Wissen und Gesellschaft I - Soziologisches Institut

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Soziologisches Institut
Wissen und Gesellschaft I
Einführung in die analytische Wissenschaftstheorie
Herbstsemester 2016
Dr. Sebastian Weingartner
Soziologisches Institut
Universität Zürich
[email protected]
www.suz.uzh.ch/weingartner
HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie
S. Weingartner
Seite 1
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Organisatorisches
 Tutorat
• Durchgeführt von Julia Schaub
• Mittwochs, 14:15 – 15:45 (19.10. bis 14.12.)
• Raum: AFL E-009
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2. Was sind wissenschaftliche Theorien?
2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Die Rolle der Sprache in der Wissenschaft
 Gegenstände der Wirklichkeit/Realität können nicht unmittelbar gefasst werden
 Vermittlung durch Sprache (verbale Kommunikation) stellt immer nur einen Ausschnitt der Realität dar
 Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken beeinflusst u.U. unsere Vorstellung der Realität
 Sprache ermöglicht Intersubjektivität
 «Nicht die Realität selbst, sondern nur sprachlich gebundene Aussagen über die Realität
bilden den Bestand der Wissenschaften» (Prim/Tilmann: 31)
– Bestandteile der Sprache: Aussagen (allgemein)
 Definition: Ein Satz, der entweder wahr oder falsch ist (tertium non datur).
 Bezug zur Realität
 Tatsächliche empirische Feststellbarkeit der Wahrheit/Falschheit ist nicht relevant
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Bestandteile der Sprache: Aussagen (differenzierter)
 Beispiele: (1) «Ja, endlich wieder Pommes in der Mensa!»
(2) «Würden Sie mir bitte sagen, wie ich am schnellsten von Oerlikon ins Zentrum komme!»
(3) «Das Schnebelhorn ist 1'292 Meter hoch.»
(4) «Wie war das Theaterstück gestern Abend?»
 Probleme: - Vage Aussagen: «Das Schnebelhorn ist hoch.»
- Indexikalische Sprachausdrücke: «Ich bin jetzt hier.» (Bezug zum Äusserungskontext)
 Wichtige Unterscheidung: Synthetische Aussagen vs. Analytische Aussagen
Wahrheit/Falschheit ergibt sich aus der
Beschaffenheit der Realität:
Wahrheit/Falschheit ergibt sich aus der
logischen Analyse der enthaltenen Ausdrücke
«Die Stadt Zürich hat am 31. Dezember 2015
396'027 Einwohner»
«Alle Junggesellen sind unverheiratet»
«A. mag Steaks und A. mag kein Fleisch»
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Bestandteile von Aussagen: Begriffe
 Wörter als reine Buchstabenkombinationen tragen aus sich heraus noch keinen Sinn
 Durch die Zuordnung eines Bedeutungs- bzw. Vorstellungsinhaltes (Designata) wird ein Wort zum Begriff
 Bezug zu spezifischen Gegenständen der Wahrnehmung (jedoch sehr selektiv)
 «Ein mit einem bestimmten Wort (bzw. einer Wortkombination) bezeichneter Vorstellungsinhalt,
der sich auf Merkmale, Merkmalskombinationen und Beziehungen zwischen Merkmalen beziehen
kann» (Prim/Tilmann: 33)
z.B.
a - u - t - o → Fortbewegungsmittel, motorisiert, vierrädrig, hat Lenkrad, …
 Ein Begriff kann durch verschiedene Worte repräsentiert werden, z.B. Kraftwagen/Auto/PW/car/voiture
 Ein Wort kann unterschiedlichen Begriffen zugeordnet werden, z.B. Kanzler, Student, Rolle
 Realität bleibt von Sprachgebrauch unberührt, jedoch auch «künstliche» Grenzziehungen
 In der Wissenschaft muss der Einheitliche Gebrauch von Begriffen festgelegt werden (Definitionen)
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
BEGRIFFE
Logische Begriffe
Ausserlogische Begriffe
syntakt. Verknüpf., kein Realitätsbezug
z.B. «und», «oder», «wenn», «dann»,…
Bezug zu realen/materialen
Gegenständen
Präskriptive Begriffe
Deskriptive Begriffe
Wertmassstäbe, Wertungen (an sich)
z.B. «gut», «hässlich», «Sünde»,…
Bezug zu beobachtbaren Objekten der
Realität und deren Merkmalen
mit direktem empirischen Bezug
mit indirektem empirischen Bezug
direkt beobachtbar
z.B. «Auto», «Pferd», «Haus»,…
nur über Indikatoren beobachtbar
z.B. «Gesellschaft», «Autorität»,…
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Festlegung von Begriffen: Definitionen
 Verfahren, mit dem einem sprachlichen Ausdruck (Wort) ein Bedeutungs- bzw. Vorstellungsinhalt
zugeordnet wird
 Gleichsetzung eines bisher noch unbekannten Wortes mit einer Kombination mindestens zweier
bereits bekannter Wörter
 (sprachliche) Konvention, prinzipiell veränderbar
Definiendum
zu definierender sprachlicher Ausdruck
z.B. «Schimmel»
=
Definiens
zugeordneter Bedeutungsinhalt
z.B. «Weisses Pferd»
Gewisses
Vor-Verständnis
nötig
↓
Definitorischer
Regress
Begriffe im Definiens müssen eindeutig/klar sein
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Zweck von Definitionen
 klare Begriffe
 kürzere Aussagen (Substitutionsregel)
– Arten von Definitionen
 Nominaldefinition: - Festsetzung der Bedeutung eines Ausdrucks durch andere, bereits bekannte
Ausdrücke
- reine Konvention, keine empirische Aussage, nicht wahr oder falsch
 Realdefinition: - Bestimmung des «Wesens», der «Natur» eines Gegenstands
- eher Bedeutungsanalysen, Begriffsexplikationen oder normative Aussagen
 Deiktische (ostentative) Definition: Definition durch Hinweisen («Das ist ein Auto!»)
 Implizite Definition: Definition eines Begriffs durch seine Rolle in einer Theorie
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Gütekriterien von Definitionen
 Präzision: «Alle Personen, die die Bedeutung des Begriffs kennen, können bei jeder vollständigen
Beschreibung eines Ereignisses [Objekts, Gegenstandes] entscheiden, ob es zu den
Designata des Begriffs gehört oder nicht» (Opp: 143)
 Eindeutigkeit/Einheitlichkeit: «Alle Personen ordnen alle vollständig beschriebenen Ereignisse
[Objekte, Gegenstände], bei denen sie also eine Zuordnung für möglich
halten, in gleicher Weise dem Begriff zu» (Opp: 143)
 Theoretische Fruchtbarkeit: Begriffsdefinitionen sind theoretisch fruchtbar (zweckmässig), wenn sich
die Theorien, in denen sie verwendet werden, empirisch gut bewähren.
 nicht a priori feststellbar, nur vorläufig
 Empirische Richtigkeit ist kein Kriterium für gute (Nominal-) Definitionen!
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Beispiele für Definitionen
 «Von System im Allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren
Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde» (Luhmann 1984: 16)
 Immunisierungsstrategie?
 «Therefore, I accept the definition of a system as (1) something consisting of a set (finite or infinite) of
entities (2) among which a set of relations is specified, so that (3) deductions are possible from some
relations to others or from the relations among the entities to the behavior or the history of the system»
(Rapoport 1968: 453)

( ) = ∑ ·
, mit
: Handlungsalternative
: subj. Erwartung der Handlungskonsequenz der Handlungsalternative
: subj. Bewertung der Handlungskonsequenz
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Arten von Aussagen: Axiome
 Nicht bewiesene und nicht logisch abgeleitete Ausgangspunkte der Theoriebildung (logisch
unabhängig)
 Beispiel Parallelenaxiom: «Zu jeder Geraden und jedem Punkt, der nicht auf dieser Geraden liegt, gibt
es genau eine zu der Geraden parallele Gerade durch diesen Punkt»
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Arten von Aussagen: Singuläre/Nicht-singuläre Aussagen
 Singuläre Aussagen: Bezug auf einen spezifischen Ort und auf eine spezifische Zeit
z.B. «Die Stadt Zürich hat am 31. Dezember 2015 396'027 Einwohner»
 konkrete Untersuchungsergebnisse
 Nicht-singuläre Aussagen: ohne raum-zeitlichen Bezug (Allaussagen)
z.B. «Alle Städte haben mehr als 100'000 Einwohner»
«Wenn ein Objekt eine Stadt ist, dann hat dieses Objekt mehr als
100'000 Einwohner»
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Arten von Aussagen: Gesetze
 Wissenschaftstheoretische Definition: Allaussagen, die Regelmässigkeiten der Natur zum Gegenstand
haben (Ursache – Wirkung) und sich empirisch bewährt haben.
 Formulierungen:
 Wenn-dann-Sätze: «Wenn zwei Personen miteinander interagieren,
dann gleichen sich ihre Meinungen an.»
Wenn-Komponente
Dann-Komponente
Können jeweils auch
komplexer sein
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
 Je-desto-Sätze: «Je marktwirtschaftlicher eine Gesellschaft organisiert ist,
desto höher ist ihr Sozialprodukt.»
Je-Komponente
Desto-Komponente
Quantitative, graduelle Zusammenhänge
Vergleich mehrerer unterschiedl. Objekte
oder
Zeitliche Abfolge eines Objekts
Genaue Art des Zusammenhangs unklar
 Vorhersagen ungenau
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
 Formal (Funktional):
= ( , ), mit
: Einkommen
: Bildung
: Berufserfahrung
= ln(2 + 4 )
Genaue Vorhersagen möglich!
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
 Kausaldiagramm:
Oft ungenau, eher Illustration von sprachlichen Aussagen, kein Ersatz
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Wann ist eine Allaussage ein Gesetz?
 Beispiel: «Alle Goldkugeln haben einen Durchmesser von weniger als 1 km.»
«Alle Urankugeln haben einen Durchmesser von weniger als 1 km.»
 Merkmale:
 Universalität (raum-zeitlich unbegrenzte Regel; alle Elemente einer unendlichen Menge)
 Kontrafaktizität (nicht nur alle faktischen, auch alle möglichen Elemente)
 Notwendigkeit (nicht blosse Regelhaftigkeit, sondern kausale Unausweichlichkeit)
 Einbettung in theoretischen Zusammenhang
 Gibt es Gesetze in der Soziologie?
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Deterministische und nicht-deterministische Gesetze:
«Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen an.»
«Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen
meistens an.»
«Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen
mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.5 an.»
«Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen
mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 0.7 an.»
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Arten von Aussagen: Hypothesen
 Vermutungen, zu denen man aufgrund von Beobachtung oder theoretischer Überlegung gelangt
 Zwei Arten:
 Einzelhypothesen
z.B. «Von 1900 bis 2000 nimmt die Umzugshäufigkeit von Menschen in westlichen
Gesellschaften ab.»
 Gesetzeshypothesen
z.B. «Je höher der Modernisierungsgrad von Gesellschaften, desto geringer die
Umzugshäufigkeit.»
 Unterschied zum singulären Aussagen/Gesetzen: mangelnde empirische Prüfung
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Aussagensysteme: Theorien
 Systeme von Aussagen (Axiome, Definitionen, Gesetze), die Begriffe miteinander verbinden und
selbst in einem logischen Zusammenhang stehen. Nur «bestätigte» Aussagen bzw. Aussagensysteme
können Theorie genannt werden (vgl. Kapitel 3).
 Zusammenfassung von Gesetzen
 Logische Ableitbarkeit von (neuen) Gesetzen
«Je isolierter Personen sind, desto häufiger brechen sie Normen»
«Je häufiger Personen Normen brechen, desto eher wählen sie extreme Parteien»
«Je isolierter Personen sind, desto eher wählen sie extreme Parteien»
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2.1. Einige Definitionen und Präzisierungen
– Beispiel: Die Theorie rationalen Handelns (RCT)
 Axiom:
Menschen können den erwarteten Nutzen von Handlungskonsequenzen beurteilen.
 Definition: Subjektiver erwarteter Nutzen
( ) = ∑ · , mit
: Handlungsalternative
: subj. Erwartung der Handlungskonsequenz der Handlungsalternative
: subj. Bewertung der Handlungskonsequenz
 Allgemeines Gesetz:
«Wenn Menschen die Wahl zwischen zwei (oder mehr) Handlungsalternativen haben, dann entscheiden sie sich für die Alternative mit dem höheren subjektiven erwarteten Nutzen (SEU-Gewicht).»
 Spezielles Gesetz:
«Wenn Menschen den subjektiv erwarteten Nutzen des Kaufs eines Produktes A höher einschätzen
als den Nutzen des Kaufs eines Produktes B, dann werden sie Produkt A kaufen.»
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Theorien stellen Systeme von Aussagen dar
 Logische Verknüpfungen zwischen Aussagen erforderlich
 Ermöglicht (formale) Ableitungen und Schlussfolgerungen
– Argumente (Schlüsse)
 Begründung von Thesen erfordert gute Argumente (Empirische Wissenschaften und Philosophie)
 Gute Theorien verknüpfen Aussagen in argumentativ plausibler Art und Weise (logisch)
 Spezielle Folge von Aussagesätzen:
Ein Teil der Sätze
Prämissen
(stützt)
es ist rational, die Konklusion für wahr
zu halten, falls die Prämissen wahr sind
Folgesatz
Konklusion
Theorien: Wahrheit von Aussagen
soll rational geschlossenen werden
(z.B. Spezielles Gesetz aus
allgemeinem Gesetz  RCT)
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
 Beispiele:
P1 Alle Soziologen sind Menschen.
P2 Alle Menschen sind schlafbedürftig.
K (Also:) Alle Soziologen sind schlafbedürftig.
«Da nun der Krieg mit den
Grenznachbarn ein Übel und der
Krieg mit den Thebanern ein
solcher gegen Grenznachbarn
ist, so ist es offenbar ein Übel,
mit den Thebanern zu kriegen»
(Aristoteles).
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Der Krieg gegen Grenznachbarn ist ein Übel.
Thebaner sind Grenznachbarn.
(Also:) Der Krieg gegen die Thebaner ist ein Übel.
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
 Prämissen und Konklusion explizit formuliert
 Prämissen und Konklusion stehen separiert (Normalform)
 Rekonstruktion von Alltagssprache meist erforderlich
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Gültigkeit: Ein Argument heisst genau dann gültig (korrekt), wenn es tatsächlich rational ist, die
Konklusion für wahr zu halten, falls die Prämissen wahr sind
Wahrheit/Falschheit der Prämissen ist für
Gültigkeit (Korrektheit) irrelevant!
Alleine die formale Struktur ist entscheidend.
Alle Wale sind Fische.
Alle Delfine sind Wale.
(Also:) Alle Delfine sind Fische.
Bedeutung der ausserlogischen Begriffe ist
für Gültigkeit (Korrektheit) irrelevant!
Alleine logische Begriffe sind entscheidend.
Alle A sind B.
Alle C sind A.
z.B. «alle»,
«einige»
(Also:) Alle C sind B.
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
Einige A sind B.
Einige Pflanzen sind Fleischfresser.
Einige C sind A.
Einige Gräser sind Pflanzen.
(Also:) Einige C sind B.
(Also:) Einige Gräser sind Fleischfresser.
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Schlüssigkeit: Ein Argument heisst genau dann schlüssig, wenn es gültig ist und alle seine Prämissen
wahr sind
Alle Wale sind Säugetiere.
Alle Delfine sind Wale.
(Also:) Alle Delfine sind Säugetiere.
– Wahrheit: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn das, was sie besagt, tatsächlich der Fall ist
(Korrespondenztheorie der Wahrheit)
 Der Satz «Das Schnebelhorn ist 1'292 Meter hoch» ist genau dann wahr, wenn der
entsprechende Berggipfel tatsächlich 1'292 Meter über dem Meeresspiegel liegt.
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– ABER:
Gültig
Zermatt liegt am Matterhorn und hat mehr als 1‘000 Einwohner.
Schlüssig
(Also:) Zermatt liegt am Matterhorn.
Informativ



 Gültigkeit und Schlüssigkeit sagt nichts über die inhaltliche Relevanz von Argumenten
 Logik und Mathematik haben ausschliesslich formalen Fokus (Formalwissenschaften)
→ Für Formulierung von gültigen Gesetze/Theorien nötig
 Empirische Wissenschaften zielen auf die Wahrheit von Aussagen (und damit auch von
Gesetzen und Theorien)
→ Theorien sollten eine nichtleere Teilmenge von wahren/empirisch prüfbaren Aussagen
enthalten (neben einem gültigen formalen Aufbau)
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Aussagenlogik
 Aussagenlogische Form: Alle Bestandteile einer Aussage, die für die Gültigkeit von Aussagefolgen
(Argumenten, Schlüssen) relevant sind
 Logische Begriffe («alle», «einige», «und», …)
 Verknüpfungen zwischen Aussagen («und», «wenn…, dann…», «oder», …)
(wahrheitsfunktionale Verknüpfungen bzw. logische Junktoren)
 Gewinnung der aussagenlogischen Form: Abstraktion vom Inhalt (ausserlogische Begriffe)
 Lediglich formale Struktur von Aussagen/Aussagefolgen wird betrachtet
«Die aussagenlogische (a.l.) Form einer Aussage entsteht durch Abstraktion vom Sinn von
Teilaussagen, die wahrheitsfunktional Verknüpft sind, oder vom Sinn der ganzen Aussage;
jedoch gehören Gleichheit und Verschiedenheit der betrachteten Teilaussagen mit zur a.l.
Form» (Hoyningen-Huene 1998)
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
 Mehrere Einzelaussagen lassen sich logisch miteinander verknüpfen
 Wahrheitsgehalt (bzw. -wert) der Gesamtaussage wird von den Wahrheitswerten der
Einzelaussagen bestimmt (extensionale Verknüpfung)
 Beispiel:
«Das Schnebelhorn ist 1'292 Meter hoch und Zürich ist die grösste Stadt der Schweiz»
nicht blosse Abkürzung, sondern
«bedeutungslose» Abstraktion
p und q
p  q
w
w
f
f
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w
f
w
f
w
f
f
f
Wahrheitswertanalyse (wahr/falsch)
(extensionale Interpretation)
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
«Wenn zwei Personen miteinander interagieren, dann gleichen sich ihre Meinungen an.»
p → q
w w w
w f f
f w w
f w f
Hauptzeichen der
Gesamtaussage
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Logische Junktoren:
Bezeichnung Konjunktion
Zeichen
Bedeutung

Adjunktion
(Disjunktion)
Negation
Konditional
Bikonditional
(Subjunktion)
(Bisubjunktion)

 oder 
→
↔
„und“
„oder“
„Es ist nicht
der Fall,
dass“
„wenn…,
dann…“
„genau
dann…,
wenn…“
p
q
pq
pq
p
p→q
p↔q
w
w
w
w
f
w
w
w
f
f
w
f
f
f
f
w
f
w
w
w
f
f
f
f
f
w
w
w
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Logische Wahrheit: Eine aussagenlogische Formel heisst logisch wahr, genau dann, wenn sie für alle
extensionalen Interpretationen wahr ist (Tautologie).
«Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.»
p → (q   q)
w
w
f
f
w
w
w
w
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w
f
w
f
w
w
w
w
f
w
f
w
w
f
w
f
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Logische Falschheit: Eine aussagenlogische Formel heisst logisch falsch, genau dann, wenn sie für alle
extensionalen Interpretationen falsch ist (Kontradiktion).
«Hans ist blond und Hans ist nicht blond.»
p   p
w
w
f
f
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f f w
f f w
f w f
f w f
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2.2. Formalisierung: Logik und Mathematik
– Vorteile der Formalisierung (von Theorien):
 Formale und präzise Analyse von Aussageverknüpfungen und damit von Argumentationen
(unabhängig vom Inhalt)  Verständlichkeit
 Ableitungen von spezielleren Gesetzen und Hypothesen werden erleichtert / sind leichter kontrollierbar
 Falsche Ableitungen können vermieden werden
 Zwingt zur Präzision
 Trägt zur Klärung der logischen Struktur von Theorien bei (erleichtert Kritik und Vergleich)
 Erleichtert die Entdeckung neuer Theoreme und Hypothesen
– Nachteile der Formalisierung (von Theorien):
 Verschleierung der Unklarheit von Begriffen (mangelnde Definition)
 Verschleierung eines geringen Informationsgehalts
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2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
– Informationsgehalt: Ein Kriterium für die Brauchbarkeit von Theorien (neben der formalen Korrektheit)
 Gibt an, wie viel eine Aussage (Gesetz, Theorie) über die Realität aussagt (empirischer Gehalt)
 Zentrales Kriterium: Höhe des Ausmasses, in dem eine Aussage (Gesetz, Theorie)
Ereignisse/Gegenstände in der Realität ausschliesst, die der Fall sein könnten
 Womit ist eine Aussage (Gesetz, Theorie) nicht vereinbar?
 Kann die Aussage (Gesetz, Theorie) falsifiziert werden?
– Zwei Extrempunkte:
 Analytisch/logisch wahre Aussagen (IG = 0)
«Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.»
 Analytisch/logisch falsche Aussagen (IG = 1)
«Hans ist blond und Hans ist nicht blond.»
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2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
– Ziel: «Der Informationsgehalt eines Satzes soll kleiner als 1 sein, aber möglichst nahe bei 1 liegen» (Opp: 158)
 Logisch falsche Aussagen sagen nicht, was der Fall ist
 Logisch falsche Aussagen erlauben die logische Ableitung von beliebigen weiteren Aussagen
 «Ein Satz soll möglichst viel, aber nicht alles ausschliessen» (Opp: 157)
– Wenn-dann-Sätze (Gesetze):
 Informationsgehalt von Wenn-dann-Sätzen (insgesamt) höher, wenn…
…die Wenn-Komponente einen möglichst geringen (nicht 0) IG besitzt (Anwendungsbereich)
…die Dann-Komponente einen möglichst hohen (nicht 1) IG besitzt (Spezifische Vorhersage)
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2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
 Beispiele:
«Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino.»
«Wenn eine Person männlich und im Alter zwischen 15 und 40 ist, dann geht sie mindestens 1 Mal
pro Woche ins Kino.»
«Wenn eine Person männlich und genau 17 Jahre alt ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro
Woche ins Kino.»
«Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro Woche ins Kino oder in einen
Club.»
«Wenn eine Person männlich oder genau 17 Jahre alt ist, dann geht sie mindestens 1 Mal pro
Woche ins Kino oder in einen Club.»
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2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
– Allgemeine und spezielle Sätze:
 Informationsgehalt allgemeineren Sätzen ist höher als von entsprechenden spezielleren Sätzen
 «Eine Aussage A heisst allgemeiner als eine Aussage B, wenn und nur wenn aus der Aussage A die
Aussage B logisch ableitbar ist und wenn es nicht der Fall ist, dass aus B die Aussage A abgeleitet
werden kann» (Opp: 159)
 Beispiele:
«Wenn Menschen die Wahl zwischen zwei (oder mehr) Handlungsalternativen haben, dann
entscheiden sie sich für die Alternative mit dem höheren subjektiven erwarteten Nutzen (SEUGewicht).»
«Wenn Menschen den subjektiv erwarteten Nutzen des Kaufs eines Produktes A höher einschätzen
als den Nutzen des Kaufs eines Produktes B, dann werden sie Produkt A kaufen.»
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2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
– Deterministische und probabilistische Aussagen:
 Informationsgehalt von deterministischen Aussagen ist höher als von entsprechenden
probabilistischen Aussagen
 Informationsgehalt von probabilistischen Aussagen ist höher, je höher die Wahrscheinlichkeit ist, die
sie enthalten (für alle Wahrscheinlichkeiten > 0.5)
 Beispiele:
«Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie 1 Mal pro Woche ins Kino.»
«Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mit einer Whs. von 0.95 1 Mal pro Woche ins Kino.»
«Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mit einer Whs. von 0.80 1 Mal pro Woche ins Kino.»
«Wenn eine Person männlich ist, dann geht sie mit einer Whs. von 0.10 1 Mal pro Woche ins Kino.»
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2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
– Je-desto-Sätze:
 Keine Vorhersage für einen einzelnen Fall, nur Vergleich von mindestens zwei Fällen bzw. mindestens
zwei Zeitpunkten
 Auch bei Vergleich: keine spezifische Vorhersage
 Funktionale (mathematische) Formulierung des Zusammenhangs erhöht Informationsgehalt
(siehe Kapitel 2.1)
 Beispiel:
«Je höher die Bildung und je grösser die Berufserfahrung einer Person, desto höher ist ihr
Einkommen.»
= ln(2 + 4 ), mit
: Einkommen, : Bildung, : Berufserfahrung
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Seite 42
Soziologisches Institut
2.3. Der Informationsgehalt von Theorien
– Zusammenfassung: Der Informationsgehalt von Gesetzen und Theorien ist umso höher, …
…je breiter ihr Anwendungsbereich (Wenn-Komponente)
…je spezifischer ihre Vorhersagen (Dann-Komponente, funktionale Je-desto-Verknüpfung)
…je höher ihr Allgemeinheitsgrad
…je höher die Vorhersagewahrscheinlichkeit (bei nicht-deterministischen Gesetzen)
HS 2016: Wissen und Gesellschaft I – Wissenschaftstheorie
S. Weingartner
Seite 43
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