Oktober | November 2015 + Alle Termine: Jetzt zur Früherkennung + G E SU N D H E IT Krebs GESUNDHEIT Die neuen High-Tech-Therapien gegen Krebs Das Wichtigste zu Tumoren der Brust, Prostata, Lunge, des Darms und weiteren Warum Krebs entsteht / Wie Sport und Ernährung schützen 0 DIE 77 TE & RZ TOP-Ä INIKEN L TOP-K REBS FÜR CKH DEN NA EBIETEN FACHG TIERT SOR So So schützt schützt Ihr Ihr Immunsystem Immunsystem vor vor Krebs Ärzte nutzen jetzt das eigene Immunsystem, Gentechnik und globale Datenbanken zur Behandlung ANZEIGE Editorial Foto: dominik Butzmann für FOCUS-Gesundheit Alle Chancen nutzen Die Diagnose Krebs kommt meist unvorbereitet und klingt wie ein Todesurteil. Doch das stimmt nicht mehr. In allen Bereichen der Krebstherapie gibt es enorme Verbesserungen, die zu einem grundlegenden Wandel geführt haben: Selbst fortgeschrittener Krebs ist nicht mehr zwingend tödlich, sondern für viele zu einer zwar chronischen, aber beherrschbaren Erkrankung geworden. riesige DatenbanKen sollen das globale Wissen über Krebs in Zukunft bündeln und leichter auf einzelne Patienten anwendbar machen. Die Tumoren werden dazu genetisch komplett analysiert und gespeichert. Nach dem Abgleich mit sämtlichen verfügbaren Studiendaten wählt die Experten-Datenbank das wirksamste Mittel. Wie „Big Data“ die Krebstherapie verändert, lesen Sie ab Seite 38. eine ganz neue Ära begründen die angehörige von KrebsPatienten sogenannten Immunonkologischen Therapien. Sie nutzen zielgenau das körpereigene Abwehrsystem zum Angriff gegen den Tumor und haben weniger Nebenwirkungen als eine Chemotherapie. Die hoffnungsvollsten Wirkansätze und wer heute schon davon profitiert, erklären wir in unserem Cover-Booklet sowie im Heft ab Seite 32. durchleben fast ebensolche psychischen Krisen wie ihre geliebten kranken Kinder, Eltern oder Partner. Autorin Mila Hanke hat mit mitleidenden Pflegenden gesprochen und ab Seite 80 aufgeschrieben, was für sie selbst am hilfreichsten ist. Herzlich Die besten ChanCen haben die Pa- tienten der besten Ärzte. In Zentren behandeln sie in interdisziplinären Teams nach den aktuellen Leitlinien der Fachgesellschaften. Sie bieten die Möglichkeit, an Studien teilzunehmen und innovative Medikamente zu erhalten. Deutschlands Top-Krebsmediziner haben wir für Sie recherchiert und ab Seite 112 aufgelistet. FOCUS-GeSUndheit Ulrich Reitz, Chefredakteur 3 Inhalt FOCUS-GESUNDHEIT – Nr. 26 – Neue Therapien gegen Krebs Diagnose Krebs 6 Von Schuld und Stärke Weltmeister Jérôme Boateng und weitere Prominente erzählen ihre Krebsgeschichte 10 Kurz & knapp Künstliche Hundenasen erschnüffeln Krebs; Nobelpreisträger warnt vor Fleisch 14 Lotterie des Lebens Die große Infografik zeigt, was passieren muss, damit Krebs entsteht 80 16 „Wulstige Massen, hart und kalt“ Schon die alten Ägypter kannten Krebs. Seitdem hat sich vieles geändert. Geblieben ist die Angst vor der Erkrankung 22 Was kommt da auf mich zu? Und jetzt alle! Merle, 7, erkrankte an Leukämie – ein Fall für die ganze Familie Kramer* Wie Menschen mit der Krebsdiagnose umgehen und welche Strategien es gibt 31 Neue Therapien 32 Angriff der Scharfschützen Forscher aktivieren das Immunsystem im Kampf gegen den Krebs – mit Erfolg 38 Big Data als Medizin Bald könnte jeder Patient eine individu­ elle Therapie erhalten. Dazu erfassen Forscher Tumordaten bis ins Detail Der beste Schutz ist die regelmäßige Vorsorge, also die Darmspiegelung 22 Sehr lebendig Julia Gardumi ist unheilbar krank und möchte bis zuletzt für ihre Kinder da sein 4 38 Daten-Medizin Ärzte analysieren jeden Tumor im Detail und bieten individuelle Therapien *Name von der Redaktion geänder t 50 Prostatakrebs Aktive Überwachung kann eine Alternative zu OP und Bestrahlung sein 52 Lungenkarzinom Für die Patienten wird eine persona­ lisierte Therapie Realität 56 Hautkrebs Vorstufen sind sehr häufig. Bei der regelmäßigen Vorsorge entfernt sie der Arzt 60 Tumoren des Verdauungstrakts Neues zu Blasen-, Magen- und Nierenkrebs FOCUS-GESUNDHEIT Titel: Alfred Pasieka/SPL, Science Source/mauritius images 46 Darmkrebs 108 Tasten, Tests und Screening Der rechtzeitige Gang zur Vorsorge vermag die Sterberaten bei vielen Krebsarten teils massiv zu senken 110 Gesundes Maßhalten 16 Fotos: Joanna Nottebrock, Andreas Nestl, Jonas Ratermann alle für FOCUS-Gesundheit ; Illustration: Daniel Stolle Zerbrechliche Fabrik Wenn sich in der Zelle Fehler anhäufen, kann Krebs entstehen Kanzerogene wie Strahlung oder Feinstaub sollte der Mensch meiden 112 Methodik Ärzte- und Klinikliste Wie die Daten der FOCUS-Gesundheit-Ärzte- und Kliniklisten erhoben wurden 114 Ärzteliste Brustkrebs und gynäkologische Tumoren 116 Ärzteliste Hautkrebs 117 Ärzteliste Leukämien, Lymphome & Metastasen 118 Ärzteliste Lungenkrebs 120 Ärzteliste Strahlentherapie 122 Ärzteliste Tumoren 62 Seltene Tumoren Diagnose und Therapien bei Leukämien, Lymphomen, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Gallenwegs- und Weichgewebetumoren 65 Gynäkologische Tumoren Geschwülste lassen sich schonend per Schlüsselloch-Chirurgie entfernen 66 Brustkrebs Gentests könnten die Rückfall-Wahrscheinlichkeit ermitteln und die Chemo ersparen 74 Rettende Behandlungen Überblick über die Standardtherapien und was sie leisten 76 Nadeln, Yoga oder Kräuter? Eine Expertin klärt über den Nutzen komplementärer Heilmethoden auf 79 Leben mit Krebs d 80 Neuer Lebensmittelpunkt Eine Tumorerkrankung belastet auch die Familie und Freunde. Sie sollten lernen, auf sich zu schauen FOCUS-GESUNDHEIT 86 Rätselhafte Müdigkeit Krebsüberlebende können unter Spätfolgen der Therapie leiden. Was sich dagegen tun lässt des Verdauungstrakts 124 Ärzteliste urologische Tumoren 126 Klinikliste Brustkrebs 90 Signalstörung Das Arzt-Patienten-Gespräch ist oft heikel. Tipps zur besseren Kommunikation 130 Klinikliste Darmkrebs 93 Recht auf Fürsorge 137 Klinikliste Strahlentherapie Was Patienten zusteht: Von Kündigungsschutz bis Anschlussbehandlung 94 Leben bis zuletzt Wie Patienten und Ärzte selbst das Unausweichliche noch gestalten können 133 Klinikliste Prostatakrebs 140 Klinikliste Lungenkrebs 144 Schon gewusst? Der Monokini für die Monobrust und der offenbar völlig tumorfreie Nacktmull 99 Schutz & Vorsorge d 100 Schlagkraft im Team Sport ist effektiv wie ein Medikament: zur Vorsorge und als Therapiebegleitung Rubriken 104 Ziel Gewichtszunahme Koch Alfons Schuhbeck zeigt, wie Krebspatienten schmackhafte Gerichte gelingen 3 Editorial des Chefredakteurs 146 Vorschau und Impressum 5 Menschen Chef der Krebs-Abwehr Jérôme Boateng zeigt Wattestäbe, die der typisierung vor der Knochenmarkspende dienen Geschichten von Schuld und Stärke: Vier Krebs-Helden erzählen von ihren persönlichen Erfahrungen „Mein erster Kontakt mit Leukämie war im April 2014. Felix, ein junger Student, der an Blutkrebs erkrankt war, suchte dringend einen Stammzellenspender. Wie für viele Patienten war eine transplantation für ihn die einzige Chance, die Krankheit zu überleben. Genau wie ich hat Felix einen ghanaischen Vater und eine deutsche Mutter. Weil diese herkunftskombination in deutschland sehr selten ist, war auch seine Chance, einen Spender zu finden, sehr gering. denn 6 die für eine transplantation wichtigen Gewebemerkmale werden vererbt. die deutsche Knochenmarkspenderdatei (dKMS), die Gewebemerkmale typisiert und speichert, versucht daher, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in ihre datei aufzunehmen. ich wollte dabei helfen und habe für Felix einen Facebook-Aufruf gepostet, damit sich möglichst viele Menschen – mit und ohne Migrationshintergrund – registrieren lassen. Felix hat mittlerweile einen Spender gefun- den und den Blutkrebs besiegt. Gemeinsam mit der dKMS habe ich das Projekt Fußballhelden gestartet*. Unser Ziel ist es, dass alle Vereine in deutschland ihre Spieler in der datenbank registrieren lassen. Mehr als 300 Vereine machen schon mit, und ich hoffe, dass es noch viel mehr werden. deshalb mein Appell an alle Fußballer: Macht mit, rettet Leben, und werdet selbst zu Fußball-helden!“ *informationen zur Kampagne auf www.dkms-fussballhelden.de FOCUS-GeSUndheit Foto: Paul Ripke/dKMS Fußballweltmeister Jérôme Boateng, 27, ist gut gegen Blutkrebs aufgestellt. Mit seinem Projekt ruft er dazu auf, sich als Stammzellenspender registrieren zu lassen. Schauspielerin Hendrikje Fitz, 54, hatte Brustkrebs und engagiert sich „Vor einem Jahr erhielt ich die diagnose Brustkrebs. heute ist nichts mehr davon zu sehen – bis auf die kleine narbe an meiner linken Brust. Aber solche Lebensereignisse müssen Spuren hinterlassen. durch die Krankheit ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, was für ein Glück ich habe, in einem Land geboren zu sein, das ein so gut funktionierendes Gesundheitssystem hat – das ist nicht überall so*. Obwohl meine Mutter ebenso Brustkrebs hatte, war ich nicht regelmäßig bei der Vorsorge. ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass ich die Krankheit auch bekommen würde, weil wir so verschieden sind. in der tV-Serie „in aller Freundschaft“ spiele ich eine Physiotherapeutin, die an Brustkrebs erkrankt. Unsere medizinische Beratung hatte mir für die Rolle die Symptome erklärt. da ich mich nach dem duschen regelmäßig eincreme, dachte ich, das spüre ich schon, wenn sich was an meinem Busen verändert. Aber dann ist es mir doch entgangen. Mit meiner Krankheit bin ich sehr offen umgegangen. Während der Chemotherapie und der Bestrahlung habe ich weitergearbeitet. ich wollte anderen Frauen zeigen, dass man trotz Krebs ein attraktives und funktionierendes Mitglied der Gesellschaft sein kann. dass ich nicht ewig leben werde, war mir immer klar. dass ich heute nicht mehr leben würde, wenn ich meine diagnose in einem anderen Land bekommen hätte, das gibt mir nach wie vor sehr zu denken.“ Foto: Andreas nestl für FOCUS-Gesundheit *hendrikje Fitz unterstützt ein Crowdfunding-Projekt, um einer algerischen Frau, die an Brustkrebs erkrankt ist, eine therapie zu ermöglichen. Mehr unter: www.helpmimi.wordpress.com Lichtblicke Schauspielerin hendrikje Fitz dinge zeigt mit stolzem Lächeln ihre narbe an der linken Brust FOCUS-GeSUndheit 7 D i ag n o s e K r e b s InfografIk DNA Informationsschaden Die Erbsubstanz DNA besitzt die Form einer Doppelhelix, ihre Leitersprossen stellen Informationen bereit. Mutationen (oranger Kreis) können die Informationen zerstören Zelle Mutation oder Schaden Kanzerogene Diese Stoffe erhöhen das Risiko für Mutationen Alkohol Sonnenlicht Strahlung Tabak Wie Krebs Krebs ist ein Spiel des Zufalls, eine Lotterie mit täglicher Ziehung. Es ereignet sich irgendwo tief in einer Zelle und betrifft Informationen in der DNA. Sie werden unleserlich oder ändern sich. In jeder Sekunde entstehen solche Mutationen im Erbgut, bei einer Zellteilung sind bis zu fünf normal. Zunächst ist der Informationsschaden glücklicherweise nicht so schlimm. Die Zelle geht daran zu Grunde. Oder sie verhält sich so ungewöhnlich, dass die Immunabwehr sie umgehend eliminiert. Oft passiert auch einfach gar nichts, die Mutation bleibt, vielleicht kommen andere Schäden dazu – und damit steigt das Risiko. Gefährlich wird es, wenn die Fehler neuralgische Infografik: Br yan Christie Design für FOCUS-Gesundheit entsteht Stellen in der Erbsubstanz erwischen. Jene Informationen, die mit dem Zellwachstum zu tun haben. Dann kann es sein, dass die Zelle sich der Kontrolle des Körpers entzieht, vom Immunsystem nicht erkannt wird und sich ungehemmt zu teilen beginnt. Eine Geschwulst wächst heran. Zunächst besteht sie nur aus wenigen Zellen, doch sie vergrößert sich, durchstößt Gewebegrenzen, besorgt sich eine Blutversorgung und breitet sich schließlich in den ganzen Körper aus. Krebs mit Metastasen ist entstanden. Besser also den Zufall nicht herausfordern und vorsichtig sein mit Tabak, beim Alkohol und Sonnenbad. Sie steigern das Risiko für Mutationen. FOCUS-GESUNDhEIT reparierter Schaden Zelle mit harmlosem Schaden Schäden häufen sich an Immunsystem vernichtet auffällige Zelle Lange Karriere Einige DNA-Schäden (gelbe Kreise) werden repariert, manche bleiben, sind aber harmlos. Reichern sich die Mutationen oder Schäden an, kann auch das Immunsystem eingreifen und die Zellen eliminieren entartete Zelle Gewebe mit Tumor Tumor Blutgefäß Tumorwachstum Ein Tumor reift Metastasen Betreffen Schäden die Gene zur Kontrolle der Zellteilung, kann es zu unkontrolliertem Wachstum kommen. Der Tumor wird vom Immunsystem nicht erkannt und vergrößert sich immer mehr – bis er Gewebe zerstört, Blutgefäße wachsen lässt und einzelne Tumorzellen sich über die Gefäße im ganzen Körper verteilen. 15 D i ag n o s e K r e b s EntstEhung Wenn Zellen eigenwillig werden W ulstige Massen auf der Brust, hart und kalt“, schildert der Arzt. „Weder enthalten sie Flüssigkeit, noch sondern sie welche ab, doch treten sie unter Berührung deutlich hervor.“ Was bis heute die Diagnose eines Brusttumors korrekt beschreibt, sind die Worte des ägyptischen Arztes Imhotep. Vor rund 4600 Jahren notierte er 48 Fälle von Krankheiten oder Verletzungen mitsamt Ratschlägen zu ihrer Behandlung. Allein bei der Brustkrebserkrankung lautet sein Kommentar: „Es gibt keine Therapie.“ Das hat sich seit Imhoteps Zeiten grundlegend geändert. Heute existiert eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten, bei einigen Tumorarten besteht inzwischen sogar eine große Chance auf vollständige Heilung. Seinen Schrecken hat der Krebs jedoch auch in den über 4000 Jahren nach seiner frühen Beschreibung nicht verloren. 16 Ein bösartiger Tumor ist die Krankheit, welche die Deutschen am meisten fürchten. Krebs rangiert einer Umfrage zufolge weit vor Alzheimer oder einem Schlaganfall. Die Hälfte aller Männer und 43 Prozent aller Frauen in Deutschland erkranken im Lauf ihres Lebens an Krebs. Jeder vierte Mann und jede fünfte Frau sterben daran. Neben dem realen Risiko ist es auch das Wesen der Krankheit, das Furcht auslöst: der Fakt, dass im eigenen Körper aus scheinbar heiterem Himmel ein Gebilde unkontrolliert zu wuchern beginnt und macht, was es will. Gegen die Angst helfen vor allem Wissen und Aufklärung. „Je besser der Krebspatient informiert ist, umso eher kann er auch mitarbeiten und an seiner Heilung selbst bestimmend mitwirken“, sagt Hans-Peter Krämer, Vorsitzender des Stiftungsrats der Deutschen Krebshilfe. Ebenso wichtig: Wer weiß, welche Faktoren bei der Krebsentstehung eine Rolle spielen, kann sein persönliches Krebsrisiko durch Veränderungen am Lebensstil deutlich einschränken. Seit Jahrhunderten haben Wissenschaftler versucht, die Ursachen für die tückische Erkrankung zu ermitteln. Heute wissen sie: Krebs entsteht, wenn Zellen im Lauf eines längeren Zeitraums eine Reihe von genetischen Veränderungen angesammelt haben, die grundlegende Kontrollmechanismen des Wachstums außer Kraft setzen. Solange sie gesund sind, teilen sich Zellen nur, wenn sie den Befehl dazu erhalten. Krebszellen dagegen machen sich unabhängig von Wachstumssignalen. Sie reagieren nicht auf Botschaften des Körpers, die normalerweise die Vermehrung unterbinden. Auch der Selbstmordmechanismus, der ansonsten bei gravierenden Schäden greift, funktioniert bei ihnen nicht mehr: Während gesunde Zellen eine Art Zählwerk eingebaut haben, das die Menge ihrer FOCUS-GeSUndheit illustration: daniel Stolle für FOCUS-Gesundheit Häufen sich Mutationen in der DNA, kann Krebs entstehen – dafür reicht Pech aus. Ein gesunder Lebensstil kann das persönliche Krankheitsrisiko aber mindern X Xe X N u Xe T hXeXrXaXp i e N ImmunonkologIe Der Krieg der Zellen Attacke der Verteidigung Wie Orangen sehen die T-Lymphozyten des Immunsystems aus. Sie heften sich auf eine Tumorzelle, um sie zu markieren. Die Elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt eine 1600-fache Vergrößerung Fotos: Steve Gschmeissner/Science Photo Librar y Forscher und Ärzte entdecken das Immunsystem als Waffe gegen bösartige Geschwüre. Ihre Erfolge sind teils spektakulär M ehr als sieben Jahre hat sich Rainer Zinke aus Kiel gegen den Krebs gestemmt. Und jetzt endlich kann er wieder hoffen. Im Herbst 2007 hatte ihn eine kleine Geschwulst an der rechten Schläfe beunruhigt. Beim Hautarzt stellte sich heraus, dass es sich um ein malignes Melanom handelte, bösartiger Hautkrebs, der bereits Metastasen gebildet hatte. Der heute 69-Jährige unterzog sich einer Operation und erhielt zwei Chemotherapien. Doch die Geschwülste wuchsen unbeirrt weiter. Selbst eine anschließende Bestrahlung brachte keinen Erfolg. Gemeinsam mit seinem Arzt, dem Kieler Dermatologen Axel Hauschild, entschied er sich, eine neue Immuntherapie anzuwenden. Über sechs Monate lang erhielt der frühere Polizist am Universitätsklinikum Kiel zwölf Infusionen, die sein Abwehrsystem stimulierten. Seitdem sind seine Metastasen geschrumpft, von 15 auf sechs Zentimeter. Der Tumor, so sieht es aus, ist auf dem Rückzug. Der Rolle des Immunsystems in der Krebstherapie haben Forscher lange Zeit kaum Beachtung geschenkt. Sie konzentrierten sich darauf, die entarteten Zellen etwa durch Chemo- und Strahlentherapie zu bekämpfen. Das ändert sich nun. Seit einige Studien berichten, wie lebensbedrohliche Tumoren bei Patienten geradezu dahinschmelzen, wenn FOCUS-GeSUndheit 33 Neue TherapieN darmkrebs Darmkrebs D armkrebs entsteht leise und langsam. Bis aus einer zunächst gutartigen Zellwucherung, einem sogenannten Polypen, ein bösartiger Darmtumor entsteht, können Jahre vergehen. Weder Schmerzen noch Verdauungsprobleme machen auf die Gefahr aufmerksam. In Deutschland erkranken jährlich rund Mehr als 63 000 Menschen neu an Darmkrebs. 26 000 sterben an einem bösartigen Tumor im Dick- oder Enddarm. Bei Frauen ist die Erkrankung das zweithäufigste und bei Männern das dritthäufigste Krebsleiden. Viele Menschenleben ließen sich retten, wenn Polypen und frühe Krebsstadien im Darm rechtzeitig erkannt und entfernt würden. Die Darmspiegelung (Koloskopie) ist eine effektive Früherkennungsmethode. Durch die Kamera an der Spitze des dünnen und flexiblen Koloskops entdecken Ärzte verdächtige Zellhaufen und tragen sie gleich mit einer Drahtschlinge an dem Gerät ab. Veränderungen der Darmschleimhaut und Entzündungen sind ebenfalls zu erkennen. Die Darmspiegelung bringt die Erkrankung in frühen Stadien ans Licht, in denen sie noch heilbar ist. Auch ein Test auf verstecktes Blut im Stuhl – der Okkultbluttest – liefert Hinweise auf Darmtumoren. Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen den Stuhltest für Männer und Frauen ab 50 Jahren (siehe auch „Service Vorsorge“ auf S. 109). Leider ist die Scheu, sich mit dem Thema Darm zu beschäftigen, noch immer vorhanden - trotz der großen Chancen, die eine Früherkennungsuntersuchung bietet. „Im Freundeskreis erzählt 46 man lieber von einer Bypass-Operation als von einer Darmspiegelung“, erklärt Guntram Lock, Gastroenterologe des Darmzentrums am Hamburger Albertinen-Krankenhaus. „Dabei ist es wichtig, das Organ nicht zu tabuisieren.“ Es mag nicht besonders appetitlich klingen. Aber nur wer seine Verdauung und durchaus auch deren Produkte konsequent im Blick behält, registriert Auffälligkeiten, die womöglich auf eine Störung im Darmtrakt hinweisen. Bei länger als zwei Wochen anhaltenden vermehrten Blähungen, Durchfall, Verstopfung oder verändertem Aussehen des Stuhls sollte ein Gastroenterologe die Ursache abklären. Auch bei sichtbarem Blut im Stuhl sollte ein Arzt nach der Blutungsquelle suchen. 30 % aller Darmkrebspatienten haben auch in der Verwandtschaft Polypen oder Krebs Quelle: www.darmkrebs.de Patienten mit chronischen Darmentzündungen haben ein erhöhtes Risiko für Damkrebs. „Die Erkrankung reizt die Zellen im Darm und verändert ihre Zellteilung“, erklärt Florian Lordick vom Krebszentrum des Universitätsklinikums Leipzig. „Patienten mit der entzündlichen Darmerkrankung Colitis ulcerosa haben ein etwa siebenfach erhöhtes Darmkrebsrisiko", weiß Onkologe Lordick. Sie sollten unbedingt regelmäßig die Darmkrebsvorsorge wahrnehmen, denn entzündungsbedingte Tumoren wachsen schneller. Gefährdet für Darmkrebs sind zudem Patienten mit Morbus Crohn. Sie hätten ein vierfach erhöhtes Darmkrebsrisiko, ergab eine Untersuchung des Evangelischen Krankenhauses Kalk in Köln. Bei rund 30 Prozent aller Darmkrebsfälle sind die Erkrankung oder Darmpolypen bereits bei Verwandten aufgetreten. Dann besteht für alle Familienmitglieder ein erhöhtes Risiko – und die Diagnose kann auch junge Menschen treffen. Nicht immer ist diese Häufung allerdings erblich bedingt. Nur in etwa fünf bis acht Prozent der Darmkrebsfälle lässt sich eindeutig eine genetische Ursache nachweisen. Dies ist mit Hilfe molekulargenetischer Tests möglich. Ein Beispiel für erblichen Darmkrebs ist die Familiäre Adenomatöse Polyposis (FAP). „Sind Verwandte daran erkrankt, sollten Angehörige schon in jungen Jahren zur Darmkrebsvorsorge gehen“, empfiehlt Lock. Bereits Teenager könnten eine Vielzahl von Polypen im Darm haben. Ist es zu einer Darmkrebserkrankung gekommen, sind Operation, ChemoFOCUS-GESUNDHEIT Fotos: Zephyr/SPL/Agentur Focus Vor Darmkrebs kann man sich schützen: Durch regelmäßige Darmspiegelungen und Tests auf Blut im Stuhl. Auch die richtige Ernährung bietet Schutz. Neue AntikörperTherapien helfen Darmkrebspatienten, länger zu leben Fakten l Häufigkeit: Etwa 63 000 Menschen erkranken in Deutschland pro Jahr an Darmkrebs. Betroffen sind Männer und Frauen, vor allem in der zweiten Lebenshälfte. l Prognose: 65 Prozent der Patienten leben fünf Jahre nach der Diagnose. Diagnose Bei der Darmspiegelung, die ab 55 Jahren Teil des gesetzlichen Früherkennungs­ programms ist, werden verdächtige Darm­ polypen, häufig Vorstufen zu Krebs, gleich entfernt. Andere Diagnoseinstrumente sind verschiedene Tests auf Blut im Stuhl, die Bestimmung eines Tumormarkers im Blut sowie bildgebende Verfahren. Therapie Wenn möglich, wird der Tumor entfernt. Haben Krebsherde bereits die Darmwand durchbrochen, Lymphknoten befallen oder Tochtergeschwülste gebildet, kommen Strahlen­ und Chemotherapie hinzu. Ab­ hängig von den Tumoreigenschaften und dem Krankheitsstadium können neuere, zielgerichtete Antikörper das Wachstum verlangsamen: Sogenannte Angiogenese­ hemmer bremsen die Bildung neuer Blut­ gefäße und somit die Nährstoffversorgung des Tumors. Andere Substanzen blo­ ckieren ein Oberflächenmerkmal, das bei manchen Tumorarten besonders häufig vorkommt und Wachstumssignale sendet. Darmkrebs Der normale Darm des Patienten ist nach der Ein­ nahme von Röntgenkont­ rastmittel in voller Länge gut auf dem Röntgenbild sichbar. Der Tumor ver­ drängt das Kontrastmittel und zeigt sich im Bild als durchsichtige Stelle Darmkrebs Vom Polyp zum Darmkrebs Etwa 90 Prozent aller Darmkrebserkrankungen entstehen aus einem gutartigen Polypen. Bis dessen Zellen bösartig werden können Jahre vergehen Polyp (so groß wie ein Stecknadelkopf) 1 Kleiner Polyp: In einer einzigen Zelle der Darmschleimhaut entstehen Erbgutveränderungen, und sie beginnt, sich zu teilen. Es entstehen immer mehr Zellen und daraus ein gutartiger Schleimhautpolyp (Adenom). Mastdarmkrebs mit Lymphknotenbefall großer Polyp 2 Wachstum des Polypen: Die Zellen teilen sich weiter und wachsen in den Innenraum des Darms ein. Würde der Polyp in diesem Stadium bei einer Darmspiegelung entdeckt, könnte er entfernt werden, ohne Schaden anzurichten. 3 Darmkrebs: Polypenzellen erfahren neue Genveränderungen und werden zu Krebszellen. Diese wachsen aggressiv in umliegendes Gewebe. Über Blut und Lymphe breiten sie sich aus und bilden weitere Krebsherde. Quelle: www.darmkrebs.de therapie und Bestrahlung die wichtigsten Therapiebausteine. „Ein bösartiger Tumor im Enddarm, der die Darmwand durchbrochen hat, wird meist zuerst bestrahlt oder mit einer Chemotherapie behandelt, damit er sich verkleinert“, erklärt Lordick. „Erst dann wird er operativ entfernt.“ Eine Chemotherapie nach der Operation kann das Rückfallrisiko senken. Zu den innovativsten Behandlungsmethoden bei Darmkrebs zählen zielgerichtete Immuntherapien. Ärzte bekämpfen Darmkrebs, der Metastasen gebildet hat, mit Antikörpern. Die Medikamente blockieren spezielle Andockstellen (Rezeptoren) auf den Krebszellen und damit Signalwege, die sie zur Vermehrung brauchen. Andere Antikörper setzen an der Blutversorgung des Darmtumors an. Sie verhindern die Neubildung von Blutgefäßen, unterbinden die Nährstoff- und 48 Sauerstoffzufuhr und hungern den Tumor aus. „Mit diesen zielgerichteten Medikamenten lässt sich die überlebenszeit von Patienten um mehr als zweieinhalb Jahre erhöhen“, erklärt Lordick. Ärzte verabreichen die Antikörper als Infusionen – entweder ergänzend zu einer Chemotherapie oder als alleinige Behandlungsmethode. Informationen zur Antikörpertherapie bei Darmkrebs bieten Universitätskliniken oder die zertifizierten onkologischen Zentren der Deutschen Krebsgesellschaft. Zum Schutz vor Darmkrebs kann auch eine gesunde Ernährung beitragen. Forscher der Loma-Linda-Universität in Kalifornien analysierten die Essgewohnheiten und den Gesundheitszustand von fast 78 000 Erwachsenen. Sie fanden in ihrer Studie heraus, dass Vegetarier, die mindestens einmal pro Monat Fisch aßen, ein 43 Prozent geringeres Krebsrisiko hatten als Fleischliebhaber. „Es gilt als sicher, dass der regelmäßige Genuss von rotem Fleisch, also Schweine-, Rind- oder Lammfleisch, häufiger zu Darmkrebs führt“, sagt Lock. Dass aber der richtige Speiseplan Krebs ganz verhindern könne, wie manche populärwissenschaftliche Ratgeber behaupten, hält Lock für unwahrscheinlich. Empfehlenswert sei es, viel Obst, Gemüse und Vollkornprodukte zu essen. Bei tierischen Produkten sollten eher mageres Geflügelfleisch und Fisch auf dem Speisezettel stehen. Neben der Auswahl der Lebensmittel scheint auch die Verweildauer der Nahrung im Darm eine Rolle bei der Krebsentstehung zu spielen. Die meisten Karzinome treten im Dick- und Enddarm auf. „Hier verbleibt der Speisebrei bis zu zwei Tage. Krebs erregende Stoffwechselprodukte der Darmbakterien können hier länger auf Gewebezellen einwirken und ihre Zellteilung beeinflussen“, erklärt Lordick. Die richtige Ernährung kann zudem Patienten helfen, die bereits an Darmkrebs erkrankt sind und eine kräftezehrende Bestrahlung oder Chemotherapie über sich ergehen lassen müssen. Sie sollten vor allem darauf achten, kein Gewicht zu verlieren, und sich entsprechend gesund, aber kalorienreich ernähren. Von speziellen „Anti-Krebs-Diäten“, die eine krebshemmende oder gar heilende Wirkung versprechen, hält Lock gar nichts. Gefährlich sind zum Beispiel Ernährungsempfehlungen, die zum Verzicht auf Kohlenhydrate raten, um den Krebs „auszuhungern“. Auch die krebshemmende Wirkung von Roter Beete, Milchsäurekost oder einer streng makrobiotischen Diät mit Getreideprodukten ist wissenschaftlich nicht belegt. „Einseitige Diäten führen nur zu einer Schwächung des Patienten, der für die Therapie aber all seine Kräfte braucht“, betont Lock. Bewegung ist wichtig für den Darm, weil sie die Verdauung ankurbelt. Von leichtem Ausdauertraining profitieren aber alle Krebspatienten, denn so bleiben sie bei Kräften, ihr Immunsystem wird gestärkt und die Stimmung steigt. Lock sagt: „Wer sich regelmäßig bewegt, läuft dem Krebs ein Stück weit davon." YVONNE KüSTER / INGRID MüLLER FOCUS-GESUNDHEIT Infografik: Daniela Kölbl Neue THerapieN Der Wunsch nach Menschlichkeit Charlotte Link, 51, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen deutschlands (z. B. „die Rosenzüchterin“, „Sturmzeit“). ihre Schwester Franziska starb im Alter von 47 Jahren an darmkrebs. Jetzt berichtet die Bestsellerautorin in ihrem neuesten Buch „Sechs Jahre: der Abschied von meiner Schwester“ von der schmerzvollen Zeit und den teils schwierigen Arztgesprächen. 90 FOCUS-GeSUndheit Leben mit Krebs Arztgespräch »Mehr Empathie und Respekt« Bestsellerautorin Charlotte Link schreibt in ihrem neuesten Buch über die letzten Jahre ihrer an Krebs erkrankten Schwester Franziska. im interview erzählt sie, warum es so wichtig ist, dass Ärzte diagnosen mit viel einfühlungsvermögen überbringen Frau Link, ein kurzes Gespräch mit einer Onkologin hat aus Ihrer kämpferischen Schwester eine schwer traumatisierte Patientin gemacht. Was war geschehen? Meine Schwester Franziska wusste, dass sie an Darmkrebs litt und der Tu­ mor schon Metastasten gebildet hatte. Ihr war klar, dass ihre Lage nicht rosig aussah. Aber sie hatte sehr viel men­ tale Kraft gesammelt und war überzeugt, dass sie es schaffen kann. Doch diese mentale Kraft, die man beim Kampf ge­ gen den Krebs einfach dringend braucht, hatte ihr die Ärztin innerhalb kürzester Zeit geraubt. Wie lief das Gespräch ab? Die Onkologin teilte meiner Schwester mit, sie sei ein ganz schwerer Fall, es gebe keinerlei Hoffnung, der Krebs sei nicht heilbar, die Metastasen seien nicht zu operieren, die letzten Monate ihres Lebens würden grauenhaft werden und Ende des Jahres sei sie tot. Das Ganze knallte sie ihr stakkatoartig an den Kopf, als wolle sie einfach nur schnell mit dem Gespräch fertig werden. Fotos: Blanvalet Verlag Was hätte die Onkologin denn aus Ihrer Sicht anders machen können? Man sollte Diagnosen immer so über­ bringen, dass der Mensch sie seelisch ertragen und verarbeiten kann. Die Ärz­ tin hat Franziska keinen Raum für ein Minimum an Hoffnung gelassen. Hat die Ärztin nicht bemerkt, was sie mit ihren unsensiblen Worten anrichtete? Sie hat vermutlich meiner Schwester nicht angemerkt, was in ihr vor sich ging. FOCUS-GeSUndheit Viele Menschen halten während eines Gesprächs ja gerade dann eine Fassade von Höflichkeit und Gleichmut aufrecht, wenn sie unter Schock stehen. Ihre Schwester hatte gleich mit mehreren ruppigen Medizinern zu tun. Sie begegnete einerseits sehr guten und empathischen Ärzten, aber eben auch einigen wenig einfühlsamen. Manche wussten wohl einfach nicht, was eine gute Kommunikation mit einem Patien­ ten auszeichnet. Es wäre schön, wenn jeder Onkologe ein entsprechendes Kommunikationstraining bekäme, bevor er Patienten solche Nachrichten über­ bringt. Vielleicht haben manche Ärzte im Lauf der Zeit die Fähigkeit verloren, »Die Ärztin hat meiner Schwester keinen Raum für ein Minimum an Hoffnung gelassen« Charlotte Link sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und sich zu überlegen, was eine solche Nachricht für den Menschen bedeutet. Seine gesamte Zukunft wird in Frage ge­ stellt – er landet von jetzt auf gleich in einer psychischen Ausnahmesituation. Welche Rolle spielen Zuversicht und Hoffnung in einer solchen Situation? Ohne sie ist ein Patient verloren. Der Hausarzt meiner Schwester sagte zum Beispiel: „Bleiben Sie ruhig, da ist noch vieles möglich.“ Dass es Franziska zwischendurch immer wieder seelisch gutging, war nur diesem Arzt zu ver­ danken, obwohl er ihr keineswegs uto­ pische Versprechungen gemacht hat. Meine Schwester war bei den kleinsten positiven Botschaften sofort viel kampf­ bereiter, eine harte Therapie durchzu­ stehen und Schmerzen auszuhalten. Sie brauchte einen Silberstreif am Horizont. Ohne diese Lichtblicke fragten sie und wir uns: wozu das alles überhaupt noch? Wie wichtig ist es, dass man von den Ärzten nicht nur als Patient, sondern auch als individuelle Persönlichkeit gesehen wird? Ein Arzt hatte Franziska einmal gefragt: „Ach, Sie sind nicht der Eierstockkrebs? Ja, wer sind Sie denn dann?“ Ein Mensch ist doch viel mehr als sein krebskranker Darm oder Eierstock! Der Arzt sollte sich zudem überlegen: Welche Art von Men­ schentyp habe ich vor mir sitzen? Wie muss ich mit ihm umgehen? Würde es vielleicht schon helfen, wenn Ärzte im Blick behielten, dass sie sich irren könnten, dass sie nicht unfehlbar sind? 91 S c h u t z & Vo r S o r g e Ernährung Wenig Verbote, viel Genuss W ie ein geübter Jongleur lässt der Starkoch Alfons Schuhbeck das geschnippelte Gemüse durch die Luft tanzen, um es so gekonnt mit der heißen Pfanne aufzufangen, dass es nur so brutzelt. In seiner Kochschule in der Münchner Innenstadt duftet es nach frischen Kräutern und Gewürzen. Die Gäste seines Kochkurses nippen an eisgekühltem Wasser, in dem frische Minzeblätter und Ingwerscheibchen schwimmen. Die Stimmung ist ausgelassen. Doch auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, dies ist kein Kochkurs für die Münchner Schickeria. Die Teilnehmer, die immer wieder aufgeregt Fragen einwerfen, verbindet nicht die Liebe zum Essen. Um genau zu sein, würden sie am liebsten gleich ganz darauf verzichten. Sie alle sind Krebspatienten, viele erschreckend mager. Krebs zehrt am Körper, und viele Therapien verschlagen den Patienten regelrecht den Appetit, führen zu Übelkeit und Schluckbeschwerden. Die Patienten nehmen immer weiter ab. Dabei ist gerade ein gesundes Gewicht für die Genesung entscheidend. Marc Martignoni, Chirurg am Klinikum rechts der Isar in München, beantwortet geduldig und einfühlsam jede Frage der Kochkurs-Teilnehmer. Welches Fett das richtige ist? Was man gegen die Blähungen machen kann? Ob Zucker wirklich erlaubt ist? Eigentlich ist seine Arbeit nach der OP getan, und die Ernährung seiner Patienten gehört nicht zu seiner Jobbeschreibung. 104 Trotzdem hat Martignoni zusammen mit Alfons Schuhbeck vor ein paar Jahren einen Kochkurs für Krebspatienten ins Leben gerufen. „Ich kann schließlich noch so gut operieren, wenn ich schlecht nachsorge, hat der Patient keine guten Karten“, weiß der Chirurg, der auch die Arbeitsgruppe „Ernährung und Krebs“ mitbetreut. Tatsächlich sei die Ernährung ein entscheidender Faktor bei der Krebstherapie, das habe eine Reihe seiner Studien gezeigt: „Insbesondere das Gewicht hat einen Einfluss auf die Überlebensdauer.“ Nach der OP fällt das Gewicht der Patienten aber meist stetig ab, und viele brauchen bis zu einem Jahr, bis sie wieder zunehmen. Die Patienten sind verunsichert, sie wissen nicht, was sie noch essen dürfen, und suchen Rat im Internet. Das ist aber voll von Verboten und dubiosen Diätempfehlungen. „Vergessen Sie 30 % aller Krebsfälle sind auf ungünstige Ernährungs­ gewohnheiten zurückzuführen Verbote“, rät Martignoni. „Kein Nahrungsmittel wird durch eine Chemotherapie giftig – es kommt auf die Dosis an.“ Man müsse den Krebspatienten geradezu Mut machen, ganz normal zu essen. „Viele meiner Patienten sind völlig verunsichert und denken, dass sie sich jetzt ganz besonders gesund ernähren müssten.“ Sie essen nur noch Salat und Gemüse und nehmen immer weiter ab. Um zuzunehmen, sollten die Krebspatienten zunächst nach der Uhr essen und zu jeder Mahlzeit einen Extraschuss Sahne oder Öl dazugeben. Am besten Rapsöl, Lein- oder Leindotteröl, rät der Experte. Um ein Kilogramm Gewicht zuzunehmen, sind 7000 Kilokalorien extra nötig. „Den meisten Patienten fällt es aber schwer, ihr Gewicht überhaupt zu halten“, weiß Martignoni. Diese Erfahrung musste auch die 70-jährige Irmgard Ranner-Korn machen. Sie möchte sich beim Kochkurs Tipps holen, wie sie wieder Appetit auf das Essen bekommt. „Ich war schon immer sehr schlank“, sagt sie. „Nach der Operation habe ich aber extrem abgenommen, wog schließlich nur noch 50 Kilo, und das bei einer Größe von 1,70 Metern.“ Die quirlige Münchnerin legt Wert auf ihr Äußeres, die von der Chemotherapie schütteren Haare hat sie mit einem schicken Kopftuch verdeckt. Dass sie jetzt so dünn ist, gefällt ihr gar nicht. „Ich war nur noch Haut und Knochen – das ist doch nicht schön.“ Jetzt hat sie angefangen, wieder Sport zu treiben – leichte Übungen an Geräten. FOCUS-GeSUndheit Foto: dirk Bruniecki für FOCUS-Gesundheit Mit der richtigen Ernährung lässt sich Krebs vorbeugen und die therapie unterstützen. Bei einem Kochkurs entdecken Patienten wieder die Lust am essen Einschneidendes Erlebnis Starkoch Alfons Schuhbeck zeigt den Patienten Irmgard Ranner-Korn, Klaus Fenzl und Margot Kaltenbrunner (von links), wie man leckeres Essen gesund zubereitet. In Kooperation mit dem Münchner Universitätsklinikum bietet Schuhbeck mehrmals jährlich Kochkurse für Krebspatienten an. „Gesundes Essen darf auch schmecken, das ist kein Widerspruch“, sagt er. 106 »Vergessen Sie Verbote, kein Nahrungsmittel wird durch eine Chemotherapie giftig – es kommt auf die Dosis an« Marc Martignoni Begründer des Kochkurses für Krebspatienten und Chirurg am Klinikum rechts der isar, technische Universität München Ernährungsgewohnheiten von mehr als 500 000 Menschen unter die Lupe genommen, 53 000 allein in Deutschland. Kaaks warnt vor sogenannten Krebsdiäten. Sie versprechen, man könne Tumoren aushungern, indem man keinen Zucker mehr isst, oder den Krebs mit dem Saft von Roter Beete oder Himbeeren behandeln. „Das ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar“, sagt Kaaks. „Spezialdiäten können sogar mehr schaden als nutzen.“ Stattdessen empfiehlt der Experte, sich als Krebspatient ganz normal zu ernähren, wie Gesunde es auch tun sollten. Das heißt viel frisches Gemüse und Obst, hochwertige Öle, eher Fisch als Fleisch. Ernährung kann zwar keinen Krebs heilen, aber es gibt doch einen Zusammenhang zwischen der Entstehung einiger Krebsarten und der Ernährung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass in westlichen Ländern mindestens 30 Prozent aller Krebsfälle auf ungünstige Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten zurückzuführen sind. Insbesondere Übergewicht sei ein wichtiger Risikofaktor, so Kaaks. Es fördere nicht nur die Krebsentstehung, sondern verschlechtere auch die Prognose bei Krebspatienten. Bei Übergewicht kommt es oft zu einer Schieflage FOCUS-GeSUndheit Foto: dirk Bruniecki für FOCUS-Gesundheit „Danach habe ich dann tatsächlich Hunger.“ Krebsexperte Martignoni weiß, dass sich viele Patienten überhaupt nicht mehr bewegen, aus Angst noch mehr Gewicht zu verlieren. „Das ist die falsche Strategie, denn gerade wenn man etwas ins Schwitzen kommt, kriegt man Appetit.“ Leider gehört eine eingehende, auf Krebs spezialisierte Ernährungsberatung nicht in jedem Krankenhaus zum Standard. Zu oft würden Patienten mit ihrer Übelkeit, ihrer Appetitlosigkeit und den Schluckbeschwerden allein gelassen, kritisiert Martignoni. Und selbst wenn die Patienten eine Beratung bekommen, dann zum falschen Zeitpunkt – nämlich kurz nach der Operation. „Da haben die Patienten aber noch Schmerzen und sind nicht aufnahmebereit.“ Deshalb sei eine Ernährungsberatung erst nach etwa ein bis zwei Monaten sinnvoll. Als Klaus Fenzl wegen eines Tumors ein Teil seiner Bauchspeicheldrüse entfernt wurde, fühlte auch er sich nicht richtig beraten. Für den 52-Jährigen war das Leben damals nicht mehr lebenswert, sagt er. Er hatte Verdauungsprobleme, ständig musste er zur Toilette. Deshalb konnte er seinen Beruf nicht mehr richtig ausüben. „Dass ich zu jeder Mahlzeit Tabletten mit Verdauungsenzymen einnehmen muss, hat mir bei der Reha niemand erklärt“, beklagt Fenzl. „Mir wurde nur ein Zettel in die Hand gedrückt mit all den Dingen, die ich nicht mehr essen darf.“ Fenzl ist schon schon zum zweiten Mal bei Schuhbecks Kochkurs dabei und hat bereits viele Rezepte nachgekocht. „Jetzt fühle ich mich richtig fit, und das Essen schmeckt auch wieder“, lacht er und tätschelt dabei stolz seinen Bauch. Obwohl es bei einer Krebserkrankung durchaus sinnvoll ist, sich ausgewogen zu ernähren, eine Diät, die Krebspatienten vor Rückfällen schützt oder die Bildung von Metastasen verhindert, gebe es derzeit nicht, erklärt Rudolf Kaaks vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit dem Zusammenhang von Krebs und Ernährung. Er ist einer der Studienleiter der weltweit größten Untersuchung auf diesem Forschungsgebiet, der „EPIC“-Studie. Im Rahmen dieser Studie wurden europaweit die S c h u t z & Vo r S o r g e Rezepte für einen gesunden Appetit Manchmal braucht es nur ein paar simple Tricks, dann schmeckt das Essen wieder. So bekämpfen Krebspatienten ihre Appetitlosigkeit und Übelkeit Akute Problemlöser Krebspatienten müssen möglichst schnell wieder zu Kräften kommen. deshalb ist in Maßen alles erlaubt, was der Körper verträgt. Gewichtsverlust ● Reichern Sie das essen mit zusätzli- chen Kalorien an: etwa mit ein paar esslöffeln Öl, Sahne oder Crème fraîche. ● Kochen Sie etwas mehr, und legen Sie dann einen Vorrat im Gefrierfach an – so haben Sie immer etwas parat. Appetitlosigkeit ● das Auge isst mit: decken Sie den tisch hübsch, und richten Sie die Speisen schön an. ● Lenken Sie sich durch Lesen oder Fernsehen vom essen ab, dann langen Sie in der Regel mehr zu. ● Gewürze wie Bockshornklee und Bitterstoffe in Grapefruitsaft, tonic Water, Bitter Lemon und ingwertee regen den Appetit an. ● Bewegen Sie sich, dann kommt der Appetit fast von allein. Geschmacksstörungen ● ein paar Spritzer Zitrone in Getränken lindern den faden Geschmack. ● trinken Sie häufig kleine Mengen, um den schlechten Geschmack loszuwerden. ● Kauen Sie nach Bedarf eine dünne Scheibe ingwer, die Sie in Olivenöl gewendet haben. ● Bittere Getränke wie tonic Water, schwarzer tee oder Bitter Lemon regen den Speichelfluss an. Übelkeit und Erbrechen ● Kauen Sie langsam und gründlich, und essen Sie lieber mehrere kleine als eine große Portion. ● Meiden Sie Lebensmittel, die die Magenschleimhaut reizen wie scharfe Speisen, Alkohol oder Kaffee. ● Wenn Sie der Geruch von essen stört, dann kochen Sie wenn möglich nicht selbst, schließen die tür zur Küche und lüften regelmäßig. Verdauungsprobleme Bei durchfall sollten Sie Zuckeraustauschstoffe meiden. Versuchen Sie es mit indischem Flohsamen oder geriebenen Äpfeln – sie wirken stopfend. ● Auch Muskatnuss hilft. das Gewürz verzögert den transport der Speisen in den darm. ● Bei Verstopfung einige getrocknete Pflaumen oder etwas Weizenkleie und Leinsamenschrot essen. ● tees aus Fenchel, Kümmel, Salbei, Pfefferminze oder ingwer helfen bei Blähungen. ● Schmerzen in Mund und Rachen Wer nach einer Chemotherapie mit Geschwüren im Mund oder Schluckbeschwerden zu kämpfen hat, sollte lieber stilles Wasser als Sprudel trinken und weiche, dickflüssige Kost essen als trockene, bröselige. ● Gekühlte Speisen wirken schmerzlindernd und werden daher oft als angenehmer empfunden als heiße. ● Gut vorgebeugt Um das Krebsrisiko zu senken, sollte man sich ausgewogen ernähren: viel Obst und Gemüse, Volkornprodukte, hochwertige Öle wie Leinöl oder Rapsöl. Anstatt rotes Fleisch und Wurst lieber Fisch und Geflügel. Übergewicht ist ein großer Risikofaktor ebenso wie zu viel Alkohol. Männer sollten nicht mehr als etwa 0,5 Liter Bier oder 0,25 Liter Wein täglich trinken, Frauen davon nur die hälfte. Außerdem sollten Sie einige alkoholfreie tage in der Woche einlegen. Weitere Infos: der blaue Ratgeber „ernährung bei Krebs“, www.krebshilfe.de Ernährung des Stoffwechsels, die Blutfette und Blut­ zuckerwerte sind chronisch erhöht. Dies führt im Körper zu einer Entzündungs­ reaktion, die das Entstehen von Tumoren begünstigt. Je nach Krebserkrankung können auch einzelne Lebensmittel eine Rolle spielen, weiß Krebsforscher Kaaks: „Wer viel ro­ tes Fleisch und Wurst isst, kann sein Ri­ siko für Magen­ und Darmkrebs deutlich erhöhen.“ Empfehlenswert sei es dage­ gen, viele Ballaststoffe zu essen, wie sie etwa in Roggenvollkorn und Weizenkleie stecken. Dadurch wird unter anderem das Darmkrebs­ und Brustkrebsrisiko deutlich gemindert. Der Grund dafür sind vermutlich die Bakterien im Darm, vermuten US­ame­ rikanische Forscher. Sie veröffentlichten kürzlich im renommierten Fachmagazin „Nature Communications“ eine Studie, die zeigte, dass eine ballaststoffreiche Er­ nährung die Bakterienzusammensetzung im Darm gravierend verändert. Die Bak­ terien produzierten nun deutlich mehr einer bestimmten chemischen Substanz, die vor Krebs schützt. Schon nach zwei Wochen mit besonders ballaststoffreicher Kost hatte sich die Darmflora der Studi­ enteilnehmer positiv verändert. Die krebsschützende Wirkung von Ge­ müse ist allerdings noch nicht schlüs­ sig bewiesen. „Studien haben zwar ge­ zeigt, dass Vegetarier im Durchschnitt ein niedrigeres Krebsrisiko haben“, er­ klärt Ernährungsexperte Kaaks. „Aller­ dings wissen wir nicht, ob es an ihrer Fleischabstinenz liegt, an den Nährstof­ fen im Gemüse oder an einem anderen Faktor.“ Die körpereigenen Vitaminde­ pots mit Hilfe von Vitaminpillen statt mit Obst und Gemüse aufzufüllen, sieht der Experte kritisch. „Eine vor Krebs schüt­ zende Wirkung von Vitaminpräparaten ist nicht nachgewiesen, und mehrere Studien deuten darauf hin, dass sie so­ gar schädlich sein könnten.“ Prinzipiell sei es sehr schwer, die Krebs erregende oder vor Krebs schützende Wirkung einzelner Nahrungsmittel nach­ zuweisen. „Menschen ernähren sich ja nicht nur von einem Nahrungsmittel“, erklärt Kaaks. „Bei der Krebsentstehung spielen viele Faktoren eine Rolle – das ist ein sehr komplexes Zusammenspiel aus Ernährung, Bewegung und Genetik.“ SiMONE EiNZMANN FOCUS-GeSUndheit 107