POLITIK Gemeindepolitik professioneller positionieren Das diesjährige Politforum Thun widmete sich dem Thema politische Mitwirkung. Dabei wurden neue Ideen für die Gewinnung von Gemeindepolitikerinnen und -politikern präsentiert. Robert J. Zaugg, Dozent für Personalmanagement, Organisation und Leadership, plädierte dafür, den «Musterbruch» zu wagen und die Tätigkeitsfelder in Gemeinden mit den Mitteln eines modernen Personalmanagements professionell zu bewirtschaften. In vielen Schweizer Gemeinden wird es zunehmend schwieriger, Bürgerinnen und Bürger für die Übernahme von politischen Ämtern in Gemeinderäten und Kommissionen zu finden. Am achten Politforum Thun wurde nach neuen Lösungsansätzen gesucht – «Wer macht (noch) mit? Politische Mitwirkung fordern und fördern!» lautete dementsprechend der Titel der Veranstaltung, die am 8./9. März stattfand. Fakten und Zahlen zu den in den Behörden der Gemeinden engagierten Personen hat Andreas Ladner, Professor am Institut für öffentliche Verwaltung an der Universität Lausanne, zusammengetragen und in Thun präsentiert. Die Zahlen zum «Personalbestand» der Gemeinden sind erstaunlich; gemäss Ladner waren Anfang 2010 in den damals 2596 Gemeinden im Durchschnitt knapp sechs Gemeinderäte, insgesamt also rund 15 300 Personen tätig. Davon bekleideten ungefähr 350 ein Vollamt. Die Gesamtzahl der Mitglieder von Exekutiven, Parlamenten und Kommissionen schätzt Ladner auf 120 000 bis 150 000 Personen. Gemäss seinen Untersuchungen bekunden rund zwei Drittel der Gemeinden Mühe, geeignete Kandidatinnen und Kandidaten für den Gemeinderat zu finden. Parteilose sind die grösste «Partei» Ladners Zahlen zu den kommunalen Exekutiven sind nicht ganz aktuell, in der Tendenz aber sicher nach wie vor richtig – befragt wurden die Gemeindeschreiber 1988, 1994, 1998, 2005 und 2009. Demnach sind fast acht von zehn Gemeinderatsmitgliedern Männer, nur eines von sieben Präsidien wird von einer Frau bekleidet. Unterdurchschnittlich vertreten sind Frauen, Junge und Ältere, untervertreten sind gemäss Ladner auch kinderlose und weniger gebildete Personen. Die Befragungen zeigen zudem eine grosse und wachsende Bedeutung der Parteilosen – sie sind in den Gemeinden mit einem Anteil von 39 Prozent bereits die grösste «Partei». Ob sich aus diesen Zahlen ableiten lässt, dass bei Frauen, Jungen und Älteren das «Rekrutierungspotenzial» am grössten ist, blieb auch am Politforum 2013 unbeantwortet. Die von Ladner präsentierten «Rezepte» sind bekannt: attraktivere Ämter, mehr Wertschätzung, bessere Entschädigung, professionelle Unterstützung der Milizpolitiker durch Parteien und Verwaltung. Gemeindefusionen sind für Ladner keine Patentlösung: «Mit Fusionen lassen sich kaum alle Probleme lösen.» Die Politologe Andreas Ladner ist überzeugt, dass sich mit Gemeindefusionen kaum alle Probleme lösen lassen. Bilder: Philipp Zinniker 26 Gemeinden hätten zu unterschiedliche Aufgaben, und es gebe keine ideale Grösse. Den Ansatz für Territorialreformen sieht er in «Lebenswelten» – man müsse stärker von den Aufgaben und Funktionen ausgehen und weniger in Strukturen denken, sagte Ladner. «Im Vordergrund sollte eine möglichst weitreichende Selbstbestimmung stehen.» Allerdings gab der Wissenschaftler zu bedenken, dass die Gemeinden nur gestärkt werden können, wenn die Kantone Kompetenzen abgeben. Für Ladner ist aber auch klar, dass nicht alle Gemeinden zwingend dieselben Kompetenzen haben müssen: Es brauche komplexere Strukturen. «Das schadet nicht und ist machbar, auch wenn daraus eine vierte Staatsebene entsteht.» Gemeinden müssen ihre Perspektive erweitern Neue Ideen zur Gewinnung und Motivation von Gemeindepolitikerinnen und -politikern präsentierte Robert J. Zaugg, Dozent für Personalmanagement, Organisation und Leadership an der Universität Fribourg und Managementberater. Das Grundproblem der Politik sei, dass sie ihre Art der Rekrutierung kaum verändert habe, obwohl sich die Gesellschaft rasch wandle. Mit traditionellen Die «Berner Elefantenrunde» diskutierte unter der Leitung von Moderator Stefan Geissbühler (Mitte) über die Personalpolitik in Parteien. Schweizer Gemeinde 4/13 POLITIK Ansätzen sei der Personalknappheit allerdings nicht beizukommen. «Es gilt, bei der Gewinnung, Motivation und Entwicklung von Gemeindepolitikerinnen und -politikern neue Wege zu gehen – ein Musterbruch tut not.» Wer nicht vorwärtsgehe, bewege sich rückwärts, sagte Zaugg und forderte, die Gemeinden müssten ihre Perspektive erweitern, wenn sie geeignete Kandidaten für Exekutivämter gewinnen wollen. Das Personalmanagement hat sich grundlegend verändert Ein professionelles Bewirtschaften der an sich sehr spannenden und attraktiven Tätigkeitsfelder in Gemeinden mit den Mitteln eines modernen Personalmanagements könne helfen, sagte Zaugg. Rekrutierungs-, Selektions- und Entwicklungsprozesse in privatwirtschaftlichen Unternehmen und in der öffentlichen Verwaltung könnten zwar nicht eins zu eins auf öffentliche Ämter übertragen werden, gab Zaugg zu bedenken. Doch die Privatwirtschaft kenne vergleichbare Problemstellungen und habe intelligente Antworten darauf entwickelt. Er rief die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf, auszuprobieren, ob sich bewährte Ideen aus diesen Unternehmen nicht auch für öffentliche Ämter eignen. «Das Personalmanagement und damit auch die Art und Weise, wie Unternehmen und öffentliche Institutionen zu geeigneten Mitarbeitenden kommen und diese halten, hat sich grundlegend verändert», sagte Zaugg. Während früher Werte wie Arbeitsethos und Einsatz für das Gemeinwohl im Vordergrund gestanden hätten, seien heute keine eindeutigen Wertetrends erkennbar. Vielmehr würden scheinbar gegensätzliche Werte wie Wille zur Leistung und Hedonismus nebeneinander existieren, und der Wunsch nach Individualität sei nicht Foren und «Berner Elefantenrunde» In vier Foren wurden am ersten Tag des Politforums Thun Fragen rund um die Partizipation der Bevölkerung in den Gemeinden erörtert. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels wurden Möglichkeiten der Förderung von politischer Mitwirkung von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – Jugendliche, Seniorinnen und Senioren, Ausländerinnen und Ausländer – vorgestellt und diskutiert. In einem Forum stand die Frage der Mitwirkung der Bevölkerung bei Ortsplanrevisionen im Zentrum. Unter der Leitung von Stefan Geissbühler, Chefredaktor des «Thuner Tagblatts», diskutierten am zweiten Tag die kantonalbernischen Parteipräsidenten Rudolf Joder (SVP, bis 2012), Pierre-Yves Grivel (FDP), Roland Näf (SP) und Heinz Siegenthaler (BDP) über die Herausforderungen der Personalpolitik. Einig war sich die «Berner Elefantenrunde» darin, dass es Aufgabe der Parteien und der Behörden sei, die Lust am Politisieren zu wecken. Er habe noch nie erlebt, dass ein Gemeinderat seinen Entscheid, ein politisches Amt zu übernehmen, im Nachhinein bereut habe, stellte Siegenthaler fest. Grivel betonte, wie beim Sport seien auch bei der politischen Partizipation Engagement und Motivation entscheidend, Zwang bringe nichts. Wenn immer weniger Leute Exekutivämter übernehmen wollten, sinke die Qualität der Politik, hielt Näf fest. Joder wies darauf hin, dass Sachthemen für den Einstieg in die Kommunalpolitik entscheidend seien und nicht Parteiprogramme. selten mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem Kollektiv gepaart. Menschen wollen sich entwickeln und sinnvolle Aufgaben übernehmen Welche Lösungsansätze sind nun gemäss Zaugg denkbar? Grundsätzlich gelte, dass Menschen sich entwickeln sowie sinnvolle und fordernde Aufgaben übernehmen wollen. «Wenn es gelingt, die Sinnhaftigkeit und die soziale Verantwortung anzusprechen sowie aufzuzeigen, dass mit der Tätigkeit in einem Exekutivamt eine Entwicklung und ein grosser Erfahrungsgewinn verbunden sind, dann dürfte es einfacher sein, geeignete Personen zu finden.» Handlungsbedarf sieht der Wirtschaftswissenschaftler auch bei der Kommunikation. Internet und soziale Medien erlauben es jedermann, sich umfassend zu informieren. Kandidaten fänden spannende Stellen bei interessanten Unternehmen oder öffentlichen Institutionen und nicht umgekehrt. Dies sei auch bei der Gewinnung von Gemeindepolitikerinnen und -politikern zu beachten. «Es muss gelingen, die positiven Seiten des Exekutivamtes bekannter zu machen.» Viele Leute wüssten nicht, was ein solches mit sich Dozent und Managementberater Robert J. Zaugg plädierte dafür, den bringe, und oft würden sie nur die «Musterbruch» zu wagen. Schweizer Gemeinde 4/13 negativen Seiten kennen. Die Tätigkeit als Gemeindepolitiker, welche die persönliche Entwicklung fördern und zu Status- sowie Erfahrungsgewinn führen könne, müsse angemessen und professionell kommuniziert werden. Dialogorientierte Veranstaltungen in Bildungsinstitutionen, die Zusammenarbeit mit Vereinen und Verbänden, die Nutzung sozialer Medien, die regelmässige und offene Information der Bevölkerung über die Tätigkeit von Gemeindepolitikern (z.B. über einen Blog) sowie die Schaffung von Begegnungsmöglichkeiten (z.B. durch einen «Tag der offenen Tür») seien denkbare Wege. Die Potenziale ausschöpfen «Talente finden sich in allen Altersstufen», ist Zaugg überzeugt. Es gelte, die Potenziale auszuschöpfen. Vom Potenzial der Frauen könne etwa profitiert werden, wenn flexible Arbeitsformen angeboten werden, von den Jungen könne profitiert werden, wenn sie frühzeitig sensibilisiert und in den politischen Prozess eingebunden würden. Nützlich könne es auch sein, spannende Schulungsangebote bereitzustellen. Dabei könnten neue Lernformen genutzt werden, beispielsweise das Webinar – ein Seminar, das über das Internet gehalten wird – für potenzielle, angehende und aktive Gemeindepolitikerinnen und -politiker. Und auch das Smartphone eröffne Möglichkeiten. Zaugg: «Wieso nicht eine App entwickeln, mit der die Tätigkeit als Gemeindepolitiker simuliert werden kann?» Steff Schneider, Philippe Blatter 27