Gespräch Interview: martin Tzschaschel „philosophie ermöglicht uns innere freiheit“ Und wofür leben Sie? Diese Frage stellt die Philosophin Rebekka Reinhard Menschen, die bei ihr Orientierung suchen Was machen eigentlich Philosophen (wenn sie nicht gerade kluge Bücher schreiben)? Das wollte P.M. von Rebekka Reinhard wissen. Die erfolgreiche Autorin betreibt eine philosophische Praxis für jedermann F rau Dr. Reinhard, Sie schreiben Bücher und Beiträge in Zeitschriften, Sie sitzen in Talkshows, Sie arbeiten in einer psychiatrischen Klinik der Universität München und haben eine eigene Praxis. Gibt es etwas, das Sie den Menschen, die Sie beraten, nahebringen wollen? Haben Sie eine Botschaft? Ja, aber keine Botschaft in Form einer Aussage, sondern als Frage. Meine Frage lautet: „Wofür leben Sie?“ Die Suche nach Orientierung, dieses große „Wofür?“ beschäftigt mich immer wieder. Solange man darauf keine Antwort hat, wird man immer unglücklich oder verloren sein. Sokrates ging auf den Marktplatz, um mit den Menschen zu diskutieren und ihnen Fragen zu stellen. Könnten Sie sich das auch für sich vorstellen? Sokrates hat kritische Fragen gestellt und die Leute gezwungen, Stellung zu beziehen; darin ist er für mich ein Vorbild. Aber wenn ich mich heute so wie er auf einen öffentlichen Platz stellen würde, auf dem die Menschen in Eile vorüberhasten, dann würde man mich wohl als Verrückte ansehen. Wenn Sie die Wahl hätten, würden Sie lieber in der Antike leben, in der Zeit der großen Philosophen? Nein, ich bin schon gern ein Kind meiner Zeit. Sie haben in München eine Praxis für philosophische Lebensberatung. Wer kommt da zu Ihnen, mit welchen Anliegen? 36 01 / 2014 Es kommen Männer und Frauen, etwa zu gleichen Anteilen, und die meisten suchen Orientierung. Zum Beispiel die 50-Jährigen, deren Kinder schon aus dem Haus gegangen sind. Oft geht es auch um Partnerschaft oder um chronischen Stress im Job, um Burnout. Viele Menschen müssen immer funktionieren, kommen aber nicht zu sich selbst. Wie können Sie helfen? Ich biete ihnen keine Lebenshilfe und keine Therapie an. Meine Intention als Philosophin ist es, die Leute zum Selberdenken anzuregen. Sie sollen selbst eine Antwort finden – oder selbst weiterfragen. Was sagen Sie einem Mann, der trotz zahlreicher Bewerbungen keinen Job bekommt? Oder einer Frau, die allein lebt und keinen Partner findet? Ich versuche, das Denken dieser Menschen erst einmal weg von den eigenen Belangen zu lenken, weg von bestimmten Ansprüchen ans Leben. Leben ist eine Kunst. Vieles ist eine Sache der Perspektive, der inneren Haltung. Soll man sich also mit seinem Schicksal abfinden? Sicher nicht. Man sollte versuchen, neue Wege zu finden. Wer zwingt einen zu verzweifeln, wenn man seinen Job verliert, außer man selbst? Wer sagt, dass man nicht den Mut hat, sich selbstständig zu machen? 01 / 2014 37 Gespräch „ selber denken, einen unabhängigen Geist haben – das ist kein luxus “ Nehmen wir als anderes Beispiel einen jungen Mann, der sich nach seinem Studium für eine erste Stelle bewerben will. Er traut sich nichts zu, hat Selbstzweifel. Was raten Sie ihm? Ich würde ihn zunächst fragen: Wofür wollen Sie leben? Welche Werte wollen Sie in Ihrem Leben verwirklichen? Sie arbeiten auch in der Psychiatrie, wo Sie einmal pro Woche psychisch Kranke besuchen, zum Beispiel Depressive oder Burnout-Patienten. Was machen Sie mit denen, und wie profitieren diese Menschen von Philosophie? Mit denen rede ich letztlich genauso über existenzielle Themen wie mit allen anderen Menschen. Also über Liebe, Freiheit und Tod zum Beispiel. Wir führen keine therapeutischen, sondern philosophische Gespräche. Ich lese ihnen auch Texte meiner Lieblings-Philosophen vor. Und das hilft diesen Patienten? Wenn ein depressiver Patient in der Stunde, in der ich bei ihm bin, dreimal gelacht oder gestaunt hat, dann war das für mich schon ein Erfolg, ja. Was antworten Sie jemandem, der sagt, Philosophie sei ein Luxus für Menschen, die viel Zeit haben? Dem würde ich sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Philosophie ist die existenziellste Form des Denkens. Selber denken, unabhängig im Geiste werden, das ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Sie kritisieren den Wunsch, dass alles im Leben planbar und effizient laufen müsse, und plädieren für eine „Kunst des Irrens“. Ist das nicht so, als würde man einen Schüchternen auffordern, „nun sei doch mal selbstbewusst!“? Wir wollen heute immer alles unter Kontrolle haben, immer möglichst schnell ans Ziel gelangen. Aber der Sinn des Lebens kann ja nicht darin bestehen, unser 38 01 / 2014 Zeitmanagement zu verbessern und durch Lösungsorientiertheit zu bestechen – sondern diese Welt ein wenig weiser zu verlassen, als wir sie betreten haben. Das geht nur, wenn wir Umwege gehen, wenn wir Mut haben zum Irren und zum Scheitern. Wenn jemand tagsüber im Job gesagt bekommt, was er zu tun hat, und sich abends um Kinder und Haushalt kümmern muss – was nützt diesem fremdbestimmten Menschen die Philosophie? Jeder Mensch kann lernen zu unterscheiden: Was sind Zwänge, die ich nicht ändern kann, wo ich mich anpassen muss, und wo gibt es Bereiche, bei denen ich frei bin zu gestalten? Das ist das Schöne an der Philosophie, dass sie mir auch da, wo ich mich unfrei fühle, eine innere Freiheit ermöglicht. Unter dem Stichwort „Glück“ findet man mehr als 24 000 Buchtitel. Wird die Suche nach dem Glück für uns zu einer Aufgabe, die stresst und deshalb unglücklich macht? Ja. Wir leben in einer Zeit, in der es immer um Optimierung geht, um Perfektionierung. Da wird die Glückssuche zu einer harten Aufgabe. Der Philosoph Epiktet hat gesagt: „Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht.“ Ist Gelassenheit der Schlüssel zum Glück? Epiktet empfiehlt auch, zu fragen: Was liegt in meiner Macht und was nicht? Das ist für mich eine ganz entscheidende Frage. Insofern: ja, Gelassenheit, wenn ich etwas nicht ändern kann. Aber manchmal kann man eben doch etwas ändern. Und sei es nur die eigene Einstellung. Wir konzentrieren uns zu oft auf das, was wir nicht haben, anstatt uns über das zu freuen, was wir haben. Rebekka Reinhard, 41, hat über amerikanische und französische Gegenwartsphilosophie promoviert. Sie hält Vorträge, arbeitet als philosophische Beraterin und ManagementTrainerin. Ihr Buch „Die Sinn-Diät“ stand 2009 auf der „Spiegel“Bestsellerliste. Die Autorin zahl­ reicher Bücher lebt in München. Rebekka Reinhards Homepage: www.philosophyworks.de Philosophieren heißt, über die eigene Existenz nachzudenken. Es gibt aber Menschen, die sich über ihr Leben keine Gedanken machen. Sind sie nicht zu beneiden, weil sie so unbeschwert in den Tag hinein leben? Wir sind die einzigen Lebewesen, die denken können, und diese Fähigkeit sollten wir nach Maßgabe unserer Möglichkeiten auch nützen, um unser Leben sinnvoll zu gestalten. Sie haben Ihr neues Buch „Schön!“ Marilyn Monroe gewidmet. Warum? Marilyn ist eine Art Muse für mich. Sie besaß eine unglaubliche Präsenz auf der Leinwand, ein Strahlen, das nichts mit ihren berühmten Brüsten und Hüften zu tun hat. Sie war ganz sicher eine schwierige Philosophen sind melancholischer als andere Menschen, aber sie erleben auch viele Momente des Staunens, sagt Rebekka Reinhard Borderline-Persönlichkeit, aber sie besaß Witz und geistige Tiefe. Ein Rohdiamant, der mich sehr inspiriert. Sie entlarven in Ihrem Buch die Schönheit als ein Phänomen, das letztlich nicht glücklich macht. Stilvolle Kleidung, eine schön eingerichtete Wohnung – wie wichtig sind solche Dinge für Sie? Schönheit macht selbstverständlich glücklich – aber nur, wenn man sich von ihr inspirieren lässt, nicht, wenn man ihr hinterherrennt. Ich bin eine Ästhetin. Form, Stil und Geschmack sind mir sehr wichtig, sofern sie in einem Zusammenhang mit dem Guten und Wahren stehen. Wir beurteilen andere oft nach dem Äußeren. Tut eine Philosophin das auch? Oder ist es Ihnen zum Beispiel egal, wie attraktiv ein Mann aussieht, Hauptsache, seine inneren Werte stimmen? Ich glaube nicht, dass man das eine vom anderen trennen kann. Ein Mann kann äußerlich noch so attraktiv sein – wenn er arrogant oder unsensibel ist, verliert er massiv an Anziehungskraft. Umgekehrt kann ein unattraktiver Mensch mit Herzensbildung schön wirken. Sie weisen in Ihrem Buch auf schöne Lügner hin und nennen als Beispiel Adolf Hitler. Ein Lügner war er sicher. Aber schön? Hitler ist nach den Kriterien der Attraktivitätsforschung nicht schön. Aber er galt zu seiner Zeit als Frauenheld und bekam un- endlich viele Liebesbriefe von Verehrerinnen. Er verführte durch Charisma, Rhetorik, Posen – durch bestimmte Techniken, die ihn für andere „schön“ machten. In Ihrem Buch „Würde Platon Prada tragen?“ zitieren Sie den Philosophen Oswald Spengler: „Je wissender der Mensch, desto tiefer ist sein seelisches Leid.“ Ist man als Philosoph, der ja zweifellos ein Wissender ist, unglücklich? So würde ich es nicht sagen, aber man ist vielleicht melancholischer. Man nimmt mehr Graustufen war. Aber man erlebt auch viele Momente des Staunens. Das ist ein schöner Ausgleich. Erwartet Ihre Umgebung von Ihnen immer kluge Gedanken? Nein. Ich bin ja nicht nur Philosophin, ich bin auch Hausfrau, Köchin, Freundin. Ich versuche natürlich, die philosophischen Ideale anzustreben, aber ich erreiche sie nicht immer. Da geht es mir wie jedem anderen. Ich kann mich auch mal ärgern und meine Gelassenheit vergessen. „Schön sein, schön scheinen, schön leben“ darum geht es in Rebekka Reinhards neuestem Buch „Schön!“, Verlag Ludwig, 19,99 Euro 01 / 2014 39