2000/2 Mitteilungen der Lebensversicherer an die Schweizer Ärzteschaft Infektionskrankheiten Beilage der Schweizerischen Ärztezeitung • Nr. 51/52 20.12.2000 2 Inhalt Infektionskrankheiten als neue Bedrohung 22 HIV und Lebensversicherung: Medizinischer Aspekt – 10 Fortschritt und Aussichten Jeden Winter eine Grippeepidemie – wann folgt aber die nächste Pandemie? 28 HIV und Lebensversicherung Der praktische Fall 35 Tropische Infektionskrankheiten 4 18 Impressum Herausgeber SVV Schweizerischer Versicherungsverband 1941 – 1998: herausgegeben von den Lebensversicherern Die für die Herausgabe der «Mitteilungen» verantwortliche Kommission setzt sich wie folgt zusammen: • Josef Kreienbühl, PAX, Präsident • Karl Ehrenbaum, Zürich • Udo Hohmann, Basler • Michel Janiaud, Swiss Re • Dr. med. Thomas Mall, Basler • Dr. med. Jan von Overbeck, Swiss Re • Dr. med. Emile Simon, La Suisse • Dr. med. Walter Sollberger, Berner • Peter Suter, Winterthur • Dr. med. André Weissen, PAX Redaktion Dr. Jörg Kistler C. F.-Meyer-Strasse 14 8022 Zürich Telefon 01- 208 28 28 E-mail [email protected] Druck Dürrenmatt Druck AG 3074 Muri -Bern Auflage 11000 Exemplare 3 Editorial Dr. Jörg Kistler Liebe Leserin, lieber Leser Infektionskrankheiten ein Ding der Vergangenheit? Das glaubte man noch zu Beginn der siebziger Jahre. Heute ist dieser Glaube verflogen. Nicht nur sind die Infektionskrankheiten nicht ausgerottet. Wegen der heute viel intensiveren Reisetätigkeit sind sogar hierzulande vorher unbekannte Infektionskrankheiten bei uns aufgetreten. Und es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich nicht eines Tages wieder eine Grippewelle wie anno 1918 rasend schnell über den Erdball ausbreiten könnte. Unsere Beiträge gehen diesen Fragen nach. Nicht stimmungsmachend, sondern sachlich untersuchen sie die Frage, welche Bedrohung Infektionskrankheiten darstellen. Sie gehen der Frage des möglichen Auftretens einer Pandemie nach und behandeln die Bedeutung der Tropenkrankheiten, die in Afrika weite Landstriche bedrohen. Anhand des HIV-Virus wird aber auch untersucht, wie Therapien oder Kombinationen davon mit der Zeit eine wirksamere Bekämpfung einer anfänglich unbesiegbaren Krankheit erlauben. Und es wird die Frage gestellt, ob und wie sich eine Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit auf die Versicherbarkeit von Personen, die unter einer solchen Krankheit leiden, auswirkt. Das Echo auf unsere letzte Ausgabe war ausserordentlich positiv. Ich bin überzeugt, dass auch diese Nummer auf Ihr Interesse stossen wird. 4 Tropische Infektionskrankheiten Dr. med. Johannes Blum, Schweizerisches Tropeninstitut, Basel Mehr als 1,2 Millionen Schweizer und Schweizerinnen reisten 1999 in tropische oder subtropische Länder (1). Schätzungsweise 50% der Reisenden leiden während oder nach der Reise an einer Gesundheitsstörung. Etwa 10% beanspruchen nach ihrer Rückkehr in die Schweiz ärztliche Hilfe (2). Spekta- kulär aufgezogene Medienberichte über eine importierte tödliche virale Erkrankung sowie über Zunahme von Erkrankungen in tropischen Endemiegebieten wie Schlafkrankheit, Tuberkulose oder Dengue-Fieber verunsichern Ärzte und Reisende. Vor allem Patienten mit Fieber nach einem Tropenaufent- Ätiologie fieberhafter Erkrankungen nach Tropenreisen (Angaben in Prozenten) Angaben aus tropenmedizinischen Kliniken (3) Diagnose Mc Leaqn et al (n = 582) Doherty et al (n = 195) Malaria 32 42 Hepatitis 06 03 Infekte der Luftwege 11 02,5 Harnwegsinfekte 04 02,5 Dengue Fieber 02 06 Typhus 02 02 Durchfallerkrankungen 04,5 06,5 EBV (Mononukleose) 02 00,5 Pharyngitis 01 02 Rickettsiose 01 00,5 Amöbenleberabszess 01 00 Tuberkulose 01 02 Meningitis 01 01 Akuter HIV Infekt 00,3 01 Verschiedene 06,3 05 Keine Diagnose 25 24,5 5 halt befürchten, an einer schwerwiegenden Krankheit zu leiden. Für den Arzt ist es wichtig zu wissen, welche fieberhaften Erkrankungen häufig sind und welche seltenere er auf keinen Fall verpassen darf, da eine verspätete Diagnose und Einleitung der Therapie fatale Folgen haben können. Durchfallerkrankungen treten bei Destinationen wie Indien oder Kenia bei über 50% der Reisenden (4) auf und können von Fieber begleitet sein. Meistens handelt es sich um Infektionen durch gastro-intestinale Erreger, die zur Behandlung keiner Antibiotika bedürfen. In seltenen Fällen kann aber, vor allem bei Kindern, ein fieberhafter Durchfall im Rahmen einer extra-intestinalen Erkrankung wie Malaria oder Typhus vorkommen. Infekte der oberen Luftwege und «Erkältungen» sind auch in heissen Klimazonen häufig. Fokale bakterielle Erkrankungen wie Pneumonie, Pyelonephritis, Infektionen im HNO-Bereich, Dysenterie, Meningitis oder eine Tuberkulose müssen systematisch gesucht werden. Das Erfassen einer HIV Frühinfektion hat Konsequenzen für den betroffenen Patienten und seine/n Partner/in. Das Verpassen der Diagnose einer Malaria, einer gramnegativen Sepsis wie Typhus, eines Amöbenleberabszesses oder einer Meningitis kann für den Patienten fatale Folgen haben. Malaria Fieber bei Tropenrückkehrern erfordert immer eine notfallmässige Untersuchung zum Ausschluss einer Malaria. Der Zeitabstand zwischen einer Infektion während einer Tropenreise und dem Auftreten einer fieberhaften Erkrankung kann im Falle einer Malaria von einer Woche bis zu über einem Jahr betragen. Der typische Fieberverlauf mit symptomfreien Intervallen tritt nur bei einem Fünftel der Erkrankten ein. Es ist wichtig zu wissen, dass eine zuverlässig durchgeführte Chemoprophylaxe das Risiko einer Malaria zwar um über 90% senken, aber nicht sicher verhindern kann. Im ungünstigen Fall wird die Diagnostik einer Malaria im Blut durch eine eingenommene Malariaprophylaxe oder ein vorgängig eingenommenes Antibiotikum erschwert, weil dann die Parasiten im peripheren Blut nicht immer nachgewiesen werden können. Die üblichen Untersuchungen für Plasmodien wie der dicke Tropfen oder der Blutausstrich werden heute durch die sogenannten Schnelltests ergänzt. Die zwei verfügbaren Produkte weisen, mit einer Sensitivität und einer Spezifität von über 90% ein spezifisches Antigen (HRP2) von P. falciparum und P. vivax nach. Bei niedriger oder sehr hoher Parasitämie wurden falsch negative Resultate beschrieben. Die übrigen 2 Arten der humanpathogenen Malaria werden durch diese Tests (noch) nicht erfasst. 6 Tropische Infektionskrankheiten Resistenzentwicklungen erfordern eine differenzierte Behandlung der Malaria. Chloroquin ist nach wie vor Therapie der Wahl bei P. vivax, ovale und malariae. Chloroquinresistente P. vivax Stämme aus Südostasien werden primär mit Mefloquin behandelt. Bei P.vivax und ovale wird zur Eradikation der Leberformen (Hypnozoiten) anschliessend an diese Therapie nach Ausschluss eines Glukose 6 Phosphat Dehydrogenase Mangels Primaquin verabreicht.(5) Für eine Falciparum Malaria soll die Indikation zur stationären Behandlung grosszügig gestellt werden. Bei unkompliziertem Verlauf reicht häufig eine Hospitalisation zur Überwachung während der ersten 24 Stunden. Eine Hospitalisation muss immer erfolgen, wenn Vitalfunktionen beeinträchtigt sind, der Patient somnolent ist, eine bedeutende Anämie, Niereninsuffizienz, Hämoglobinurie, Hypoglykämie, Ikterus oder konkommitierende Erkrankungen vorliegen, oder wenn der Patient erbricht. Eine Parasitämie von 2% oder höher (oder wenn die Parasitämie nicht bekannt ist) ist eine Hospitalisationsindikation, auch wenn der Patient in einem guten Allgemeinzustand ist (6). Mit Artemether/Lumefantrin und Atovaquon/Proguanil stehen uns heute wirksame Medikamente zur Behandlung der unkomplizierten multiresistenten Malaria tropica zur Verfügung. Typhus/Sepsis Bei jedem Status febrilis ungeklärter Genese bei einem Tropenrückkehrer muss an die Möglichkeit eines Typhus gedacht werden und es empfiehlt sich, Blutkulturen abnehmen zu lassen. Typischerweise erfolgt der Arztbesuch, nachdem die Beschwerden schon vor einigen Tagen begonnen hatten und von Tag zu Tag zunahmen. Neben Fieber sind Kopfschmerzen das häufigste Symptom. Die bekannten Typhuszeichen wie relative Bradykardie, Splenomegalie, Roseolen und Leukopenie sind oft nicht vorhanden. Im Anfangsstadium ist Verstopfung häufiger als Durchfall, welcher typischerweise erst später auftritt. Die Leukozytenzahl ist meistens nicht erhöht und eine ausgeprägte Eosinopenie kann erst im Verlauf auftreten. ZNS-Symptome wie Interesselosigkeit und Benommenheit treten auch erst im Verlauf der Erkrankung auf. Als weitere Symptome wurden Myalgien, Husten, Konjunktivitis und Epistaxis beschrieben. Potentiell letale Komplikationen wie gastro-intestinale Blutungen oder Perforation, Pneumonie, neuropsychiatrische, renale oder kardiovaskuläre Manifestationen sind gefürchtet. Amöbenleberabszess Die Trias Fieber, Schmerzen im rechten Oberbauch und Hepatomegalie muss an die Möglichkeit eines Amöbenleberabszesses denken lassen, wobei das Fieber auch das 7 dominierende Symptom sein kann. Die Diagnose stützt sich auf eine positive Amöbenserologie sowie den Nachweis eines Leberabszesses im Ultraschall wobei sowohl Serologie wie Ultraschall in den ersten Krankheitstagen noch einen negativen Befund zeigen können. Dengue-Fieber In letzter Zeit wurden wir mit grossen Epidemien von Dengue-Fieber in Zentral- und Mittelamerika, in der Karibik sowie in Südostasien von 50 bis 100 Millionen Erkrankten konfrontiert. Dengue-Fieber wird durch tagaktive Stechmücken der Gattung Aedes aegypti übertragen. Die Leitsymptome sind hohes Fieber, Kopfschmerzen (vor allem retroorbital), Gliederschmerzen und ein Hautausschlag. Im Status findet sich einige Tage nach Krankheitsbeginn eine Lymphadenopathie, ein morbiliformer Hautausschlag und eine Hyperästhesie. Eine ausgeprägte Leukopenie und eine Thrombopenie fallen bei den Laboruntersuchungen auf. Antikörper sind nach einer Woche in 90% positiv. In seltenen Fällen kann sich das Dengue-Fieber zu einem hämorrhagischen Dengue-Fieber entwickeln. Dabei kommt es zu Hautblutungen, inneren Blutungen und einer Flüssigkeitsverschiebung in den dritten Raum. Salicylate können wegen ihrer Hemmung der Thrombozytenaggregation die Symptomatik verschlimmern und dürfen deshalb keinesfalls zur Analgesie oder Fiebersenkung verabreicht werden (7). Virales hämorrhagisches Fieber (VHF: z. B. Ebola) Unter den viralen hämorrhagischen Fiebern hat vor allem die Gruppe der Viren, die direkt von Mensch zu Mensch übertragen werden können, in den Medien für Aufregung gesorgt. Dahinter steckt die theoretisch berechtigte Furcht, dass ein Virus aus dem tiefen Urwald nach Europa eingeschleppt und zu einer nicht aufhaltbaren Epidemie führen könnte. Da die Anfangssymptome dieser viralen hämorrhagischen Fieber kaum von einer «banalen» grippalen Infektion unterscheiden werden können, und es unmöglich ist, jeden fieberhaften Tropenrückkehrer in einer Unterdruckkammer zu isolieren, ist der erstbehandelnde Arzt stark verunsichert. Richtlinien von WHO, CDC und BAG geben uns Hinweise, welche Patienten hospitalisiert und isoliert werden müssen(8): Febriler Patient mit und ohne weitere Symptome, der sich innerhalb der vergangenen 3 Wochen in einem Gebiet aufgehalten hat, in dem bestätigte oder vermutete Fälle von VHF epidemisch oder in Zusammenhang mit Tieren aufgetreten sind. Febrile Patienten mit Kontakt zu VHF Erkrankten bzw. deren Körperflüssigkeiten. 8 Tropische Infektionskrankheiten Febrile Patienten mit hämorrhagischer Diathese oder unerklärtem Schock. Erste Symptome einer Bilharziose, die Zerkariendermatitis, wird nur selten von den Patienten bemerkt: Bei Süsswasserkontakt dringen Zerkarien durch die Haut ein und können zu meist milden kurzdauernden, juckenden makulopapulösen Hautausschlägen führen. Während der anschliessenden Phase der Wurmentwicklung verspürt der Patient keine subjektiven Beschwerden. 4 bis 6 Wochen nach der Exposition kann das sogenannte Katayamafieber mit zum Teil hohen Fieber, Urtikaria, Krankheitsgefühl, Kopf- und Gliederschmerzen sowie Bauchschmerzen auftreten. Meist findet sich eine Eosinophilie. Als Ursache wird eine immunologische Reaktion im Zusammenhang mit der Eiausstossung angenommen. Komplikationen bei unbehandelter Bilharziose treten erst nach Jahren im urogenitalen oder hepatolienalen System auf. Eine Eosinophilie im Blutbild sowie eine positive Süsswasserexposition weisen auf dieses Krankheitsbild hin. Die Diagnose erfolgt durch serologische Untersuchungen und später auch durch den Erregernachweis im Urin oder Stuhl. Japanische Enzepahlitis Die Japanische Enzepahlitis ist eine Viruserkrankung (Flavivirus), die durch nacht-aktive CulexStechmücken übertragen wird. Die Krankheit ist in ländlichen Gebieten Südostasiens (mehr als 35 000 Fälle und 10 000 Tote jährlich) verbreitetet und ist dort der Hauptgrund für Enzephalitiden bei Kindern. Eine Infektion führt in weniger als 5% der Fälle zu einer manifesten Erkrankung. Die Krankheit hat einen plötzlichen Beginn mit Fieber, Kopfschmerzen, Lichtscheu, Abgeschlagenheit, Meningismus. Später können Lähmungen, Bewusstseinstrübungen epileptische Anfälle und Reflexstörungen dazukommen. Im Gegensatz zur Bevölkerung in den Endemiegebieten wird die japanische Enzephalitis nur sehr selten bei Reisenden aus Europa oder den USA in Endemiegebiete beobachtet. Virale Hepatitis Hepatitis A und B sind seit der Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe seltener geworden. Bei Fieber und deutlich erhöhten Transaminasen ist bei einem gegen Hepatitis A und B geimpften Tropenrückkehrer an die Hepatitis E zu denken. Diese Erkrankung ist besonders bei schwangeren Frauen wegen ihrer hohen Mortalität (bis 20%) gefürchtet. Rickettsiose (R.conori, R. africae) Nach einem Zeckenstich kommt es zu einem Schanker mit einer Lymphknotenschwellung im Abflussgebiet, Fieber, Kopf- und Glie- 9 derschmerzen und einem makulopapulären Hautausschlag. Die Leukozytenzahl ist meist normal, die der Thrombozyten kann erniedrigt sein. Bei klinischem Verdacht sollte die Behandlung mit Doxycyclin noch vor der Bestätigung der Diagnose mittels Serologie erfolgen. Viscerale Leishmaniose Die Trias Fieber, Hepatomegalie und Panzytopenie muss an das Krankheitsbild einer viszeralen Leishmaniose denken lassen. Seit der HIV-Epidemie hat diese Erkrankung an Bedeutung gewonnen. Nebst grösseren Endemiegebieten in Übersee (z. B. Indien, Brasilien, Sudan) sind auch Länder Südeuropas wie Italien, Frankreich oder Spanien betroffen. Die Serologie ist in nur 50% der immunsupprimierten Patienten positiv, bei immmunkompetenten dagegen meistens. Humane Afrikanische Trypanosomiasis (Schlafkrankheit) Im ersten Stadium stehen Fieber, Kopfschmerzen und eine Lymphknotenschwellung vor allem in der Halsregion im Vordergrund. Im zweiten Stadium kommen neurologische Störungen wie Schlafumkehr, psychische Veränderungen und Gehstörungen und später Bewusstseinstörungen dazu. Die Abklärung erfolgt durch den Spezialisten. Literatur 1. Bundesamt für Statistik: Reiseverkehr der Schweizer im Ausland 1999, 2000. 2. Steffen R., Rickenbach M., Wilhelm U et al.: J. Infect Dis. 158, 84 – 91, 1987. 3. Sonnenburg F., Tornieporth N., Wayaki P., Lowe B., Peruski L., Du Pont H., Mathewson J., Steffen R: Risk and aetiology of diarrhoea at various tourist destinations, Lancet Vol 356, 133 – 134, 2000. 4. Humar A, Keystone J.: Evaluating fever in returning travellers from tropical countries, BMJ, 312, 953 – 56, 1996. 5. Blum J., Tichelli, Hatz Ch. Diagnostische und therapeutische Probleme der Malaria tertiana Schweiz Rundschau Med (Praxis), 88; 985 – 991,1999. 6. Markwalder K., Hatz Ch., Malariatherapie 1998, Schweiz. Med. Wochenschrift,128, 1313 – 27, 1998. 7. Rigaux-Perez J., Clark G, Gubler D., Reiter P., Sanders E., Vorndarm A., Dengue and Dengue haemorrhagic fever, Lancet, Vol 352, 971 – 977, 1998. 8. Update: Management of patients with suspected Viral Hemorrhagic Fever, United States, MMWR 44, 475 – 479, 1995 10 HIV und Lebensversicherung: Medizinischer Aspekt – Fortschritt und Aussichten Prof. Dr. med. Manuel Battegay, Medizinische Universitäts-Poliklinik, Universitätsspital Basel Einleitung Seit der Einführung der Protease Inhibitoren 1995 /1996, die hoch wirksame Kombinationstherapien ermöglichen, hat sich die Prognose der Infektion mit dem Humanen Immundefizienz Virus (HIV) drastisch geändert. Während Ende der 80iger Jahre Monotherapien und anfangs der 90iger Jahre erste Kombinationstherapien ohne Protease Inhibitoren gewisse Verbesserungen hinsichtlich Verhindern von opportunistischen Infektionen herbeigeführt hatten, haben neuere Kombinationstherapien die Krankheits- und Sterblichkeitsrate um 80 bis 90% langanhaltend, d. h. über mehrere Jahre, reduziert. Trotzdem bleibt die HIV-Infektion eine chronische Krankheit, die sehr häufig mit verschiedensten Problemen vergesellschaftet ist. Im folgenden Artikel werden Erfolge, aber auch Probleme wie Beeinträchtigung der Lebensqualität, Auftreten von Resistenzen und Langzeitnebenwirkungen diskutiert. Ebenfalls werden Aussichten dargestellt. Krankheitsentstehung/Verlauf Die HIV-Infektion verläuft aufgrund verschiedener Faktoren je nach Person sehr unterschiedlich. Im Durchschnitt dauert eine HIVInfektion bis zum Auftreten der AIDS-Krankheit, falls nicht behandelt, 7 bis 10 Jahre. Dabei variiert die Inkubationszeit je nach Abwehrstärke, Infektiosität der Wirtszellen sowie Subtypen des Virus. In 50% der infizierten Menschen kommt es zu einer sogenannten HIV-Primoinfektion, die ähnlich einer Grippe mit Fieber, Unwohlsein, Pharyngitis und häufig zusätzlich einer Lymphknotenschwellung einhergeht. In dieser Phase ist die Virusmenge meist sehr hoch bis die körpereigene Immunabwehr einsetzt. Danach pendelt sich die Virusmenge je nach Abwehr und Dynamik verschieden hoch ein, mit Werten zwischen mehreren 100 000 sowie wenigen 100 oder 1000 Viruskopien pro Milliliter Blut (Diagramm 1). Das Niveau der Viruslast pro Milliliter Blut, das mindestens an zwei verschiedenen Zeitpunkten und später in regelmässigen, mindestens 6-monatlichen Abständen, gemessen werden muss, ist ein wichtiger prognostischer Faktor, um die Dynamik der Infektion festzustellen. Über die Abwehrsituation geben die so genannten CD4-TZellen Auskunft, die wichtige Koordinatoren der Immunabwehr sind. Unbehandelt steigt meist die Virusmenge nach mehreren Jahren an (Diagramm 1) und sukzessive stellt sich eine reduzierte Immunabwehr ein. Diese erhöht das Risiko, führt an sogenannten opportunistischen Infektionen zu erkranken. Diagramm 2 zeigt bei welchen Abwehrlagen verschiedene Infektionen und Krankheiten auftreten können. Dazu gehören vor allem spezielle so genannte opportunistische Erreger, die z. B. 11 Diagramm 1: HIV-Infektion – Immunantwort und serologische Parameter im Krankheitsverlauf Immunantwort CD4+ -Lymphozytenzahl Virus-RNA im Plasma Virusgenom im Blut Jahre Monate Symptome Symptome zu einer Lungenentzündung oder zu Hirnabszessen führen. Antiretrovirale Therapie Die antiretrovirale Therapie kann die Abwehrschwäche aufhalten oder falls sie bereits aufgetreten ist, in hohem Ausmasse rückgängig machen. Deshalb ist es wichtig, eine Therapie vor Beginn einer Abwehrschwäche zu beginnen, damit ein Patient nicht in den Risikobereich kommt, wo opportunistische Krankheiten auftreten könnten. Diagramm 3 zeigt, wo die antiretrovirale Therapie ansetzt. Zum einen können Reverse Transkriptase Inhibitoren das Enzym Reverse Transkriptase hemmen, so dass es nicht zu einer Virusvermehrung kommt. Zum anderen hemmen Protease Inhibitoren die Zerlegung von Virusproteinen, die für die Zusammensetzung (Assembly) des Virus nötig sind. Wegen der hohen Virusdynamik und der Notwendigkeit, die Virusvermehrung so komplett als möglich zu unterdrücken, ist eine sehr gute Tabletteneinnahme äusserst wichtig. Der Patient muss zu einer andauernden Therapie, d. h. zum tagtäglichen Einnehmen von Tabletten bereit sein. Wir wissen zudem, dass auf eine erste Therapie am besten angesprochen wird. Falls sich ein Therapieversagen einstellt, hat jede folgende Therapie weniger hohe Aussichten auf eine Unterdrückung der Virusvermehrung. Seit 1995 /1996 sind viele prospektive, randomisierte Studien publiziert worden, die zeigen, dass das virologische Therapieansprechen auf eine Kombinationstherapie mit zwei Reversen Transkripta- 12 HIV und Lebensversicherung: Medizinischer Aspekt – Fortschritt und Aussichten se Inhibitoren und einem Protease Inhibitor zirka 50 bis 80% beträgt. Dabei lässt sich die Virusmenge auf unter 500 Kopien/ml senken. Dank neuer Messmethoden weiss man, dass eine Unterdrückung sogar unter 50 Kopien/ml möglich ist. Zirka 50% der so behandelten Patienten zeigen einen langanhaltenden Therapieerfolg über Jahre. Ebenfalls, und dies ist im Hinblick auf eine Risikoreduktion an Aids zu erkranken der wichtigste Parameter, steigen die CD4-Werte im Blut an, so dass häufig eine beinahe nor- male Immunabwehr gegenüber verschiedensten infektiösen Erregern zustande kommt. Viele Studien dokumentieren die eindrückliche Wirkung dieser Medikamente mit einer bis anhin über 80%igen Reduktion der Krankheits- und Sterblichkeitsrate über nun bereits fünf Jahre. Patienten konnten wieder an Lebensqualität gewinnen (Gewichtszunahme, Sistieren von Allgemeinsymptomen wie Müdigkeit und Energieverlust, Wiedererlangen einer zumindest teilweisen Arbeitsfähigkeit). Diagramm 2: Verlauf der HIV-Infektion (allgemein) 750 Akute HIV-Krankheit (in 30 – 70% Fieber, Lymphadenopathie, Pharyngitis, Exanthem) 700 650 Lungentuberkulose, Herpes Zoster, Orale Candidiasis, Kaposi Sarkom, Non-Hodgkin Lymphome 600 550 CD4 (Zellzahl / µl) 500 450 400 350 Bakterielle Pneumonie Bakterielle Durchfälle 300 Pneumozystis carinii Pneumonie, AIDS Demenz, Wasting Syndrom 250 CMV Retinitis, Zerebrale Toxoplasmose, Kryptokokkose 200 150 100 nicht tuberkulöse Mykobakteriose, Kryptosporidiose, Progressive multifokale Leukenzephalopathie, Primäres ZNS Lymphom 50 0 Jahre 13 Diagramm 3: Antiretrovirale Therapie – Angriffspunkte im Replikationszyklus Replikationszyklus reverse Transkription Monate antiretrovirale Medikamente reverse TranskriptaseInhibitoren Jahre – Nukleosidanaloga – NichtNukleoside Provirus RNS ProteinaseInhibitoren Polyprotein Protein Angriffspunkte Medikamente Zur Zeit steht eine breite Palette von Reverse Transkriptase Inhibitoren (Zidovudin, Zalzitabin, Didanosin, 3TC, Abacavir, Stavudin), Protease Inhibitoren (Indinavir, Ritonavir, Saquinavir, Nelfinavir, Amprenavir) sowie nicht Nukleosid Reverse Transkriptase Inhibitoren (Nevirapine, Efavirenz) zur Verfügung. In den heutigen Kombinationstherapien werden meist zwei 14 HIV und Lebensversicherung: Medizinischer Aspekt – Fortschritt und Aussichten Reverse Transkriptase Inhibitoren mit entweder einem Protease Inhibitor oder einem nicht Nukleosid Reverse Transkriptase Inhibitor kombiniert. Bei Therapieversagen muss die Therapie meist intensiviert werden, damit die Virusmenge noch unterdrückt werden kann. Probleme der antiretroviralen Therapie Adherence Aufgrund der meist enormen Virusvermehrung (bis 10 Milliarden Viren pro Tag) ist es nötig, dass ständig Medikamente in genügend hoher Konzentration im Blut vorhanden sind. Dies bedingt eine sehr zuverlässige (über 95%) Medikamenteneinnahme. Dies stellt an die Patienten sehr hohe Anforderungen. Vor allem sogenannte «drug holidays» führen zu ungenügenden Medikamentenkonzentrationen, welche wiederum zu einer ungenügenden Hemmung der Virusvermehrung und somit zu Resistenzen führen. Resistenzen Gegenüber allen drei Medikamentenklassen, d. h. Reverse Transkriptase Inhibitoren, Protease Inhibitoren sowie nicht Nukleosid Reverse Transkriptase Inhibitoren ist das Auftreten von Resistenzen sehr gut dokumentiert. Bei bestimmten Resistenzen wird ein bestimmtes Medikament praktisch wirkungslos. Bei anderen Resistenzen stellt sich ein Wirkungsverlust der Medikamente graduell ein. Allerdings zeigen neuere Studien auf, dass ein resistentes Virus das Abwehrsystem nicht in gleichem Masse schädigt, so dass die Therapien trotz Auftreten vieler Resistenzen nach wie vor klinisch effektiv sind und das Auftreten von opportunistischen Erkrankungen sehr selten ist. Bei Therapieversagen kann neuerdings auch das Genom des Virus analysiert (Resistenzmessung) werden sowie das Verhalten des Virus in Zellkulturen, so dass eine nächste Therapie entsprechend optimal adaptiert werden kann. Nebenwirkungen Die kurzfristigen Nebenwirkungen einer Kombinationstherapie sind vor allem Übelkeit, Bauchschmerzen und weitere unspezifische Beschwerden. Meist gehen diese anfänglichen Nebenwirkungen nach wenigen Tagen oder Wochen zurück oder es lässt sich mit einer veränderten Kombinationstherapie eine nebenwirkungsarme Behandlung finden. Problematischer sind Langzeitnebenwirkungen, in erster Linie zu nennen sind Lipodystrophie (Körperfettumverteilung) und erhöhte Cholesterinwerte. Diese Nebenwirkungen sind pathophysiologisch noch wenig geklärt. Allerdings nimmt man an, dass Protease Inhibitoren und möglicherweise auch Nukleosid Reverse Transkriptase Inhibitoren an Schaltenzymen in der Leber den Fettstoffwechsel beeinflussen. Die auftretende Lipodystrophie, die bei 15 zirka 30% der behandelten Patienten auftritt (meist in milder Form), ist charakterisiert durch eine Fettansammlung am Bauch (Abdomen) sowie einem Fettverlust an Gesäss, Oberarmen und Beinen sowie im Gesicht. Manchmal tritt auch eine Fettansammlung im Nacken auf. Diese Nebenwirkung stellt für die Patienten eine erhebliche psychische Belastung dar. Es ist noch nicht klar, ob diese Nebenwirkungen durch einen Wechsel der Therapie im vollen Umfang zurückgehen werden. Lebensqualität In eigenen Untersuchungen konnten wir aufzeigen, dass die Lebensqualität trotz eindrücklicher Verbesserung der Lebensaussichten bei gut 30% der Patienten signifikant beeinträchtigt ist. Depressionen und dokumentierte Angstzustände sind hier an erster Stelle zu nennen. Dies zeigt auch auf, dass die HIV-Infektion von den Patienten meist als schwere, chronische Krankheit erlebt wird. Im Unterschied zu anderen chronischen Krankheiten wie dem Diabetes mellitus oder chronisch rheumatologischen Krankheiten ist bei der HIV-Infektion noch nicht abzusehen, wie lange die Therapien wirken, so dass hier ein belastender Unsicherheitsfaktor vorhanden ist. Schwangerschaft Ein sehr grosser Fortschritt wurde bei der Behandlung von HIV-infizierten schwangeren Frauen erzielt. In westlichen Ländern und insbesondere in der Schweiz konnte die Transmission von der Mutter auf das ungeborene Kind auf fast 0% gesenkt werden, wenn eine Therapie lege artis durchgeführt wird. Diese Therapie beinhaltet die Behandlung der schwangeren Frau, eine intensive Behandlung während der Geburt inklusive Kaiserschnitt sowie eine Frühbehandlung mittels antiretroviralem Sirup des Neugeborenen. Kosten In einer eigenen Untersuchung konnten wir im Rahmen der Schweizerischen HIV-Kohorten Studie an über 3500 Patienten und Patientinnen feststellen, dass aufgrund der massiven Reduktion der Hospitalisationen, der Abnahme der Komplikationen und der wiedergewonnenen Erwerbsfähigkeit, diese Therapien sehr kosteneffektiv sind. In Betracht gezogen wurden verschiedene Szenarien, ein optimistisches, ein pessimistisches und ein so genanntes Base-CaseSzenario. In allen Szenarien, sogar bei der pessimistischsten Annahme hinsichtlich Prognose, zeigte sich die anti-HIV-Therapie auch gegenüber anderen chronischen Krankheiten sehr kosteneffektiv. 16 HIV und Lebensversicherung: Medizinischer Aspekt – Fortschritt und Aussichten Aussichten Weitere Verbesserungen der antiretroviralen Therapie sind erst kürzlich erreicht worden. Diese betreffen insbesondere die Anzahl der einzunehmenden Tabletten sowie die Häufigkeit der Tabletteneinnahme (zur Zeit zweimal täglich). Weitere Fortschritte hinsichtlich oben genannter drei Medikamentenklassen sind zu erwarten, insbesondere Medikamente, die auch ein resistentes Virus wirksam unterdrücken. Zusätzlich werden in den nächsten Jahren wohl Medikamente entwickelt werden, die den Fettstoffwechsel nicht beeinflussen. Während Reverse Transkriptase Inhibitoren sozusagen die Kopiermaschine des Virus blockieren und Protease Inhibitoren die Zusammensetzung des Virus nach dem Kopierschritt, setzen neue Medikamente dort an, wo sich das Virus an die Zelle andockt. Damit wird von Beginn weg die Infektion einer Zelle verhindert und damit in einem späteren Schritt auch der Missbrauch einer Zelle als Viruskopiermaschine. Weitere Fortschritte betreffen Therapiestrategien um den optimalen Zeitpunkt eines Therapieeinsatzes festzustellen. Ebenfalls sind weltweit mehrere Studien im Gange, die prüfen, ob ein Therapieunterbruch möglich ist. Die Grundlage dieser Studie liegt in der Tatsache begründet, dass die Abwehr aufgrund der Therapie stark verbessert wurde und sich unter der Therapie stabilisiert hat. In der Hoffnung, dass diese Stabilisierung wenigstens für Monate oder wenige Jahre auch ohne Therapie möglich ist, wird zur Zeit geprüft, ob ein Therapieunterbruch möglich ist. Leider hat sich trotz des grossen Fortschrittes in den letzten Jahren gezeigt, dass eine Eradikation, d. h. Heilung, nicht möglich ist. Das Virus kann offenbar integriert in den Viruszellkern aber auch in Zellen, die ruhen, weiter existieren. Diese Viren sind einer Therapie auch mit neuesten Medikamenten nicht zugänglich. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prognose der HIV-Infektion durch das Einführen neuer Kombinationstherapien 1995/1996 drastisch verbessert hat. Aufgrund der komplexen Therapie, der Nebenwirkungen und der nach wie vor auftretenden opportunistischen Infektionen (obwohl in massiv reduzierter Zahl) bleibt die HIV-Infektion eine chronische, mitunter schwere Infektionskrankheit. Dabei variiert die Lebensqualität je nach Therapieansprechen und bisher durchgemachten Krankheiten deutlich. Die Forschung in diesem Gebiet ist nach wie vor sehr dynamisch und lässt weitere Entwicklungen erwarten. 17 Weiterführende Literatur Battegay M. und Hirschel B. HIV-Infektion und AIDS. In: Alexander K, Daniel WG, Diener H et al. (Hrsg.) Thiemes Innere Medizin TIM, 1. Auflage; SuttgartNew York, Georg Thieme Verlag., 9: 1888 –1913, 1999 Carpenter CC, Cooper DA, Fischl MA, Gatell JM, Gazzard BG, Hammer SM, Hirsch MS, Jacobsen DM, Katzenstein DA, Montaner JS, Richman DD, Saag MS, Schechter M, Schooley RT, Thompson MA, Vella S, Yeni PG, Volberding PA. Antiretroviral Therapy in Adults. JAMA 2000; 283:381 – 390 Carr A, Samaras K, Thorisdottir A, Kaufmann GR, Chisholm DJ, Cooper DA. Diagnosis, prediction, and natural course of HIV-1 protease-inhibitor-associated lipodystrophy, hyperlipidaemia, and diabetes mellitus: a cohort study. Lancet 1999; 353(9170): 2093 – 2099 Egger M, Hirschel B, Francioli P, Sudre P, Wirz M, Flepp M, Rickenbach M, Malinverni R, Vernazza P, and Battegay M, for the Swiss HIV Cohort Study. Impact of new antiretroviral combination therapies in HIV infected patients in Switzerland: prospective multicentre study. Brit. Med. 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Aus der Sicht der Versicherungsgesellschaften erlauben diese Entwicklungen zu Recht die Frage der Versicherbarkeit von HIVpositiven Personen. Dieser Artikel hat nicht zum Ziel, Kriterien bzgl. der Aufnahme und Versicherbarkeit aufzuführen, sondern schlägt Elemente für eine konstruktive Debatte vor. Allgemeine Prinzipien Der Versicherer muss die Sterblichkeit einer Gruppe von Kranken mit derer der sogenannten Normalbevölkerung, in Bezug auf Geschlecht und Alter, vergleichen. Damit kann man die Übersterblichkeit und somit eine adäquate Versicherungsprämie bestimmen. Dieses Prinzip wird für alle Versicherungsanfragen angewendet, sei es nun bei Fällen von Herz- und Kreislauferkrankungen, Krebsleiden oder HIV-Infektion. Die HIV-Infektion trifft vor allem junge Leute und ohne Therapie tritt der Tod durchschnittlich innerhalb von 7 bis 10 Jahren ein. Wenn man also die Lebenserwartung dieser Gruppe mit der Normalbevölkerung vergleicht, ist die Übersterblichkeit der HIV-positiven Personen extrem hoch und verunmöglicht eine Versicherung zu akzeptablen Bedingungen. Eine Versicherungsgesellschaft kann ihr wesentliches Ziel, d. h. eine grösstmögliche Anzahl von Personen zu bestmöglichem Preis zu versichern, nur dann erreichen, wenn die angebotenen Prämien den Risiken angepasst sind. In der Lebensversicherung, wo die versicherte Leistung beim Tod des Versicherten zu zahlen ist, entspricht diese Schadenwahrscheinlichkeit der Sterblichkeit des Versicherten. Durch Auswertung von Bevölkerungszählungen und Zivilstandsregister (Geburten, Todesfälle) errechnet das statistische Amt eines jeweiligen Landes die einjährige Sterbenswahrscheinlichkeit der Bevölkerung nach Alter und Geschlecht und konstruiert daraus eine Sterbetafel. Ergibt die Sterblichkeitsmessung beispielsweise, dass von 100 000 während eines Jahres unter Beobachtung stehenden 43-jährigen Männern 300 starben bevor sie das Alter 44 erreichten, so resultiert daraus eine Sterbenswahrscheinlichkeit für 43-jährige Männer von 0,003 oder 3‰. Wenn eine Versicherungsgesellschaft Personen mit einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko aufnimmt (oder, in anderen Worten, Personen, die eine verkürzte Lebensdauer aufweisen), muss sie 19 von diesen Personen höhere Prämien verlangen. Im Bereich der privaten Versicherung wäre es unangemessen, wenn die gesamten Mehrkosten, die Personen mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate von Anfang an aufweisen, von der grossen Mehrheit der gesunden Versicherten getragen würden. Gesunde Versicherungsnehmer würden sonst eine andere Form von Risikodeckung suchen (z. B. Kapital- oder Immobilienanlagen) und der Versicherer würde nur erhöhte Risiken aufweisen und bei Schadenfällen keine Auszahlung vornehmen können. Die kürzlich erschienenen klinischen Daten zeigen eine deutliche Verbesserung der Lebenserwartung für HIV-Patienten. Es ist erwiesen, dass durch die 3-fach Therapie die Sterblichkeitsrate auf 5 Jahre um 80% gesenkt werden konnte, einschliesslich Reduktion der opportunistischen Infektionen, dies allerdings ohne Berücksichtigung der Lebensqualität. Aus der Sicht der Lebensversicherer ist diese Verbesserung klar erwiesen, aber verglichen mit einer gesunden Bevölkerung ist die Lebensqualität von HIV-infizierten Personen trotzdem viel schlechter. Deshalb kann trotz der erreichten Fortschritte HIV-infizierten Personen keine Lebensversicherung mit langer Laufzeit unterbreitet werden. Die Versicherungsgesellschaften haben aber die Möglichkeit, z. B. eine Deckung mit limitierter Laufzeit (5 Jahre) anzubieten. Ein solcher Vertrag könnte ein gesellschaftliches Bedürfnis erfüllen sollte aber zugleich die grundlegenden Prinzipien eines «gesunden» Versicherungsproduktes beachten (d. h. die Bezahlung der versicherten Leistungen). Kriterien für die Berechnung der Versicherbarkeit Die Würdigung einer Versicherungsanfrage sollte einfachen, verlässlichen und statistisch-relevanten Kriterien unterliegen. Die für die HIV-Infektion wichtigsten Daten sind die folgenden: Verlaufszeit der Infektion, Anzahl CD4-Zellen und Virämie, wie auch die klinische Anamnese, der mit dem HI-Virus infizierten Person. Ins Gewicht fallen insbesondere auch die vorgenommenen therapeutischen Massnahmen und die Präsenz opportunistischer Infektionen. Es ist oft schwierig, die Dauer der klinischen Infektion präzise zu bestimmen, denn die Primärinfektion ist oftmals asymptomatisch oder oligosymptomatisch («Grippesymptome»). Häufig genügt es, wenn man die Daten des letzten negativen und des ersten positiven Testbefunds kennt. Praktisch gesehen können die Immunsuppression und die Dauer der Infektion durch regelmässige Messungen der CD4Zellen geschätzt werden. Weit gehende klinische Studien haben eindeutig bewiesen, dass der Rückgang der CD4-Zellen mit der Zeit konstant verläuft. Da individuelle Messungen variieren können, sind 20 HIV und Lebensversicherung für eine verlässliche Schätzung mindestens zwei CD4-Zellwerte nötig, wie auch ein über einige Zeit beobachtetes CD4-Profil. Ein einziger CD4-Zellwert erlaubt keine Schlussfolgerung. Die Virämie oder sogenannte Viruslast entspricht einer Schätzung der Anzahl der Virenpartikel im Blut und widerspiegelt den Replikationsstand des HI-Virus. Bei nichtbehandelten Patienten hat die Messung der Virämie einen wichtigen prognostischen Wert, denn dieser ist unabhängig von den CD4Werten. Je tiefer die Virämie ist, desto besser ist die Prognose. Mit den Werten der CD4-Zellen und der Virämie kann man das Gleichgewicht zwischen dem HI-Virus und dem Immunsystem einer einzelnen Person messen. Antiretrovirale Medikamente haben eine grosse Auswirkung auf die Virämie, weshalb es bei einer medikamentösen Behandlung wichtig ist, die Werte des Patienten vor der Behandlung zu kennen. Die klinische Anamnese eines Patienten ist unerlässlich, besonders bei opportunistischen Infektionen. Die Diagnose einer solchen Infektion lässt meistens auf eine milde bis ernste Immunsuppression rückschliessen. Eine Versicherbarkeit ist im allgemeinen nicht möglich. Für die Würdigung eines Antrags ist es nötig, einen Vertrauensarzt beizuziehen, der über praktische Erfahrung mit der Behandlung von HIV-positiven Patienten verfügt. Detaillierte Informationen zur Therapie sind von immenser Bedeutung. Die heutigen Erfahrungen zeigen, dass Patienten, welche von Anfang an mit einer Dreierkombination behandelt wurden, die besten Resultate aufweisen. Die Wirksamkeit beträgt allerdings gemäss klinischer Studien nur 5 bis 7 Jahre, wobei die Resistenz des HIVirus auf die antivirale Langzeitbehandlung das Hauptproblem darstellt. Dies bedeutet, dass die Behandlung lebenslang weitergeführt werden muss, da die heutigen Medikamente keine Beseitigung des Virus’ ermöglichen. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass sowohl die Resistenzentwicklung wie auch die Compliance seitens des Patienten Probleme aufwerfen. Man muss sich vorstellen, dass eine Dreierkombination mit der erforderlichen täglichen Einnahme von 10 bis 15 Tabletten nicht ohne Nebenwirkungen bleibt. Bei einem Versicherungsantrag ist es absolut notwendig, die CD4-Werte sowie die Virusreplikation vor Behandlung zu kennen. Dies erlaubt es, eine Einschätzung des Krankheitsverlaufes vorzunehmen. Ein unbehandelter Patient mit CD4-Werten um 400 kann nicht mit einem Patienten verglichen werden, der mit einer Dreierkombination behandelt worden ist, und bei dem die CD4-Zellen von 200 auf 400 Zellen/ml angestiegen sind. Der Versicherer muss den natürlichen Krankheitsverlauf einschätzen können, zumal mindes- 21 tens 50% der Patienten die Therapie abbrechen. Die Erfahrung zeigt, dass Patienten, die in einem spezialisierten Zentrum oder durch Spezialärzte behandelt werden, eine bessere Prognose aufweisen. Schlussfolgerung und Anregungen Aufgrund des aktuellen Wissensstandes, wird die Entwicklung von Versicherungsdeckungen für HIVpositive Personen möglich. Eine Nachfrage besteht in verschiedenen Ländern und sollte genau geprüft werden, damit deren Umsetzung professionell und konstruktiv geschehen kann. Ein Nichteingehen auf diese Anfragen könnte sich auf politischer Ebene negativ für die Versicherungsgesellschaften auswirken. Aufgrund der verlängerten Lebenserwartung durch verbesserte therapeutische Möglichkeiten, kann in ausgewählten Fällen eine Deckung mit einer Versicherungsdauer von 5 Jahren in Erwägung gezogen werden. Die medizinisch notwendigen Abklärungen und Informationen beinhalten: genaue Anamnese, falls vorhanden letzter negativer Test und erster positiver Test, Virämie und CD4-Werte vor Behandlung, Verlauf der CD4-Werte, angewandte Therapie und behandelnder Arzt. Patienten mit CD4Werten über 500 und ohne anamnestisch opportunistische Infekte sollten individuell eingestuft werden. Es ist unerlässlich, dass der Vertrauensarzt mit entsprechender Erfahrung beigezogen wird, mit dem Ziel, für die Zukunft genügend Informationen zu sammeln. 22 Infektionskrankheiten als neue Bedrohung Prof. Dr. med. Werner Zimmerli, Chefarzt Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital, 4410 Liestal Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren Infektionskrankheiten bei weitem die häufigste Todesursache. Noch am Ende der siebziger Jahre glaubte man, die Infektionskrankheiten seien besiegt. Die prophylaktischen und therapeutischen Massnahmen gegen Mikroorganismen waren so viel versprechend, dass angenommen wurde, die Infektionen würden ihre Bedeutung und ihren Schrecken verlieren. Von diesem Enthusiasmus ist lediglich die Ausrottung der Pocken im Jahre 1977 geblieben. Wichtigste Todesursachen Der Tod wegen Infektionskrankheiten ist in den industrialisierten Ländern selten geworden. Während noch vor hundert Jahren in der Schweiz die Tuberkulose die wichtigste Todesursache war, sind seit 60 Jahren die Kreislaufkrankheiten, Tumorkrankheiten und Unfälle/Gewalt die drei wichtigsten Todesursachen. Zwischen 1980 und 1997 hat sich diese Tendenz wieder etwas gewendet. Während unverändert ein Viertel aller Schweizer an einem Tumorleiden stirbt, hat die Mortalität an Herz-Kreislaufleiden Die wichtigsten Todesursachen in den letzten 120 Jahren Gestorbene auf 100 000 Einwohner 450 400 Kreislaufkrankheiten 350 Tuberkulose 300 250 Krebs 200 150 Gewaltsamer Tod 100 Lungenentzündung Epidemische Infektionskrankheiten 1 50 0 1875 1 1885 1895 1905 1915 1925 1935 1945 Pocken, Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, Typhus 1955 1965 1975 1985 1995 23 um 6,9% auf 41,4% abgenommen. Dies ist ohne Zweifel auf die vielfältigen neuen prophylaktischen und therapeutischen Möglichkeiten im Gebiet der Herz-Kreislaufkrankheiten zurückzuführen. Die Mortalität an Krankheiten der Atemwege und an Infektionen hat dagegen leicht zugenommen. Diese Zunahme ist zwar absolut gesehen gering, nämlich um 1,4% auf 7,1% bei Krankheiten der Atmungsorgane und um 0,5% auf 1,2% bei den Infektionen. Diese Veränderungen entsprechen jedoch einem klaren relativen Anstieg von 27% bzw. 71%. Dieser Anstieg ist kein Zufall. Er ist zum grössten Teil auf die Immunschwäche AIDS zurückzuführen, welche 1995 für 635 Todesfälle in der Schweiz verantwortlich war. Dies ist zwar verglichen mit den total 62 839 Todesfällen wenig, betraf jedoch fast ausschliesslich junge Menschen. Innerhalb von 15 Jahren nach ihrem Auftreten in der Schweiz ist die HIV-Infektion 1995 die zweithäufigste Todesursache der 25- bis 44-Jährigen geworden. 32 von 100 000 Männern und 12 von 100 000 Frauen dieser Altersklasse starben an AIDS. Dieser Trend ist erst seit Ende der 90iger Jahre wieder rückläufig, als die hoch aktive antiretrovirale Kombinationstherapie verfügbar wurde. Auch gemäss amerikanischen Statistiken haben Infektionen als Todesursache von 1980 bis 1992 zugenommen, nämlich von 41 auf 65 pro Wichtigste Todesursachen Todesursachen 1980 in % (100% = 59 097 Todesfälle) Todesursachen 1997 in % (100% = 62 839 Todesfälle) 4,7% 0,4% 0,7% 1,4% 2,7% 2,7% 3,8% 5,6% Übrige Psyche Infektionen Nervensystem Selbstmorde Stoffwechsel und Blut Verdauungsorgane Unfälle und Gewalt 5,6% Atmungsorgane 5,7% 3,8% 1,2% 3,3% 2,1% 3,3% 3,7% 3,6% 7,1% 24,1% Tumoren 24,8% 48,3% Herz-Kreislauf 41,4% Quelle: Todesursachen-Statistik 1980, 1997 Bundesamt für Statistik, Neuenburg 100 000 Einwohner. Bei den 25- bis 44-Jährigen stieg die Todesrate an Infektionen sogar um das 6,3fache. Alte Bedrohungen Von den bakteriellen Infektionen sind vor der Verfügbarkeit von Antibiotika viele letal verlaufen. Während gewisse Infektionen wie die Sinusitis, die Otitis media, die Pneumonie oder Hautinfektionen durch eine intakte Immunabwehr 24 Infektionskrankheiten als neue Bedrohung in den meisten Fällen auch ohne antimikrobielle Substanzen abheilen, endet die Meningitis, die Sepsis, oder die akute Endokarditis ohne Antibiotika praktisch immer tödlich. Früher war der Tod an diesen Krankheiten meistens auf die unkontrollierte Infektion zurückzuführen. Im Gegensatz dazu sterben heute die Patienten in der Regel nicht mehr direkt an der Infektion, sondern an den Folgen der unkontrollierten Immunabwehr. Diese kann den Organismus durch eine überschiessende Entzündung irreversibel schädigen. Die Sterblichkeit an der Meningitis war vor 25 Jahren trotz wirksamer Antibiotika bei etwa 33%, heute sterben noch 15 bis 20% der Patienten. Diese Verbesserung ist u. a. auf 179,6 226,2 0,9 1,3 5,6 4,2 11,7 7,9 2,6 2,0 0 35,1 20,9 50 78,2 82,6 100 91,7 150 124,8 153,6 200 188,8 250 272,2 266,9 300 Häufigkeit der Todesfälle an Tuberkulose auf 100 000 Einwohner 1900 ’10 ’20 ’30 ’40 ’50 ’60 ’70 ’80 ’90 ’97 Quelle: Bundesamt für Statistik, Neuchâtel eine raschere Diagnose und somit Therapie und auf die Fortschritte der Intensivmedizin («supportive care») zurückzuführen. Eine ähnliche Reduktion der Letalität konnte bei der akuten Endokarditis erreicht werden. Hier ist die Verbesserung u. a. auf die raschere und bessere kardiochirurgische Therapie (Klappenersatz im akuten Stadium) zurückzuführen. Auch heute noch sterben 40 bis 50% der Patienten mit einem septischen Schock. Diese schlechte Prognose hat sich seit der Einführung der Antibiotika trotz immer besseren Substanzen nicht wesentlich verbessert. Auch bei der Sepsis sterben die meisten Patienten an der unkontrollierten und bisher nicht wirksam beeinflussbaren Entzündung (Multiorganversagen) oder an der Grundkrankheit und nicht an der Infektion selbst. Keines der neuen Therapiekonzepte wie z. B. anti-Endotoxin-Antikörper, anti-Zytokine oder lösliche Zytokinrezeptoren hat die hohe Letalität signifikant und reproduzierbar senken können. Deshalb kann auch bei der Sepsis die Verbesserung der Prognose nur durch die raschere Diagnose und Antibiotikatherapie erreicht werden. Im Gegensatz zu diesen Krankheiten mit immer noch hoher Mortalität hat sich die Situation bei der Tuberkulose drastisch verbessert. Die Tuberkulose war anfangs Jahrhundert eine sehr gefürchtete und häufig tödliche Krankheit. Durch die Verbesserung der so- 25 Die wichtigsten neuen Mikroorganismen der letzten 25 Jahre Jahr Mikroorganismus Krankheit 1975 Parvovirus B19 Aplastische Anämie u. a. m. 1976 Cryptosporidium parvum Enterokolitis 1977 Ebola Virus Hämorrhagisches Fieber 1977 Legionella pneumophila Legionellenpneumonie 1981 Toxin-bildender S. aureus Toxisches Schocksyndrom 1982 Escherichia coli 0157:H7 Hämolytisch-urämisches Syndrom, hämorrhag. Kolitis 1982 Borrelia burgdorferi Borreliose 1983 HIV AIDS 1983 Helicobacter pylori Ulcus duodeni bzw. ventriculi 1988 Humanes Herpesvirus-6 Dreitagefieber 1989 Ehrlichia chaffeensis Humane Ehrlichiose 1992 Bartonella henselae Katzenkratzkrankheit, bazilläre Angiomatose 1993 Sin Nombre Virus Hanta-Lungensyndrom 1994 Humanes Herpesvirus-8 Kaposisarkom 1996 Prionen Protein Neue Variante der CreutzfeldJacob Krankheit 1997 Influenza A H5N1 Influenza in Hong Kong 1999 Nipah Virus Enzephalitis zialen Verhältnisse (Wohnraum, Hygiene, Ernährung) und seit den 50iger Jahren durch die antimykobakterielle Therapie konnten die Sterbefälle an Tuberkulose von 272 auf 0,9 pro 100 000 Einwohner reduziert werden. Weltweit hat die Tuberkulose mit dem Auftreten der HIV-Pandemie wieder zugenommen. In der Schweiz wurde dieser Trend nicht beobachtet. Die Erklärung dafür ist die Tatsache, dass die Koinfektion mit dem HIV und dem Mycobacterium tuberculosis 26 Infektionskrankheiten als neue Bedrohung seltener ist als in den Ländern der Dritten Welt oder in den grossen amerikanischen Städten. Neu entdeckte Erreger In den letzten 25 Jahren sind viele neue Erreger entdeckt und beschrieben worden. Einige dieser Erreger konnten die Aetiologie von schon lange bekannten Infektionen aufklären (z. B. Legionella spp., Bartonella henselae), andere Erreger klärten die Ursache von neu beobachteten unklaren Infektionen auf (z. B. Human Immunodeficiency Virus) oder von bisher nicht als Infektionen beurteilten Krankheiten (z. B. Helicobacter pylori). Diese lange Liste von neu entdeckten Erregern auf Seite 25 zeigt, dass die Infektionskrankheiten auch im 20. Jahrhundert nichts von ihrer Gefährlichkeit verloren haben und mit immer neuen Überraschungen gerechnet werden muss. Das Beispiel der HIV-Infektion zeigt jedoch auch, dass heute vom Erkennen einer neuen Krankheit bis zur Aufklärung des Erregers nur noch wenige Jahre liegen. Neue Bedrohungen durch alte Erreger Neben den neuen Erregern und Krankheiten sind in den letzten 10 Jahren auch viele alte Erreger entweder neu epidemisch aufgetreten, mit neuem Krankheitsbild beobachtet worden oder wegen Antibiotikaresistenz gefährlicher geworden. Beispiele für neue Epi- demien sind z. B. das hämorrhagisches Ebola Fieber, welches 1995 in Zaire beobachtet worden ist, oder die Diphtherie, welche 1993 auf Grund der ungenügenden Durchimpfung der Bevölkerung in Russland neu aufgetreten ist. Ende 80iger und in den 90iger Jahren wurden neu bzw. vermehrt lebensgefährliche Manifestationen der Infektion mit Grupppe A Streptokokken, nämlich der toxische Schock und die Streptokokkenmyositis beobachtet. Eine neue Bedrohung sind auch die multiresistenten Bakterien, welche erahnen lassen, dass eine postantibiotische Ära möglich ist, falls wir nicht sorgfältig mit den Antibiotika umgehen. Beispiele dieser weltweit beobachteten Erreger sind die Vancomycin-resistenten Enterokokken, die Penicillin- und Makrolid-resistenten Pneumokokken, sowie der Methicillin-resistente und schliesslich der auf Vancomycin und somit auf alle Antibiotika resistente S. aureus. Ursachen für die neue Bedrohung durch Infektionskrankheiten Für einige der erwähnten neuen Probleme gibt es Erklärungen und somit auch potentielle Lösungen. Die Tabelle auf der gegenüberliegenden Seite fasst diese zusammen. Einige der beschriebenen neuen Probleme sind der Preis für Fortschritte in der Medizin und somit inhärent in der neuen Tech- 27 Ursachen für die neue Bedrohung durch Infektionskrankheiten Faktoren Beispiele (Krankheiten / Erreger) Invasivere Medizintechnik Katheterinfektionen mit multiresistenten Enterokokken oder Staphylokokken Internationale Reisen Cholera in Nordamerika, Denguefieber Vernachlässigte Impfprogramme Diphtherie in Russland Antibiotika in Tiermast Vancomycin-resistente Enterokokken, Chinolon-resistente Campylobacter Sexualverhalten (Promiskuität) HIV-Infektion, resistente Gonokokken Bau von grossen Staudämmen Rift Valley Fieber in Ostafrika Antibiotikamissbrauch Infektionen mit multiresistenten Erregern Transplantation, Immunsuppression Opportunistische Erreger (z. B. CMV, Pneumocystis carinii) Intravenöser Drogengebrauch HIV-, HCV-, HBV-Infektion Geflügel- und Schweinehaltung auf engem Raum Neue Influenzaviren nologie verankert. Andere Probleme sind entweder durch die Veränderung des individuellen Verhaltens («Safer Sex»), durch kollektive Verbesserung der Antibiotikaverschreibung, durch Zurückhaltung bei ökologisch invasiven Projekten (Stauseen, Waldrodung) oder durch staatliche Vorschriften (Verbot von Antibiotika in der Tiermast) zu lösen. Das Bewusstwerden der neuen Bedrohung durch Infektionskrankheiten ist der beste Schutz vor einem zukünftigem Anstieg der Infektionsmorbidität und -mortalität. 28 Jeden Winter eine Grippeepidemie – wann folgt aber die nächste Pandemie? Prof. Dr sc. nat. Werner Wunderli, Laboratoires centrales de virologie, Genève Einleitung Die Presse schenkt dem Thema «Grippe» jedes Jahr sehr viel Aufmerksamkeit. Regelmässig wird auch die Frage nach der nächsten Pandemie gestellt. Das Problem ist vielschichtig und obwohl die Wissenschaft in letzter Zeit grosse Fortschritte gemacht hat, kann niemand genaue Voraussagen machen. Zwar können viele Phänomene besser gedeutet werden, doch ist eine abschliessende Erklärung noch nicht möglich. Vieles weist aber darauf hin, dass das Auftreten von Epidemien und Pandemien vor allem auf spezielle Eigenschaften der Grippeviren zurückzuführen ist. Epidemien Epidemien, welche durch Influenzaviren verursacht werden, treten bei uns mit einiger Regelmässigkeit im Winter auf. Durch Influenza A verursachte Epidemien beobachtet man im allgemeinen in der Periode Dezember bis Januar, während Influenza B Viren ihre grösste Aktivität in den Monaten Februar und März zeigen. Warum kommt es überhaupt zu Epidemien? Die Gründe liegen vor allem in einigen speziellen Eigenschaften des Influenza Virus. Diese sind sogenannte RNS Viren, deren Genom aus RNS Segmenten besteht. Bei der Replikation dieser RNS Genomstücke treten Fehler auf, welche nicht korrigiert werden. Es kommt zu Mutationen. Durch die Anhäufung solcher Mu- tationen in den Genomen, welche für gewisse Oberflächenproteine kodieren, gelingt es den Grippeviren, ihre Oberfläche laufend zu verändern. Vor allem an zwei Oberflächenproteinen, dem sogenannten Hämagglutinin und der Neuraminidase, können solche strukturellen Veränderungen beobachtet werden. Man nennt diese Veränderungen den «antigenic drift». Da schützende Antikörper vor allem gegen diese Proteine gerichtet sind, ist nun leicht einzusehen, dass durch die Veränderung der Oberfläche dieser Viren, bestehende, zirkulierende Antikörper ihre Wirksamkeit allmählich verlieren und die Individuen gegen die neuen Varianten nicht mehr genügend geschützt sind. Die Übertragung der Grippeviren ist zudem sehr leicht, da dies vor allem durch Tröpfcheninfektionen geschieht. Offenbar sind die Bedingungen für eine solche Übertragung bei uns vor allem im Winterhalbjahr günstig, so dass es dann zu einer epidemischen Ausbreitung der Infektion kommen kann. Pandemien Die Ursachen von Pandemien hingegen sind in einer weiteren speziellen Eigenschaft des Grippevirus zu suchen. Influenzaviren besitzen, wie schon erwähnt, ein segmentiertes Genom. Bei Doppelinfektionen mit zwei Viren verschiedener Herkunft in einem gemeinsamen Wirt können die Segmente bei den 29 Tabelle 1: Zusammenfassung der wichtigsten Unterschiede epidemischer und pandemischer Influenzaviren Art der Veränderung Ursache Immunität in der Bevölkerung Konsequenzen Epidemisches Virus Entsteht aus einem bekannten Virus durch Anhäufung von Mutationen («antigenic drift»). Kreuzreagierende Antikörper sind in einem grossen Teil der Bevölkerung vorhanden. Unterschiedliche Infektionsraten, welche zu lokalen oder regionalen Ausbrüchen führen. Pandemisches Virus Entsteht durch «antiWenig oder keine genic shift». Influenza A Immunität in der Virus mit bisher unbeBevölkerung vorhanden. kanntem Hämagglutinin und/oder Neuraminidase entstehen in einem gemeinsamen Wirt. Normalerweise hohe Infektionsrate mit hoher Morbidität und Mortalität. «Nachkommen» beliebig verteilt werden. Dadurch können Viren mit völlig neuen Kombinationen entstehen. Woher kommen aber diese andersartigen Viren? In der Tierwelt existiert ein sehr grosses Reservoir von verschiedenen Typen von Grippeviren. Vor allem bei den Vögeln kommen praktisch alle Typen von Influenza A Viren vor. Viren können aber nicht ohne weitere Adaptation von einer Spezies zur andern (so zum Beispiel von der Ente auf den Menschen) überspringen. Dazu braucht es eine Anpassung an den neuen Wirt. Verschiedene Beobachtungen zeigen, dass eine solche Adaptation in einem gemeinsamen Wirt möglich ist. Ein solcher Wirt ist das Schwein. Dieses kann sich mit Stämmen infizie- ren, welche von Vögeln und von Menschen stammen. Erfolgt eine Doppelinfektion, dann ist der vorhin beschriebene Austausch von Genomen unterschiedlicher Herkunft möglich. Entstehen nun Viren mit völlig neuartigen Oberflächenproteinen, welche den Menschen befallen können, ist leicht einzusehen, dass dagegen keine Immunität besteht. Es kommt dann zu einer weltweiten Ausbreitung der Infektion. Diese Veränderung bezeichnet man als «antigenic shift». Im Gegensatz zum «antigenic drift» sind dies offenbar seltene Ereignisse und erfordern spezielle Voraussetzungen. Pandemien treten unregelmässig auf und es sind darüber keine Voraussagen möglich. Dies wird auch durch die Häufigkeit von Pandemien im letzten 30 Jeden Winter eine Grippeepidemie – wann folgt aber die nächste Pandemie? Jahrhundert illustriert. 1918, 1957, 1968 und 1977 traten Pandemien mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf. In Tabelle 1 sind die wesentlichen Eigenschaften von Viren, welche Epidemien oder Pandemien verursachen, nochmals zusammengefasst. Konsequenzen einer Grippeerkrankung Epidemiologische Beobachtungen haben gezeigt, dass bei Epidemien und noch ausgeprägter bei Pandemien schwerwiegende Folgen zu beobachten sind: Todesfallrate: Grippeepidemien und Pandemien haben einen nachweisbaren Einfluss auf die Anzahl der Todesfälle. Man nennt dies «excess mortality». Bei einer Epidemie sind vor allem ältere Personen und Leute mit chronischen Erkrankungen betroffen. Diese Situation kann aber im Falle einer Pandemie völlig anders sein und nicht nur Leute aus Risikogruppen betreffen, sondern auch sonst gesunde Personen. Morbidität: während einer Epidemie und noch viel ausgeprägter während einer Pandemie können fast gleichzeitig eine grosse Anzahl von Personen erkranken. Dadurch kommt es zu einer beträchtlichen Belastung des Arztes und des gesamten Gesundheitswesens. Dies vor allem auch deshalb, weil Personen vermehrt wegen Komplikationen hospitalisiert werden müssen. Dies kann vor allem im Falle einer Pandemie zu Engpässen im Gesundheitswesen führen, welche schwierig zu handhaben sind. Durch die grosse Zahl von Arbeitsabsenzen kann es für die Wirtschaft und die Versorgung zu ernsthaften Problemen kommen, da im Falle einer Pandemie 20 bis 25% der Bevölkerung betroffen sein können. Absenzen in einem solchen Ausmasse werden notgedrungen zu Schwierigkeiten führen, da das Funktionieren der Betriebe nicht mehr gewährleistet werden kann. Vorhersage von Pandemien Wie schon erwähnt, treten Grippewellen einigermassen regelmässig auf. Aber das Auftreten völlig neuer Stämme mit pandemischen Eigenschaften ist nicht voraussehbar. Vom grossen tierischen Reservoir an Influenza A Viren werden immer wieder Infektionen auf andere Arten, unter anderem auch auf den Menschen, übertragen. Tierpathogene Viren verschiedenen Ursprungs können immer wieder Menschen infizieren. Ein typisches Beispiel war das Influenza A H5N1 Virus in Hongkong welches von den Hühnern direkt auf den Menschen übertragen werden konnte. Sechs Menschen starben an dieser Infektion. Glücklicherweise hat man diesem Virus keine Chance gegeben, sich an den Menschen anzupassen, da durch die Elimination der Hühner das Reservoir vernichtet wurde. Dies zeigt 31 Tabelle 2: Aktionsplan im Falle einer Pandemie Stufen Vorgehen Stufe 0: Vorbereitende Massnahmen in drei Prioritätsstufen Überwachung der weltweiten Grippeaktivität, um entscheiden zu können, ob ein neues Virus gefährlich ist. (Normalfall des Überwachungssystems) Stufe 1: Beginn einer Pandemie Deklaration der Pandemie durch die «task force» der WHO nach erfogtem Beweis, dass ein neues Virus zirkuliert und Ausbrüche verursacht Stufe 2: Regionale und multiregionale Ausbrüche Koordination der Aktivitäten zur Prävention zwischen den Ländern durch die WHO Stufe 3: Abflauen der ersten Welle in den ursprünglichen Regionen und gleichzeitig weltweite Ausbreitung Koordination der Aktivitäten zur Prävention zwischen den Ländern durch die WHO Stufe 4: Weitere Wellen im Abstand von 3 bis 9 Monaten Massnahmen zur Prävention weiterer Wellen Stufe 5: Ende der Pandemie Deklaration des Endes der Pandemie durch die WHO (normalerweise nach 2 bis 3 Jahren) deutlich, dass es nur dann zu einer Pandemie kommt, wenn sich das Virus genügend an den Menschen anpassen kann und dadurch in der Bevölkerung zu zirkulieren beginnt. Aktionsplan im Falle einer Pandemie Aus den vorher erwähnten Gründen ist eine Voraussage der nächsten Pandemie nicht möglich. Die Gefahr, dass sich ein verändertes Virus sehr rasch ausbreiten wird, ist aber wegen der ständig wachsenden Weltbevölkerung und auch wegen der grossen Mobilität sehr gross. Die Folgen wären dann in einem solchen Falle auch entsprechend schwer wiegend. Aus diesem Grunde hat die WHO einen Aktionsplan ausgearbeitet mit dem Ziel, solche Situationen besser meistern zu können. Dies ist kein Modellplan sondern ein Hilfsmittel für die nationalen Gesundheitsbehörden. Sein Zweck lässt sich wie folgt beschreiben: Er stellt ein Hilfsmittel dar für die nationalen Gesundheitsbehörden, damit diese einen ihren Bedürfnissen angepassten Plan ausarbeiten können. 32 Jeden Winter eine Grippeepidemie – wann folgt aber die nächste Pandemie? Er regelt die Rolle der WHO und der Gesundheitsbehörden im Falle einer Pandemie. Dies ist besonders wichtig, da bei einer Pandemie Probleme auftreten, welche nicht nur auf nationaler Ebene gelöst werden können. Der Plan soll helfen, die Verteilung von Impfstoff und Medikamenten zu regeln. Dies vor allem darum, weil es im Falle einer Pandemie zu Engpässen kommt. Die Verhütung von Panik in der Bevölkerung ist ein wichtiges Ziel aller Massnahmen. Dies ist keine leichte Aufgabe, da es bei Engpässen sehr leicht zu Panikreaktionen kommen kann. Auch die Schweiz hat, basierend auf den Empfehlungen der WHO, einen Aktionsplan ausgearbeitet. Dieser ist ähnlich strukturiert wie derjenige der WHO. Der Plan ist im Augenblick bei den verschiedenen interessierten Kreisen in einer Vernehmlassung. Er verfolgt verschiedene Ziele und soll auch helfen, schwierige Situationen besser meistern zu können. Darunter fallen folgende Punkte: Durch vorsorgliche Massnahmen sollen die Auswirkungen einer Pandemie vermindert werden, so zum Beispiel durch gezielte Impfungen von Personen- oder Patientengruppen. Es ist deshalb wichtig, dass schon in epidemischen Situationen der Prävention vor allem bei Risikogruppen eine grosse Bedeutung beigemessen wird. Durch Massenimpfung soll die Morbidität vermindert werden. Dies setzt aber voraus, dass Impfstoff in genügender Menge und rechtzeitig zur Verfügung steht. Er soll auch Engpässe im Gesundheitswesen regeln. Durch die grosse Zahl von Erkrankungen können gewisse Dienste im Gesundheitswesen völlig überlastet und dadurch blockiert werden. Die Grundversorgung der Bevölkerung muss sichergestellt werden. Durch ein gehäuftes Auftreten von Erkrankungen können die öffentlichen Dienste zum Teil nicht mehr aufrecht erhalten werden. Der Plan soll dem durch geeignete Massnahmen entgegenwirken. Gewährleistung der Sicherheit Es ist völlig klar, dass nicht alle Probleme im voraus geregelt werden können. Das Massnahmenpaket will aber auch Denkanstösse geben, damit auch neuere Erkenntnisse integriert werden können. Impfung und Behandlungsmöglichkeiten In allen Plänen wird der Prävention durch Grippeimpfung ein grosses Gewicht beigemessen. In verschiedenen Arbeiten und Studien, welche vor allem in den USA durchgeführt wurden, konnte eindeutig gezeigt werden, dass eine Grip- 33 peimpfung wirksam ist und vor allem die Komplikationsrate drastisch senken kann. Die Zahl der schwer verlaufenden Grippefälle sinkt drastisch und das Gesundheitswesen kann entscheidend entlastet werden. Auch die Absenzen am Arbeitsplatz werden durch die präventive Impfung vermindert. So gesehen ist die Impfung die kostengünstigste Lösung, auch wenn sie jedes Jahr wiederholt werden muss. Es gibt heute verschiedene Typen von Impfstoffen, welche von ihrer Wirksamkeit her vergleichbare Resultate zeigen. Man unterscheidet folgende Typen: Parenterale Impfstoffe: «Split vaccines» sind Impfstoffe, welche aufgebrochenes Virus enthalten. «Subunit vaccines» sind Impfstoffe, welche gereinigte Oberflächenproteine des Virus enthalten. Virosomale Impfstoffe enthalten gereinigte Oberflächenproteine, welche in Liposomen eingebaut sind. Nasaler Impfstoff: Nasal applizierbarer Impfstoff, welcher die Virusproteine in liposomaler Form enthält. Wie schon erwähnt, sind die verschiedenen Impfstoffe im Hinblick ihrer Wirksamkeit vergleichbar. Hingegen weisen sie bezüglich Nebenreaktionen gewisse Unterschiede auf. Im Falle einer Pandemie wird es immer eine Phase geben, in welcher kein Impfstoff vorhanden sein wird. Die neuen Medikamente (Neuraminidasehemmer), welche kürzlich in den Handel gekommen sind, werden erlauben, die Grippeerkrankung spezifisch zu behandeln. Voraussetzung dazu ist aber, dass mit der Behandlung innerhalb 48 Stunden nach dem Auftreten der ersten Symptome begonnen wird. Die Wirksamkeit dieser Medikamente konnte in verschiedenen klinischen Studien belegt werden. Vor allem werden die Krankheitsdauer, die Absenz von der Arbeit, die Häufigkeit der Komplikationen und die Rate der Sekundärinfektionen reduziert. Eines der Medikamente kann auch zur Prävention eingesetzt werden. Die Neuraminidasehemmer ersetzten die Impfung nicht, sind aber in gewissen speziellen Situationen hilfreich, so zum Beispiel bei Ausbrüchen in Alters- und Pflegeheimen, wo man andere Insassen schützen will. Der Schutz dauert aber jedoch nur so lange als das Medikament eingenommen wird. Probleme Trotz sorgfältiger Planung können gewisse Fragen und Probleme nicht befriedigend im voraus gelöst werden. Es wird auch nicht leicht sein, eine Panik zu verhindern. Dies vor allem aus folgenden Gründen: Der Impfstoffhersteller kann aus technischen Gründen nur 34 Jeden Winter eine Grippeepidemie – wann folgt aber die nächste Pandemie? mit einer Verzögerung von 4 bis 6 Monaten Impfstoffe in genügender Mengen auf den Markt bringen. Die Produktion kann erst beginnen, wenn der Stamm zur Produktion freigegeben worden ist. In diesem Zeitraum ist es also nicht möglich, Personen gezielt durch eine Impfung zu schützen. Deshalb muss diese Periode anders überbrückt werden, z. B. durch die neuen Medikamente. Wenn deren Anwendung für diese Phase aber nicht im voraus geplant wird, sind auch diese im Notfall nicht in genügender Menge vorhanden, um den sprunghaft ansteigenden Bedarf weltweit zu decken. Wenn wir für eine solche Situation gewappnet sein wollen, bleibt noch einiges zu tun. Ziel muss es sein, ein wirksames Instrument in dem Moment zur Verfügung zu haben, da in unserem System nicht mehr alles wie gewohnt funktionieren wird. 35 Der praktische Fall Antrag Ein 37-jähriger, selbständig erwerbender Coiffeur, verheiratet, beantragte bei uns folgende Lebensversicherung auf Endalter 65: Gemischte Versicherung von 144 000 CHF, fällig im Todesoder Erlebensfall. Jährliche Erwerbsunfähigkeitsrente von 12 000 CHF mit einer Wartefrist von 24 Monaten. Prämienbefreiung bei Erwerbsunfähigkeit mit einer Wartefrist von 24 Monaten für den ganzen Vertrag. Der Antragsteller ist 172 cm gross und 65 kg schwer. Aus den Gesundheitsfragen ging hervor, dass er sich vor drei Jahren wegen einer Diskushernie einem Spitalaufenthalt unterzogen hatte. Nun sei die Behandlung der WirbelsäulenBeschwerden aber abgeschlossen und alles in Ordnung. Medizinischer Befund Nach dieser Selbstdeklaration haben wir mittels Arztanfrage und speziellen Fragen zur Wirbelsäule den behandelnden Arzt um zusätzliche Informationen gebeten. Beim lumboradikulären Syndrom L5/S1 mit medialer Diskushernie L4/5 konnte mit einer konservativen Behandlung eine Besserung erreicht werden. Gleichzeitig erfuhren wir aber auch, dass zufällig eine minimal aktive, chronisch aggressive Hepatitis C entdeckt und durch eine Leberbiopsie bestätigt wurde. Auf eine Interferon- Behandlung hat der Patient nicht angesprochen. Versicherungsmedizinische Beurteilung Nun trat für uns das WirbelsäulenProblem in den Hintergrund. Denn jetzt ging es primär darum, die möglichen Folgen einer HepatitisC-Virus(HCV)-Infektion aus der Sicht des Versicherers zu beurteilen. Dabei handelte es sich um eine eindeutige Anzeigepflichtverletzung des Antragstellers. Da die chronisch aggressive Hepatitis C durch eine Leberbiopsie bestätigt war, gingen wir davon aus, dass sich innerhalb der Vertragsdauer von 28 Jahren mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Leberzirrhose oder ein LeberzellKarzinom (HCC) entwickeln wird. Somit mussten wir diesen Antrag ablehnen. Kommentar Bei der Infektion durch das HCV handelt es sich um eine schwerwiegende Erkrankung mit möglicherweise erheblichen Konsequenzen bei der Tarifierung in der Lebensversicherung. Seit 1990 werden alle Blutspender routinemässig auf Hepatitis-C-Antikörper getestet. Seither sind die Neuinfektionen deutlich rückläufig. Heute erfolgt die Ansteckung durch infizierte Spritzen und häufig wechselnden, ungeschützten sexuellen Kontakt. Die Safer-SexKampagne und die sterile Spritzenabgabe sind heute die wichtigs- Peter Suter, Winterthur 36 Der praktische Fall ten primären Präventionsmassnahmen. HCV-Infektionen verlaufen mehrheitlich klinisch unauffällig oder werden von unspezifischen Symptomen begleitet. Nur rund ein Viertel aller Infektionsfälle weisen das klinische Bild einer VirusHepatitis auf. Gerade in diesem «stummen» Verlauf der meisten Erkrankungen liegt einerseits die grundlegende Schwierigkeit einer genauen Beurteilung der Langzeitfolgen der Hepatitis C. Andererseits entsteht für den Versicherer ein generelles Risikopotential, da sich viele Antragsteller ihrer HCV-Infektion gar nicht bewusst sind. Schlussbemerkung Die Ablehnung wurde vom Antragsteller ohne weiteres akzeptiert. Inwieweit unser Entscheid im konkreten Einzellfall richtig war, kann anhand einer Verlaufskontrolle nicht nachgeprüft werden, da sich ein abgewiesener Antragsteller nicht mehr in unserem Versicherten-Bestand befindet und wir auch keine neuen Informationen mehr erhalten. Schweizerischer Versicherungsverband Association Suisse d’Assurances Associazione Svizzera d’Assicurazioni