Soziologisches Institut Wissen und Gesellschaft I Einführung in die analytische Wissenschaftstheorie Herbstsemester 2016 Dr. Sebastian Weingartner Soziologisches Institut Universität Zürich [email protected] www.suz.uzh.ch/weingartner HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 1 Soziologisches Institut Organisatorisches Tutorat • Durchgeführt von Julia Schaub • Mittwochs, 14:15 – 15:45 (19.10. bis 14.12.) • Raum: AFL E-009 HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 2 Soziologisches Institut 2. Was sind wissenschaftliche Theorien? 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 3 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Die Rolle der Sprache in der Wissenschaft Gegenstände der Wirklichkeit/Realität können nicht unmittelbar gefasst werden Vermittlung durch Sprache (verbale Kommunikation) stellt immer nur einen Ausschnitt der Realität dar Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken beeinflusst u.U. unsere Vorstellung der Realität Sprache ermöglicht Intersubjektivität «Nicht die Realität selbst, sondern nur sprachlich gebundene Aussagen über die Realität bilden den Bestand der Wissenschaften» (Prim/Tilmann: 31) – Bestandteile der Sprache: Aussagen (allgemein) Definition: Ein Satz, der entweder wahr oder falsch ist (tertium non datur). Bezug zur Realität Tatsächliche empirische Feststellbarkeit der Wahrheit/Falschheit ist nicht relevant HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 4 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Bestandteile der Sprache: Aussagen (differenzierter) Beispiele: (1) «Ja, endlich wieder Pommes in der Mensa!» (2) «Würden Sie mir bitte sagen, wie ich am schnellsten von Oerlikon ins Zentrum komme!» (3) «Das Schnebelhorn ist 1'292 Meter hoch.» (4) «Wie war das Theaterstück gestern Abend?» Probleme: - Vage Aussagen: «Das Schnebelhorn ist hoch.» - Indexikalische Sprachausdrücke: «Ich bin jetzt hier.» (Bezug zum Äusserungskontext) Wichtige Unterscheidung: Synthetische Aussagen vs. Analytische Aussagen Wahrheit/Falschheit ergibt sich aus der Beschaffenheit der Realität: Wahrheit/Falschheit ergibt sich aus der logischen Analyse der enthaltenen Ausdrücke «Die Stadt Zürich hat am 31. Dezember 2015 396'027 Einwohner» «Alle Junggesellen sind unverheiratet» «A. mag Steaks und A. mag kein Fleisch» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 5 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Bestandteile von Aussagen: Begriffe Wörter als reine Buchstabenkombinationen tragen aus sich heraus noch keinen Sinn Durch die Zuordnung eines Bedeutungs- bzw. Vorstellungsinhaltes (Designata) wird ein Wort zum Begriff Bezug zu spezifischen Gegenständen der Wahrnehmung (jedoch sehr selektiv) «Ein mit einem bestimmten Wort (bzw. einer Wortkombination) bezeichneter Vorstellungsinhalt, der sich auf Merkmale, Merkmalskombinationen und Beziehungen zwischen Merkmalen beziehen kann» (Prim/Tilmann: 33) z.B. a - u - t - o → Fortbewegungsmittel, motorisiert, vierrädrig, hat Lenkrad, … Ein Begriff kann durch verschiedene Worte repräsentiert werden, z.B. Kraftwagen/Auto/PW/car/voiture Ein Wort kann unterschiedlichen Begriffen zugeordnet werden, z.B. Kanzler, Student, Rolle Realität bleibt von Sprachgebrauch unberührt, jedoch auch «künstliche» Grenzziehungen In der Wissenschaft muss der Einheitliche Gebrauch von Begriffen festgelegt werden (Definitionen) HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 6 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen BEGRIFFE Logische Begriffe Ausserlogische Begriffe syntakt. Verknüpf., kein Realitätsbezug z.B. «und», «oder», «wenn», «dann»,… Bezug zu realen/materialen Gegenständen Präskriptive Begriffe Deskriptive Begriffe Wertmassstäbe, Wertungen (an sich) z.B. «gut», «hässlich», «Sünde»,… Bezug zu beobachtbaren Objekten der Realität und deren Merkmalen mit direktem empirischen Bezug mit indirektem empirischen Bezug direkt beobachtbar z.B. «Auto», «Pferd», «Haus»,… nur über Indikatoren beobachtbar z.B. «Gesellschaft», «Autorität»,… HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 7 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Festlegung von Begriffen: Definitionen Verfahren, mit dem einem sprachlichen Ausdruck (Wort) ein Bedeutungs- bzw. Vorstellungsinhalt zugeordnet wird Gleichsetzung eines bisher noch unbekannten Wortes mit einer Kombination mindestens zweier bereits bekannter Wörter (sprachliche) Konvention, prinzipiell veränderbar Definiendum zu definierender sprachlicher Ausdruck z.B. «Schimmel» = Definiens zugeordneter Bedeutungsinhalt z.B. «Weisses Pferd» Gewisses Vor-Verständnis nötig ↓ Definitorischer Regress Begriffe im Definiens müssen eindeutig/klar sein HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 8 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Zweck von Definitionen klare Begriffe kürzere Aussagen (Substitutionsregel) – Arten von Definitionen Nominaldefinition: - Festsetzung der Bedeutung eines Ausdrucks durch andere, bereits bekannte Ausdrücke - reine Konvention, keine empirische Aussage, nicht wahr oder falsch Realdefinition: - Bestimmung des «Wesens», der «Natur» eines Gegenstands - eher Bedeutungsanalysen, Begriffsexplikationen oder normative Aussagen Deiktische (ostentative) Definition: Definition durch Hinweisen («Das ist ein Auto!») Implizite Definition: Definition eines Begriffs durch seine Rolle in einer Theorie HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 9 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Gütekriterien von Definitionen Präzision: «Alle Personen, die die Bedeutung des Begriffs kennen, können bei jeder vollständigen Beschreibung eines Ereignisses [Objekts, Gegenstandes] entscheiden, ob es zu den Designata des Begriffs gehört oder nicht» (Opp: 143) Eindeutigkeit/Einheitlichkeit: «Alle Personen ordnen alle vollständig beschriebenen Ereignisse [Objekte, Gegenstände], bei denen sie also eine Zuordnung für möglich halten, in gleicher Weise dem Begriff zu» (Opp: 143) Theoretische Fruchtbarkeit: Begriffsdefinitionen sind theoretisch fruchtbar (zweckmässig), wenn sich die Theorien, in denen sie verwendet werden, empirisch gut bewähren. nicht a priori feststellbar, nur vorläufig Empirische Richtigkeit ist kein Kriterium für gute (Nominal-) Definitionen! HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 10 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Beispiele für Definitionen «Von System im Allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde» (Luhmann 1984: 16) Immunisierungsstrategie? «Therefore, I accept the definition of a system as (1) something consisting of a set (finite or infinite) of entities (2) among which a set of relations is specified, so that (3) deductions are possible from some relations to others or from the relations among the entities to the behavior or the history of the system» (Rapoport 1968: 453) ( ) = ∑ · , mit : Handlungsalternative : subj. Erwartung der Handlungskonsequenz der Handlungsalternative : subj. Bewertung der Handlungskonsequenz HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 11 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Arten von Aussagen: Axiome Nicht bewiesene und nicht logisch abgeleitete Ausgangspunkte der Theoriebildung (logisch unabhängig) Beispiel Parallelenaxiom: «Zu jeder Geraden und jedem Punkt, der nicht auf dieser Geraden liegt, gibt es genau eine zu der Geraden parallele Gerade durch diesen Punkt» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 12 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Arten von Aussagen: Singuläre/Nicht-singuläre Aussagen Singuläre Aussagen: Bezug auf einen spezifischen Ort und auf eine spezifische Zeit z.B. «Die Stadt Zürich hat am 31. Dezember 2015 396'027 Einwohner» konkrete Untersuchungsergebnisse Nicht-singuläre Aussagen: ohne raum-zeitlichen Bezug (Allaussagen) z.B. «Alle Städte haben mehr als 100'000 Einwohner» «Wenn ein Objekt eine Stadt ist, dann hat dieses Objekt mehr als 100'000 Einwohner» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 13 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Arten von Aussagen: Gesetze Wissenschaftstheoretische Definition: Allaussagen, die Regelmässigkeiten der Natur zum Gegenstand haben (Ursache – Wirkung) und sich empirisch bewährt haben. Formulierungen: Wenn-dann-Sätze: «Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen an.» Wenn-Komponente Dann-Komponente Können jeweils auch komplexer sein HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 14 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen Je-desto-Sätze: «Je marktwirtschaftlicher eine Gesellschaft organisiert ist, desto höher ist ihr Sozialprodukt.» Je-Komponente Desto-Komponente Quantitative, graduelle Zusammenhänge Vergleich mehrerer unterschiedl. Objekte oder Zeitliche Abfolge eines Objekts Genaue Art des Zusammenhangs unklar Vorhersagen ungenau HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 15 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen Formal (Funktional): = ( , ), mit : Einkommen : Bildung : Berufserfahrung = ln(2 + 4 ) Genaue Vorhersagen möglich! HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 16 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen Kausaldiagramm: Oft ungenau, eher Illustration von sprachlichen Aussagen, kein Ersatz HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 17 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Wann ist eine Allaussage ein Gesetz? Beispiel: «Alle Goldkugeln haben einen Durchmesser von weniger als 1 km.» «Alle Urankugeln haben einen Durchmesser von weniger als 1 km.» Merkmale: Universalität (raum-zeitlich unbegrenzte Regel; alle Elemente einer unendlichen Menge) Kontrafaktizität (nicht nur alle faktischen, auch alle möglichen Elemente) Notwendigkeit (nicht blosse Regelhaftigkeit, sondern kausale Unausweichlichkeit) Einbettung in theoretischen Zusammenhang Gibt es Gesetze in der Soziologie? HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 18 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Deterministische und nicht-deterministische Gesetze: «Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen an.» «Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen meistens an.» «Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.5 an.» «Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 0.7 an.» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 19 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Arten von Aussagen: Hypothesen Vermutungen, zu denen man aufgrund von Beobachtung oder theoretischer Überlegung gelangt Zwei Arten: Einzelhypothesen z.B. «Von 1900 bis 2000 nimmt die Umzugshäufigkeit von Menschen in westlichen Gesellschaften ab.» Gesetzeshypothesen z.B. «Je höher der Modernisierungsgrad von Gesellschaften, desto geringer die Umzugshäufigkeit.» Unterschied zum singulären Aussagen/Gesetzen: mangelnde empirische Prüfung HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 20 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Aussagensysteme: Theorien Systeme von Aussagen (Axiome, Definitionen, Gesetze), die Begriffe miteinander verbinden und selbst in einem logischen Zusammenhang stehen. Nur «bestätigte» Aussagen bzw. Aussagensysteme können Theorie genannt werden (vgl. Kapitel 3). Zusammenfassung von Gesetzen Logische Ableitbarkeit von (neuen) Gesetzen «Je isolierter Personen sind, desto häufiger brechen sie Normen» «Je häufiger Personen Normen brechen, desto eher wählen sie extreme Parteien» «Je isolierter Personen sind, desto eher wählen sie extreme Parteien» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 21 Soziologisches Institut 2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen – Beispiel: Die Theorie rationalen Handelns (RCT) Axiom: Menschen können den erwarteten Nutzen von Handlungskonsequenzen beurteilen. Definition: Subjektiver erwarteter Nutzen ( ) = ∑ · , mit : Handlungsalternative : subj. Erwartung der Handlungskonsequenz der Handlungsalternative : subj. Bewertung der Handlungskonsequenz Allgemeines Gesetz: «Wenn Menschen die Wahl zwischen zwei (oder mehr) Handlungsalternativen haben, dann entscheiden sie sich für die Alternative mit dem höheren subjektiven erwarteten Nutzen (SEU-Gewicht).» Spezielles Gesetz: «Wenn Menschen den subjektiv erwarteten Nutzen des Kaufs eines Produktes A höher einschätzen als den Nutzen des Kaufs eines Produktes B, dann werden sie Produkt A kaufen.» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 22 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Theorien stellen Systeme von Aussagen dar Logische Verknüpfungen zwischen Aussagen erforderlich Ermöglicht (formale) Ableitungen und Schlussfolgerungen – Argumente (Schlüsse) Begründung von Thesen erfordert gute Argumente (Empirische Wissenschaften und Philosophie) Gute Theorien verknüpfen Aussagen in argumentativ plausibler Art und Weise (logisch) Spezielle Folge von Aussagesätzen: Ein Teil der Sätze Prämissen (stützt) es ist rational, die Konklusion für wahr zu halten, falls die Prämissen wahr sind Folgesatz Konklusion Theorien: Wahrheit von Aussagen soll rational geschlossenen werden (z.B. Spezielles Gesetz aus allgemeinem Gesetz RCT) HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 23 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik Beispiele: P1 Alle Soziologen sind Menschen. P2 Alle Menschen sind schlafbedürftig. K (Also:) Alle Soziologen sind schlafbedürftig. «Da nun der Krieg mit den Grenznachbarn ein Übel und der Krieg mit den Thebanern ein solcher gegen Grenznachbarn ist, so ist es offenbar ein Übel, mit den Thebanern zu kriegen» (Aristoteles). HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie Der Krieg gegen Grenznachbarn ist ein Übel. Thebaner sind Grenznachbarn. (Also:) Der Krieg gegen die Thebaner ist ein Übel. S. Weingartner Seite 24 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik Prämissen und Konklusion explizit formuliert Prämissen und Konklusion stehen separiert (Normalform) Rekonstruktion von Alltagssprache meist erforderlich HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 25 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Gültigkeit: Ein Argument heisst genau dann gültig (korrekt), wenn es tatsächlich rational ist, die Konklusion für wahr zu halten, falls die Prämissen wahr sind Wahrheit/Falschheit der Prämissen ist für Gültigkeit (Korrektheit) irrelevant! Alleine die formale Struktur ist entscheidend. Alle Wale sind Fische. Alle Delfine sind Wale. (Also:) Alle Delfine sind Fische. Bedeutung der ausserlogischen Begriffe ist für Gültigkeit (Korrektheit) irrelevant! Alleine logische Begriffe sind entscheidend. Alle A sind B. Alle C sind A. z.B. «alle», «einige» (Also:) Alle C sind B. HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 26 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik Einige A sind B. Einige Pflanzen sind Fleischfresser. Einige C sind A. Einige Gräser sind Pflanzen. (Also:) Einige C sind B. (Also:) Einige Gräser sind Fleischfresser. HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 27 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Schlüssigkeit: Ein Argument heisst genau dann schlüssig, wenn es gültig ist und alle seine Prämissen wahr sind Alle Wale sind Säugetiere. Alle Delfine sind Wale. (Also:) Alle Delfine sind Säugetiere. – Wahrheit: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn das, was sie besagt, tatsächlich der Fall ist (Korrespondenztheorie der Wahrheit) Der Satz «Das Schnebelhorn ist 1'292 Meter hoch» ist genau dann wahr, wenn der entsprechende Berggipfel tatsächlich 1'292 Meter über dem Meeresspiegel liegt. HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 28 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – ABER: Gültig Zermatt liegt am Matterhorn und hat mehr als 1‘000 Einwohner. Schlüssig (Also:) Zermatt liegt am Matterhorn. Informativ Gültigkeit und Schlüssigkeit sagt nichts über die inhaltliche Relevanz von Argumenten Logik und Mathematik haben ausschliesslich formalen Fokus (Formalwissenschaften) → Für Formulierung von gültigen Gesetze/Theorien nötig Empirische Wissenschaften zielen auf die Wahrheit von Aussagen (und damit auch von Gesetzen und Theorien) → Theorien sollten eine nichtleere Teilmenge von wahren/empirisch prüfbaren Aussagen enthalten (neben einem gültigen formalen Aufbau) HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 29 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Aussagenlogik Aussagenlogische Form: Alle Bestandteile einer Aussage, die für die Gültigkeit von Aussagefolgen (Argumenten, Schlüssen) relevant sind Logische Begriffe («alle», «einige», «und», …) Verknüpfungen zwischen Aussagen («und», «wenn…, dann…», «oder», …) (wahrheitsfunktionale Verknüpfungen bzw. logische Junktoren) Gewinnung der aussagenlogischen Form: Abstraktion vom Inhalt (ausserlogische Begriffe) Lediglich formale Struktur von Aussagen/Aussagefolgen wird betrachtet «Die aussagenlogische (a.l.) Form einer Aussage entsteht durch Abstraktion vom Sinn von Teilaussagen, die wahrheitsfunktional Verknüpft sind, oder vom Sinn der ganzen Aussage; jedoch gehören Gleichheit und Verschiedenheit der betrachteten Teilaussagen mit zur a.l. Form» (Hoyningen-Huene 1998) HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 30 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik Mehrere Einzelaussagen lassen sich logisch miteinander verknüpfen Wahrheitsgehalt (bzw. -wert) der Gesamtaussage wird von den Wahrheitswerten der Einzelaussagen bestimmt (extensionale Verknüpfung) Beispiel: «Das Schnebelhorn ist 1'292 Meter hoch und Zürich ist die grösste Stadt der Schweiz» nicht blosse Abkürzung, sondern «bedeutungslose» Abstraktion p und q p q w w f f HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie w f w f w f f f Wahrheitswertanalyse (wahr/falsch) (extensionale Interpretation) S. Weingartner Seite 31 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik «Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen an.» p → q w w w w f f f w w f w f Hauptzeichen der Gesamtaussage HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 32 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Logische Junktoren: Bezeichnung Konjunktion Zeichen Bedeutung Adjunktion (Disjunktion) Negation Konditional Bikonditional (Subjunktion) (Bisubjunktion) oder → ↔ „und“ „oder“ „Es ist nicht der Fall, dass“ „wenn…, dann…“ „genau dann…, wenn…“ p q pq pq p p→q p↔q w w w w f w w w f f w f f f f w f w w w f f f f f w w w HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 33 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Logische Wahrheit: Eine aussagenlogische Formel heisst logisch wahr, genau dann, wenn sie für alle extensionalen Interpretationen wahr ist (Tautologie). «Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.» p → (q q) w w f f w w w w HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie w f w f w w w w f w f w w f w f S. Weingartner Seite 34 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Logische Falschheit: Eine aussagenlogische Formel heisst logisch falsch, genau dann, wenn sie für alle extensionalen Interpretationen falsch ist (Kontradiktion). «Hans ist blond und Hans ist nicht blond.» p p w w f f HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie f f w f f w f w f f w f S. Weingartner Seite 35 Soziologisches Institut 2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik – Vorteile der Formalisierung (von Theorien): Formale und präzise Analyse von Aussageverknüpfungen und damit von Argumentationen (unabhängig vom Inhalt) Verständlichkeit Ableitungen von spezielleren Gesetzen und Hypothesen werden erleichtert / sind leichter kontrollierbar Falsche Ableitungen können vermieden werden Zwingt zur Präzision Trägt zur Klärung der logischen Struktur von Theorien bei (erleichtert Kritik und Vergleich) Erleichtert die Entdeckung neuer Theoreme und Hypothesen – Nachteile der Formalisierung (von Theorien): Verschleierung der Unklarheit von Begriffen (mangelnde Definition) Verschleierung eines geringen Informationsgehalts HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 36 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien – Informationsgehalt: Ein Kriterium für die Brauchbarkeit von Theorien (neben der formalen Korrektheit) Gibt an, wie viel eine Aussage (Gesetz, Theorie) über die Realität aussagt (empirischer Gehalt) Zentrales Kriterium: Höhe des Ausmasses, in dem eine Aussage (Gesetz, Theorie) Ereignisse/Gegenstände in der Realität ausschliesst, die der Fall sein könnten Womit ist eine Aussage (Gesetz, Theorie) nicht vereinbar? Kann die Aussage (Gesetz, Theorie) falsifiziert werden? – Zwei Extrempunkte: Analytisch/logisch wahre Aussagen (IG = 0) «Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.» Analytisch/logisch falsche Aussagen (IG = 1) «Hans ist blond und Hans ist nicht blond.» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 37 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien – Ziel: «Der Informationsgehalt eines Satzes soll kleiner als 1 sein, aber möglichst nahe bei 1 liegen» (Opp: 158) Logisch falsche Aussagen sagen nicht, was der Fall ist Logisch falsche Aussagen erlauben die logische Ableitung von beliebigen weiteren Aussagen «Ein Satz soll möglichst viel, aber nicht alles ausschliessen» (Opp: 157) – Wenn-dann-Sätze (Gesetze): Informationsgehalt von Wenn-dann-Sätzen (insgesamt) höher, wenn… …die Wenn-Komponente einen möglichst geringen (nicht 0) IG besitzt (Anwendungsbereich) …die Dann-Komponente einen möglichst hohen (nicht 1) IG besitzt (Spezifische Vorhersage) HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 38 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien Beispiele: «Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino.» «Wenn eine Person männlich und im Alter zwischen 15 und 40 ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino.» «Wenn eine Person männlich und genau 17 Jahre alt ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino.» «Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino oder in einen Club.» «Wenn eine Person männlich oder genau 17 Jahre alt ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino oder in einen Club.» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 39 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien – Allgemeine und spezielle Sätze: Informationsgehalt allgemeineren Sätzen ist höher als von entsprechenden spezielleren Sätzen «Eine Aussage A heisst allgemeiner als eine Aussage B, wenn und nur wenn aus der Aussage A die Aussage B logisch ableitbar ist und wenn es nicht der Fall ist, dass aus B die Aussage A abgeleitet werden kann» (Opp: 159) Beispiele: «Wenn Menschen die Wahl zwischen zwei (oder mehr) Handlungsalternativen haben, dann entscheiden sie sich für die Alternative mit dem höheren subjektiven erwarteten Nutzen (SEUGewicht).» «Wenn Menschen den subjektiv erwarteten Nutzen des Kaufs eines Produktes A höher einschätzen als den Nutzen des Kaufs eines Produktes B, dann werden sie Produkt A kaufen.» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 40 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien – Deterministische und probabilistische Aussagen: Informationsgehalt von deterministischen Aussagen ist höher als von entsprechenden probabilistischen Aussagen Informationsgehalt von probabilistischen Aussagen ist höher, je höher die Wahrscheinlichkeit ist, die sie enthalten (für alle Wahrscheinlichkeiten > 0.5) Beispiele: «Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie 1 Mal pro Woche ins Kino.» «Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mit einer Whs. von 0.95 1 Mal pro Woche ins Kino.» «Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mit einer Whs. von 0.80 1 Mal pro Woche ins Kino.» «Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mit einer Whs. von 0.10 1 Mal pro Woche ins Kino.» HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 41 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien – Je-desto-Sätze: Keine Vorhersage für einen einzelnen Fall, nur Vergleich von mindestens zwei Fällen bzw. mindestens zwei Zeitpunkten Auch bei Vergleich: keine spezifische Vorhersage Funktionale (mathematische) Formulierung des Zusammenhangs erhöht Informationsgehalt (siehe Kapitel 2.1) Beispiel: «Je höher die Bildung und je grösser die Berufserfahrung einer Person, desto höher ist ihr Einkommen.» = ln(2 + 4 ), mit : Einkommen, : Bildung, : Berufserfahrung HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 42 Soziologisches Institut 2.3. Der Informationsgehalt von Theorien – Zusammenfassung: Der Informationsgehalt von Gesetzen und Theorien ist umso höher, … …je breiter ihr Anwendungsbereich (Wenn-Komponente) …je spezifischer ihre Vorhersagen (Dann-Komponente, funktionale Je-desto-Verknüpfung) …je höher ihr Allgemeinheitsgrad …je höher die Vorhersagewahrscheinlichkeit (bei nicht-deterministischen Gesetzen) HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie S. Weingartner Seite 43