27 Tages-Anzeiger – Donnerstag, 14. April 2011 Kultur & Gesellschaft Reisen An der Küste Queenslands im Nordosten ­Australiens erinnert nur noch wenig an die Flut vor drei Monaten. 31 Gestutzte Seele, beflügeltes Gehirn Die Neurowissenschaften stellen das Erleben mit visualisierten Hirnaktivitäten dar. Ihr enormer Erfolg hat den Boden dafür bereitet, die Seele mit dem Gehirn kurzzuschliessen. Von Daniel Hell Lange verpönt und ins mittelalterliche Dunkel verbannt, wird der Seelenbegriff wieder populär. So erscheint die «Seele» neuerdings nicht nur auf den Titelseiten viel gelesener Magazine (wie kürzlich beim «Stern»), sondern auch in Buch­ titeln bekannter Naturwissenschaftler. Als Beispiele seien angeführt: «Biologie für die Seele» von Florian Holsboer oder «Der Bauplan der Seele» von Dietrich Dörner. Hier geht es allerdings nicht darum, der Seele neue Aufmerksamkeit zu schenken, sondern darum, den Nimbus des alten Seelenbegriffs auf das Gehirn zu übertragen. Das Seelische wird als Hirnprozess erklärt. Metaphorisch gesprochen werden die Flügel, die einst die Seelenbilder (wie Schmetterling, Taube oder Seelenvogel) ausgezeichnet haben, auf das Gehirn übertragen. Der Seele werden ihre Flügel gestutzt, während das Gehirn beflügelt wird. Kann das gut gehen? Seele und Gehirn bedeuten ganz Unterschiedliches. Die Seele ist im Gegensatz zum Gehirn kein Begriff, der auf einen Gegenstand verweist. Seele ist vielmehr ein Wort wie Leben, Liebe, Begegnung oder Bewusstsein. Seele ist ein symbolischer Begriff für Lebendigkeit, für Wärme, für Beziehung oder für das unfassbare Sein. Als Symbol ist Seele nicht materialisierbar und auch nicht lokalisierbar – wie das noch der grosse französische Philosoph Descartes im 17. Jahrhundert anhand der Zirbeldrüse versuchte. Die Seele braucht das Gehirn Die Seele steht für das, was ein Mensch erleben kann, was gleichsam zwischen den Dingen liegt und für den Menschen dennoch zentral ist. Wenn wir von einem Menschen sagen, dass er eine «gute Seele» ist oder dass er «mit Leib und Seele» bei einer Sache ist, so meinen wir nicht, dass er ein gutes Gehirn hat, sondern dass er warmherzig, mitfühlend und engagiert ist. Es ist meines Erachtens deshalb falsch, das Gehirn mit der Seele gleichzusetzen, auch wenn das ­Gehirn eine Voraussetzung dafür ist, dass wir seelisch erleben können. Die missverständliche Gleichsetzung von Seele mit Gehirn hat damit zu tun, dass wir heute mit grösstem Erfolg – ­gerade auch in der Medizin – auf die Aussensicht beziehungsweise die Per­ spektive der dritten Person setzen, also auf das, was mehrere Personen in gleicher Weise beobachten können. Was aber ein Mensch aus erster Hand erlebt, was er spürt und wessen er innewird, sprengt diese Aussensicht und gehört der sogenannten Perspektive der ersten Person an. Der Seelenbegriff stammt denn auch aus einer vormodernen Zeit, in der diese Perspektive noch die Oberhand hatte. Wenn der Seelenbegriff heute mit dem Gehirn gleichgesetzt wird, so findet ein Dimensionswechsel statt, der einem Kategorienfehler entspricht. Aus einem Symbol wird ein Gegenstand, aus alten Metaphern wie Seelenvogel oder Schmetterling wird eine konkretistische Organvorstellung. Wenn früher Seelisches mit Atem, Herz oder Bauch in Zusammenhang gebracht wurde, so wurden für die Seelencharakterisierung Organe ausgewählt, die leiblich spürbar sind. Der Atem oder die Lungen als ­Ausdruck des Lebenshauchs, das Herz als Ausdruck von Wärme und pulsierender Bewegung, der Bauch mit dem ­Plexus Solaris als Ausdruck des Spürens und Ahnens. Selbstbild und Depressivität Das Gehirn wurde traditionell als Seelenorgan nicht deshalb ausgespart, weil man seine Bedeutung unterschätzte, sondern weil das Gehirn nicht fühlbar und nicht spürbar ist. Selbst Antonio ­Damasio als moderner Neurowissenschaftler hat (in seiner Theorie der somatischen ­Marker) dem isolierten Gehirn die Fähigkeit zu fühlen abgesprochen. Es brauche Nervenreize aus Lunge, Herz, Bauch und Haut, um den Menschen wirklich fühlen zu lassen. Die Vorstellung eines «beflügelten Gehirns» – wie ein neurowissenschaft­ licher Kongress kürzlich titelte – ist ein Visualisierung eines aktiven Hirns: Zum seelischen Erleben ist mehr nötig als das Gehirn. Foto: Sebastian Kaulitzki (Hemera, Getty) schönes Bild. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn heute das Gehirn (und nicht mehr bloss das Herz) zur Seelenmetapher wird. Nur sollte man die Neurowissenschaft nicht dazu verwenden, dem Spüren, Fühlen und Innewerden den Boden zu entziehen und alles materialistisch zu einer Sache von Hirnprozessen zu machen. Erstens trifft es nicht zu, dass zum seelischen Erleben nur das Gehirn nötig ist und es dazu nicht auch den ganzen Menschen (mit seinen andern Organen) braucht. Zweitens ist der Zusammenhang von Gehirnvorgängen und Erleben keine Einbahnstrasse. Unsere Gehirnvorgänge beeinflussen nicht nur, was wir fühlen und empfinden, sondern sie Die Neurowissenschaft darf dem Spüren, ­Innewerden und Fühlen nicht den Boden entziehen. werden auch von dem beeinflusst, was wir in unserer Biografie erlebt haben und heute in unserer kulturellen und ­gesellschaftlichen Situation erfahren. Worauf ich aber drittens und hauptsächlich hinauswill, ist, die Folgen zu bedenken, die ein solches, auf eine einzige ­Perspektive reduziertes Menschenbild, ­haben kann. So ist in der Psychiatrie der Zusammenhang von Selbstbild und Depressivität sehr gut untersucht worden. Ein fatalistisches Selbstbild, das alles dem Schicksal oder den Gehirnbedingungen überlässt, findet sich besonders bei schwer depressiven Menschen. Demgegenüber weisen Menschen, die das persönliche Erleben hoch gewichten und der leib-seelischen Verankerung (in der Erstpersonenperspektive) grosse Bedeutung zumessen, ein geringeres Depressionsrisiko auf. Das hat dazu geführt, dass auch in der Verhaltenstherapie nicht mehr allein das beobachtbare Verhalten berücksichtigt wird, sondern dem subjektiven Fühlen und Denken – in der sogenannten kognitiven Psychotherapie – ein ebenso zentraler Stellenwert zugesprochen wird. Wie sieht man Angst? In der neuesten Weiterentwicklung dieser Psychotherapieform (der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie) wird sogar ein meditatives Bewusstsein geschult, um depressiv gefährdeten Menschen eine leib-seelische Verankerung zu geben. Es hat sich nämlich gezeigt, dass eine sinnenhafte Leiborientierung, die den Körper nicht als mechanistischen Apparat, sondern als beseelten Leib empfindet, eine bessere Voraus­ setzung darstellt, negativen Gedanken ­distanzierter zu begegnen, als wenn sich jemand mit seinen Gedanken als hirn­ bedingte Realitäten identifiziert. Wenn Seelisches heute auf neue Weise verbildlicht wird, so sollte nicht vergessen werden, dass nicht das Bild – in diesem Fall das Gehirn – die Seele ist, sondern das Bild nur auf Seelisches verweist. Das Gehirn kann in hilfreicher und in gefährlicher Weise als Repräsentant der Seele angesehen werden. Eine unkritische Mythologisierung macht das Gehirn zum Goldenen Kalb, das umtanzt wird. Sorgfältiges Studium einzelner Hirnfunktionen unter vorgegebenen Umweltreizen stellt das Gehirn demgegenüber in psychosoziale Zusammenhänge, die den Blick freigeben, wie sich bestimmte seelische Aspekte neuro­ biologisch zeigen. So kann sich Angst­ erleben in einer Aktivitätssteigerung im sogenannten limbischen System, ins­ besondere im Mandelkern, abbilden. Aber der neurobiologische Befund ist mit dem seelischen Erleben nicht identisch. Er hat eine völlig andere Qualität. Während mich das Angsterleben innerlich erregt, zum Zittern bringt oder die Kehle zuschnürt, ist die technische Wiedergabe der Hirnaktivität (z. B. in einem fMRI, einem funktionellen Kernspin­ tomogramm) unpersönlich und gefühllos. Mein Hirnbild könnte auch von einem Fremden stammen, da physikalisch-chemische Vorgänge ein anonymes Geschehen darstellen. Umgekehrt reisst mich die erlebte Angst aus der Objektivierung heraus und wirft mich auf mich selbst zurück. Eine prägnante Darstellung dieser Angst findet sich in der Kunst, etwa im Gemälde «Der Schrei» von Edvard Munch, aber nicht im ­fMRI-Bild meines Gehirns, das weder die Enge meines Daseinsraumes noch die panische Beschleunigung meines Zeit­ erlebens in Angst aufzeigen kann. Symbole und Organe Auch wenn man monistisch postuliert, dass seelisches Erleben und Gehirnvorgänge nur zwei Seiten des gleichen Phänomens darstellen, so ist der Zugang zu diesen zwei Seiten doch prinzipiell verschieden. Im einen Fall handelt es sich um einen privilegierten «subjektiven» Zugang aus erster Hand, im andern Fall um eine durch Drittpersonen überprüfbare Aussensicht. Was ist daraus zu schliessen? Der enorme Erfolg der Neurowissenschaften, seelisches Befinden mit visualisierbaren Hirnaktivitäten in Zusammenhang zu bringen, hat zwar den Boden bereitet, die Seele mit dem Gehirn kurzzuschliessen. Doch ist zwischen der Seele als Symbol und dem Gehirn als Organ ebenso zu unterscheiden, wie wir gelernt haben, zwischen dem Herzen als Repräsentant der Seele («Man sieht nur mit dem Herzen gut») und dem Herz als Pumpe zu unterscheiden. Daniel Hell Der 66-Jährige leitet das Kompetenz­ zentrum Depression und Angst an der Privatklinik Hohenegg. Sein jüngstes Buch heisst «Die Wiederkehr der Seele» (Herder). Ein Abschied mit Superlativen Alexander Pereira stellte den Spielplan seiner letzten Opernhaus-Saison vor und erfüllt sich noch ein paar Wünsche. Von Martin Ebel Andreas Homoki, der Nachfolger, hat angekündigt, dass die Zahl der Premieren sinken wird. Alexander Pereira richtet in seiner letzten Spielzeit noch einmal mit der grossen Kelle an: 13 Opernund 3 Ballettpremieren. Und was für welche! Nein, eine Lame-Duck-Saison wird das gewiss nicht. Pereiras Abschied – zugleich die des Ballettchefs Heinz Spoerli – ist voller programmatischer Höhepunkte. Etliche davon sind «Wünsche, denen ich lange hinterhergejagt bin und die ich mir jetzt endlich erfüllen kann», wie er auf der Medienkonferenz sagte. Pereira war nie einer, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Diesmal ist der superlativische Ton berechtigt. Zu den Superlativen gehören ganz sicher die drei «Hämmer» des Spielplans: Hans Pfitzners «Palestrina», Paul Hindemiths «Mathis der Maler» und Borodins «Fürst Igor» (als Koproduktion mit Hamburg). Jedes Stück stellt für sich einen besonderen Kraftakt dar, alle werden ­extrem selten gespielt. Dazu kommen weitere «Kleinigkeiten» wie Schostakowitschs «Die Nase», die ein grosses Ensemble braucht, und Wagners «Meistersinger» sowie eine Uraufführung: «Die Stadt der Blinden» nach dem Roman des Nobelpreisträgers José Saramago. Der Auftrag an den jungen Komponisten Anno Schreier ist zugleich der Abschluss des Wettbewerbs «Teatro minimo». Kaum bekannte Stücke von Donizetti und die beiden «Otellos» von Verdi und Rossini stehen weiter für einen so ­reichen wie originellen Spielplan. An grossen Namen fehlt es natürlich nicht. So wird der legendäre Peter Stein «Die Nase» inszenieren, Martin Kušej zwei Farcen von Donizetti, Harry Kupfer die «Meistersinger». Pultstars wie Zubin Mehta, Ingo Metzmacher, Nello Santi und Adam Fischer werden dirigieren, der ebenfalls scheidende Daniele Gatti leitet rund 40 Vorstellungen. Glanz und Gloria auch bei den Sängern: Cecilia Bartoli, Vesselina Kasarova, Thomas Hamp­ son oder Vittorio Grigolo singen regelmässig, Anna Netrebko, Rolando Villazón, Placido Domingo in einzelnen Vorstellungen. Die letzte Aufführung unter Pereiras Verantwortung ist der «Falstaff» am 8. Juli 2012. Er wird sich als Statist einbauen – irgendwie. Die Premieren der Saison 2011/12 ¬¬ 2. 9.: «27’52’’/The vertiginous Thrill of Exactitude/Quartett» (Ballett: Jirí Kylián/William Forsythe/Heinz Spoerli) ¬¬ 7. 9.: Rossini, «La scala di seta», Theater Winterthur (Zsolt Hamar, Damiano Michieletto) ¬¬ 17. 9.: Schostakowitsch, «Die Nase» (Ingo Metzmacher, Peter Stein) ¬¬ 24. 9.: Tschaikowski, «Dornröschen» (Ballett: Mats Ek) ¬¬ 20. 10.: Verdi, «Otello» (Daniele Gatti, Graham Vick) ¬¬ 12. 11.: Schreier, «Die Stadt der Blinden» (UA, Zsolt Hamar, Stephan Müller) ¬¬ 10. 12.: Pfitzner, «Palestrina» (Ingo Metzmacher, Jens-Daniel Herzog) ¬¬ 27. 12.: Donizetti, «Le convenienze ed inconvenienze teatrali/I pazzi per progetto» (Paolo Carignani, Martin Kušej) ¬¬ 22. 1. 2012: Wagner, «Die Meistersinger von Nürnberg» (Daniele Gatti, Harry Kupfer) ¬¬ 10. 2.: Rossini, «Otello ossia Il moro di Venezia» (Muhai Tang, Moshe Leiser und Patrice Caurier) ¬¬ 4. 3.: Verdi, «Don Carlo» (Zubin Mehta, Sven-Eric Bechtolf ) ¬¬ 24. 3.: «Don Juan/Till Eulenspiegel» (Ballett: Heinz Spoerli) ¬¬ 15. 4.: Borodin, «Fürst Igor» (Vladimir Fedoseyev, David Pountney) ¬¬ 6. 5.: Donizetti, «Poliuto» (SE, Nello Santi, Damiano Michieletto) ¬¬ 26. 5.: Mozart, «Die Entführung aus dem Serail» (Adam Fischer, Thomas Langhoff ) ¬¬ 16. 6.: Hindemith, «Mathis der Maler» (Daniele Gatti, Matthias Hartmann)