Sexualstraftäter: Krank oder kriminell?

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Von Jürgen Hoyer, Heike Kunst
und Philipp Hammelstein
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reportpsychologie ‹32› 11/12|2007
Sexualstraftäter:
Krank oder kriminell?
reportpsychologie ‹32› 11/12|2007
r e p o r t fachwissenschaftlicherteil
1. Krank oder kriminell –
eine falsch gestellte Frage?
Die im Titel gestellte Frage ist sicherlich provozierend.
Wissenschaftlich ausgebildete Psychologen erklären
menschliches Verhalten, einschließlich Straftaten, in der
Regel durch eine Vielzahl von Faktoren – und nicht
durch ein Entweder-oder! Die Frage ist auch deshalb
problematisch, weil zwei unabhängige wissenschaftliche
Bezugssysteme – das juristische und das psychopathologische – vermischt werden. Dennoch wird genau diese
Frage schon seit der Zeit eines Marquis de Sade in genau dieser Form gestellt, wenn wieder ein »Triebtäter«
eine seiner schrecklichen Taten verübt hat.
Folgende, vereinfachte Argumentationspositionen sind
dabei festzustellen:
1. »Sexualstraftäter sind krank«: Nach dieser Position
sind Sexualstraftaten so abscheulich und außerhalb des
Hinnehmbaren, dass sie nach allgemeinem Verständnis
nur verüben kann, wer krank ist. Die Grundüberzeugung
lautet: Wer andere Menschen sexuell nötigt, angreift
oder missbraucht, kann unmöglich »normal« sein.
2. »Sexualstraftäter sind kriminell«: Dieser Auffassung
liegt die Idee zugrunde, dass psychopathologische
Merkmale für die Bewertung von Sexualstraftaten weitgehend irrelevant sind. Wer seinen sexuellen Impulsen
nachgeht, ohne dass dies gesellschaftlich vereinbarten
Normen entspricht, ist schlicht kriminell.
Wäre nur eine dieser beiden Positionen richtig, so vereinfachte dieses die juristische und gesellschaftliche Bewertung von Sexualstraftaten erheblich. Genau deswegen sind einfache Positionen auch beliebt. Tatsächlich
liegt der Fall aber komplexer, denn für beide Positionen
lassen sich prototypische Beispiele heranziehen. So gibt
es Täter, deren sexuelle Präferenz sich ausschließlich
auf Kinder richtet (präferenzieller Typus nach Groth,
Hobson & Gary, 1982). Handeln sie auch nach dieser sexuellen Präferenz, so erfüllen sie die diagnostischen Kriterien der Pädophilie (Diagnostisches und Statistisches
Manual Psychischer Störungen, DSM-IV-TR; Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003). Andere Täter wiederum
weisen keine sexuellen Abweichungen, aber einen kriminogenen Lebensstil auf; sie handeln aus einer Situation heraus oder können Gewaltimpulse schlecht kontrollieren (Hoyer, Kunst, Borchard & Stangier, 1999; vgl.
auch situativer Typus nach Groth, Hobson & Gary, 1982).
Sind die Ersteren krank und die Letzteren kriminell?
Hinzu kommt: Was wir als »krank« oder »kriminell« ansehen, das ist eine soziale Konstruktion. Gerade die
Bewertung sexuellen Verhaltens wird von sozialen, kulturellen und zeitgeistbezogenen Faktoren mitbestimmt
(Fiedler, 2004). Dies kann man gut an der in den letzten
Jahrzehnten veränderten Haltung zur Homosexualität
ablesen (vgl. Hammelstein & Hoyer, 2006).
Diese knappen Ausführungen deuten bereits an, wie
komplex die juristischen, psychopathologischen, aber
auch kulturellen und soziologischen Aspekte von Sexualstraftaten sind. Auch aus diesem Grund ist die Frage,
ob Sexualstraftäter krank oder kriminell sind, falsch gestellt. Warum greifen wir sie in der vorliegenden Arbeit
dennoch auf? Nach unserer Auffassung ermöglicht erst
ein Blick auf das Fachwissen über die Straftaten und die
Täter, der in der Frage enthaltenen Verführung zum
Schwarz-Weiß-Malen zu widerstehen. Slogans wie »man
or monster?« oder »Wegsperren – und zwar für immer«
zeigen Tendenzen, Sexualstraftäter grundsätzlich außerhalb der gesellschaftlichen bzw. der humanitären
Grenzen zu definieren. Dies ist zwar sozialpsychologisch gesehen verständlich, weil es entlastet und das
Problem »nach außen« verlagert, aber es ist weder vor
dem Hintergrund einer möglichen Resozialisation sinnvoll noch durch aktuelle wissenschaftliche Befunde zu
rechtfertigen.
2. Sexualstraftaten: Fakten statt Mythen
Die häufigsten Sexualstraftaten sind: sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB), Vergewaltigung und
sexuelle Nötigung (§ 177 StGB) und exhibitionistische
Handlungen (§ 183, 183a StGB). Hinzu kommen weitere
(nicht unbedingt sexuell motivierte) Straftaten etwa im
Zusammenhang mit Menschenhandel, Prostitution und
Weitergabe von Pornografie. Wir werden uns im Folgenden auf die für die therapeutische Behandlung wichtigsten Formen von Sexualstraftaten beschränken, nämlich auf die Kategorien »Sexueller Missbrauch von
Kindern« und »Vergewaltigung und sexuelle Nötigung«.
Die polizeiliche Kriminalstatistik 2006 (PKS; Bundesministerium des Innern, 2006) weist insgesamt 52 231 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aus, das
sind 0,8% aller Straftaten. Auf die Kategorie »Sexueller
Missbrauch von Kindern« (§ 176, § 176a, § 176b StGB)
entfallen 12 765 Fälle, auf Vergewaltigung und sexuelle
Nötigung (§§ 177 Abs. 1 - 5) 14 942 Fälle. Der sexuelle
Missbrauch an Kindern erreicht dabei den niedrigsten
Wert seit 1993, allerdings werden in diesem Bereich
die meisten Delikte gar nicht erst zur Anzeige gebracht.
Mythen über Sexualstraftaten beziehen sich unter anderem darauf, dass die Täter meistens Fremde (»Triebtäter«) seien; die Aufklärungsrate sei niedrig, die Rückfallraten seien hoch und die Behandlungseffekte gering
(Fortney et al., 2007). Aktuelle Zahlen widersprechen
dem deutlich: Die Täter kommen in den meisten Fällen
aus dem sozialen Nahbereich. Nur 7% der Missbrauchstäter und 27% der Vergewaltiger in den USA waren Fremde (Bureau of Justice Statistics, 2000). Deswegen ist die Aufklärungsrate auch hoch. Laut PKS 2006
liegt sie für 2006 bei 82,9% für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung und bei über 90% für die verschiedenen Formen des sexuellen Missbrauchs an Kindern.
Die bekannt gewordene Rückfälligkeit liegt zwischen 13
und 20% und ist damit ebenfalls geringer als in der Öffentlichkeit angenommen (Hanson & Bussiere, 1998).
Die Rückfallrate wird dabei – insbesondere im Hinblick
auf neuere Programme, die nach 1980 eingesetzt wurden – nachweislich günstig durch therapeutische Maßnahmen beeinflusst (Hanson & Bussiere, 1998). Durch
Behandlung werden die Rückfallraten im Durchschnitt
um ein Drittel reduziert (Schmucker, 2007). Der Effekt ist
also gesichert, aber noch verbesserungswürdig, und es
liegt in der Natur der Sache, dass auch eine angemessene Behandlung die Legalbewährung nicht garantieren
kann (Schmucker, 2007).
Wenn Sexualstraftaten in der allgemeinen Öffentlichkeit
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PROF. DR. JÜRGEN HOYER
lehrt und forscht an der
Technischen Universität
Dresden im Bereich
Klinische Psychologie und
Psychotherapie.
HEIKE KUNST arbeitet in
der Justizvollzugsanstalt II
Kassel.
PHILIPP HAMMELSTEIN
ist in Köln in
freier Praxis tätig.
Adresse
Prof. Dr. Jürgen Hoyer
Technische Universität
Dresden
Klinische Psychologie und
Psychotherapie
Hohe Str. 53
01187 Dresden
E hoyer@psychologie.
tu-dresden.de
eine größere Aufmerksamkeit erfahren als viele andere
Straftaten, dann liegt das, wie gesehen, nicht an ihrer
Häufigkeit. Die starke emotionale Reaktion auf Sexualstraftaten ist aber verständlich, weil das Leiden der Opfer, nicht selten auch ihrer Angehörigen, in der Regel
sehr groß ist. Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Vergewaltigung oder einem sexuellen Missbrauch eine posttraumatische Belastungsstörung (PTB) zu entwickeln,
wird mit mindestens 50% – und somit höher als bei anderen Traumata – geschätzt (vgl. Maercker, 2003). Bei
fortgesetzter sexueller Traumatisierung sind noch höhere
Zahlen anzunehmen (de Visser, Rissel, Richters & Smith,
2006). Opfer, die keine vollständige PTB aufweisen, leiden zudem häufig unter anderen psychischen Störungen,
wie z.B. einer schweren depressiven Störung. Die Frage,
wie mit den Tätern umzugehen sei, hat angesichts der
schwerwiegenden Folgen auch eine politische Dimension. Den Antworten, die die Wissenschaft, sprich die
Psychologie, aber auch die Psychiatrie, Kriminologie,
Pädagogik und Soziologie, geben kann, kommt deshalb
entscheidende Bedeutung zu.
3. Die juristische Bewertung
von Sexualstraftaten
Für die juristische Bewertung von Sexualstraftaten sind
unter anderem die psychopathologischen Kategorien
der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, wie sie in den §§
20 und 21 des StGB geregelt werden, relevant:
§ 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen
einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder
nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21 Verminderte Schuldfähigkeit
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem
der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat
erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs.1
gemildert werden.
Wichtig ist dabei zu berücksichtigen: Ex- bzw. Dekulpierung erfolgt nicht allein aufgrund der Feststellung bestimmter Krankheiten, sondern nur aufgrund der definierten Auswirkungen der Krankheiten zu einem
bestimmten Zeitpunkt (Tatzeitpunkt) und bezüglich eines bestimmten Geschehens (der inkriminierten Tat).
»Krankheit« determiniert eine Tat niemals allein, sondern immer nur im Zusammenspiel verschiedener Faktoren (Situation, Person; vgl. Stolpmann, 2001).
Fasst man die Logik der juristischen Bewertung von
Straftaten zusammen, so gilt allgemein (nicht nur bei Sexualstraftaten): Die Frage, ob Bestrafung oder Behandlung im Vordergrund stehen, hängt entscheidend davon
ab, ob die Störung (»Krankheit«, »Abnormität«) so ausgeprägt ist, dass der Täter mangels Einsichts- und/oder
mangels Steuerungsfähigkeit keine volle Verantwortung
für sein eigenes strafbares Handeln übernehmen kann.
Dabei gilt aber keine eindeutige Zuordnung, wonach bei
Vorliegen bestimmter Diagnosen immer von einer verminderten oder vollständigen Schuldunfähigkeit ausgegangen werden kann. Vielmehr geht es immer um die
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Frage, ob die Schuldfähigkeit bei der Begehung der Tat
gegeben war. Ein psychisch stark gestörter Mensch kann
somit bei Begehung einer Tat schuldfähig sein und ein
psychisch gesunder Mensch aufgrund akuter Randumstände (z.B. einem Vollrausch) nicht. Hat ein Täter seine
Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit begangen und sind aufgrund
seiner Erkrankung weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten, so regeln §§ 63 und 64 StGB die Zuweisung eines Verurteilten zum Behandlungssetting des
Maßregelvollzugs (die Unterbringung in einer »Entziehungsheilanstalt« gemäß § 64 StGB kann auch bei voll
schuldfähigen Tätern angeordnet werden, deren Taten
aber auf den »Hang« zu Alkohol und Drogen etc. zurückzuführen sind).
Weil angesichts dieser rechtlichen Voraussetzungen eine
große Gruppe von Sexualstraftätern überhaupt nicht in
forensisch-psychiatrischen Kliniken behandelt werden
würde und wir wissen, dass Strafe allein schlecht vorbeugt, sollen nach dem »Gesetz zur Bekämpfung von
Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten«
(Bundesgesetzblatt I, 1998) alle Sexualstraftäter eine
sozialtherapeutische Behandlung erhalten. Allerdings
wurden auch schon vor 1998 spezielle Therapieangebote
für Sexualstraftäter im Strafvollzug durchgeführt, wenn
auch mit erheblichen regionalen Unterschieden. Damit
stellt sich aber die Frage, was man bei Sexualstraftätern
behandeln kann, die keine psychischen Störungen aufweisen? Möglicherweise ist es ja sogar kontraindiziert,
Sexualstraftätern die keine psychische Störung aufweisen, psychotherapeutische Hilfe zukommen zu lassen?
Oder weisen doch alle Sexualstraftätern psychische Störungen auf? Oder sind psychische Faktoren auf jeden
Fall relevant und können das Risiko einer Rückfalltat
vermindern? Auf diese Fragen werden wir in den folgenden Abschnitten eingehen.
4. Psychologische und psychopathologische
Aspekte von Sexualstraftaten
4.1 Sexuelle Erregbarkeit durch deviante Stimuli
Studien zur sexuellen Erregbarkeit durch abweichende
sexuelle Stimuli sind schwer durchzuführen und in ihrer
Reliabilität umstritten (Marshall, 2005). Bekannt geworden ist die sog. Penisplethysmografie, bei der das
Penisvolumen objektiv gemessen wird. Aus experimentellen Untersuchungen mit dieser Methode haben wir
Kenntnisse über die Erregbarkeit von sexuell devianten
genauso wie von gesunden Männern durch sexuell deviante Stimuli. Die Reliabilität und Validität dieser Methode ist aber dadurch eingeschränkt, dass die Erregbarkeit unterdrückt werden kann. Dieser Vorbehalt ist
bei den folgenden Befunden zu berücksichtigen.
Die Studien von Barbaree und Marshall (1989) konnten
zeigen, dass nur bei einem Drittel der Täter, die wegen
Kindesmissbrauchs auffällig wurden, eine messbare pädophile Präferenz vorliegt. Darüber hinaus zeigt sich
auch bei 18% der normalen Vergleichspersonen eine
leichte sexuelle Erregbarkeit durch Abbildungen von
unbekleideten Kindern. Die Ergebnisse sprechen insgesamt erstens dafür, dass die Erregbarkeit durch kindbezogene Stimuli allein noch nicht als Störung der sexu-
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Erregung wiederholt über sechs Monate aufgetreten ist
und zu klinisch bedeutsamem Leiden/Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen
Bereichen führt. Nach dem DSM-IV-TR reicht bei Exhibitionismus, Voyeurismus, Frotteurismus, Pädophilie
und Sadismus sogar aus, dass der/die Betroffene das sexuelle dranghafte Bedürfnis (bei Sadismus: mit einer
nicht einwilligenden Person) ausgelebt hat.
Tabelle 1 gibt einen Überblick zu Paraphilien. Diejenigen
Paraphilien, die im Hinblick auf gefährliche Sexualstraftaten die wichtigste Rolle spielen, sind dabei die Pädophilie und der sexuelle Sadismus.
Das folgende Fallbeispiel zeigt eine typische Problemlage bei der Diagnostik: Ob eine Pädophilie vorliegt
oder nicht, lässt sich aus dem Tatverhalten nicht eindeutig erschließen. Das entscheidende Kriterium wäre,
ob es bei dem Täter zu einer auf kindliche Sexualobjekte
gerichteten Fantasietätigkeit kommt, und dies lässt sich
oft nur indirekt aus Tatmerkmalen (z.B. skriptartige,
sich wiederholende Abläufe) erschließen.
Fallbeispiel
In der psychotherapeutischen Hochschulambulanz erscheint ein 39-jähriger Mann. Sein Gang ist unbeholfen,
seine gesamte Erscheinung wirkt etwas ungepflegt. Er
habe im Rahmen eines Strafverfahrens die Auflage bekommen, eine Psychotherapie zu machen. Komme er der
Auflage nach, so werde das Strafverfahren eingestellt.
Dabei sei das »alles ein großes Missverständnis«. Er habe
häufiger auf drei Mädchen im Alter zwischen zehn und
zwölf Jahren aufgepasst und mit diesen Videos geguckt.
An einem Tag hätten sich die Mädchen im Bad eingeschlossen und mit der Videokamera des Patienten ihre entblößten Genitalien gefilmt. Dieser Film sei dann auf Umwegen in die Hände der Polizei geraten. Die Mädchen
hätten sich einfach einen Spaß mit ihm machen wollen.
Er selber würde eigentlich eher auf vollbusige Blondinen
stehen und hätte gar kein Interesse an Sex mit Kindern.
Er wisse gar nicht, was er überhaupt beim Psychotherapeuten solle.
Der Therapeut muss unbedingt Kenntnis über die Vorstrafen, die Randumstände der Tat etc. haben und grundsätzlich über fremdanamnestische Informationen verfügen, um nicht Gefahr zu laufen, sich vorschnell solchen
verleugnenden Realitätskonstruktionen anzuschließen.
Bei der Diagnostik der Pädophilie, aber auch der meisten anderen Paraphilien besteht neben der Schwierigkeit, dass es um (schwer objektivierbare) Fantasien geht,
auch das grundsätzliche Problem, dass die Abgrenzung
zwischen »normalem« und »abweichendem« Verhalten
nur äußerst schwer festzulegen ist. Ist »Erregbarkeit
durch Lustbisse« (laut Kinsey-Report [Kinsey, Pomeroy,
Marin & Gebhard, 1953] bei ca. 50% der Menschen gegeben) schon Sadomasochismus? Sicher nicht. Aber wie
ist die Grenze dann festzulegen? Eine neue Variante
wird, wie oben skizziert, durch die Textrevision des
DSM-IV versucht: Hier wird als Kriterium für einige Paraphilien, wie zum Beispiel den sexuellen Sadismus,
neben die Kriterien des Leidensdrucks und der zwischenmenschlichen Schwierigkeiten gestellt, dass das
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ellen Präferenz aufzufassen ist, und belegen zweitens,
dass eine Störung der sexuellen Präferenz bei der Mehrheit der Missbrauchstaten keine Rolle spielt. Ähnliche
Ergebnisse zeigen sich auch, wenn man Vergewaltiger
mit dem Penisplethysmografen untersucht. Hier sind es
45% einer Gruppe von Sexualstraftätern, die auf sadistische Inhalte hin Erregung zeigten, aber eben nicht alle.
Auch hier zeigte sich in einem Teil der Kontrollgruppe
(5%), dass auch normale und gesunde Vergleichspersonen ohne irgendeine Auffälligkeit in der Sexual- oder
Kriminalanamnese durch diese Stimuli erregt werden
konnten (vgl. auch Seto & Kuban, 1996).
Insgesamt ist aus diesen Befunden abzulesen, dass aus
sexuellen Fantasien und sexueller Erregbarkeit allein
noch nicht zwangsläufig eine Verhaltensdisposition abgeleitet werden kann. Weiterhin wird die Mehrzahl der
Vergewaltiger auch durch Stimuli einer einwilligenden
Partnerin erregt. Eine eindeutig sexuell sadistische Präferenz (was fehlende oder verringerte Erregbarkeit durch
nondeviante Stimuli bedeuten würde) ist eher selten.
Ausnahmen von dieser Regel finden sich aber in bestimmten Straftäterpopulationen (z.B. 36,7% sexueller
Sadismus bei 166 Sexualmördern; Hill, Habermann, Berner & Briken, 2007).
4. 2 Paraphilien und Störungen
der sexuellen Präferenz
Wenn auch die zitierten Befunde dagegensprechen,
dass deviante sexuelle Fantasien und ihre geplante Umsetzung bei den meisten Sexualstraftaten im Vordergrund stehen, so ist vor dem Umkehrschluss zu warnen,
sie seien irrelevant. Sexuelle Abweichungen sind sogar
ein wichtiger Rückfallprädiktor (Hanson & MortonBourgon, 2005). Zur Begriffsklärung sei hier angefügt,
dass wir den Begriff Paraphilien oder den Begriff Störungen der sexuellen Präferenz heranziehen, weil diese
Begriffe in den gängigen diagnostischen Klassifikationssystemen (DSM-IV: »Paraphilien«; ICD 10: »Störungen der Sexualpräferenz«) verwendet werden. Der Begriff »abweichendes Sexualverhalten« beschreibt
demgegenüber eine größere Bandbreite sexuellen Verhaltens. Abweichendes Sexualverhalten könnte z.B. Formen der Sexualität umfassen, die bei einer Minderheit
von Menschen zu finden sind, aber nicht unbedingt ungesetzlich sein müssen und/oder gefährlich sind
und/oder Leiden oder Beeinträchtigung bei der Person
oder dem Partner der Person mit sich bringen. Als Beispiel sind sadomasochistische Spielarten der Sexualität
zu sehen (vgl. auch Fiedler, 2004; Hoyer, 2007).
Auch ist darauf hinzuweisen, dass deviante sexuelle
Vorlieben sich in ihrer Ausschließlichkeit unterscheiden. Das DSM-IV differenziert bei der Pädophilie hinsichtlich eines »ausschließlichen« Typus, wenn keine
anderen Erregungsmuster existieren, und eines »nicht
ausschließlichen« Typus, wenn neben der devianten Erregung auch andere Formen möglich sind. Grundsätzlich
ist eine Paraphilie aber nicht nur dann zu diagnostizieren, wenn die Erregbarkeit durch die devianten Stimuli
deutlich über der Erregbarkeit durch andere, auch »normale« sexuelle Reize liegt und Letztere dadurch im subjektiven Erleben der Person keine gleichwertige Alternative darstellen. Es genügt jeweils, dass die deviante
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HO- HOGRE- GREFE
FE
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Bezeichnung
der Paraphilie
DSM-Kriterien
Exhibitionismus
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. des Zurschaustellens der eigenen Genitalien
gegenüber nichtsahnenden Fremden
(Zeitraum: ≥ 6 Monate)
B. die Person hat das Bedürfnis ausgelebt, oder die Bedürfnisse/Fantasien
verursachen deutliches Leid oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten
Fetischismus
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. des Gebrauchs
von unbelebten Objekten (Zeitraum:
≥ 6 Monate)
B. das Störungsbild verursacht in
klinisch bedeutsamer Weise Leiden
oder Beeinträchtigungen in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen
Funktionsbereichen
Frotteurismus
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. des Berührens
und Sichreibens an einer nicht
einwilligenden Person
(Zeitraum: ≥ 6 Monate)
B. wie B-Kriterium bei
Exhibitionismus
Pädophilie
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. sexueller
Handlungen mit einem präpubertären
Kind oder Kindern (13 Jahre oder
jünger; Zeitraum: ≥ 6 Monate)
B. wie B-Kriterium bei
Exhibitionismus
C. die Person ist mindestens
16 Jahre alt und mindestens
5 Jahre älter das Kind
Sexueller
Masochismus
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. des (realen,
nicht simulierten) Akts der Demütigung, des Geschlagen- bzw. Gefesseltwerdens oder sonstigen Leidens (Zeitraum: ≥ 6 Monate)
B. wie B-Kriterium bei Fetischismus
Sexueller
Sadismus
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. (realer, nicht
simulierter) Handlungen, in denen das
psychische oder physische Leiden
(einschließlich Demütigung) des
Opfers für die Person sexuell erregend
ist (Zeitraum: ≥ 6 Monate)
B. die Person hat das Bedürfnis mit
einer nicht einverstandenen Person
ausgelebt, oder das Störungsbild
verursacht deutliches Leiden oder
zwischenmenschliche Schwierigkeiten
Transvestitischer
Fetischismus
A. sexuell erregende Fantasien,
sexuell dranghafte Bedürfnisse oder
Verhaltensweisen bzgl. des Tragens
der Kleidung des anderen
Geschlechts (Zeitraum: ≥ 6 Monate)
B. wie B-Kriterium bei Fetischismus
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sexuell dranghafte Bedürfnis mit »einer nicht einwilligenden Person ausgelebt« wurde (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003, S. 634). Mit anderen Worten:
Nicht die Fantasien per se sind störungswertig (denn in
diesem Fall könnte man den Unterschied zwischen »normal« und »krank« schwerlich festlegen), sondern nur
wenn die Fantasien und Impulse auch ausgelebt werden
und wenn dies, andern als zum Beispiel in S/M-Clubs,
nonkonsensuell geschieht, ist von einer Störung zu sprechen. Dies verlagert bzw. erweitert das Problem: Es
geht im Kern nicht mehr nur um sexuelle Abweichungen, sondern offenbar eher darum, Impulse nicht kontrollieren zu können oder Hemmungen gar nicht erst zu
haben. Damit kommen jedoch andere Störungen bzw.
psychopathologische Schlüsselmechanismen ins Spiel.
4.3 Andere psychische Störungen
Persönlichkeitsstörungen sind bei Sexualdelinquenten
grundsätzlich häufig (Raymond et al, 1999; Leue, Borchard & Hoyer, 2004), besonders gilt dies für die antisoziale und die Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie
im Maßregelvollzug auch für die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (Leue, Borchard & Hoyer, 2004).
Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich durch einseitige und unflexible Interaktionsschemata aus, die zu
Problemen in der Interaktion mit anderen Menschen
führen und durch die (negativen) Rückmeldungen weiter verfestigt werden (self-fulfilling prophecies). Damit
gehen eine inflexible, ungünstige Wahrnehmungsselektion und Ursachenzuschreibung einher (Sachse,
1997). Zum Beispiel führt das misstrauische, ablehnende
Verhalten einer Person mit paranoider Persönlichkeitsstörung zu ablehnendem Verhalten anderer, was wiederum als Beleg für die bereits vorhandenen Befürchtungen interpretiert wird.
Bei einem Teil der in forensisch-psychiatrischen Institutionen untergebrachten Sexualstraftäter liegt, meist neben anderen komorbiden psychischen Störungen, eine
intellektuelle Minderbegabung vor. Es versteht sich von
selbst, dass hierdurch eine besondere Problemstellung für
Diagnostik, Therapieindikation und Behandlungsvorgehen gegeben ist. Erfreulich sind deshalb Versuche, verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze auch bei diesen Patienten zu erproben (Nezu, Nezu & Dudek, 1998;
Friedman, Festinger, Nezu, McGuffin & Nezu, 1999).
Wohl am deutlichsten ist die Bedeutung der Diagnostik psychischer Störungen bei Sexualdelinquenten dann,
wenn schizophreniforme oder andere psychotische Störungen vorliegen – was aber selten ist. In manchen Fällen ist keine sexuelle Abweichung erkennbar, und eine
Therapieindikation besteht allein für die psychotische
Störung. Die Behandlung muss sich dann nicht von der
anderer schizophren Erkrankter unterscheiden, auch
wenn häufig trotzdem rückfallpräventive Maßnahmen
durchgeführt werden. Ob sexuelle Deviationen oder
andere oben beschriebene Störungen komorbid gegeben sind, ist aber für die Behandlung und Prognose von
zentraler Bedeutung und muss unbedingt berücksichtigt
werden, auch wenn psychotische Symptome zeitweise
deutlich im Vordergrund stehen (Hoyer & Kunst, 2004).
Klinisch und kriminologisch sehr bedeutsam sind zudem
Substanzstörungen und Intoxikationen mit ihren un-
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unterschiedlichen Paraphilien
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stätigten Erfolge der Antiandrogenbehandlung (Briken,
Hill & Berner, 2006) sind hier ebenfalls zu berücksichtigen.
Die Psychoneuroendokrinologie ist damit ein perspektivenreiches Feld für ein besseres Verständnis von Paraphilien und Sexualstraftaten – auch wenn die Zusammenhänge viel komplexer sind, als dass sie global den
Terminus »Triebtäter« rechtfertigten.
Sexuell suchtartige und progrediente Entwicklungen
sind klinisch bei einer kleinen und besonders gefährlichen Subgruppe von Tätern immer wieder beschrieben
worden. Berner, Briken und Hill (2007a) schlagen deshalb diagnostische Kriterien vor, die es erlauben, hinsichtlich der Schwere der Präferenzstörung zu differenzieren. Damit ist zu beurteilen, ob neben einer
Paraphilie bzw. sexuellen Präferenzstörung folgende
Merkmale vorliegen: a) die Progredienz des Verhaltensmusters, b) Merkmale des sexuellen Sadismus und
c) eine Paraphilie-verwandte Störung. Das Konzept der
Paraphile-verwandten Störung wurde von Kafka (z.B.
2001) eingeführt, um eine Reihe (potenziell) hypersexueller Verhaltensmuster und Risikokonstellationen
(zwanghafte Selbstbefriedigung, ausgedehnte Promiskuität, Cybersex-, Pornografie- oder Telefonsex-Abhängigkeit und eine Unvereinbarkeit dieser Verhaltensmuster mit den sexuellen Bedürfnissen des jeweiligen
Partners) zu benennen, ohne auf die potenziell missverständlichen Begriffe der Sucht (addiction) und der
Zwanghaftigheit (compulsion) zu rekurrieren.
Das Konzept der schweren sexuellen Präferenzstörung
verspricht nicht nur für die klinische und juristische Beurteilung, sondern auch für die Forschung eine verbesserte Differenzierung innerhalb der heterogenen Gruppe
der Sexualdelinquenten.
4.6 Welche Faktoren fördern oder
blockieren die Hemmung?
In den vorigen Abschnitten haben wir dargestellt, dass
aggressives Sexualverhalten nicht per se abnorm ist, es
möglicherweise evolutionär genetisch gebahnt wurde
und auch viele »normale« Probanden eine (leichte) sexuelle Erregbarkeit durch deviante Stimuli aufweisen. Es
sind offenbar nicht die mehr oder weniger abweichenden sexuellen Impulse allein, die sexuelle Übergriffe
erklären können. Die meisten Männer können diese
Impulse hemmen oder kontrollieren. Dafür gibt es – neben der Stärke und Progredienz der sexuellen Impulse
selbst – unterschiedliche Gründe:
■ Existenz von Alternativen: Der Person stehen auch andere, sozial verträgliche Möglichkeiten zur Verfügung,
ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen (Laws, 2003).
■ Impulskontrolle/Fähigkeit zum Belohnungsaufschub:
Die Person verfügt über die Ressourcen, in einer gegebenen Anreizsituation auf die sofortige Durchführung
des Verhaltens zu verzichten und längerfristige Alternativen zu entwickeln (Laws, 2003).
■ Empathiefähigkeit: Die Person ist emotional in der Lage,
z.B. Mitleid mit ihrem potenziellen Opfer zu verspüren,
was zu einer Hemmung aggressiver Verhaltensbereitschaften führt (Marshall, Hudson, Jones & Fernandez,
1995).
■ Normen und Werte: Die Person verfügt über prosoziale Normen und Werte (im Unterschied zu den Nor-
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mittelbaren Auswirkungen auf die Selbst- und Impulskontrolle (s.u.; Seto & Barbaree, 1995).
4.4 Evolutionsbiologische Erklärung
der Vergewaltigung
Es gibt allerdings auch Erklärungen für sexuell aggressives Verhalten, die vollständig ohne den Rückgriff auf die
Annahme gestörter psychologischer Prozesse auskommen. So werden insbesondere für sexuell aggressives
Verhalten auch evolutionsbiologische Erklärungen angeboten (Siegert & Ward, 2003). Diese Theorien nehmen
an, dass sexuelle Aggression eine biologische Basis hat,
weil sie die Chancen, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, erhöht und den Reproduktionserfolg fördert.
Ein solcher Ansatz steht der Auffassung, dass Vergewaltiger inhumane Monster sind, deutlich entgegen.
Derartige Theorien sind besser vereinbar mit der Annahme, dass in Männern grundsätzlich das Verhaltensmuster, sich Sexualität notfalls auch mit aggressiven
Mitteln zu verschaffen, genetisch gebahnt ist. Kritisch
muss man an diesen evolutionsbiologischen Theorien
aber sehen, dass biologische Faktoren allein menschliches Verhalten nicht erklären können (Wardt & Sieger,
2003). Denn dass ein von der Gesellschaft sanktioniertes Verhalten möglicherweise eine genetische Bahnung
aufweist, erklärt noch nicht, dass das Verhalten auch
auftritt, denn schließlich kann es von der überwiegenden Mehrheit gehemmt werden.
4.5 Triebtäter?
Eine überholte, dennoch in der Allgemeinheit sicherlich
weitverbreitete Auffassung ist, dass Sexualstraftäter insofern krank sein könnten, als sie eine (»triebhafte« oder
enthemmte) Hypersexualität aufweisen. Diese Auffassung würde etwa besagen, dass Sexualstraftäter durch
eine erhöhte sexuelle Libido gekennzeichnet sind, durch
eine pathologisch übersteigerte Triebhaftigkeit. Dieses
einfache Muster lässt sich empirisch nicht belegen.
Hinweise auf neurobiologische Korrelate sexueller Delinquenz sind dennoch zum Beispiel auf der hirnanatomischen (Schlitz, Witzel & Bogerts, 2005), neurophysiologischen und endokrinologischen Ebene vorgelegt
worden (vgl. zusammenfassend Briken, Hill & Berner,
2006). In einigen dieser Bereiche, zum Beispiel bei den
Studien mit bildgebenden Verfahren, ergibt sich aufgrund methodischer Defizite noch kein belastbares Ergebnismuster, und es bleibt unklar, ob die gefundenen
frontalen Dysfunktionen nicht eher mit einer allgemeinen Enthemmung und Antisozialität assoziiert sind.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen aber die Studien
zu Androgenen (Testosteron und Dihydrotestosteron),
denen eine zentrale Rolle bei der hormonellen Regulation
der männlichen Sexualität zukommt, und zu den Gonadotropinen, die die Produktion und Ausschüttung von
Testosteron fördern. Zwar fanden sich nach Briken, Hill
und Berner (2006) keine erhöhten Testosteronwerte bei
Sexualstraftätern und Paraphilen, aber erhöhte Testosteronwerte im Zusammenhang mit Gewalttaten gelten als
gut bestätigt. Interessant ist auch, dass Testosteron nicht
nur Voraussetzung für sexuelle Impulsivität ist, sondern
auch mit der (pädophilen) Fantasietätigkeit assoziiert zu
sein scheint, selbst wenn ansonsten die Ansprechbarkeit
auf sexuelle Stimuli erhalten bleibt. Die klinisch gut be-
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WIRTSCHAFTS
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nicht nur bei Letzteren, sondern auch bei psychisch
Gestörten eine Rolle spielen.
Normalpsychologische, nicht pathologische Prozesse
spielen in kriminellem Verhalten häufig eine größere
Rolle als pathologische Prozesse. In den Bereichen
Selbstkonzept, soziales Rollenverständnis, Geschlechtsrollen-Stereotype, Normen und Werte, Grundüberzeugungen, Einstellungen, Interaktionsstile, Problemlösekompetenzen, Beziehungsgestaltung, kognitive Schemata
usw. kennt die moderne Kriminaltherapie (Elsner, 2001;
Kröber, Dölling & Leygraf, 2006; Müller-Isberner, 1998)
eine Vielzahl von kriminogenen Merkmalsmustern, die
delikt- bzw. rückfallförderlich wirken und daher bei Straftätern möglichst verändert werden sollten.
Das Typische an diesen Problembereichen ist, dass sie
auch bei »Normalpersonen« vorkommen und dort keinerlei kriminelle Wirkung entfalten, bei Straftätern jedoch häufig in ungünstigen, deliktförderlichen Konstellationen auftreten.
Kriminaltherapeutische Behandlung verwendet psychotherapeutische (und hier sowohl klärungs- als auch
bewältigungsorientierte Vorgehensweisen), sozialpädagogische, milieutherapeutische und weitere (Arbeitsmaßnahmen, Sportpädagogik etc.) Methoden und findet im Idealfall in interdisziplinärer Zusammenarbeit
statt. Voraussetzungen für die Wirksamkeit kriminaltherapeutischer Behandlung sind jedoch eine differenzielle Indikation für die einzelnen Maßnahmen sowie
eine gute Verlaufsdiagnostik (zum Thema Psychotherapie bei Sexualstraftätern siehe Berner, Hill & Briken,
2007b; Marshall, Anderson & Fernandez, 1999).
6. Sind Sexualstraftäter krank oder kriminell?
Die Antwort
Fassen wir zusammen: Rein juristisch gesehen, ist jeder
Täter per definitionem kriminell. Inwieweit psychopaAbbildung 1: Ganzseitige Anzeige in Printmedien für die weltweit erste,
unter Leitung von Prof. Dr. K. M. Beier an der Charité laufende Präventionskampagne zur Pädophilie (www.kein-täter-werden.de)
Copyright: Scholz & Friends
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mensystemen verschiedener subkultureller Gruppierungen, in denen sexuelle Übergriffe möglicherweise erlaubt oder sogar gefordert sind). In diesen Bereich fallen auch die sogenannten »kognitiven Verzerrungen«
(cognitive distortions), die dazu dienen, sexuelle Übergriffe zu legitimieren (vgl. zum Beispiel Bumby, 1996).
■ Kosten-Nutzen-Abwägung: Die Person ist kognitiv in
der Lage, eine Kosten-Nutzen-Abwägung vorzunehmen, und bewegt sich in einem sozialen Bezugssystem,
in dem die »Kosten« für eine Sexualstraftat (Straffälligkeit, Verurteilung, Haftstrafe, Schadenersatz etc.) höher
sind als der potenzielle Nutzen (Bedürfnisbefriedigung,
Anerkennung in bestimmten Peergroups etc.).
Ferner wird Substanzmissbrauch als sekundärer Risikofaktor häufig genannt (Seto & Barbaree, 1995). Substanzeinfluss kann die Fähigkeit einer Person, devianten
Impulsen zu widerstehen, erheblich herabsetzen. Eine
Untersuchung von Seto und Barbaree (1995) hat jedoch
gezeigt, dass insbesondere Alkoholkonsum, auch vermittelt über weitere Prozesse (exkulpierende Attribution), die Tatwahrscheinlichkeit erhöht: Die Person fühlt
sich für ihr Verhalten weniger verantwortlich und erwartet auch nicht, dafür zur Rechenschaft gezogen zu
werden.
Ein zentrales Problem liegt dann vor, wenn die Hemmung im Grunde gar nicht aufgebaut wurde, weil Defizite bei der Furchtkonditionierung vorliegen. Strafbare Handlungen werden in diesem Fall allein schon
deshalb wahrscheinlicher, weil die Angst vor Strafe geringer ist. Die Vermutung, speziell die persönlichkeitsvariable Psychopathie (Hare, 1995) sei mit einer verminderten Fähigkeit zur Furchtkonditionierung
assoziiert, fand sich erst kürzlich in einer experimentellen Studie von Birbaumer et al. (2005) bestätigt.
4.7 Gibt es Täter ganz ohne psychische Störungen?
Die meisten der wegen schwerer Sexualdelikte verurteilten Täter verbüßen ihre Freiheitsstrafen in einer Justizvollzugsanstalt (JVA). Psychische Störungen, durch
die während der Tat die Einsichts- oder Schuldfähigkeit
erheblich eingeschränkt war, sollten bei diesen Tätern
seltener vorliegen als bei den im Maßregelvollzug Untergebrachten. Dennoch sind sie nicht auszuschließen:
Nur ein kleiner Anteil von Sexualstraftätern wird im Erkenntnisverfahren überhaupt begutachtet. Auch ist, wie
bereits dargestellt wurde, selbst das Vorliegen etwa eines sexuellen Sadismus nicht ausreichend für relevante
Beeinträchtigung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit nach § 20 oder 21 StGB – die Störung muss auch im
Tatkontext dazu geführt haben, dass der Täter in seiner
Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt war.
Auch wenn damit die Zahl der im Strafvollzug befindlichen Sexualstraftäter nicht direkt den Rückschluss auf
die Zahl derer rechtfertigt, die keine tatrelevanten psychischen Störungen aufweisen, gilt: Es gibt eine große
Zahl von Straftätern, die allenfalls einige der oben genannten psychischen Defizite aufweisen, aber psychopathologisch gesehen eher gesund sind. Hier sind es die
sogenannten kriminogenen Verhaltensdispositionen,
die im Vordergrund stehen. Wichtig ist aber zu berücksichtigen, dass kriminogene Verhaltensdispositionen
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7. Konsequenzen für die Behandlung
Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht: Die Tätertypologie ist für die Behandlung von Sexualstraftätern wichtiger als die Tattypologie. Es sollten
nicht die Delikte sein, die bei einem Straftäter über die
Initiierung einer Behandlung entscheiden, sondern die
spezifischen motivatonalen Bedingungen der Tat. Wenn
zu diesen motivatonalen Bedingungen eine Störung der
sexuellen Präferenz gehört, dann sollte diese behandelt
werden. Wenn die Gewaltmotivation und die kriminelle
Orientierung des Täters im Vordergrund stand, so resultiert ein kriminaltherapeutischer Ansatz für die Behandlung. Liegt beides vor, so sind auch beide Interventionsansätze heranzuziehen. Daher sollten die
Behandlungsprogramme nicht ohne individuelle Indi-
Z U S A M M E N F A S S U N G
Die vorliegende Übersichtsarbeit möchte einseitigen
Positionen bei der Bewertung von Sexualstraftaten entgegenwirken. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen
Literatur wird gezeigt, dass in aller Regel psychopathologische und kriminogene Faktoren für die Erklärung
von Sexualstraftaten bedeutsam sind. Die Behandlung
sollte deshalb interdisziplinär sein und eine umfassende
Psychodiagnostik mit einschließen.
502
kationsentscheidungen erfolgen (Hoyer, Borchard &
Kunst, 2000; Kunst & Hoyer, 2004).
Die kognitiv-behavioralen, straftatspezifischen, strukturierten Gruppenprogramme wie z.B. das »Sex Offender Treatment Programme« (SOTP; Grubin, Mann & Thornton, 2006)
haben aufgrund ihrer hohen Gesamtwirksamkeit einen Siegeszug durch die intramurale Behandlung angetreten (Anwendung in Deutschland vgl. Feil & Knecht, 2007). Die
praktische Erfahrung zeigt jedoch, dass die Gruppentherapeuten bei bestimmten diagnostischen Gruppen (nicht nur
den sogenannten »Psychopathen«) Misserfolge vermuten
oder zumindest Zweifel hegen, ob das Programm überhaupt
indiziert oder vielleicht gar kontraindiziert ist (etwa bei paraphilen Probanden mit sehr reger Fantasietätigkeit; Seto &
Barbaree, 1999). Es ist deshalb eine der kommenden Aufgaben, die Wirksamkeit kognitiv-behavioraler, deliktspezifischer Programme in Abhängigkeit von den gegebenen psychischen Störungen und in ihrem Zusammenwirken mit
anderen therapeutischen Maßnahmen (psychologische oder
kriminaltherapeutische Einzeltherapie, Milieutherapie, andere gruppentherapeutische Maßnahmen, medikamentöse
Therapien etc.) zu untersuchen. Möglicherweise wird man
herausfinden, dass die Wirksamkeit dieser Maßnahmen
mit spezifischen Methoden der Vor- und Nachbereitung
steht und fällt und dass hier für unterschiedliche diagnostische Gruppen unterschiedliche Vorgehensweisen Effekte
zeigen. Eine echte Innovation stellt darüber hinaus die
weltweit erste Studie zur Prävention pädophil motivierter
Straftaten, also zur Prävention (nicht Rückfallprophylaxe) auf
Täterseite, dar (s. Abbildung 1).
Die medikamentöse Behandlung (Briken, Hill & Berner,
2007) ist in vielen Fällen eine sinnvolle Ergänzung der
Psycho- und Sozialtherapie bei Sexualstraftätern.
Unser abschließendes Plädoyer: Sexualstraftaten, insbesondere Rückfalldelikte, werden wir nur dann effektiver
verhindern können, wenn es gelingt, einseitige Beschreibungen und Wertungen dieses Phänomens zu vermeiden.
Auch bei psychisch gesunden Straftätern sind Defizite im
Spiel, die im Rahmen der Kriminaltherapie nicht zuletzt
auch mit psychologischen Interventionen behandelt werden können und sollten. Umgekehrt brauchen psychisch
gestörte Sexualstraftäter, ob mit Paraphilien oder anderen
psychischen Störungen, eine Behandlung, die nicht nur
die psychischen Störungen, sondern auch die kriminogenen Faktoren berücksichtigt. Nur eine multimodale Behandlung, die eine umfangreiche Psychodiagnostik einschließt (Hoyer & Kunst, 2004; Kunst & Hoyer, 2004) und
die damit interdisziplinär ist, verspricht eine gegenüber
dem Status quo verbesserte Erfolgsrate.
A B S T R A C T
The present review argues against simplistic views of
the problem of sexual offences. Based on the
scientific literature in the field, we demonstrate how
both psychopathological and criminogenic factors
contribute to the explanation of sexual offences.
As a consequence, sex offender treatment should
include a comprehensive psychodiagnostic
examination and be based on an interdisciplinary
approach.
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thologische Abweichungen nichtsdestotrotz eine Rolle
spielen, ist hingegen höchst variabel. Deshalb muss die
Frage richtigerweise in jedem einzelnen Fall lauten: Wie
stark ausgeprägt sind die kriminogenen und die psychopathologischen Risikofaktoren?
Die meisten Sexualstraftäter begehen ihre Taten aus einem Gemisch von Motiven und Faktoren heraus. Es
muss in jedem einzelnen Fall analysiert werden, welche
Motivation hinter einer Tat stand. Folgenden Thesen
sind dabei zu berücksichtigen:
1. Viele Sexualstraftäter zeigen nicht nur kriminelles
Verhalten, sondern erfüllen auch die Kriterien einer
psychischen Störung (vgl. Leue, Borchard & Hoyer,
2004).
2. Das sind in der Minderzahl der Fälle sexuelle Präferenzstörungen.
3. Psychische Störungen werden oft erst im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (schwere sexuelle Präferenzstörung als Kombination von Merkmalsmustern;
Extrembelastungen, Konflikte, Drogen o.Ä.) zum Risikofaktor für Sexualstraftaten.
4. Die psychischen Störungen sind selten so ausgeprägt, dass keine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit gegeben ist.
5. Sie weisen meistens Ansatzpunkte für eine Behandlung auf, die sich auf die kriminogenen und/oder die
psychopathologischen Risikofaktoren beziehen kann –
sind also behandelbar.
6. Bei einer sehr kleinen Gruppe ist das Rückfallrisiko zu
groß und keine ausreichende Selbststeuerung zu erwarten, sodass eine Entlassungschance nicht realistisch und
eine (psychotherapeutische) Behandlung damit nicht
ausreichend begründbar ist (Jöckel, 2004).
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