Interview mit UNZeitgenossen 61 T E X T: B A R B A R A F R I P E RT I N G E R Heraklit – der Dunkle D er beginnende Frühling zog uns auch dieses Jahr wieder hinaus, hinaus in den Süden – in die Türkei. Wir hatten schon lange dieses Gespräch geplant, aber immer wieder aufgeschoben – vielleicht weil wir vor unserem Gesprächspartner ein wenig Angst hatten, vielleicht weil wir ihn uns etwas unheimlich vorstellten – aufgrund seines Rufes, der ihm vorauseilt. Doch wer ein echter Philosoph ist, der lässt sich dadurch nicht wirklich abschrecken, sondern er verwandelt die Situation in eine innere Herausforderung ... und schließlich saßen wir gemütlich an der ionischen Küste, nur wenige Meter neben dem ausgelassenen Clubleben eines Feriendorfes, und führten – fast wider aller Befürchtungen – ein spannendes und tiefes philosophisches Gespräch mit Heraklit – dem Dunklen. A b e n t e u e r P h i l o s o p h i e Wie dürfen wir Sie ansprechen, Herr Herakleite? Heraklit: Ich brauche keine Titel, vielmehr habe ich alle meine oberflächlichen Ämter und Würden, die nur aus meiner adeligen Herkunft resultieren, zurückgelegt. Das Einzige, was einen Menschen adelt und aus der Masse hervorhebt, sind seine gelebten Tugenden, und da es dafür (leider) keinen speziellen Begriff gibt, nennen Sie mich einfach Heraklit. Sie gelten als Menschenverächter. Stimmt das? Heraklit:: Nein, überhaupt nicht. Ich schätze den Einzelnen, insbesondere die Seele jedes Einzelnen, aber ich verachte – vielleicht ist der Begriff zu stark – die Masse. Ich meine hier nicht das Volk als 2 / 2 0 0 7 Ansammlung menschlicher Wesen, sondern das Phänomen „Masse“. Ich hoffe, man kann den Unterschied verstehen. Das Gefühl der Gruppe bringt die Menschen nämlich oft dazu, auf eine Art und Weise zu handeln, wie sie es als Einzelne nie tun würden. Leider führt dieses „Gruppengefühl“ die Menschen meist nicht zum Besseren – sondern eher zu seinem Gegenteil: zur Vermassung, Verdummung und zum Vergessen von Ethik und Moral. ... in der Masse geht das Denken verloren. ... Ich selber habe mich in meinem Leben vollkommen von den Erwartungen und Scheingesetzen der Masse befreit. Daher nennen sie mich den Menschenverächter ... und deshalb können sie mich auch nur so schwer verstehen. Apropos schwer verstehen. In Ihrer Schrift „Über die Natur“ schreiben Sie 62 Interview mit UNZeitgenossen in einer sehr eigenwilligen Art, voller Bilder und Vergleiche, aphoristisch kurz und mehr oder weniger unverständlich. Warum? Heraklit: Auch die Natur liebt es, sich zu verbergen. Daher schreibe auch ich verborgen, damit Sophon (das Weise – Anm. der Redaktion) nicht verzerrt und entwürdigt wird. Die meisten Menschen denken sowieso nicht nach über die Dinge, auf die sie täglich stoßen, noch verstehen sie, was sie erfahren haben. Es sind die Schleier der Illusion und der Unwissenheit, die die Wahrheit verbergen. Also doch ein wenig Menschenverachtung. Heraklit: Und nochmals ein Nein zur Antwort. Ich verachte den Menschen nicht. Aber trotzdem stimmt es, dass die Menschen zu wenig wirklich über das Leben nachdenken. Auch sollten wir wohl generell weniger bewerten. Für den Gott sind alle Dinge schön und gut und gerecht; nur die Menschen halten das eine für gerecht, das andere für schlecht. Aber gehen wir zurück zum Dunklen: Ich schätze viel Gerede und Vielwisserei nicht, denn sie formen nicht den Geist. Es kommt darauf an, den einen Gedanken zu finden, der das Geheimnis der Welt aufschließt. Panta rhei – alles fließt – wie Ihr wohl berühmtestes Zitat lautet – ist das so ein Gedanke, der das Geheimnis der Welt aufschließt? Heraklit: Es ist ein sehr wichtiges Gesetz: Die Wirklichkeit ist ein ständiges Fließen und Sich-Verändern. Alles, was in dieser Welt manifestiert ist, hat weder Anfang noch Ende. Es kennt nur ein immerwährendes Fließen – vom Ursprung zum Endpunkt und wieder zum ersten Ursprung zurück. Meinen Sie hier Ihre berühmten Gegensatzpaare? Heraklit: Ja. Das Fließen, die Bewegung findet immer zwischen Gegensatzpaaren statt – auf der Suche nach dem Gleichgewicht. Daher habe ich auch gesagt: Der Krieg (im Sinne dieser Gegensätzlichkeit) ist der Vater aller Dinge. Wenn heute die Menschen mit irrationaler Unerbittlichkeit ihre Feinde, ihre politischen Gegner oder wirtschaftlichen Konkurrenten bekämpfen, so übersehen sie dabei, dass sie mit der Vernichtung des Gegners auch sich selbst mitvernichten – weil damit auch das Kraftfeld verloren geht. Die Welt aber braucht ein gewaltiges Kraftfeld, um sich bewegen und entwickeln zu können – zum Schlechten gleich wie zum Guten. In all dieser unendlichen Bewegung – gibt es auch etwas Bleibendes? Heraklit: Ich habe gesagt: Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen und damit ist eigentlich schon gesagt, dass es etwas Wesentliches, Essentielles – Nous – gibt, eben das Ich des Menschen, das das Fließen des Flusses zu seinen Füßen wahrnehmen kann. Wir alle haben im Inneren Anteil an Nous (Geist – Anm. der Redaktion). Das ist das Gemeinsame. Allerdings müssen die Menschen in diesem Gemeinsamen wach sein, damit sie eine gemeinsame Welt haben – und nicht in Trennung und Vereinsamung leben. Und dieser wache Geist führt die Menschen schließlich auch zu Sophon, zur Einheit der Wahrheit. Aus allem wird eins und aus einem alles. Daher: genug der vielen Worte. Herzlichen Dank für dieses Gespräch. Literatur: Dtv-Atlas Philosophie, München 1991 Luciono De Crescenzo: Geschichte der griechischen Philosophie, Die Vorsokratiker, Diogenes, Zürich, 1990 Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer, Frankfurt 1997 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Meiner, Hamburg 1990 Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie, Metzler, Stuttgart 1992 Heraklit von Ephesos (gr. Herakleitos, ho skoteinos – der Dunkle) Er lebte etwa 540 – 475 v. Chr., geboren in Ephesos als Kind einer adeligen, wenn nicht sogar königlichen Familie. Aufgrund seines Rates zu Sparmaßnahmen ließen die Epheser die persischen Belagerer wieder unverrichteter Dinge abziehen. Er soll auch die Einladung auf den persischen Hof durch König Dareius selbst ausgeschlagen haben mit der Begründung, dass er mit dem zufrieden sei, was er bereits besitze. Über seine Schriften wie auch über ihn selbst wissen wir nicht sehr viel und das, was wir wissen, ist bruchstückhaft und wirklich zum Teil schwer verständlich. Sogar Sokrates sagte über die Schriften Heraklits: „Was ich verstanden habe, ist edel gedacht, und ich glaube, auch das, was ich nicht verstand.“ Für ihn ist der Urstoff das Feuer. Heraklit lebte eher in Zurückgezogenheit und wollte mit Politik und dem Treiben der Masse nichts zu tun haben: „Ist es nicht besser mit Kindern zu spielen, als am Ruder des Staates zu drehen?“ A b e n t e u e r P h i l o s o p h i e 2 / 2 0 0 7