreppe glüht das Glasgebilde im Licht. Ein Festgelage versammelt die Gesellschaft, welche sich auf und um das Torsionselement drängt. Die gesichtslose Menge scheint wie ein Teil der erdrückenden schwarzen Schicht - als wären sie zu einer Masse verschmolzen. Einzig Violetta betritt die oberen Flächen der Stufen, welche sich empor windend zu befreien suchen. Ihr wird Alfred vorgestellt. Violettas Position in dieser ihn magisch anziehenden Gesellschaft „der Verruchten“ sowie die damit verbundene Distanzierung und Rebellion gegen den Vater lassen Alfred in einem Moment abseits der Gesellschaft seine vermeintliche „Liebe“ gestehen. Eine Kamelie soll, wenn diese verwelkt ist, einen weiteren Besuch erlauben. Die allein zurückgebliebene Violetta versinkt in Gedanken. Die Hoffnung auf eine Geborgenheit und Sicherheit schenkende Umgebung ist erweckt. 56 Die Angst lässt sie jedoch erneut in ihr schillerndes, ablenkendes Leben flüchten. Akt II Die Form der Treppe hat eine neue Gestalt angenommen. Es wurde versucht, die durch die Bewegung in Fragmente zerteilte Treppe zu verbergen, aus dem Leben zu verdrängen. Dennoch scheint es unmöglich, die scharf durchschnittenen Formen in Vergessenheit geraten zu lassen. Das mittlere Treppenfragment ist abgesenkt und hinterlässt einen weitflächigleeren Ort. Wie ein gefährlicher Schlund liegt die entstandene Öffnung, ein steter Abgrund, im Raum. Violetta hat durch die Verbindung zu Alfred neue Sicherheit gefunden. Selbst die ständige Anwesenheit des bevorstehenden Todes ist vergessen. Teuer erkauft sie sich dieses neue Leben. Als der naive, liebestrunkene Alfred von Violettas Kostenaufwand erfährt, eilt er fort um eine Möglichkeit zu finden, selbst seiner weiblichen Errungenschaft zur Seite zu stehen. In der Zeit Alfreds Abwesenheit erscheint dessen Vater, Georges Germont. Für den ebenso Regeln und Gesetzen oberflächlichen Ansehens und Äußerlichkeiten unterlegenen Germont, ein in Konventionen gefangener Mann, gilt der momentane Lebenszustand seines Sohnes mit Violetta als schändlich. Er fordert von ihr, Alfred zu verlassen. Für Violetta bedeutet dieses Verlangen den Zusammenbruch ihres neuen Lebens, ihrer neuen Welt. All ihre nun als erfüllt geglaubten Sehnsüchte, das Vergessen des ständigen Begleiters Tod, die Wärme und Geborgenheit fallen in Scherben vor ihr zu Boden. Die wieder Suchende will sich in ihr vorheriges Leben flüchten, den Schmerz über das Verlorene im alten Rausch des schillernden Nachtlebens ertränken. 57 Alfred glaubt an ihre Abhängigkeit von jener Vergangenheit und an den Verrat an seiner Liebe. Der Vater vermag es nicht, den Sohn zu beruhigen. Wutentbrannt stürmt Alfred zu Floras Fest um Violetta zu finden. Akt III / bzw. Akt II, zweites Bild Die Kameliendame findet sich erneut an dem verdrängten Ort der Vergangenheit. Nur die Perspektive hat sich transformiert. Violettas Abwesenheit hat nichts verändert, einzig ihre Position wurde von Flora eingenommen. An der Seite von Baron Duphol kehrt die Heimatlose zurück. Auf die Szene der Zigeunerinnen und Stierkämpfer möchte ich verzichten, da diese Einlagen nach meinem Empfinden in die sich jagenden Geschehnisse einfallen, den Handlungsstrang unterbrechen. Als Alfred erscheint ist es Violetta kaum möglich, die auswegslose Situation ihrer Gefühle zu ertragen. Sie drängt ihn zu gehen, da sein Leben auf Grund der Anwesenheit Duphols in Gefahr ist. Als dieser nur mit ihr den Ort zu verlassen gedenkt und nach ihrer Liebe zu dem Baron fragt, antwortet Violetta um seines Schutzes willen zustimmend. Von Eifersucht getrieben ruft Alfred die Menge herbei und erniedrigt Violetta, in dem er ihr das soeben beim Spiel gewonnene Geld als Entschädigung ihrer „Liebesdienste” vor die Füße wirft. Er wagt es, die weiter oben liegenden Flächen des Glasgebildes zu betreten, in Violettas Bereich vorzudringen. Die Treppe setzt sich in Bewegung und bricht auseinander. Verwelkte Kamelien ergießen sich aus dem Inneren des Sockels über die Bodenfläche. Violetta bricht zusammen. 58 Georges Germont, welcher die empörte Reaktion der Gesellschaft auf Alfreds Tat nicht zur Last des Rufs seiner Familie werden lassen möchte, weist diesen zurecht. Baron Duphol fordert den Reue fühlenden Alfred zum Duell. Akt IV / bzw. Akt III Der Übergang erfolgt fließend. Alleine findet sich Violetta an dem Ort der Bloßstellung zurück. Langsam setzen sich die Treppenfragmente in Bewegung. Verlassen, den Tod fühlend irrt Violetta durch die zerstörte Umgebung ihres Lebens. Wahnvorstellungen jagen Visionen und lassen die Verzweifelte nicht zur Ruhe kommen. Immerfort sind die Treppenfragmente in Bewegung – kaum merklich schieben sie sich in ständig wechselnde Positionen. Der Raum ist in ein fahles, kühles Licht getaucht – tot, fast farblos. Gestalten erscheinen. Es sind jene Personen, die einst ein Teil Violettas rauschender Welt waren. Für die von ihrem Nachtleben isolierten Menschen hat Violetta Valéry keine Bedeutung. Kühl-abweisend scheinen sie die Sterbende nicht wahrzunehmen. Alleine irrt die vom Weg Abgekommene zwischen den zerstörten Zeugen ihrer gescheiterten Suche nach Erfüllung durch die endzeitliche Landschaft. Unzählige Personen bewegen sich im Raum, lassen ihre Umrisse durch die Wand erkennen. Teilnahmslos zerstreuen sich die isolierten Erscheinungen, welche sich nun von ihrer anderen Seite, fernab des Nachtlebens, zu erkennen geben. Regungslos lassen sie einen verzweifelten, sich in letzte rettende Wahnvorstellungen flüchtenden Menschen in ihrer Mitte sterben. Verloren fällt Violetta in die vom Leben erlösenden Arme des Todes. 59 Quellenangaben Literaturverzeichnis Budden, Julian: Entstehungsgeschichte der Oper. Online-Publikation. URL:http://www.opernair.at/downloads/geschichte.pdf. Stand: 02.10.2011. Dumas fils, Alexandre: Die Kameliendame. Schauspiel in fünf Akten. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 1974. Kloiber, Rudolf / Konold, Wulf / Maschka, Robert: Handbuch der Oper. 11.Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG 2006. Schwandt, Christoph: Verdi. Eine Biographie. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2000. Werfel, Franz: Verdi. Roman der Oper. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1976. Klavierauszug Verdi, Giuseppe: La Traviata. Oper in drei Akten. Kassel: Bärenreiter-Verlag, 1961. Diskografie Giuseppe Verdi, La Traviata. National Philharmonic Orchestra, Richard Bonynge.Audio-CD. London: DECCA 1981. 60 61