Soziale Arbeit in China – Einführung in die Rahmenbedingungen, die Struktur und den Stand Dr. Wei Zhang Technische Universität Chemnitz Professur Allgemeine Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik Inhalt Staatsmodell – China im Transformationsprozess Einführung des Begriffs „Soziale Arbeit“ Sozialpolitische Rahmenbedingungen (Gesetzliche Grundlagen) Trägerstruktur der sozialen Sicherung bzw. Sozialen Arbeit Strukturelle Merkmale der Sozialen Arbeit Probleme der Ausbildung und Professionalisierung Zusammenfassung Literatur Staatsmodell – China im Transformationsprozess Abgeleitet von den gesellschaftlichen Ideensystemen des Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus lassen sich drei normative Staatsmodelle unterscheiden: liberaler Wirtschaftsstaat, Zentralverwaltungsstaat und Wohlfahrtsstaat/Sozialstaat. Die Volksrepublik China war bis Ende der 1970er Jahre ein Zentralverwaltungsstaat, in dem die planwirtschaftliche Ordnung mit Staatseigentum an Produktionsmitteln galt. Es handelte sich hierbei um das ökonomische System des „Sozialismus“ mit geringem Leistungsprinzip und hohem Versorgungsprinzip. Es zeichnete sich durch geringe Produktivität, hohe Staatsverschuldung, Modernisierungsrückstand und Bürokratie aus. Die Systemloyalität wurde durch hohe Investitionen/Subventionen in Bildung, den sozialen Bereich, Gesundheit und Grundnahrungsmittel gewährleistet. Die ethische Leitvorstellung lautete: „Mehr Gleichheit als Freiheit“ (Gleichheitsidee). Es ging um die Egalisierung der kollektiven Arbeits- und Lebensverhältnisse. Seit Anfang der 1980er Jahre ist China durch zwei Phasen der Transformation geprägt: Zum einen findet eine Transformation von der sozialistischen Planwirtschaft zur so genannten sozialistischen Marktwirtschaft statt. Zum anderen erfolgt eine Transformation von der traditionellen Gesellschaft zur modernen Gesellschaft. Das gegenwärtige China lässt sich daher nicht mehr einem der oben genannten normativen Staatsmodelle zuordnen, sondern es verkörpert einen Mischtypus. Genauer gesagt befindet sich China in einer Transformationsphase vom Zentralverwaltungsstaat zum liberalen Wirtschaftsstaat. Im liberalen Wirtschaftsstaat werden durch den Staat nur im geringen Umfang Regeln 1 für die marktwirtschaftliche Ordnung festgesetzt. Marktkonforme Interventionen sind das Leitbild der staatlichen Wirtschaftspolitik, welche an Globalisierung und Export orientiert ist. Ziele des Staates sind niedrige Arbeitskosten/Sozialkosten, geringe Steuern und geringe Staatsverschuldung zu realisieren. Die Systemloyalität wird durch hohes Wachstum und durch Einkommenssteigerung gewährleistet. Die ethische Leitvorstellung lautet: „Mehr Freiheit als Gleichheit“ (Freiheitsidee). Es geht um die Gewährung wirtschaftlicher Freiheit für den Bürger. Gleichzeitig betont man das Prinzip der Selbstverantwortung. Beispiele dieses Staatsmodells sind die USA, Australien, Japan und die „Tigerstaaten“ in Asien. Der Transformationsprozess vom Zentralverwaltungsstaat zum liberalen Wirtschaftsstaat in China ist nicht durch ein radikales Modell („Schocktherapie“ oder „Big Bang“), sondern durch ein stufiges Modell („Gradualismus“ oder „Schritt für Schritt“) gekennzeichnet. Parallel dazu ist dieser Transformationsprozess durch die traditionelle Kultur Chinas geprägt, die im Zentralismus, Konfuzianismus, Familismus und in der Bauernkultur ihren Ausdruck findet. Die stufige Transformation vom Zentralverwaltungsstaat zum liberalen Wirtschaftsstaat sowie die begleitende kulturelle Einflussnahme bilden die spezifischen Eigenheiten des chinesischen Staatsmodells. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die zentralverwaltungsstaatliche Ordnung bis heute die überwiegende Dominanz aufweist. Wichtiges Fazit: Durch ein solches spezifisches Staatsmodell wird der dynamische und gemischte Charakter der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik Chinas vorbestimmt. Ein dualer Einfluss sowohl durch die Planwirtschaft als auch durch die Marktwirtschaft ist vorprogrammiert. Einführung des Begriffs „Soziale Arbeit“ Seit Mitte der 1980er Jahre wird der Begriff „Soziale Arbeit“ auch in China verwendet. Doch die Einführung dieser Bezeichnung bedeutet nicht die Übernahme des Inhaltes. Vielmehr werden die westlich geprägten Begriffe in die chinesische Realität übernommen und nach chinesischem Verständnis interpretiert. Erstmalig wurden die Begriffe „Soziale Arbeit“ und „Sozialarbeiter“ jeweils Mitte der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre vom Ministerium für Zivilangelegenheiten verwendet. Klare Definitionen gibt es nicht. Damit sind diejenigen gemeint, welche die praktische administrative Soziale Arbeit verrichten. Sie sind meistens in den Behörden der Zivilangelegenheiten oder in den drei großen Massenorganisationen als Kader tätig: Allchinesischer Frauenverband, Allchinesischer Gewerkschaftsverband und Kommunistische Jugendliga. Weil sie keine spezifische berufliche Ausbildung absolviert haben und der Begriff „Soziale Arbeit“ den meisten Chinesen noch fremd ist, bezeichnen sie sich lieber als „Kader für Zivilangelegenheiten“ (oder „Zivilarbeiter“), „Jugendarbeiter“, „Frauenarbeiter“ usw. Die Einführung (bzw. Importierung) des Begriffs „Soziale Arbeit“ hat folgende Hin- 2 tergründe. Der eine ist der Aufruf der Partei zum „Funktionswandel der Regierung“. Der Transformationsprozess seit den 1980er Jahren brachte nicht nur einen wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftliche Fortschritte sondern auch erhebliche negative Folgen bzw. soziale Probleme mit sich. Mit der Zunahme der sozialen Probleme und der potentiellen Hilfsbedürftigen ist die traditionelle praktische Arbeit der Regierungsbehörden und der Massenorganisationen, die hauptsächlich durch Mobilisierung und administrative Befehle (von oben nach unten) gekennzeichnet wird, überfordert. Um dem sozioökonomischen Wandel gerecht zu werden, ruft die Kommunistische Partei Chinas ihre Kader auf, ihre administrative bzw. kontrollierende Funktion zu schwächen und hingegen ihr Dienstleistungsbewusstsein zu stärken. Unter diesen Umständen hat das Ministerium für Zivilangelegenheiten angefangen, ihre Kader fachlich auszubilden, z.B. in der Kaderakademie für Zivilangelegenheiten. In dieser Zeit wurde das Fach „Social Work and Administration“ zum ersten Mal meist unter der Disziplin „Soziologie“ in einigen Universitäten (z.B. Beijing Universität) eingerichtet. Damit begann die Ausbildung der Sozialen Arbeit in China. Der andere Hintergrund für die Einführung des Begriffs „Soziale Arbeit“ ist das Motto der Partei „Sozialisierung der sozialen Dienstleistungen“ sowie „kleine Regierung und große Gesellschaft“. Da der Regierung keine ausreichenden Kapazitäten zur Verfügung standen, allen zu helfen, benötigte der Staat die Gesellschaft, um mit ihr seine Zuständigkeit zu teilen. Auch um Kosten zu reduzieren, soll man die Abhängigkeit vom Staat im Bereich der sozialen Wohlfahrt möglichst vermeiden. Stattdessen sollen alle Schichten der Gesellschaft – Kommunen, Arbeitseinheiten, freiwillige Organisationen und Individuen – aktiv daran beteiligt werden. Diese Politik bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung und das Wachstum der NGOs in China seit Mitte der 1980er Jahre. Wichtiges Fazit: Der Begriff „Soziale Arbeit“ ist zwar namentlich importiert, jedoch inhaltlich aus dem chinesischen Nährboden gewachsen. Daher ist die Einbezugnahme der praktischen administrativen Sozialen Arbeit bei der Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit Chinas von Anfang an unentbehrlich. Eine Analyse ohne deren Bezugnahme wäre irreführend und unrealistisch. Sozialpolitische Rahmenbedingungen (Gesetzliche Grundlagen) Seit Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre entsteht in China insbesondere in den städtischen Regionen eine staatliche Sozialpolitik. Die gegenwärtige Sozialpolitik Chinas beinhaltet hauptsächlich die soziale Sicherung sowie die Arbeitspolitik und Gesundheitspolitik. Familienpolitik, abgesehen von der Familienplanung, und Jugendhilfe gibt es in China nicht. Die soziale Sicherung stellt den Schwerpunkt der gegenwärtigen Sozialpolitik Chinas dar. Sie besteht aus der gesetzlich vorgeschriebenen Sozialversicherung sowie der sozialen 3 Fürsorge und Versorgung aus dem Staatsbudget. Davon ist die Sozialversicherung der Kerninhalt. Diese setzt sich in den Städten aus Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Invaliden- und Mutterschaftsversicherung zusammen. Die Sozialversicherung auf dem Lande ist je nach Regionen sehr differenziert ausgestaltet. Sie besteht mancherorts aus drei Teilen: soziale Rentenversicherung, neue kooperative medizinische Versorgung sowie kooperative Katastrophenversicherung. Soziale Fürsorge und Versorgung aus dem Staatsbudget wird meist durch den Staatshaushalt sowie aus zentralen Steuermitteln finanziert. Diese setzt sich aus Sozialhilfe und Katastrophenhilfe, sozialer Wohlfahrt, Sonderversorgung für Veteranen und deren Familienangehörige sowie kommunalen Diensten zusammen. Die Sozialpolitik Chinas ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet. Erstens Dualismus in der Sozialpolitik. Zurzeit wohnen etwa 60 % der Chinesen auf dem Lande, die restlichen 40 % in den Städten. Die staatlichen sozialpolitischen Maßnahmen betreffen jedoch überwiegend die städtischen Bewohner. Für die meisten Bauern (besonders in den Mittel- und Westregionen) gibt es nur eine unzureichende soziale Sicherung seitens Staats. Das Stadt-Land-Gefälle ist nach wie vor groß. Daran arbeitet die Regierung seit einigen Jahren. Das zweite Merkmal sind die regionalen Disparitäten. Es bestehen nicht nur Unterschiede zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen Küsten- und Ostregionen, Mittelregionen und Westregionen. Auch innerhalb einer Provinz existieren große Unterschiede. Folglich differenzieren sich die sozialpolitischen Maßnahmen von Region zu Region, von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt, ein einheitliches Bild des Sozialwesens existiert in China nicht. Ein weiteres Merkmal ist die mangelnde Gesetzgebung. Alle sozialpolitischen Maßnahmen stützen sich ausschließlich auf die „Bestimmungen“, die „Vorschriften“, die „Mitteilungen“ oder den „Erlass“ von Staatsrat, Ministerien oder lokalen Regierungen. Dadurch ist die Durchsetzungskraft geschwächt, viele Maßnahmen können nicht in Gang gebracht werden. Wichtiges Fazit: Die sozialpolitischen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit existieren zwar seit 1990er Jahren, sind jedoch stark geprägt durch Stadt-Land-Gefälle und regionale Disparitäten. Die gesetzlichen Grundlagen der Sozialen Arbeit sind kaum vorhanden, Gesetzte wie das KJHG oder das BSHG gibt es in China nicht. Trägerstruktur der sozialen Sicherung bzw. Sozialen Arbeit Der Wandel bezüglich der Trägerschaft der sozialen Sicherung und Sozialen Arbeit seit den 1990er Jahren lässt sich nach Bronfenbrenners Strukturebenen der Sozialisation (Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem) wie folgt zusammenfassen: Sowohl in den Städten als auch auf dem Lande bleibt die Familie nach wie vor der Hauptträger der sozialen Sicherung auf der Mikroebene. Auf der Mesoebene funktioniert das Danweisystem in den Städten heute teilweise bzw. mancherorts immer noch, doch langfristig gesehen wird es allmählich zerfallen. In Zukunft wird die Danwei nur eine Ne- 4 benrolle und die Kommune hingegen die Hauptrolle spielen. Bezüglich der ländlichen Gebiete muss zwischen Regionen in Zentral- und Westchina mit mittlerem bzw. niedrigem Wirtschaftsniveau und Gebieten in Küstenregionen und Ostchina mit relativ hohem Wirtschaftsniveau unterschieden werden. In den Armutsregionen bleiben die Verwandtschaft und die Dorfgemeinschaft wichtige Träger auf der Exoebene, wenn die Familie sich selbst nicht helfen kann. In wirtschaftlich entwickelten Regionen sind ländliche Industriebetriebe bzw. Dorf und Gemeinde finanziell in der Lage, differenzierte soziale Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Somit sind sie eine wichtige Ergänzung für die Ressourcen der Familie. Auf der Exoebene sind das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherung sowie die NGOs die neuen Träger der sozialen Sicherung und Sozialen Arbeit für städtische Einwohner. Das Ministerium für Zivilangelegenheiten und das Gesundheitsministerium bleiben als Träger der sozialen Sicherung und Sozialen Arbeit für ländliche Bewohner erhalten. Doch eine absolute Trennung der Zuständigkeit gibt es nicht. In den Städten entsteht eine staatliche Sozialpolitik auf der Makroebene, die öffentliche Unterstützung ist ausgedehnt auf die gesamte städtische hilfsbedürftige Bevölkerung. Im Gegensatz dazu ist die öffentliche Unterstützung in den ländlichen Gebieten nach wie vor auf die „drei-kein’s-Gruppe“ (z.B. „Fünf-Garantien-Haushalte“) beschränkt. Die formelle soziale Sicherung deckte (bis Ende 2003) nur etwa 10 Prozent der gesamten ländlichen Bevölkerung. Seit einigen Jahren hat die Zentralregierung angefangen, sich mit dem ländlichen Problem zu befassen. Wichtiges Fazit: Ein deutliches Merkmal der Trägerschaft der Sozialen Arbeit Chinas ist, dass der größte Anteil staatliche Träger sind. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die alte Trägerstruktur aus der Zeit der Planwirtschaft, wo fast alle Ressourcen ausschließlich in den Händen des Staates konzentriert waren, noch weitergehend besteht und nach meiner Ansicht noch für eine längere Zeit dominiert. Somit scheint es mir besonders wichtig, die staatlichen Ressourcen, sowohl finanzielle als auch institutionelle, mit einzubeziehen. Es ist sinnvoller mit den staatlichen Ressourcen zu arbeiten, als ohne sie. Ein Problem bei der Trägerschaft der Sozialen Arbeit Chinas ist, dass professionelle soziale Einrichtungen mangelhaft sind oder ganz fehlen. Dies ist einer der wichtigen Gründe, warum viele Hochschulabsolventen vom Fach Soziale Arbeit nach dem Studium nicht im Feld der Sozialen Arbeit tätig sind. Strukturelle Merkmale der Sozialen Arbeit Ausgehend von dem spezifischen Staatsmodell Chinas werden die strukturellen Merkmale der Sozialen Arbeit in der Übersicht dargestellt. Ich gehe davon aus, dass sich die hauptamtliche Soziale Arbeit Chinas grob in zwei Kategorien klassifizieren lässt, nämlich die administrative Soziale Arbeit mit chinesischer Eigenart und die Soziale Arbeit im westlichen Sinne. Beide sind nicht-professionell oder nur halb-professionell, da das Personal meist keine Ausbildung in diesem Berufsfeld absolviert hat. 5 Übersicht: Strukturelle Merkmale der Sozialen Arbeit Chinas - Soziale Arbeit im Transformationsprozess Administrative Soziale Arbeit Soziale Arbeit im westlichen Sinne erbracht durch staatliche und halb-staatliche Träger: Zivilbeamte, Kader und Laien erbracht durch halb-staatliche und nichtstaatliche Träger: Kader? Laien? Sozialarbeiter? traditionelle Zielgruppe: die „drei-keins-Gruppe“ Zielgruppe: sozial benachteiligte Bevölkerung (auch die, die mit Familie) Veränderungsbedarf Verbesserungsbereitschaft Hauptteil der SA (Reformphase) Interaktion? Passungsnotwendigkeit Realitätsbewusstsein Soziale Arbeit im chines. Kontext ? Bruchteil der SA (Anfangsphase) freiwillige Helfer? Veränderungstendenz im demographischen und sozioökonomischen Wandel Traditionelle Kultur (Quelle: Eigene Darstellung) 13 Die administrative Soziale Arbeit mit chinesischer Eigenart stellt heute noch den Hauptteil der Sozialen Arbeit Chinas dar. Wie vorhin erwähnt, wird sie meist durch staatliche Regierungsbehörden, halb-staatliche Massenorganisationen und Kommunen (Vorläufer: Straßenund Einwohnerkomitees) erbracht und ist ein Produkt der Planwirtschaftszeit. Zum Beispiel wird soziale Wohlfahrt und Sozialhilfe durch die Behörden für Zivilangelegenheiten jeweils auf der Provinz-, Stadt- und Stadtviertelebene abgedeckt, so wird die medizinische Versorgung für Rentner durch die Behörden für Arbeit und soziale Sicherung, der Arbeiter-, Frauen- und Jugendschutz durch Gewerkschaften, Frauenverband und Jugendliga sowie kommunale Dienste durch die Kommunen abgedeckt. Die Tätigkeiten in diesen Bereichen werden meistens von Zivilbeamten, Kadern und Laien ausgeübt. Ihre Arbeit ist eher durch Administration und weniger durch Dienstleistungen gekennzeichnet. In den Behörden für Zivilangelegenheiten stellte die „drei-keins-Gruppe“ die traditionelle Zielgruppe dar: die Bevölkerung, die keine familiäre Unterstützung bekommt, nicht arbeitsfähig ist und keine Mittel zur Lebensexistenz hat, dazu gehören z.B. Waisen- und Findelkinder, Behinderte ohne Familie und alleinstehende alte Menschen ohne Kinder. Sie werden vom Staat in den sozialen Wohlfahrtseinrichtungen versorgt. Das heißt mit anderen Worten, solange sie eine Familie haben, arbeiten können oder eine Lebensexistenz besitzen, hatten sie keinen Anspruch auf die Unterbringung in solchen staatlichen Institutionen. Dieses Aufnahmeprinzip hat sich seit den 1980er Jahren mancherorts verändert, denn die Zahl der Hilfsbedürftigen ist rasch angestiegen. Bei den Massenorganisationen stellt nicht nur die benachteiligte Gruppe, sondern auch die nicht benachteiligte Gruppe eine Zielgruppe dar. Bei der Kommunistischen Jugendliga sind sogar „fortschrittliche Jugendliche“ die Hauptzielgruppe, denn die Jugendliga ist ursprünglich eine Organisation, die die Nachwuchskräfte für die 6 Kommunistische Partei Chinas heranbildet. Um dem sozioökonomischen und demographischen Wandel gerecht zu werden, besteht für die administrative Soziale Arbeit ein Veränderungsbedarf. Sie befindet sich deshalb in einer Reformphase. An dieser Stelle möchte ich jedoch betonen, dass aufgrund der Dominanz der zentralverwaltungsstaatlichen Ordnung der Einfluss der alten administrativen Struktur auf die Soziale Arbeit noch für eine lange Zeit bestehen bleiben wird. Dadurch könnten die Verbesserungsbereitschaft seitens des Staats eingeschränkt und die Handlungsoptionen der Fachkräfte begrenzt werden. Soziale Arbeit im westlichen Sinne befindet sich in China hingegen in der Anfangsphase und stellt nur einen Bruchteil des Sozialbereiches in China dar. Sie wird meist durch nicht-staatliche bzw. gemeinnützige NGOs erbracht, oder in Form der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden und nicht-staatlichen Organisationen geleistet, wie z.B. in Shanghai. Die Hauptzielgruppen sind Randgruppen der Gesellschaft wie Alte, sozial Schwache (z.B. Wanderarbeiter, Drogensüchtige, straffällige Jugendliche), Kranke, Behinderte und Kinder. Die hauptamtlichen Kräfte des Sozialwesens in den Großstädten wie Shanghai, Beijing und Guangzhou werden sich möglicherweise in Zukunft zu den ersten professionellen und hauptamtlichen Sozialarbeitern Chinas entwickeln. Dort wird das Helfen zum neuen Beruf in China werden. Aber dieser neue Trend ist nur in einigen Großstädten zu beobachten. Landesweit gesehen ist Soziale Arbeit noch kein Beruf und das Personal besitzt meist keine fachliche Ausbildung. Für die wenigen professionellen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in den Großstädten besteht wohl die Notwendigkeit, sich in die chinesischen Verhältnisse einzupassen und realitätbewusst zu handeln, wenn sie versuchen, mit den Ansätze und Konzepte aus dem Westen zu arbeiten. Vor allem aus methodischer Perspektive ergeben sich viele Schwierigkeiten und Hindernisse, da sich ein Teil der westlichen Methoden aus vielfältigen Gründen in China einfach nicht einsetzen lässt. Doch die Bemühung lohnt sich, da auch positive Erfahrungen gemacht wurden. Somit ist die Durchsetzung der professionellen Konzepte und Methoden ein Selektionsverfahren für die chinesischen Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Durch die spezifischen Eigenheiten des chinesischen Staatsmodells, d.h. die stufige Transformation vom Zentralverwaltungsstaat zum liberalen Wirtschaftsstaat sowie die begleitende kulturelle Einflussnahme, wird der dynamische und gemischte Charakter der Sozialen Arbeit im Transformationsprozess Chinas vorbestimmt. Ich gehe davon aus, dass derzeit ein Interaktionsprozess zwischen administrativer Sozialer Arbeit, Sozialer Arbeit im westlichen Sinne und traditioneller Kultur stattfindet. Wie die Soziale Arbeit im chinesischen Kontext zukünftig gestaltet wird, hängt stark von den Wechselwirkungen zwischen allen Beteiligten in diesem Interaktionsprozess ab. Dieser Interaktionsprozess ist auch ein langer, gegenseitiger und dynamischer Such-, Erprobungs- und Lernprozess. Wichtiges Fazit: Die zwei Kategorien, administrative Soziale Arbeit mit chinesischer Eigenart und Soziale Arbeit im westlichen Sinne, sowie deren Interaktion miteinander, 7 bilden die strukturellen Merkmale der Sozialen Arbeit Chinas. Dabei ist jedoch zu betonen, dass dieser Interaktionsprozess aus verschiedenen Gründen sehr lang andauern wird. Ein wichtiger Grund davon ist die Dominanz der zentralverwaltungsstaatlichen Ordnung. Der Minister für Zivilangelegenheiten Li Xuejü hat auf einer Arbeitskonferenz am 24.11.2006 zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass der Aufbau einer Gruppe von Sozialarbeitern zur Aufgabe der Arbeit für Zivilangelegenheiten gehört. Er bezeichnete die Kader für Zivilangelegenheiten, die freiwilligen Helfer und die Sozialarbeiter als „drei Gruppen“ der Arbeit für Zivilangelegenheiten, wobei jeweils die erste Gruppe die administrativen Kräfte, die zweite Gruppe die bürgerlichen Kräfte und die dritte Gruppe die fachlichen Kräfte repräsentiert (Gongyi shibao 01.12.2006). Interessant ist, wie er betont hat, dass die administrativen Kräfte dominant, die fachlichen Kräfte unterstützend und die bürgerlichen Kräfte als Grundlage jeweils ihren Platz in der Struktur der personellen Ressourcen der Arbeit für Zivilangelegenheiten einnehmen. Es ist festzustellen, dass zwar ein Integrationsprozess begonnen hat, aber der Einfluss der bestehenden zentralverwaltungsstaatlichen Ordnung nach wie vor sehr stark ist. Probleme der Ausbildung und Professionalisierung Eine universitäre Ausbildung der Sozialen Arbeit (meist als Unterdisziplin der Soziologie) findet seit Mitte der 1980er Jahre in China statt und entwickelt sich sehr schnell. Seit Ende 2003 werden in 148 Akademien, Fachhochschulen und Universitäten Sozialarbeiter und verwandte Berufe ausgebildet. An ca. 100 Universitäten findet eine vierjährige Ausbildung mit dem Bachelor-Degree als Abschluss statt, an den restlichen Akademien und Fachhochschulen besteht eine zwei- oder dreijährige Ausbildung. Da die Ausbildung der Sozialen Arbeit in China sich in der Anfangsphase befindet, sind noch viele Schwächen und Probleme zu beseitigen. Von einer Akademisierung der Sozialen Arbeit im westlichen Sinne kann noch nicht gesprochen werden. Dies lässt sich anhand des Personals, des Lehr- und Lernmaterial, der Studieninhalte und des Praktikumssystems feststellen. Das größte Problem ist die mangelhafte Qualifizierung der Lehrkräfte. Die Dozenten und Professoren haben größtenteils ein Soziologiestudium absolviert, andere stammen aus unterschiedlichen Bereichen wie Erziehungswissenschaft, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Englisch, Wirtschaftswissenschaft usw. Weil sie nicht qualifiziert sind, können die meisten Universitäten nur den Bachelor-Studiengang anbieten. Es besteht ein großer Bedarf an deren Qualifizierung. Diese Aufgabe haben zunächst die Universitäten in Hongkong wahrgenommen. Ein Bruchteil der Lehrkräfte hat dort ihr Masterstudium berufsbegleitend absolviert. Unzureichende Lehr- und Lernmaterial sind das zweite Problem. Ein großer Teil der Fachliteratur ist direkt von Fachbüchern aus den USA, Großbritannien und Hongkong ins Chinesische übersetzt worden. Viele Lehrbücher sind inhaltlich eher 8 angloamerikanisch orientiert, insbesondere was die Konzepte und Methoden angeht. Der auf die chinesischen Verhältnisse bezogene Wissensinhalt, den die Studenten unbedingt lernen müssen, ist hingegen sehr begrenzt. Aus diesem Grund ist die Entwicklung des eigenen Wissensbereichs, welcher den chinesischen Verhältnissen entspricht, eine große Herausforderung für die universitäre Ausbildung der Sozialen Arbeit Chinas. Zudem bestehen die Aufgaben darin, Studieninhalte zu standardisieren und ein funktionsfähiges Praktikumssystem aufzubauen. Aus dieser Analyse ergibt sich folgender Bedarf: Erstens die Personalausbildung, vor allem die fachliche Qualifizierung der Lehrkräfte der Hochschulen. Auch die Praxisarbeiter (also die Zivilbeamte, Kader und Laien), die in den Regierungsbehörden, Massenorganisationen und Kommunen tätig sind, sowie zahlreiche freiwillige Helfer, benötigen eine fachliche Ausbildung. Hier besteht ein großer Markt. Zweitens die Entwicklung von Lehrbüchern, die sich den chinesischen Verhältnissen anpassen. Dies ist jedoch forschungsbedingt und stellt deshalb eine langfristige und schwierige Aufgabe dar, welche das im Jahr 1991 gegründete „China Association for Social Work Education“ bereits wahrnimmt. Drittens das Errichten der Stützpunkte für das Praktikum. Da viele vorhandene staatliche soziale Einrichtungen nicht geeignet oder funktionsfähig für das Praktikumssystem sind, soll man versuchen, Stützpunkte für das Praktikum zu errichten, die gleichzeitig auch für Forschungsvorhaben dienen können. Im Gegensatz zur schnellen Entwicklung der Ausbildung ist die Professionalisierung der Sozialen Arbeit eher unterentwickelt. Soziale Arbeit ist in China noch kein Beruf. Für viele Politiker und die Bevölkerung ist sie ein fremdes Wort. Sie ist fast ausschließlich in der Fachwelt, also in der universitären Ausbildung der Sozialen Arbeit, bekannt. Von einer Professionalisierung im westlichen Sinne kann noch nicht gesprochen werden. Wie vorhin erwähnt, es besteht lediglich eine Tendenz zur Verberuflichung der Sozialen Arbeit in einigen Großstädten wie Shanghai, Beijing und Guangzhou. Daraus resultierend ist eine große Widersprüchlichkeit entstanden. Einerseits findet die Ausbildung der Sozialen Arbeit bereits seit Mitte der 1980er Jahre statt und es besteht auch ein großer Bedarf an fachlichen Kräften, aufgrund der Zunahme der sozialen Probleme. Andererseits aber sind nur wenig Absolventen der Sozialen Arbeit als Sozialarbeiter tätig. Ursachen dieser unglücklichen Situation sind vielfältig und komplex. Davon sind z.B. die fehlende Berufszertifizierung und niedrige Löhne. Bei den Behörden für Personalwesen gibt es die Stellenbezeichnung „Sozialarbeiter“ nicht, und dementsprechend auch keine Lohnstufe und keine Berufszertifizierung. Dies ist ein unmittelbarer Grund für die fehlende Anerkennung dieses Berufs sowohl seitens des Staats als auch seitens der Bevölkerung. Doch dafür sind auch andere viel komplexere Faktoren verantwortlich, z.B. schwache soziale Infrastruktur und vor allem fehlende professionelle Institutionen, in denen die Sozialarbeiter arbeiten können. 9 Aus dieser Analyse ergibt sich folgender Bedarf: Um die universitäre Ausbildung der Sozialen Arbeit langfristig und nachhaltig zu gewährleisten, soll sich die wissenschaftliche Fachwelt um einen Verhandlungsprozess zur Verberuflichung der Sozialen Arbeit zusammen mit den staatlichen Behörden bemühen. In erster Linie geht es um die Errichtung der Arbeitsstellen, Lohnstufe und Zertifizierung des Berufs Sozialarbeiter. Sicherlich wird dieser Verhandlungsprozess nicht reibungslos und einfach sein, denn eine grundsätzliche Anerkennung ist nicht nur eine formale Sache (Stelle und Lohn), sondern im Grunde genommen auch abhängig vom erzielten Arbeitserfolg und Effekt. Der endgültige Moment der Anerkennung kommt erst dann, wenn der Staat und die Bevölkerung erkennen, was die Sozialarbeiter wirklich geleistet haben, dass sie beim „Aufbau einer harmonischen Gesellschaft“ eine unentbehrliche Rolle spielen. Wichtiges Fazit: In der Sozialen Arbeit Chinas besteht zurzeit ein Ungleichgewicht zwischen Ausbildung und Professionalisierung. Während sich die Ausbildung schnell und gut entwickelt, ist die Professionalisierung eher unterentwickelt. Ursachen dafür sind vielfältig. Die wichtigste davon sind fehlende professionelle Einrichtungen. Langfristig gesehen könnte dieses Ungleichgewicht die Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit stark beeinträchtigen. Daher ist das Verberuflichungsprozess zu beschleunigen und gleichzeitig die Forschungen voranzutreiben. Im Grunde genommen sind alle Prozesse, die vorhin genannte Interaktion, die Verberuflichung und Professionalisierung, stark abhängig von den Forschungen im Feld der Sozialen Arbeit. Zusammenfassung Aus der Analyse der Rahmenbedingungen, Struktur und des Standes der Sozialen Arbeit hat sich ergeben, dass sich die Soziale Arbeit Chinas grundsätzlich von der im Sozialstaat unterscheidet. Ein spezifisches Staatsmodell, das trotz des Mischtyps der Planwirtschaft und Marktwirtschaft seine Dominanz in der zentralverwaltungsstaatlichen Ordnung findet, hat seinen entscheidenden Einfluss auf die Soziale Arbeit Chinas. Davon ausgehend verkörpert die Soziale Arbeit Chinas ebenfalls einen Mischtyp, wobei der Akzent eindeutig auf der aus Planwirtschaftszeit stammenden Struktur, der administrativen Sozialen Arbeit mit chinesischer Eigenart, liegt. Diese Tatsache bestimmt die Praxis der Sozialen Arbeit. Perspektivisch ist es wichtig zu beobachten, wie der Interaktionsprozess zwischen administrativer Sozialer Arbeit und Sozialer Arbeit im westlichen Sinne abläuft. Die Wissenschaftler und Praktiker der Sozialen Arbeit, sowohl aus Deutschland als auch aus China, können bei diesem Prozess aktiv mitwirken, indem sie z.B. das Personal ausbilden und Forschungen durchführen. Gerade an dieser Stelle sehe ich auch die potenzielle Schnittmenge zwischen China und Deutschland im Kontext der Zusammenarbeit. Bei der Personalausbildung für die Hochschullehrkräfte, Praktiker oder freiwillige Helfer, kann der Wissenstransfer von Methoden und Arbeitstechniken den Schwerpunkt bilden; Bei den 10 Forschungen kann die fachliche Theorie mit der chinesischen Praxis verbunden und optimal getestet werden. Literatur: Gongyi shibao (Zeitung für das Gemeinnützige Wesen) 01.12.2006 Li, Yingsheng (Hrsg.): Shehui gongzuo gailun (Grundriss Soziale Arbeit). Beijing 2004. Luo, Guozheng/Fei, Meiping (Hrsg.): Shequ qingshaonian shehui gongzuo fangfa yu jiqiao Yanjiu (Studie zu den Methoden und Techniken der Sozialen Arbeit mit kommunalen Jugendlichen). Shanghai 2006. Nie, Peng/Jia, Weizhou (Hrsg.): Shehui gongzuo jichu (Grundlagen der Sozialen Arbeit). Beijing 2001. Wang, Sibin: Shehui gongzuo gailun (Grundriss Soziale Arbeit). Beijing 1999. Wang, Yanzhong: Zhongguo de laodong yu shehui baozhang wenti (Die Frage der Arbeit und sozialen Sicherung Chinas). Beijing 2004. Xu, Liya/Jia, Cunfu/Tong, Min(Hrsg.): Gean gongzuo (Einzelfallhilfe). Beijing 2004. Zhang, Wei: Sozialwesen in China. Hamburg 2005 a. Zhang, Wei: Entwicklung der Sozialberufe in China. In: China aktuell. Hamburg, Heft 5/2005 b, S. 16-20. Zhang, Wei: Soziale Probleme im Transformationsprozess Chinas. In: Heinrich Geiger (Hrsg.): An der Schwelle. Gesellschaft und Religion im Transformationsprozess Chinas. Bonn 2005 c, S. 40-57. Zhang, Wei: Soziale Sicherung in China. In: GVG (Hrsg.): Soziale Sicherung in China. Ein Überblick über die soziale Sicherung sowie die chinesisch-deutsche Zusammenarbeit im Bereich sozialer Sicherung. Köln 2006, S. 15-92. Zhang, Yu/Fei, Meiping: Shequ jiaozheng shiwu guocheng fenxi (Analyse zum Prozess der Kommunalen Korrektur). Shanghai 2005. Zheng, Hangsheng (Hrsg.): Zhongguo shehui jiegou bianhua qushi yanjiu (Studie zur Veränderungstendenz der chinesischen Gesellschaft). Beijing 2004. Abkürzungen: BSHG Bundessozialhilfegesetz bzw. beziehungsweise KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz NGO Non-Governmental Organization SA Soziale Arbeit USA United States of America usw. und so weiter z.B. zum Beispiel 11