Was bringt Rehabilitation bei Multipler Sklerose? Christian Dettmers, Konstanz Bringt Rehabilitation etwas bei Multipler Sklerose? Hierbei handelt es sich doch um eine chronische, in ihrem Defizit voranschreitende Erkrankung, deren Schädigungsverlauf sich im Allgemeinen durch Rehabilitation nicht ändern lässt. Dies ist sicherlich richtig in dem Sinne, dass sich die zunehmende Läsionslast durch eine Rehabilitation nicht ändern lässt. Möglicherweise können jedoch die Auswirkungen der Erkrankungen auf Alltagsaktivitäten, Beruf (Partizipation) und Lebensqualität 1 aufgefangen werden. Die Zielbestimmung in der Rehabilitation erfolgt entgegen dem Eindruck, der durch diese allgemein gehaltenen Bemerkungen entstehen könnte, immer individuell und zwar interdisziplinär und im Austausch mit dem Patienten. Vorteilhaft ist hierbei die SMART-Regel, die dazu anhält, Rehabilitationsziele möglichst spezifisch zu definieren, damit sie überprüfbar, realistisch auch hinsichtlich der zeitlichen Vorgabe, und für den Patienten bedeutungsvoll sind (specific, measurable, achievable, relevant, timed) 2. Eine Ausnahme von dem allgemeinen Rehabilitationsbedarf stellen möglicherweise Neuerkrankte dar. Bei ihnen geht es vor allem darum, mit der Diagnose zunächst zurechtzukommen. Eine Konfrontation mit vielen anderen Patienten, die weit vorangeschrittene Defizite haben, kann belastend sein. Ferner bilden sich die ersten Schübe häufig gut zurück. Insofern besteht nur in Ausnahmefällen ein Rehabilitationsbedarf bei Neubetroffenen, bei denen der erste Schub eine gute Rückbildungstendenz zeigt. Einige Rehabilitationseinrichtungen haben spezielle Schulungsangebote für Neubetroffene, in denen es vor allem darum geht, die MS zu erklären, die Sicherheit der Diagnose zu bestätigen oder Differenzialdiagnosen auszuräumen sowie die Frühbehandlung und ihre Möglichkeiten zu optimieren. Schulung · Aufklärung · Empowerment · Selbstmanagement Einen sehr wichtigen Teil der Rehabilitation stellen Vorträge zur Aufklärung über die Erkrankung mit ihren zahlreichen Themen dar. Diese Veranstaltungen werden von den Patienten überwiegend auch sehr gerne in Anspruch genommen. Eine Minderheit ist hervorragend informiert und sehr kompetent. Eine größere Zahl ist trotz der Chronifizierung in verschie- denen Bereichen unzureichend aufgeklärt. Insgesamt geht es darum, die Patienten zu stärken, ihr Selbstbewusstsein und auch ihre Eigenverantwortlichkeit und ihre Fähigkeit zum Selbstmanagement zu fördern 3- 5. Eigenverantwortung kann die Adhärenz erhöhen und erlaubt, die Therapie möglichst individuell zu gestalten. Blasenstörungen, Männergruppe, Frauengruppe Ein Themenbereich, der möglicherweise am häufigsten unterversorgt ist, sind die Blasenstörungen 6. Erstaunlich viele Patienten gewöhnen sich an ihre zunehmenden Blasenstörungen, empfinden sie als normal, teilweise auch als erheblich belastend, ohne dagegen etwas ausreichend tun zu können. Gerade dann ist es extrem hilfreich, wenn in einer Schulungsgruppe Patienten von positiven Erfolgen berichten und darstellen, wie viel Lebensqualität sie gewinnen, wenn das miktionsfreie Intervall von einer Stunde auf zwei Stunden oder sogar drei Stunden ausgedehnt werden kann. Auch ist es für viele Mitpatienten beeindruckend zu hören, dass einige Patienten ganz neue Lebensqualität dadurch gewonnen haben, dass sie das intermittierende Selbstkatheterisieren erlernt haben. Auch ist es wichtig für die Mitpatienten, zu hören, dass dies überhaupt nicht schwierig oder belastend sein muss. Darmträgheit ist ebenfalls ein weit verbreitetes Phänomen und Thema bei MS-Erkrankten. Sinnvoll ist es, zusätzliche Gruppen als Männergruppe oder Frauengruppe anzubieten, in denen veränderte Rollen oder Auswirkungen auf die Sexualität thematisiert werden können. Auch der Gebrauch eines Urinalkondoms ist nicht bei allen Männern, die potenziell davon profitieren könnten, bekannt. Sport Hier hat in den letzten Jahren ein radikales Umdenken stattgefunden. Während früher tendenziell den MS-Patienten eher von Belastungen abgeraten wurde, ist es heutzutage evident, dass Sport gerade zu Beginn der Erkrankung sehr sinnvoll ist, um ein hohes Ausgangsniveau hinsichtlich Gleichgewicht, Kraft, Ausdauer und Körperbeherrschung zu haben 7. Eine große Kunst besteht sicherlich darin, mittelgradig oder deutlich betroffenen MS-Patienten Möglichkeiten einer sportlichen Betätigung zu bieten 8. Dies kann im Einzelfall soweit gehen, rollstuhlpflichtigen Patienten ein Üben an der Kletterwand zu ermöglichen 9. Mittlerweile sind Metastudien auf dem Weg, den positiven Effekt körperlicher, regelmäßiger Aktivität auf den MS-Verlauf nachzuweisen 10, 11. Inwiefern hierzu möglicherweise auch eine ausgeglichene Psyche, die Reduktion von Stress oder positive Auswirkungen auf das Immunsystem mitbeteiligt sein könnten, ist ungewiss 12. neuro aktuell 6/2014 multiple sklerose 15 Fatigue neuro aktuell 6/2014 Fatigue ist ein komplexes Phänomen bei der MS. Konzepte zur Pathophysiologie sind nicht einheitlich und umfassen Phänomene wie die disseminierte Demyelinisation und axonale Schädigung, Reorganisation und Kompensationsvorgänge, Cytokine und andere immunologische/entzündliche Phänomene, hormonale Dysregulation insbesondere im Bereich der hypothalamisch-hypophysären Achse oder Leitungsblöcke 13, 14. Es lässt sich unterscheiden zwischen der subjektiven Komponente der Fatigue (Perzeption) und der objektiv messbaren Veränderung des Leistungsvermögens (Performance) 15. Ferner differenziert man zwischen Trait, einer Dauerkomponente der Fatigue, und einer State-Komponente, d. h. dem momentanen Erschöpfungszustand entsprechend, wie er insbesondere im Tagesverlauf spontan auftreten kann 16 oder durch Anstrengung provoziert 17, 18 werden kann 19. Die subjektive Komponente und die Trait-Komponente können vermutlich gut durch Patienten-Fragebogen abgebildet werden. Im deutschsprachigen Raum werden hierfür am häufigsten das Würzburger-Erschöpfungsinventar benutzt (WEIMuS 20) und die Fatigue-Skala für Kognition und Motorik 21. In Ergänzung zur motorischen und kognitiven Fatigue wird von psychosomatischer Seite auch eine Komponente der affektiven Fatigue vorgeschlagen 22. In Ergänzung zu den Selbstbefragungen der Patienten haben wir uns darum bemüht, Fatigue zu objektivieren. Kognitive Fatigue lässt sich durch Reaktionszeitmessung im Rahmen der TAP-Testbatterie abbilden. Die State-Komponente lässt sich vermutlich durch tageszeitliche Verläufe 16 oder durch Messungen nach standardisierter kognitiver Belastung 17, 18 abbilden. Motorische Fatigue lässt sich mittels Gangbildanalysen auf dem Laufband analysieren 23. Dies lässt sich z. B. durch eine Zunahme der Variabilität dokumentieren. Kinematisch lässt sich dies mittels Attraktor beschreiben; der Attraktor stellt nicht lineare Bewegungen bzw. die Variabilität in jedem Bewegungspunkt dar. In unserer Bewegungsanalyse benutzen wir eine nicht lineare Methode. Mit Hilfe des Attraktors und seiner Variabilität (Standardabweichung) können wir die Veränderungen im Gangbild bei MS-Patienten objektiv erfassen und bewerten. Hierfür haben wir den Fatigue-Index Kliniken Schmieder (FKS) eingeführt 24. Hinweise auf eine motorische Fatigue zeigen sich bereits dann, wenn sich eine abnorm kurze Gehstrecke von Patienten nicht durch das Ausmaß der Spastik, Parese oder Ataxie erklären lässt. Auch lässt sie sich anamnestisch bereits vermuten, wenn Patienten eine verkürzte Gehstrecke angeben und auf Nachfragen mitteilen, dass sie nach einer bestimmten Gehstrecke anfangen, ein Bein hinterher zu ziehen, einen Schlappfuß entwickeln oder ähnliches. Wichtig ist, dass der Kliniker bei der Angabe einer verminderten 16 Gehstrecke dies gedanklich mit dem neurologischen Defizit vergleicht und beim Patienten dann noch einmal gezielt nachfragt, was dann passiert bzw. warum er nicht weiter gehen kann. Probatorische medikamentöse Behandlungsversuche mit Amantadin, Modafinil, Vigil oder Antidepressiva wie Cipramil machen durchaus Sinn, haben häufig jedoch nur begrenzte Wirksamkeit 25. Nach einem Behandlungsversuch über 14 Tage ist der klinische Effekt für die Patienten normalerweise klar zu beurteilen. Fampyra®, das im Einzelfall auch die Fatigue verringern kann, hat hierfür leider noch keine Zulassung. Wichtig ist, Betroffene und vor allem Angehörige über die Fatigue aufzuklären und zu schauen, ob sich Verhaltensweisen verändern oder Tagesabläufe und betriebliche Anforderungen anders organisieren lassen 26. Ausdauertraining kann die Gehstrecke verlängern 27. Inwiefern es auch die Wahrnehmung der Fatigue, wie sie sich in den Selbstbefragungsbögen für Patienten darstellt, ändern lässt, ist umstritten 28, 29. Kognitive Defizite In den letzten Jahren ist zunehmend ins Bewusstsein getreten, dass mit der MS auch oft kognitive Defizite einhergehen 30. Sehr häufig sind Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, Gedächtnisstörungen und Minderungen der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Als Kliniker hat man den Eindruck, dass manche Patienten auch eine verminderte Selbstwahrnehmung oder verminderte Störungseinsicht haben, was sich in einem inadäquat heiteren (läppischen) Verhalten widerspiegeln kann. Dass die kognitiven Defizite bis zur Demenz fortschreiten, ist nicht die Regel, Sprachstörungen sind es ebenfalls nicht. Möglicherweise kann dies entlastend für Patienten sein. Auch sollten sie lernen, mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten und Gedächtnisschwierigkeiten durch Hilfsmittel, Pausen, strukturiertes Vorgehen, Gedächtnisbücher etc. zurechtzukommen. Kognitives Training ist für den einen oder anderen möglicherweise hilfreich, sollte m. E. üblicherweise jedoch auch von psychotherapeutischen Bemühungen begleitet werden. Relevant können die kognitiven Defizite bei der Frage der Fahreignung 31 werden. Hier können Aufmerksamkeitsstörungen relevant werden, eine Zunahme der Reaktionszeiten mit zunehmender Belastung (Fatigue bzw. abnorme Erschöpfbarkeit) und möglicherweise auch eine verzerrte oder unzureichende Selbstwahrnehmung. Andererseits betrifft es häufig junge Menschen, die durch ihre motorischen Einschränkungen schon deutlich eingeschränkt sind. Hier muss der Neurologe vor allem als Berater – nicht primär oder ausschließlich als Gutachter – tätig werden und unter Umständen auch durch Hinzuziehung geeigneter Tests, geeigneter Fachleute und entsprechender Beratung Modalitäten finden, um die Fahreignung des Patienten aufrecht zu erhalten. Vermutlich unzureichend ge- Krankheitsverarbeitung und psychiatrische Komorbiditäten Sehr häufig und eher unterversorgt sind psychiatrische Komorbiditäten. Die Prävalenz behandlungsbedürftiger Depressionen bei der MS liegt sicherlich über 50%. Wenn der Schwerpunkt der Störung in diesem Bereich liegt, sollte eine entsprechende Rehabilitationsklinik ausgewählt werden, die eine psychotherapeutische oder psychosomatische Abteilung für MS-Patienten vorhalten kann. Interessant ist sicherlich die Bedeutung des Stresses. Patienten schildern des öfteren ein gehäuftes Auftreten von Schüben in Zeiten der Stressbelastung (z. B. im Rahmen beruflicher Überbelastung oder von Partnerschaftskonflikten). Wissenschaftlich ist dies jedoch sehr schwierig nachzuweisen, da die Beziehung zwischen Stress und Schub wechselseitig sein kann. Erst der Nachweis einer Schubreduktion durch entsprechende verhaltenstherapeutische, stressreduzierende Konzepte würde einen Beleg dafür bieten 12, 33, 34. Schmerzbehandlung bei MS ist ebenfalls ein vielfältiges Problem 35. Motorische Einschränkungen / Gleichgewicht Im Verlauf der Erkrankung kommt es bei den meisten Patienten zu motorischen Einschränkungen beim Gehen oder der Feinmotorik 36. Häufig ist auch das Gleichgewicht beeinträchtigt. Gleichgewichtstraining zur Verhinderung von Stürzen, bevorzugt im Dualtask-Modus, spielt in der Rehabilitation eine wichtige Rolle. Alltagsaktivitäten können unterstützt und eingeübt werden – sei es bei Transferleistungen, An- und Ausziehen, Körperpflege oder Haushalt und Küche. Hilfsmittelberatung hinsichtlich Mobilität und anderes ist ein obligater Bestandteil der Rehabilitation. Berufstherapie Häufiges Anliegen der Rehabilitanden ist der Erhalt der Erwerbsfähigkeit. Hier muss zunächst eine differenzierte neuropsychologische Testung stattfinden, die abgeglichen wird mit den Arbeitsplatzanforderungen 37. Darauf aufbauend kann gezieltes berufstherapeutisches Training stattfinden, um Schwächen abzubauen. Parallel finden dazu Beratungen statt, um typische Schwierigkeiten zu lindern und die Bedingungen am Arbeitsplatz günstiger zu gestalten. Hierzu gehören natürlich Vermeidung von Mehrfachaufgaben und hohen zeitlichen Anforderungen, Absolvierung schwieriger Aufgaben in den Morgenstunden, regelmäßige Pausen, möglichst geräuscharme und störungsfreie Arbeitsplätze, möglicherweise Aufklärung von Vorgesetzten und Kollegen, um eine positive Arbeitsatmo- sphäre zu schaffen und das vielfach von Patienten empfundene Mobbing zu vermeiden. Auch Belastungserprobungen an entsprechenden Arbeitsstätten können sinnvoll sein. Sollte die Berufstherapie relevant sein, gilt es natürlich abzuklären, welche Einrichtung eine solche für handwerkliche oder kaufmännische Bereiche (Büro) vorhalten kann. Kraftschöpfen / Erholung Auch wird häufig von den Patienten genannt, dass sie ihre „Batterien auftanken“ müssen und dass dieser Effekt für einige Monate anhält und ihnen häufig hilft, durch das Jahr zu kommen. Dies kann ein Grund sein, Rehabilitationsmaßnahmen nicht unbedingt am Heimatort oder ambulant durchzuführen, sondern den Rehabilitanden zu „verschicken“, um ihn von Alltagsanforderungen wie Haushaltsführung, Kinder- und Familienversorgung zu entlasten. Allgemeines Die DGN führt regelmäßig auf ihrer Jahrestagung – bevorzugt Samstagvormittag – Kurse durch, wie entsprechende Rehabilitationsanträge zu formulieren sind. Hierbei kommt es darauf an, dem Kostenträger möglichst konkret – möglicherweise entsprechend der eingangs zitierten SMART-Regel – aufzulisten, welche konkreten Rehabilitationsziele zur Verbesserung der Partizipation verfolgt werden. Aus diesen Zielen sollte auch erkennbar sein, ob eine spezielle Schwerpunktsetzung der Klinik (z. B. Kompetenzzentrum für Multiple Sklerose, Psychotherapie oder Psychosomatik oder Berufstherapie) erwünscht oder vorteilhaft ist. In den letzten Jahren sind auch zunehmend Bemühungen zum Tragen gekommen, Evidenzen für die angewendeten Therapien zu finden 38, 39. Diesbezüglich hat sich besonders Thomas Henze verdient gemacht und neben den Empfehlungen für die symptomatischen Therapie auch Empfehlungen auf europäischer Ebene für die Rehabilitation herausgegeben 38. Metaanalysen sind teilweise schwierig, da die Therapien bzw. Studien sich in den verschiedenen Einrichtungen hinsichtlich Art, Umfang und Intensität unterscheiden. Trotzdem finden sich zunehmend mehr Nachweise auf eine Evidenzbasierung im Bereich des Sports, der allgemeinen körperlichen Betätigung, hinsichtlich motorischer Therapien, Schulungskonzepte, Empowerment, und symptomatischer Therapien. Eine Leitlinien-Kommission der DGNR hat sich soeben konstituiert, um Übersichtsarbeiten, Metaanalysen und Leitlinien für die Rehabilitation der Multiplen Sklerose zusammenzustellen. Literatur beim Verlag Prof. Dr. Christian Dettmers Kliniken Schmieder Konstanz Eichhornstraße 68, 78464 Konstanz Tel.: 07531 / 986 3537 · Fax: 07531 / 986 3155 E-Mail: [email protected] neuro aktuell 6/2014 nutzt sind dabei die Möglichkeiten von Auflagen hinsichtlich der Geschwindigkeit, der Entfernung, der Ortskenntnis oder der Sichtverhältnisse 32. 17