Jubiläumskulturen zwischen kulturellem Gedächtnis und

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PTh 2009/3 161 / 11.8.2009 – Umbruch
Editorial
Jubiläumskulturen zwischen kulturellem Gedächtnis
und lebensgeschichtlicher Erinnerung
„Auch Völker und Nationen, Staaten und Gesellschaften leben nicht vom Brot
allein. Sie bedürfen einer sie legitimierenden und ihre Identität sichernden
Selbstvergewisserung.“ Mit diesen Sätzen beginnt Gottfried Küenzlen seine
Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis. Die Kulturwissenschaften haben
den Begriff des kulturellen Gedächtnisses in den letzten drei Jahrzehnten bis
zum Äußersten strapaziert. Fast schien es so, als sei dieser Begriff die geheime Mitte einer sonst recht zerfasernden wissenschaftlichen Disziplin. Der
Theologie kam dieser Sachverhalt zugute. Gerade in der Vielfalt ihrer Einzeldisziplinen bot der Begriff des Gedenkens eine Perspektive an, die diese Disziplinen zu verbinden vermochte. Dem kam nicht zuletzt die gesellschaftliche
und kirchliche Praxis entgegen: Jubiläen, Feiern, Gedenkstunden prägen den
Alltag der pluralistischen Gesellschaften Mitteleuropas. Grund genug also,
dem, was wir Gedächtnis-Kultur nennen mögen, kritisch nachzugehen.
Moderne Staaten, die ihre Legitimation nicht mehr aus einer göttlichen oder
mythischen Stiftung ableiten können, brauchen gleichwohl Gründungsmythen. Wenn Barack Obama seinen Amtseid auf die Bibel Abraham Lincolns
ableistet, wird ein solcher demokratischer Gründungsmythos in Szene gesetzt.
Noch mehr scheinen totalitäre Staaten ihre Gründungsmythen zu inszenieren.
An der Sowjetunion und dem maoistischen China konnte man dies eingehend
studieren. In besonderer Weise hat die Bundesrepublik Deutschland im Schatten der Verbrechen des Nationalsozialismus eine Gedenk-Kultur entwickelt,
die aus dem Zeitabstand heraus auch brüchig zu werden scheint. Unter dem
Begriff der civil religion untersucht Gottfried Küenzlen in seinem Beitrag diese
Zusammenhänge.
Das Christentum scheint eine besondere Affinität zum Phänomen der Gedächtnis-Kultur entwickelt zu haben. Bereits in den Schriften des Alten und
Neuen Testaments sind Gedenken und Gedächtnis zentrale Begriffe. Das
Abendmahl ist ein Gedächtnis-Sakrament par excellence. Das, was wir christliche Gedächtnis- oder Gedenk-Kultur nennen, ist seinerseits ein Ergebnis differenzierter Inkulturationsprozesse, die nicht konfliktfrei verliefen. Martin
Wallraff hat dies am Beispiel des kulturellen Streites in der ausgehenden Antike um den Jahresbeginn nachgezeichnet. Nicht nur die Entscheidung darüber,
wessen gedacht wird, ist kulturell prägend, sondern auch zu welchem Zeitpunkt etwas erinnert wird. Zugleich stellt der Kirchenhistoriker die provozierende Frage, ob einer post-christlichen Gesellschaft das gelingen kann, was
einer christlich bestimmten Kultur nicht gelungen ist.
Im Grunde gedenken nicht Völker und Gesellschaften, sondern Menschen, und
zwar individuelle Menschen. Gerade das kulturelle Gedächtnis bedarf der Bereitschaft des individuellen Erinnerns und Gedenkens. Andrea Morgenstern
geht dieser Spur in ihrem Beitrag nach. Dass sich daraus dann Perspektiven
nicht zuletzt für die kirchliche Praxis ergeben, zeigen Kristian Fechtner und
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Editorial
Christian Mulia am Beispiel der Goldenen Konfirmation. Diese relativ junge Kasualie entwickelt im Kontext einer Gesellschaft, die das Alter neu entdeckt,
eine besondere Dynamik.
Vor Jahren hat Harald Weinrich mit seiner fundierten Studie „Lethe – Kunst
und Kritik des Vergessens“ einer forcierten Gedächtnis-Kultur einen kritischen
Stachel eingepflanzt. In diesem Heft übernimmt Dietrich Neuhaus diese Rolle
des Advocatus Diaboli. Nicht allein seine Beispiele eines nur noch ironisch
wahrzunehmenden Gedenkbetriebes, etwa das optisch verfeinerte Calvin-Emblem des Calvin-Gedenkjahres, können nachdenklich machen. Weitaus mehr
tut dies seine grundsätzliche Anfrage an die Beteiligung der Kirchen an dem
gesellschaftlichen Gedächtnis-Setting. Geht es dabei um das Marketing einer
Verankerung der Kirche in der knappen Ressource des kulturellen Gedächtnisses? Neuhaus plädiert eindeutig für eine Priorität des Inhalts, der vielleicht
gerade die traditionellen Formen kulturellen Gedächtnisses wie die Kanzel
und die Predigt auch in postmodernen Zeiten in ihr Recht setzt.
Im Forum findet sich – aus der Feder des römisch-katholischen Predigtlehrers
Jörg Seip (Paderborn) – eine kritische Gegenüberstellung der homiletischen
Konzepte von Rolf Zerfaß und Martin Nicol, mitsamt einem eigenen Vorschlag,
jenen ethischen und diesen ästhetischen Ansatz diskursrhetorisch zu verbinden. – Bernd Beuscher (Köln) kommentiert die Präsentation einer großen EKDStudie zur Konfirmandenarbeit; er äußert empirische wie theologische Zweifel.
Hinweisen möchten wir schließlich auf die praktisch-theologische Kommentierung von zwei sehens- und bedenkenswerten Spielfilmen aus den USA:
„Walk the Line“ und „Children of Men“. Inge Kirsner (Stuttgart) wird diese
Hinweise aus dem Kino ebenso fortsetzen, wie Harald Schroeter-Wittke dies für
musikalische Fundstücke schon seit zwei Jahren tut – diesmal mit der Erinnerung an eine groß angelegte Genesis-Vertonung aus Hollywood (!).
Kristian Fechtner / Albrecht Grözinger
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