© SonntagsZeitung; 11.01.2009; Nummer 2; Seite 14 Fokus «Die Tschooli, bei denen sich alle beschweren» Politologe Andreas Ladner über parteilose Gemeinderäte, Pflichtgefühl, Filzverdacht und Fusionen Professor Ladner, weshalb wollen immer weniger Bürger etwas mit der Gemeindepolitik zu tun haben? Die Politik hat an Stellenwert eingebüsst. Wer in der Gemeinde politisierte, genoss früher ein hohes Ansehen. Jetzt gelten die Gemeindepolitiker schnell einmal als die ‹Tschooli›, bei denen sich alle Leute beschweren. Ich bedaure dies sehr. Also sitzen in den Räten nur noch Bauunternehmer und Handwerker, die sich Aufträge zuschanzen können? Mit dem Filzverdacht tun Sie den Gemeindepolitikern Unrecht. In den Exekutiven der Gemeinden sitzen 15 500 Leute, der grössere Teil davon nicht aus Eigennutz. Natürlich sieht der eine oder andere Gemeinderat Synergien mit seiner beruflichen Tätigkeit. Aber viele setzen sich wirklich aus Pflichtgefühl ein und geben ihre Ämter auch gerne wieder ab. Was raten Sie den Gemeinden, die keine Freiwilligen finden? Sollen sie die politischen Ämter professionalisieren? Nein, für mehr als 70 Prozent der Gemeinden wäre das ein Blödsinn: Sie können sich kaum eine professionelle Verwaltung leisten, und schon gar keinen vollamtlichen Gemeinderat. Es gibt nur in etwa 300 Gemeinden vollamtliche Präsidenten. Viele Gemeinden erhöhten in den letzten Jahren die finanziellen Anreize etwas, aber bisher kommen nur wenige in den Bereich einer angemessenen Entschädigung. Wenn es nicht mehr genug Leute für die Ämter gibt, müssen wir halt mit Gemeindefusionen die Zahl der Ämter verringern. Diese Entwicklung läuft ja, die Zahl der Gemeinden wird deutlich zurückgehen. Im internationalen Vergleich bleiben unsere Gemeinden aber klein. Dänemark hat noch 100 Gemeinden, dafür haben sie viel mehr Aufgaben und damit auch Mittel. Was halten Sie denn vom Glarner Modell mit noch drei Gemeinden im Kanton? Das ist ein mutiger Schritt: eine wirkliche Reorganisation des ganzen Tales. Solche grösseren Zusammenschlüsse können tatsächlich eine neue Qualität bringen. Sie beobachten einen «Exodus der Parteien aus der Lokalpolitik». Ja, die Parteistrukturen verschwinden vor allem in den kleinen Gemeinden langsam: Die stärkste Partei in den Exekutiven aller Gemeinden bilden mit 30 Prozent die Parteilosen. Die Parteien stellen deshalb immer mehr Parteilose auf – und werden dann gefragt, was sie mit Gewählten tun können, die sich nicht ans Parteiprogramm halten. Was sollen die Parteien machen, wenn ihre Leute nicht mehr aus den Lokalsektionen kommen und sich auf der Ochsentour hochdienen? Auch bei mehr Quereinsteigern wird das traditionelle Modell nicht verschwinden: In den Gemeinden lernt man Konflikte durchzustehen, und davon ist auch die «grosse» Politik nicht verschont. Funktioniert denn unsere direkte Demokratie noch, wenn sie auf der untersten Ebene kaum mehr funktioniert? Die Frage ist, ob die kommunale Selbstverwaltung noch funktioniert. Sie ist zwar immer besser geschult, kann aber nicht ohne demokratische Legitimation entscheiden – das muss die Politik tun. Unsere komplexen politischen Strukturen sind ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Eine Vereinfachung mit grossen, starken Gemeinden macht aber im Prinzip die Kantone überflüssig. Die Leute einzubeziehen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Demokratie zu optimieren, das ist die grosse Herausforderung. Interview: Markus Schär