Autismus – Hinweise zur Diagnose, zur Ätiologie und zum Münchner Sozialtraining Prof. Dr. Franz Ruppert; Katholische Stiftungsfachhochschule München Dieses Skriptum basiert auf einem Artikel von Prof. Dr. Franz Ruppert, der in der Broschüre „Autistische Kinder brauchen Hilfe!“ 1998 erschienen ist. Diese Broschüre wird von der Vereinigung zur Förderung autistischer Menschen e.V., Regionalverband München herausgegeben. Seit November 1994 gibt es ein Sozialtraining über Herrn Olaf Gersbacher in München. 1 Mythos und Realität der Diagnose Autismus Wir sind gewohnt, hinter den Verhaltensweisen anderer bestimmte Absichten zu vermuten. Daher ist die Neigung groß, bei Menschen, die durch sonderbares Verhalten als "autistisch" (wörtlich übersetzt: selbstbezogen) erscheinen, in erster Linie eine willentliche Abkehr von der Welt anderer Menschen zu vermuten: "Krankhaft gesteigerte Selbstbezogenheit und Kontaktunfähigkeit" steht dazu im Fremderwörterduden. Die autistische Behinderung wurde und wird selbst in Fachkreisen fälschlicherweise noch immer mit einer selbst gewollten Isolation (z.B. weil sich das Kind von seiner Mutter nicht richtig angenommen fühle, vgl. Bettelheim, 1992) oder sogar mit Schizophrenie in Verbindung gebracht. Unterschiedliche Wirkrichtungen bei psychischen Krankheiten.- Die Diagnose "Autismus" oder "autistische Behinderung" zu stellen, ist für Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten oder Sozialpädagogen nicht einfach. Bei psychischen Erkrankungen und Störungen stellt sich die Frage, ob es sich in erster Linie um eine Gehirnerkrankung, eine psychische Störung oder eine Beziehungsstörung handelt. Welchen Weg geht die Erkrankung und was sind die Primär-, Sekundär- oder Tertiärsymptome. Bei einer Gehirnerkrankung/Gehirnfunktionsstörung beeinträchtigt ein Strukturoder Funktionsdefizit des Gehirns, evtl. basierend auf prä-, peri- oder postnatale Verletzungen oder auf Stoffwechselanomalien - die psychischen Grundfunktionen (v.a. Fühlen, Wahrnehmen, Denken, Steuerung des Handelns) und führt daher auch zu massiven Beeinträchtigungen im Aufbau sozialer Beziehungen. Bei einer psychischen Störung (z.B. übermäßige Ängste) führen die Probleme meist zuerst zu einer Störung der sozialen Beziehungen und wenn diese länger anhalten, möglicherweise langfristig auch zu Veränderungen in Mikrobereichen der Nervenstrukturen und im Gehirnstoffwechsel (z.B. als Folge von chronischem Streß und dauerhafter Überforderung). Bei einer massiven Beziehungsstörung (z.B. chronische Depressivität, Schizophrenie, Psychosen) kommt es trotz ursprünglich gesunder hirnorganischer Voraussetzungen immer mehr zu einer Störung psychischer Grundfunktionen (z.B. Auflösung gewohnter Wahrnehmungsmuster, Denkblockaden, zwanghaftes Denken, massive Ängste) und auf längere Sicht sind auch Störungen im Gehirnstoffwechsel möglich (z.B. im Serotonin- und Dopaminstoffwechsel). Autismus als Gehirnerkrankung und Folgen für die psychischen Funktionen.- Bei einer autistischen Erkrankung kann mittlerweile als sehr wahrscheinlich angenommen werden, dass die Primärsymptomatik aus Besonderheiten der gehirnphysiologischen Verarbeitung von körpereigenen Signalen wie Umweltreizen resultiert (Dzikowski, 1993; Frith, 1992; Kehrer, 1989). Möglicherweise liegt dem eine unvollständige Entwicklung und Trennung der Verarbeitungszentren für die einzelnen Sinnesmodalitäten im Gehirn zugrunde. Riechen, Tasten, Schmecken, Hören und Sehen vermischen sich dadurch und stören sich gegenseitig. Aus psychologischer Sicht beruht "echter Autismus" in erster Linie auf Problemen der Integration von Sinnesreizen zu geordneten psychischen Wahrnehmungsstrukturen. Diese sind notwendig, um ein verläßliches inneres Bild der äußeren Wirklichkeit entstehen zu lassen, das eine Lösung aus dem psychischen Zustand der selbstbezogenen Sinneswahrnehmung (Körpergefühle, Tastsinn, Geruch, Geschmack) und damit eine autonome Ich-Entwicklung ermöglicht. Das autistische Kind bzw. später der erwachsene Mensch mit einer autistischen Behinderung ist häufig schon seit seiner Geburt äußeren wie inneren Reizen in hohem Maße ausgeliefert und hat daher große Schwierigkeiten, die Kontrolle über seine Reflexe zu gewinnen, ein für ihn sinnvolles Muster der äußeren wie inneren körperlichen Realität zu abstrahieren und sich auf dieser Basis seiner sozialen Umwelt zuwenden zu können. Zu dieser bio-psychologischen Grundproblematik können soziale Einflüsse hinzukommen, die Situation erschweren und die kindliche Entwicklung behindern (z.B. schwere seelische Belastungen aus der Herkunftsfamilie des Kindes; Weigerung von Eltern, die Behinderung ihres Kindes anzuerkennen und als besonderes Schicksal anzunehmen; Aufwachsen des Kindes in einer reizarme Heimsituation; problematische Erziehungsstile von Eltern oder Lehrern). Diese Sekundärfaktoren dürfen jedoch nicht als Ursachen der autistischen Behinderung missverstanden werden. Wie entwicklungspsychologische Studien zeigen, sind Kinder normalerweise von Geburt an in der Lage, mit ihren Eltern in Interaktion und einen kommunikativen Austausch zu treten (Stern, 1992; Oerter & Montada, 1997). Es finden subtile Abstimmungsprozesse statt. "Wenn diese Fähigkeit bei autistischen Kindern nicht oder nur bruchstückhaft funktioniert - etwa wie eine Farbblindheit für soziale Reize - so können sie ihre Mitmenschen nur teilweise oder gar nicht verstehen, denn die für sie bestimmten Signale sind bedeutungslos." (Bormann-Kischkel, 1996, S.5) Das Befangensein eines Kindes im Modus der körperbezogenen Sinneswahrnehmungen kann Konsequenzen auf die intellektuelle Entwicklung haben, muss es aber nicht. Die Denkfähigkeit entwickelt sich vermutlich autonom, auch wenn sie durch eine ungestörte Wahrnehmung in ihrer Entfaltung Unterstützung erfährt. Wenn jedoch ein Kind z.B. unablässig den Drang verspürt, seine innere Anspannung durch rhythmisches Schaukeln oder stereotypes Fingerspiel abzureagieren, so werden geistige Lernprozesse dadurch auch erschwert und verzögert. Die erstaunlichen Phänomene, die im Zusammenhang mit gestützter Kommunikation berichtet werden (Bundschuh & Basler-Eggen, 1997), sollten daher nicht den Mythos entstehen lassen, in jedem autistischen Menschen, der nicht sprechen könne, stecke ein verkanntes Genie und es liege nur am Geschick des „Stützers“ und an seinem Glauben an die verborgenen Fähigkeiten des autistischen Menschen, diese Fähigkeiten mittels gestützter Kommunikation ans Licht zu bringen. Low und high function autism.- In Anlehnung an Kusch & Petermann (1991) lassen sich die beiden bekannten Grundformen des Autismus dadurch kennzeichnen, dass beim Autismus im Sinne Aspergers die Probleme der Wahrnehmungsverarbeitung im Vordergrund stehen, weniger Probleme des Denkens und der geistig-intellektuellen Funktionen. Hingegen kommen bei der autistischen Störung, wie sie Leo Kanner beschrieben hat, schwerwiegende kognitive Funktionsbeeinträchtigungen hinzu. Erst allmählich wird diese Unterscheidung auch in der Diagnostik des Autismus besser verstanden (Steindal, 1997). Die menschliche Psyche stellt ein hochkomplexes Gebilde aus verschiedenen Teilfunktionen dar. Aus unterschiedlichen Ausprägungsgraden von Problemen bei der Sinneswahrnehmung, geistiger Behinderungen und deren Kombinationsmöglichkeiten mit seelischen Belastungen ergibt sich eine Vielfalt von Erscheinungsformen, die uns bei Menschen mit autistischen Verhaltensweisen begegnen und die in Kombination mit den sonstigen psychischen Prozessen deren unverwechselbare Persönlichkeit prägen. So sind mit in meiner Praxis auch schon "Fälle" begegnet, bei denen zusätzlich zur autistischen Behinderung Phasen eine depressive Psychose auftraten; manche Eigentümlichkeiten eines jungen autistischen Mannes, mit dem ich gearbeitet habe, führe ich auf Besonderheiten seiner Adoptionsgeschichte zurück; Zwanghaftigkeit oder Geschwisterneid sind offenkundig das Ergebnis familiärer Verstrickungen bei zwei anderen mir gut bekannten Autisten. Es gibt also nicht "den Autisten", sondern nur individuell verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Graden einer autistischen Behinderung. Auf diesem Autismusverständnis aufbauend sehe ich Ansätze für Hilfestellungen, für pädagogische Förderung, psychologische Therapie und Verhaltenstraining. Ich sehen auf diesem Theoriehintergrund aber auch die Grenzen für Interventionsmaßnahmen. 2 Defizite im Sozialverhalten als ein wesentliches Diagnosekritierium für Autismus Betrachtet man die Diagnosekritierien des ICD-10 für den frühkindlichen Autismus (F 84.0), so gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Menschen mit einer autistischen Behinderung zahlreiche Defizite im Bereich sozial kompetenten Verhaltens aufweisen: "In jedem Fall finden sich qualitative Beeinträchtigungen in den sozialen Interaktionen. Sie zeigen sich in Form einer unangemessenen Einschätzung sozialer wie emotionaler Signale wie z.B. im Fehlen von Reaktionen auf Emotionen anderer Menschen oder einer fehlenden Verhaltensmodulation im sozialen Kontext. Es besteht ein geringer Gebrauch sozialer Signale und eine mangelhafte Integration sozialer, emotionaler und kommunikativer Verhaltensweisen; und besonders fehlen die soziale und emotionale Gegenseitigkeit" (Dilling, Mombour & Schmidt, 1993, S. 282). Wer Kontakt mit Menschen hat, auf die die Diagnose "Autismus" bzw. "autistische Züge" nach den Kriterien des ICD-10 zutrifft, mag vielleicht Zweifel hegen in Bezug auf das "Fehlen einer emotionalen Gegenseitigkeit", besonders wenn er diesen autistischen Menschen näher kennengelernt hat. In allen Fällen findet er/sie aber eine Reihe von Verhaltensauffälligkeiten mehr oder minder ausgeprägt vor, die sich im zwischenmenschlichen Kontakt als sonderbar und für einen mit der autistischen Behinderung wenig vertrauten Menschen störend und irritierend erweisen. Unter anderem sind dies - wenig Blickkontakt, - kurze Aufmerksamkeitsspannen , - auffällige Körperhaltungen und Körperbewegungen auch während der Kommunikation, - Kommunikationsarmut und Wortkargheit, - einseitiges Kommunizieren bis hin zum Monologisieren, - Auffälligkeiten im sprachlichen Ausdruck wie z.B. eine geringe Stimmmodulation, - fehlende situationsadäquate Kommunikationsmuster (z.B. keine angemessene Begrüßung oder Verabschiedung), - z.T. Distanzlosigkeit (z.B. durch das unvermittelte Stellen sehr persönlicher Fragen), - "Entgleisungen" (z.B. auffälliges Gähnen, Fingerspiel, plötzliches Loslachen), - Mängel in der Körperpflege und im äußeren Erscheinungsbild, - Arg- und Hilflosigkeit in Situationen, in denen andere Menschen zudringlich werden. 3 Wahrnehmen - Verstehen - Handeln der Regelkreis zum Erlernen sozialer Fertigkeiten Warum haben gerade Menschen mit einer autistischen Behinderung große Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen Menschen? Ein einfaches Modell soll verständlich machen, woraus sich diese Defizite im Sozialverhalten ergeben und warum sie sich fortentwickeln: Das Lernen sozial angemessener Verhaltensweisen erfolgt in einem Rückkoppelungs"mechanismus", der mit der Wahrnehmung und dem Aufnehmen von Informationen aus der sozialen Umwelt beginnt. Die wahrgenommenen sozialen Signale müssen dann verstanden und in ihrem sozialer Bedeutungsgehalt entschlüsselt werden. Daraus kann eine angemessene soziale Handlung abgeleitet werden. Das Ergebnis der Handlung, ihr sozialer Effekt, kann am Gegenüber in einer sozialen Interaktion wahrgenommen werden. Erfolg und Mißerfolg des eigenen Handelns lassen sich an den Reaktionen eines anderen Menschen ablesen. Unangemessenes soziales Verhalten wird auf diese Weise erkennbar und kann korrigiert werden. Aus diesem einfachen Modell für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten kann u. a. die emminente Bedeutung des Blickkontakts als einer Basisfertigkeit abgeleitet werden: Ein fehlender bzw. geringer oder nur flüchtiger Blickkontakt verhindert die Aufnahme sozial relevanter Informationen. Dies bedingt in der Folge ein vermindertes Verstehen von sozialen Bedeutungskontexten. Daraus resultiert wiederum ein eingeschränktes soziales Verhaltensrepertoire, das eher selbstbezogenes Handeln, soziale Stereotypien und den sozialen Rückzug verstärkt, so dass sich die Schere zwischen dem Lebensalter eines Menschen und dem, was in einem gewissen Alter an sozialer Intelligenz zu erwarten ist, immer weiter öffnet. Autistische Verhaltensweisen, die wir oben kurz charakterisiert haben, sind nicht per se unnormal. Wir treffen sie auch bei Menschen an, die sich normal entwickeln, allerdings nicht in einem so fortgeschrittenen Lebensalter. Mitunter scheint uns, als habe die Entwicklung der sozialen Kompetenzen bei autistischen Menschen nicht Schritt halten können mit der sonstigen - körperlichen, emotionalen, geistigen - Entwicklung, als müsse z.B. jemand, der seinem Lebensalter nach schon über 30 Jahre alt ist, jetzt erst Entwicklungsaufgaben bewältigen, die normalerweise in der Pubertät anstehen. Dies gilt insbesondere für den „High-functioning“-Typus von Autismus. 4 Münchner Sozialtraining für Menschen mit einer autistischen Behinderung Ziele des Sozialtrainings Autistische Menschen müssen bewusst dazu angehalten werden, sozialbezogene Verhaltensweisen zu erlernen. Es stehen ihnen die psychischen Prozesse nicht ausreichend zur Verfügung, die üblicherweise ein Kind aus seinen alltäglichen Erfahrungen lernen lassen, wie die Spielregeln des sozialen Umgangs funktionieren. Eine normale, d.h. durchschnittlich übliche Erziehung alleine reicht dafür nicht aus. Die komplexen sozialen Sachverhalte müssen Autisten quasi wie eine fremde Sprache lernen. Es liegt also nahe, den Bereich der sozialen Intelligenz (Gardner, 1983, Goleman, 1996) zum Gegenstand eines eigenen Trainings zu machen (wohlwissend, dass alle anderen Formen der Förderung autischer Kinder, Jugendlicher oder Erwachsener ebenfalls mehr oder weniger explizit darum bemüht sind, soziale Verhaltensweisen zu vermitteln und einzuüben). Das Münchner Sozialtraining entstand als Konzept zur Förderung eines sozialkompetenten Verhaltens bei Menschen mit einer autistischen Behinderung. Die Entstehung der Idee wurde bereits an anderer Stelle beschrieben (Nieß, Gersbacher, Ruppert, 1996). Es soll daher im folgenden vor allem die Praxis des Sozialtrainings dargestellt werden, das in München seit November 1994 mit zunächst vier, dann drei, jetzt wieder vier Trainingsgruppen und in Frankfurt seit 1996 mit zwei Gruppen durchgeführt wird. Insgesamt verfügen wir über Erfahrungen mit etwa 50 Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Allgemein zielt das Sozialtraining darauf ab, - das Wahrnehmen sozial relevanter Informationen zu intensivieren, - das Verstehen sozialer Interaktionsmuster zu verbessern, - konkretes Verhalten für soziale Interaktionen einzuüben, - unangemessenes durch sozial angemessenes Sozialverhalten zu ersetzen. Mit Bezug auf die in Kapitel 2 genannten Defizite im Sozialverhalten haben wir folgende Verhaltensbereiche in den von uns geförderten Gruppen thematisiert und unter Beachtung therapeutischer Grundprinzipien in diversen Übungssituationen trainiert: 1. Aufnehmen und Halten von Blickkontakt während eines Gesprächs, 2. sozial kompetentes Verhalten bei Kontaktaufnahme mit einer anderen Person (z.B. angemessenes Händegeben, richtiger Händedruck, situationsangepaßte Regulation der Körperdistanz zum Gegenüber), 3. adäquates Beginnen eines Gesprächs (z.B. durch Fragenstellen an den Gesprächspartner, Ausloten von dessen Interessensgebieten), 4. Motivieren eines Gesprächspartners für die Aufrechterhaltung eines Dialogs (z.B. durch eigene Gesprächsangebote), 5. Aktives Zuhören (z.B. durch Zuwendung, Kopfnicken, zustimmende Äußerungen), 6. sozial angemessene Körperhaltung während eines Dialogs (z.B. wie sitze ich in Gesellschaft anderer richtig auf einem Stuhl), 7. sozial angemessener Einsatz von Mimik (z.B. Übungen zum besseren Einsatz der Augenmimik), 8. Anwendung einer angemessenen und motivierenden Gestik (z.B. Handhaltung im positivem Feld), 9. besseres Verstehen nonverbaler Kommunikationssignale anderer (z.B. durch Analyse des Verhaltens von Filmschauspielern), 10. Verbesserung der Modulation der Stimme (Bogensätze sprechen, richtig betonen ...), 11. Steigerung des sprachlichen Ausdrucks (z.B. Erzählen von Geschichten unter Verwendung einer bildhaften Sprache), 12. Entwicklung von Kriterien für ein sozial akzeptiertes äußeres Erscheinungsbild (z.B. Hinweise zur Körperhygiene, zur Zusammenstellung der Kleidung, zur Frisur, zum Sitz und zur Sauberkeit der Brille), 13. Verhaltensketten für das Knüpfen sozialer Beziehungen (z.B. beim Empfang und der Bewirtung eines Gastes), 14. Verhaltensketten zur Erhöhung der Streßtoleranz in schwierigen sozialen Situationen und zum angemessenen Vortragen von Wünschen und Forderungen (z.B. Reklamation in einem Geschäft), 15. Verhaltensketten zur Erhöhung beruflicher Chancen (z.B. selbstsicheres Öffnen und Schließen einer Türe beim Betreten eines Raumes, sicheres und selbstbewusstes Auftreten in einer Bewerbungssituation), 16. kompetentes Telefonieren (andere anrufen, selbst angerufen werden), 17. Einkaufen können ( mehr Sicherheit im Umgang mit Geldbeträgen) und wirtschaftliche Sachverhalte (z.B. Miete, Gebühr) besser verstehen, 18. Aufrechterhalten von positiven Grundgefühlen in belastenden Situationen (z.B. ruhig bleiben bei persönlichen Angriffen und Kritik, "inneres Lächeln" bewahren), 19. Fähigkeit, unangemessene Annäherungen anderer selbstbewusst zurückzuweisen (z.B. Abweisung eines zudringlichen Verkäufers an der Haustüre, Abweisen eines aufdringlichen Fremden am Bahnhof), 20. auf Probleme anderer Menschen verständnisvoll eingehen (z.B. durch angemessenes Nachfragen), 21. Setzen persönlicher Ziele (Unterscheidung zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielen) und stärkeres Selbstmanagement (z.B. sich gezielt Feedback von anderen einholen), 22. Verstehen, was würdevolles Verhalten ausmacht und welche Verhaltensweisen in den Augen anderer Menschen als würdelos erscheinen. 23. Unterschiede zwischen Monolog und Dialog erkennen und lernen, wie ein Dialog gelingt. 24. Sozial angemessene Verhaltensweisen in einem Restaurant oder Cafe einüben. Betrachtet man die genannten Anforderungen genauer, so enthalten sie unterschiedliche Schwierigkeitsgrade, weil sie auf unterschiedlich komplexen Verhaltensregeln beruhen: - Einfache Verhaltensregeln: "Man macht das so!" Diese Regeln sind auf einem bestimmten kulturellen Hintergrund relativ eindeutig und situationsgebunden und es gibt sie in großer Zahl (z.B. wie man einer anderen Person die Hand zur Begrüßung reicht). - Variable Verhaltensregeln: "In der einen Situation macht man das so, in der anderen anders, je nach dem!" Solche Verhaltensregeln müssen flexibel gehandhabt werden, auch von ihnen gibt es eine große Anzahl (z.B. wie man sich dem jeweiligen Anlass entsprechend kleidet). - Regeln, die man sozial vereinbaren kann: "Regeln entstehen aus gewissen sozialen Kontexten heraus und können daher vereinbart und auch in gegenseitiger Absprache verändert werden!" Zum Verständnis solcher Regeln ist Selbstreflexivität und eine gewisse Selbstdistanz notwendig, um sich z.B. bewusst in eine bestimmte soziale Rolle zu begeben (z.B.: Welche Regeln werden in einer Gruppe vereinbart und woran muss ich mich halten?). Je mehr Regeln in einer Übungssituation enthalten sind und je komplexer diese Regeln sind, desto schwieriger wird für die Teilnehmer eine Trainingseinheit. Die einzelnen Übungssituationen können daher in ihrem Anforderungsgrad dosiert und an die unterschiedlichen Fähigkeiten der Teilnehmer angepasst werden. Wie die Erfahrung zeigt, muss häufig danach gesucht werden, worauf beim einzelnen Teilnehmer aufgebaut werden kann bzw. wo erst noch Grundlagen geschaffen werden müssen (z.B. Zahlenverständnis als Voraussetzung für den Umgang mit Geld). Prinzipien des Sozialtrainings.- Das Erlernen sozialer Regeln kann nur in konkreten Interaktionen stattfinden, da es der kontinuierlichen Rückmeldung durch andere bedarf. Da soziale Signale häufig mehrdeutig sind, entstehen bei einem Sozialtraining Unsicherheiten und Frustrationen: Ich verstehe nicht und werde nicht verstanden. Es ist eine wichtige Aufgabe der Trainer, dies zu erkennen und ausreichend positive Rückmeldung selbst bei kleinen Erfolgen zu geben. Das Münchner Sozialtraining basiert daher auf folgenden Prinzipien: - Übung konkreter Verhaltensweisen und -sequenzen, - Etablierung von Regeln, schriftliche Fixierung der wichtigsten Inhalte des zu Lernenden, - Anpassung der Anforderungen an unterschiedliche individuelle Voraussetzungen, - Vermeidung von Unterforderung und Arbeiten am Limit der Teilnehmer, - Hilfestellung bei der Bewältigung negativer emotionaler Reaktionen (z.B. Angst, Autoaggressionen), - Erteilen von Hausaufgaben, - hohe Wiederholungsfrequenz, - Aufnahme der Verhaltensübungen auf Video zur Nachbesprechung ("Videofeedback"), - Einbezug der Eltern. Das Training versucht , die Teilnehmer dort abzuholen, wo sie in ihrer derzeitigen Entwicklung stehen. Rückfälle in alte Verhaltensmuster müssen toleriert werden und dürfen nicht zu einer Entmutigung der Trainer(innen) führen. Durch die Gruppensituation kommen die Teilnehmer/-innen untereinander in Kontakt und erhalten zahlreiche Übungsmöglichkeiten für sozial kompetentes Verhalten. Zeitweise ist aber auch eine intensive Beschäftigung der Trainer mit nur einem Teilnehmer notwendig, um diesem über eine auftretende Schwierigkeit hinwegzuhelfen. Unsere TeilnehmerInnen sind in ihren psychischen Funktionsbereichen unterschiedlich stark beeinträchtigt. Bei den meisten handelt es sich um einen "high functioning"- Typus von Autismus (Janetzke, 1993), d.h. das Denk- und Sprechvermögen ist normal. Einige Teilnehmer zeigen jedoch auch beträchtliche Defizite im Sprachverständnis, in der Sprachproduktion und in der Fähigkeit, zum Umgang mit abstrakten Symbolen (z.B. beim Zählen und Rechnen). Soweit möglich bilden wir homogene Traningsgruppen entsprechend dem Leistungsvermögen der Teilnehmer. Derzeit laufen, wie schon erwähnt, in München vier, in Frankfurt zwei Gruppen. Begonnen wurde zunächst mit einer Frequenz von einer dreistündigen Sitzung pro Monat, später wurde die Frequenz auf dreistündige Sitzungen im Abstand von 2-3 Wochen erhöht. Trotz der hohen Anforderungen an das Konzentrationsvermögen macht das Sozialtraining den Teilnehmern offenbar Spaß, es erfüllt insbesondere ihr Kontakt- und Erlebnisbedürfnis. Die Finanzierung erfolgt über spezielle Fördermittel des regionalen Elternverbandes "Hilfe für das autistische Kind", über Beiträge der Eltern und z.T. über Kostenerstattung für Psychotherapie. Das von uns konzipierte und durchgeführte Sozialtraining ist unterschiedlich erfolgreich, je nach dem Grad der Ausgeprägtheit der autistischen Symptomatik. Jedoch bringt es bei nahezu allen Teilnehmern deutliche Fortschritte im Sozialverhalten mit sich. Dies bestätigen auch positive Rückmeldungen der Eltern der Teilnehmer und Aussagen der Teilnehmer selbst. Wie sich in Anfragen immer wieder zeigt, besteht bei vielen Eltern und Professionellen ein großes Interesse an dem von uns vorgestellten Traningskonzept. Anfragen wurden aus mehreren größeren Orten wie Heidelberg, Regensburg, Berlin und Hamburg bzw. nahe gelegenen Gemeinden an uns gerichtet und es besteht die Möglichkeit, in weiteren Städten neben München und Frankfurt Traningsgruppen einzurichten, wenn sich jeweils mindestens 4 Teilnehmer/-innen für ein Training finden und die Finanzierung geklärt ist. In Frankfurt und München werden derzeit erste Erfahrung mit dem Training von 8 - 13jährigen Kindern gemacht und es scheint sinnvoll, bereits in diesem Entwicklungsstadium mit der Förderung zu beginnen. Eine weitere Zukunftsperspektive könnte auch das Training von Multiplikatoren/-innen sein, die dann z.B. in Einrichtungen wie Heilpädagogischen Tagesstätten oder Werkstätten für Behinderte das Sozialtraining durchführen könnten. Literatur: Bettelheim, B. (1992). Die Geburt des Selbst. Frankfurt/M.: Fischer. Bormann-Kischkel (1996). Wissen und Wahrnehmung von Gefühlen bei autistischen Menschen. Vortragsmanuskript für das 2. Münchener kinderund jugendpsychiatrische Symposion über psychische Entwicklungsstörungen. Bundschuh, K. & Basler-Eggen, A. (1997). "Facilitated Communication" bei Menschen mit schweren Kommunikationsstörungen. 1. Zwischenbericht. Ludwig-Maximilians-Universität München. Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (Hrsg.) (1992). Weltgesundheitsorganisation - Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber. Dzikowski, S. (1993). Ursachen des Autismus. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Gardner, H. (1983). Frames of mind. New York: Basic Books. Goleman, D. (1996). Emotionale Intelligenz. München: Hanser. Frith, U. (1992). Autismus: ein kognitionspsychologisches Puzzle. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Janetzke, H. (1993). Stichwort Autismus. München: Heyne. Kehrer, H. E. (1989). Autismus. Heidelberg: Asanger. Kusch, M. & Petermann, F. (1991). Entwicklung autistischer Störungen. Bern: Huber. Nieß, N., Gersbacher, O. & Ruppert, F. (1996). Sozialtraining für autistische Jugendliche und Erwachsene. Autistische Kinder brauchen Hilfe! (S.71-75). München: o.V. Steindal, K. (1997). Das Asperger-Syndrom. Hamburg: o.V. Stern, W. (1992). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.