Neun Leitsätze zum Schwangerschaftsabbruch

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Theologische Kommission der
Schweizer Bischofskonferenz (Hrsg.)
Neun Leitsätze zum
Schwangerschaftsabbruch
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort .............................................................................................................................3
Einleitung: Die Situation werdender Mütter und Väter ....................................................4
Leitsatz 1: Die Kirche als Gesprächspartnerin..................................................................7
Leitsatz 2: Bibel und Tradition..........................................................................................8
Leitsatz 3: Die Entwicklung des Embryos aus Sicht der Naturwissenschaften ..............13
Leitsatz 4: Der moralische Status des Embryos ..............................................................16
Leitsatz 5: Die Schutzaufgabe des Staates. .....................................................................18
Leitsatz 6: Indikationen- und Fristenregelung in ethischer Sicht....................................22
Leitsatz 7: Arzt und nichtärztliches Personal..................................................................26
Leitsatz 8: Die familienpolitische Dimension.................................................................28
Leitsatz 9: Beratung ........................................................................................................31
Zusammenfassung...........................................................................................................33
Weiterführende Literatur.................................................................................................34
Abkürzungen ...................................................................................................................37
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Vorwort
Die Schweizer Bischofskonferenz hat im Namen der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit Stellung zu beziehen, wenn politische Entscheidungen anstehen, die wichtige
ethische Fragen betreffen. Damit sollen der Gesamtgesellschaft keine Überzeugungen
aufgedrängt werden, die sie nicht teilt. Aber der Standpunkt der katholischen Kirche in
Dingen, die ihr für ein gutes und glückliches Zusammenleben in der schweizerischen
Gesellschaft wichtig erscheinen, muss neben den vielen andern Stimmen auch gehört
werden. Sie hat einen gewichtigen Beitrag zur öffentlichen Diskussion in solchen Materien zu leisten.
Die Schweizer Bischöfe verfügen über einen Beraterkreis in theologischen Fragen, die
für die gesamte Öffentlichkeit von Bedeutung sind, die Theologische Kommission, die
aus Theologen und Theologinnen in der Schweiz zusammengesetzt ist. Mit ihrem Fachwissen beraten sie die Bischöfe in der Reflexion über Zusammenhänge, die vielschichtig und schwierig zu beurteilen sind.
In der anlaufenden neuen Diskussion über die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs hat die Theologische Kommission eine besondere Arbeitsgruppe unter
der Leitung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Münk (Universität Luzern) gebildet. Diese hat
Leitsätze zuhanden der Schweizer Bischofskonferenz erarbeitet. Es schien den Bischöfen nützlich, diese gründliche Reflexion über die wesentlichen Aspekte der verschiedenen gesetzlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs in überarbeiteter Fassung
einem weiteren Publikum zugänglich zu machen, damit es sich insbesondere über die
ethischen und theologischen Argumente aus erster Hand informieren kann. Das ist der
Grund für diese Publikation.
Die Bischöfe, die Theologische Kommission und die zuständige Arbeitsgruppe hoffen,
dass die vorliegenden Leitsätze und Begründungen dazu beitragen, dass die Anliegen
der katholischen Kirche in dem so schwierigen Feld des Schwangerschaftsabbruchs besser bekannt und verstanden werden.
Adrian Schenker OP
Präsident der Theologischen Kommission
der SBK
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Einleitung: Die Situation werdender Mütter und Väter
Wenn sich die Kirche an Frauen und Männer wendet, die persönlich mit der
schwierigen und komplexen Problematik des Schwangerschaftsabbruchs konfrontiert sind, hat sie in erster Linie auch die Situation der unmittelbar Betroffenen
vor Augen. Diese versucht die vorliegende Einleitung ins Wort zu bringen, während die folgenden Leitsätze eher die objektiven Umstände des Problembereichs
und die sich daraus ergebenden Folgerungen betrachten.
Die Vielgestaltigkeit der Elternschaft
Das Leben jeder Frau ist durch ihre körperlichen, intellektuellen, emotionalen und spirituellen Dimensionen geprägt. Indem es ebenso im Bewussten wie im Unbewussten
verankert ist, vollzieht sich dieses Leben als Prozess des Wachstums, der Veränderung
und der Reifung. Der Partner begleitet auf seine Weise die Frau auf diesem Lebensweg.
Jede Frau, die ihre Sexualität zusammen mit ihrem Partner lebt, kennt die Angst vor
einer ungewollten Schwangerschaft; abgesehen von der Sterilisierung und der Enthaltsamkeit gibt es kein hundertprozentig sicheres Mittel der Verhütung. Ebenso wie die
Furcht vor einer Vergewaltigung ist die Angst vor einer Schwangerschaft eine für
Frauen typische Erfahrung, die dramatische Ausmasse annehmen kann.
Die verschiedenen Verhütungsmethoden müssen von der Abtreibung unterschieden
werden. Diese Präzisierung ist auch wichtig für die öffentlichen Stellungnahmen der
Kirche.
Von seinen frühesten Anfängen bis zum letzten Moment ist das Leben unvorhersehbar
und nicht kontrollierbar. Paare die ungewollt ohne Kinder bleiben, ohne dass eine medizinische Ursache erkennbar wäre, sind dafür nur ein Beispiel.
Bei der Zeugung neuen Lebens spielen neben bewussten vor allem auch unbewusste
Faktoren eine grosse Rolle. Trotz der verbreiteten Kenntnisse über Verhütungsmethoden bleibt der oft unbewusste Wunsch nach einem Kind lebendig. Unvorsichtiger Geschlechtsverkehr trotz aller Aufklärung und Sexualerziehung ist häufig darauf zurückzuführen.
Frauen, die ein Kind gewollt haben, sind oft überrascht über ihre eigenen Reaktionen,
wenn sie merken, dass sie schwanger sind: Gefühle der Angst, der Ablehnung, der Unfähigkeit, ja sogar Aggression können Freude und Dankbarkeit trüben. Diese Ambivalenz ist natürlich noch stärker bei Frauen, die ungewollt schwanger werden.
Für den Partner ist eine – gewollte oder ungewollte – Schwangerschaft immer auch eine
Verunsicherung. Innerhalb einer wirklichen Liebesbeziehung kann eine ungewollte
Schwangerschaft leichter angenommen werden. Wenn aber die Beziehung zerbrechlich
und konfliktbeladen ist, wird das ungeborene Kind schneller zurückgewiesen – wie
wenn es gar nicht existierte. Damit ein Paar eine ungewollte Schwangerschaft akzeptieren kann, ist eine respektvolle Beziehung zwischen Mutter und Vater die unabdingbare
Voraussetzung.
Mutter werden
Zusammen mit dem ungeborenen Kind und zutiefst mit ihm verbunden, durchläuft die
schwangere Frau verschiedene aufeinander folgende Stadien: Sie entdeckt das Ausbleiben der Monatsregel, die Schwangerschaft wird durch den Arzt festgestellt, die werden-
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de Mutter verändert sich physisch und psychisch, Übelkeiten treten auf, sie verspürt die
ersten Bewegungen des Kindes, Gewichtszunahme, Ultraschalluntersuchungen, vielleicht kann sie das Geschlecht des Kindes erkennen, Schwierigkeiten bei bestimmten
Bewegungen, Wehen, Geburt: Alle diese Stadien stellen Herausforderungen für die
Frau dar, Prüfungen, und werfen Fragen auf.
Die Frau beginnt Mutter zu werden vom Zeitpunkt der Empfängnis an, und sie muss
Schritt um Schritt in diese neue Verantwortung hineinwachsen. Die neue Identität als
Mutter – wie auch als Vater – muss immer tiefere Wurzeln schlagen, und dieser Prozess
setzt sich nach der Geburt fort, während des ganzen Lebens.
Indem die Frau das ungeborene Kind trägt, ist sie die Erstbetroffene. Auch wenn das
Kind von Vater und Mutter stammt, wird doch die Abtreibung als Problem der Frau
angesehen. Früher wurden Frauen, die abgetrieben haben, verachtet und bestraft. Heute
besuchen Frauen meistens alleine den Arzt, um einen Schwangerschaftsabbruch zu
verlangen.
Viele Frauen wollen diese Entscheidung unabhängig vom Vater des Kindes treffen und
sprechen mit ihm nicht darüber. Andere werden vom Partner oder auch von der Umgebung unter Druck gesetzt, die Schwangerschaft abzubrechen. Diesen Druck sieht man
von aussen nicht. Männer werfen ihren Partnerinnen oft vor, für die eingetretene
Schwangerschaft verantwortlich zu sein: „Du hättest aufpassen müssen!“ – denn was in
ihrem Körper geschieht, ist ihr Problem. Man könnte sich leicht andere Rechtsbestimmungen vorstellen, wenn neben den Frauen auch Männer Kinder zur Welt bringen
könnten!
Begleitung
Wenn ein Paar oder auch eine alleinstehende Frau sich vor die dramatische Frage einer
Abtreibung gestellt sieht, genügt es nicht, objektive Werte zu betonen und den Vorrang
des Lebensrechts des ungeborenen Kindes in den Vordergrund zu stellen. Für die betroffenen Personen sind vor allem subjektive Werte ausschlaggebend. Und man sollte
nicht vergessen, dass solche Überlegungen meist in einem Kontext des Zeitdrucks und
der Verwirrung erfolgen.
Verschiedene Fragen tauchen in solchen Momenten auf: Wer kann die Frau oder das
Paar verstehen und sie unterstützen, ohne sie im Voraus zu verurteilen? Wer kann ihnen
mit Rat und Tat vor und nach der Geburt helfen? Solche Fragen müssen in Gegenwart
von Menschen gestellt werden können, die die Betroffenen anzunehmen und kompetent
zu beraten wissen. Solche Menschen haben das Herz, Frauen und Paare zu begleiten,
mit ihnen eine Entscheidung zu finden, echte Hilfestellungen zu geben und dem Leben
neue Perspektiven zu eröffnen.
Jedes Paar, jede Frau hat ihre eigene Geschichte und ihre eigene Zukunftsperspektive.
Eine Moralpredigt hingegen wird sie oft nicht ansprechen, sondern läuft im Gegenteil
Gefahr, sie zurückzustossen und in ihrer Einsamkeit allein zu lassen.
Erziehung zur individuellen und gemeinsamen Verantwortlichkeit muss früh beginnen;
sie beschränkt sich nicht auf Fragen der Sexualität und der Empfängnisverhütung. Im
Gegensatz zu dem, was man glauben möchte, wird die Verantwortung bei weitem noch
nicht bei allen Paaren gemeinsam wahrgenommen, erst recht nicht bei der Verhütung.
Erziehung zur Verantwortlichkeit zielt auf den Respekt vor dem Gewissen, dem Selbstwert und dem Wert des Partners bzw. der Partnerin – vor sich und vor dem oder der anderen. In der Kirche muss dieser Respekt schon vom Religionsunterricht an gefördert
werden, ebenso wie in Jugendgruppen und in der Ehevorbereitung und -begleitung.
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Diese innere Stimme des Gewissens zu erziehen und ihren Ausdruck im Gespräch mit
dem Paar zu fördern, wäre besser geeignet, die Familien zu stärken, als auf Strafen zurückzugreifen. Diese innere Stimme kann nicht ersetzt werden durch äusseren Druck.
Wer als Partner in einer Beziehung wirklich seinen Platz einnehmen kann, wird besser
akzeptieren können, Vater oder Mutter zu werden und dieser Aufgabe auch treu zu bleiben.
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Leitsatz 1: Die Kirche als Gesprächspartnerin
Wenn es um die Neugestaltung der rechtlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch geht, versteht sich die Kirche als kritische Gesprächspartnerin der
anderen gesellschaftlichen Gruppen und der staatlichen Instanzen und Organe. Sie
respektiert deren Eigenstruktur und Eigenverantwortung. Die eigene Kompetenz
der Kirche liegt primär in der theologisch-ethischen, anthropologischen und sozialen Dimension der Problematik. Sie orientiert sich an den verbindlichen Quellen
ihrer Verkündigung, also an der Bibel, an der kirchlichen Tradition und insbesondere an den einschlägigen lehramtlichen Entscheidungen und an den Beiträgen der
Theologie. Sie nimmt die Resultate der natur- und medizinwissenschaftlichen Forschung zur Entwicklung des menschlichen Embryos zur Kenntnis (vgl. Leitsatz 3).
Sie ist bestrebt, für ihre Gesprächsbeiträge eine Form zu finden, die den heutigen
kulturellen und soziologischen Gegebenheiten in einer pluralistischen Gesellschaft
mit ihrer spezifischen Rechtskultur Rechnung trägt.
Welche Position nimmt die katholische Kirche in einem weltanschaulich neutralen, säkularen Staat der Gegenwart ein? Diese Frage stellt sich mit besonderer Dringlichkeit,
wenn es um die kirchliche Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs und seiner rechtlichen Regelung geht. Die Weltverantwortung der Kirche verlangt auch eine Auseinandersetzung mit der spezifisch juristischen Seite der Abtreibung. Der Schwerpunkt ihres
Engagements liegt aber zunächst auf der Ebene des christlich-theologischen Menschenbildes und der Grundwerte, die sich daraus ergeben. Dabei ist es ein besonderes Anliegen der Kirche, einer Verkürzung der Gesamtproblematik auf rein juristische, utilitaristische oder pragmatische Aspekte entgegenzuwirken.
Die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs wirft in jedem Fall Grundsatzfragen
des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf, z. B. nach der Bedeutung menschlichen
Lebens, nach der Grenze des Selbstbestimmungsrechtes, nach der Achtung des Lebensrechtes anderer und der Schutzaufgabe des Staates (vgl. Leitsätze 4–6). Wenn die Kirche an der öffentlichen Diskussion über die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs teilnimmt, will sie sich vor allem dafür einsetzen, dass auch über solche Fragen angemessen diskutiert wird.
Daneben verlangt die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Position auf jeden Fall auch einen entsprechenden, konkreten familienpolitischen Einsatz (vgl. Leitsatz 8). Generell
müssen alle kirchlichen Stellungnahmen zum Problemkreis Schwangerschaftsabbruch
eine ausgeprägte Sensibilität für die hauptsächlich betroffenen Personen und Gruppen
erkennen lassen (vgl. die Einleitung und Leitsatz 7). Erst zum Schluss ist dann auch die
Frage zu prüfen, ob und inwieweit ein Beratungsmodell mit Pflichtcharakter von kirchlicher Seite unterstützt werden könnte (vgl. Leitsatz 9).
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Leitsatz 2: Bibel und Tradition
Das biblische Zeugnis zur Abtreibung ist weit reichhaltiger, als die spärlichen Aussagen, die sich unmittelbar darauf beziehen, auf den ersten Blick vermuten lassen.
Im Licht der biblischen Schriften erscheint der Schwangerschaftsabbruch als Tötung eines Lebens, dessen Entstehen und Werden von Gottes liebender Zuwendung begleitet wird. Die theologische Tradition setzt denn auch mit einer entschiedenen und harten Ablehnung der Abtreibung ein, nimmt aber im Lauf der Jahrhunderte unter dem Einfluss aussertheologischer Faktoren teilweise differenzierende Bewertungen vor. Auch die disziplinarischen und kirchenrechtlichen Beschlüsse der Kirche setzen ab Beginn des 4. Jahrhundert mit sehr harten Bestimmungen ein und weisen dann in der Folgezeit gewisse Schwankungen und Wertungsunterschiede auf, die zu einem beträchtlichen Teil ebenfalls auf aussertheologischen Annahmen basieren. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass die theologische
und die lehramtliche Tradition wie auch die Buss- und Strafrechtsgeschichte der
Kirche den Tatbestand der Abtreibung als sehr schwerwiegende Handlung betrachteten: als Übertretung des biblischen Tötungsverbots.
Das biblische Zeugnis
Die einzige unmittelbar auf die Abtreibung bezogene Aussage findet sich in Ex 21, 22–
25. Im hebräischen Urtext bleibt diese Exodus-Stelle aber wenig aussagekräftig, weil sie
nur einen Spezialfall (fahrlässige Tötung der Leibesfrucht) betrifft und diesen als Schadenersatzproblem behandelt. Die Formulierung „weiterer Schaden“ (Ex 21,23) scheint
auf den Tod der werdenden Mutter bezogen zu sein. Demzufolge gilt die Aufforderung
zur Anwendung des Talionsgesetzes (die Strafe entspricht dem Schaden) nicht speziell
der Bestrafung der Abtreibung.
Der wesentliche Grund für diese spärlichen Auskünfte im Alten Testament dürfte darin
liegen, dass im damaligen Israel das Abtreibungsproblem nicht akut war: Kinderreichtum galt als Segen Gottes, Kinderlosigkeit hingegen als Fluch. Doch die SeptuagintaÜbersetzung von Ex 21,22–25, die die spätere Theologie vielfach beeinflusst hat, nimmt
bereits eine (im hebräischen Urtext so nicht vorfindliche) Interpretation in Richtung auf
eine Sukzessivbeseelungstheorie vor; dabei tönt das für die spätere theologische Reflexion und die kirchenrechtliche Praxis wichtige Unterscheidungskriterium von „ungeformtem“ und „geformtem“ Fötus an (vgl. die folgenden Abschnitte).
Indirekt bedeutsam für die Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs sind jedoch zahlreiche Stellen, die das ungeborene menschliche Leben als Adressaten von Gottes Wirken, Schutz und liebender Fürsorge hervorheben (vgl. Ps 139,13–17; Ps 71,6; Ps 22,11;
Jer 1,4f; Jes 46,3; Ijob 10,8–12; Weish 7,1f; 2 Makk 7,22f). „Bevor ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt; bevor du aus dem Mutterschoss hervorgingst, habe
ich dich geheiligt“ (Jer 1,5f): Eine solche Zuwendung Gottes zum werdenden Kind wird
erst im Kontext der gottebenbildlichen Erschaffung des Menschen (Gen 1,26f) voll verständlich. Mit dieser Würdeaussage verbunden ist das im Neuen Testament ebenfalls
explizit bekräftigte 5. Gebot des Dekalogs (vgl. Gen 9,6; Dt 5,17; Ex 20,13; Mk 10,19;
Röm 13,9): „Du sollst nicht töten!“. Die Evangelien betonen die zärtliche Zuwendung
Jesu zu Kindern, erzählen, wie er sie in den Mittelpunkt stellt und zum Kriterium des
Lebens der Gemeinde erklärt: „Wer eines von solchen Kindern aufnimmt, nimmt mich
auf“ (vgl. Mk 9,36f.42; Lk 9,48; Mt 18,1–6). Und ganz natürlich werden auch die ersten
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Bewegungen des werdenden Menschen im Leib der Mutter erwähnt, wie eine Episode
aus der Kindheitsgeschichte Johannes des Täufers zeigt (vgl. Lk 1,41.44).
Theologiegeschichtliche Weichenstellungen
Die frühesten nachbiblischen Zeugnisse aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts – Didache 2,2; 5,2 (um 100 n. Chr.), Barnabasbrief 19,5 (ca. 131 n. Chr.) – verurteilen die
Abtreibung generell und nicht nur im Sinne des Spezialfalls von Ex 21 als Mord; dabei
dürfte die laxe Haltung der heidnischen Umgebung ein wichtiger Anlass für diese rigorose Position gewesen sein. Ein Zeugnis des christlichen Philosophen Athenagoras einige Jahrzehnte später (Bittschreiben an Kaiser Marc Aurel; 177 n. Chr.) setzt die allgemeine Verurteilung der Abtreibung als Mord bereits als christliches Allgemeingut voraus. Mit Tertullian (160–220) beginnt dann eine lange Tradition von teilweise subtilen
Differenzierungen: Einerseits setzt auch er Abtreibung mit Mord am geborenen Menschen gleich; andererseits beschränkt er dieses harte Verdikt unter dem Einfluss der
Septuaginta-Übersetzung von Ex 21,22–25 auf den bereits ausgebildeten, d. h. geformten Fötus. Tertullian ging übrigens auch schon auf die heute so genannte vitale Indikation ein: Er bezeichnet einen entsprechenden ärztlichen Eingriff zur Rettung der Mutter
nicht als Mord. Tertullians Unterscheidungen setzen sich indes zunächst nicht durch. –
Die frühkirchlichen Synoden und Konzilien nehmen die Unterscheidung zwischen geformtem und nichtgeformtem Fötus nicht auf, obwohl immerhin Augustinus sie akzeptiert.
Mit Tertullian beginnen auch die lange anhaltenden Auseinandersetzungen über die
Frage, wer die Seele des werdenden Menschen „erschafft“. Gemäss Generatianismus
und Traduzianismus wird die menschliche Seele beim Zeugungsakt aus der Seele der
Eltern bzw. nur des Vaters erzeugt (lat.: generare) oder übertragen (lat.: traducere). Der
Traduzianismus hegte darüber hinaus die Vorstellung, dass alle menschlichen Seelen
einmal in Adam „versammelt“ waren und im Laufe der Generationenfolgen auf die einzelnen Menschen übertragen wurden. Gemäss dieser Position erhält die menschliche
Leibesfrucht im Moment der Empfängnis eine Geistseele, ist also von Anfang an im
Vollsinn Mensch. Die Vertreter des Kreatianismus hingegen sind der Auffassung, dass
die Seele entweder beim Zeugungsakt oder zu einem späteren Zeitpunkt von Gott unmittelbar aus dem Nichts erschaffen (lat.: creare) und dem werdenden Leben „eingestiftet“ wird.
Tertullians traduzianistischer Sichtweise schlossen sich Hieronymus (347–420) und
Gregor von Nyssa (335–399) an. Clemens von Alexandrien (150–215) und Laktanz
(250–325) waren entschiedene Vertreter des Kreatianismus: Die Geistseele wird von
Gott im Augenblick der Empfängnis erschaffen. Augustinus (354–430) entschied sich
nicht eindeutig für eine dieser beiden Positionen. Thomas von Aquin (1225–1274)
sprach sich für die kreatianistische Sicht aus, weil eine unsterbliche Seele nicht von
sterblichen Wesen gezeugt werden könne. Die menschliche Seele werde in ihrer Individualität von Gott eigens erschaffen und der Leibesfrucht „eingegossen“, wenn sie einen
angemessenen körperlichen Entwicklungsstand erreicht habe (vgl. Sth I q. 90; q. 118;
II-II q. 64 a. 1): „Der Geist wird mit der Erschaffung beseelt und mit der Beseelung
erschaffen“. Den Zeitpunkt dieses Entwicklungsstandes bestimmt er – einer verbreiteten
Auffassung der Antike und des Mittelalters folgend – für männliche Föten um den 40.
Tag, für weibliche um den 80./90. Tag. Erst ab diesem Zeitpunkt erfüllt die Abtreibung
den Tatbestand einer Tötung des Menschen oder sogar des Mordes wirklich. Doch auch
für die vorangehende Phase ist die Tötung der Leibesfrucht für Thomas von Aquin
schwer sündhaft.
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Albertus Magnus (1200–1280) hingegen war ein Gegner der aristotelischen Sukzessivbeseelungstheorie und betrachtete das Ungeborene als Mensch von Anfang (Empfängnis) an. Die von Thomas favorisierte Sukzessivtheorie überlebte indes teilweise bis in
die Neuscholastik des 19. Jahrhunderts hinein. Ebenfalls im Gefolge von Thomas von
Aquin verfeinerte die Moraltheologie noch gewisse Aspekte der Problematik insbesondere in Bezug auf die Frage, ob eine therapeutische Abtreibung als erlaubt betrachtet
werden könne, und in der Frage der Unterscheidung zwischen direkt und indirekt gewollter Abtreibung.
Die anschliessenden naturwissenschaftlichen und medizinischen Entdeckungen und
Forschungen veränderten die Rahmenbedingungen dieser Thematik allerdings enorm.
Wir gehen auf sie in den folgenden Leitsätzen 3 und 4 ein.
Ein Fazit aus den geschichtlichen Notizen lässt sich bereits jetzt ziehen: In der Frage, ab
wann nach der Empfängnis von einem Menschen gesprochen werden muss, spielen Kriterien (chronologisches: 40./80. Tag; morphologisches: ungeformt/geformt; ontologisches: substantielle Einheit aus Leib und Geistseele) eine Rolle, die teilweise sehr stark
von aussertheologischen Faktoren beeinflusst waren. Dies trifft auch auf die neuere Debatte zu.
Abtreibung im Spiegel der kirchlichen Buss- und Strafbestimmungen
Eine erste Bestimmung in der kirchlichen Bussdisziplin bezüglich Schwangerschaftsabbruch stammt von der Synode von Elvira (306), die als Strafe für eine vorsätzliche Abtreibung nach Ehebruch für Christinnen einen lebenslangen Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft vorsieht. Dabei wird keinerlei Unterscheidung im Sinne verschiedener Entwicklungsstadien des Fötus (beseelt/unbeseelt, geformt/ungeformt, lebendig/nicht lebendig) vorgenommen. An dieses Vorgehen halten sich grundsätzlich auch
die nachfolgenden Kirchenversammlungen, die allerdings das Strafmass deutlich reduzieren; so setzt die Synode von Ancyra (314) ein Strafmass von zehn Jahren Ausschluss
aus der Kirchengemeinschaft fest; danach ist eine Wiederaufnahme gemäss den Stufen
der damaligen Bussordnung möglich. Die Synode von Lerida (524) reduziert die Zeitspanne des Ausschlusses auf sieben Jahre. Diese Milderung ist indes nicht auf eine
Rücknahme der Verurteilung von Abtreibung als Mord zurückzuführen; sie dürfte weit
mehr auf pastoralen Überlegungen beruhen. In anderer Hinsicht hat nämlich die Synode
von Lerida die bestehende Praxis verschärft, insofern sie den beteiligten Mann in die
Strafe einbezog und mitwirkende Kleriker zusätzlich mit Amtsverlust bestrafte. Ausserdem wurden nun erstmals jene Mitwirkenden, welche für die Abtreibungsmittel sorgten,
mit lebenslangem Ausschluss bestraft. Das 3. Konzil von Konstantinopel (680/681)
bestätigte im Wesentlichen die Bestimmungen von Ancyra; ähnlich verfuhren mehrere
Synoden der mittelalterlichen Reichskirche (z. B. Mainzer Synode 847, Wormser Synode 868).
Eine wichtige Quelle für die kirchliche Bewertung der Abtreibung im Mittelalter stellen
sodann die Pönitentialbücher des 7.–11. Jahrhunderts dar. Diese verbindlichen Leitfäden für die Verwaltung des Busssakramentes folgen im Wesentlichen meist den Bestimmungen der Synode von Ancyra. Allerdings taucht nun in einigen dieser Bussbücher erstmals in einem kirchenamtlichen Dokument die Unterscheidung zwischen beseelter und unbeseelter Leibesfrucht auf, wobei man als Unterscheidungskriterium bzw.
als „Stichtag“ in der Regel – entsprechend einer Hauptströmung der antiken griechischen Philosophie – den 40. Tag nach der Empfängnis angab. In diesen Büchern galt
nur die Abtreibung eines bereits beseelten Fötus als Mord. Daraus darf aber nicht der
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Schluss gezogen werden, dass die Abtreibung eines unbeseelten Fötus als erlaubt betrachtet worden wäre; sie galt durchaus als busswürdige Verfehlung.
Eben diese Unterscheidung zwischen unbeseeltem und beseeltem Fötus findet auch Eingang in die ab dem 12. Jahrhundert entstehende Sammlung des kirchlichen Rechts
(Corpus Juris Canonici): Das Decretum Gratiani (um 1140) begrenzt die von selbst eintretende Exkommunikationsstrafe auf die vorsätzlich erfolgte Abtreibung eines lebendigen bzw. beseelten Fötus. Demgegenüber drohen die Partikularkonzilien des 13. bis 16.
Jahrhunderts diese kirchliche Höchststrafe wiederum ohne Unterscheidung von Entwicklungsstadien an. Deutlich hervorgehoben werden hier auch wieder verschiedene
Kategorien von Mitwirkenden sowie zusätzliche Strafen für Kleriker bzw. das Zustandekommen eines Weihehindernisses im Falle einer qualifizierten Mitwirkung.
Für die Gesamtkirche hat Papst Sixtus V. in der Bulle „Effraenatam“ (1588) jede vorsätzliche Abtreibung (ohne Unterscheidung zwischen beseelt und unbeseelt) unter die
kirchliche Exkommunikationsstrafe gestellt. Aus diesem Dokument stammt auch die
klassische, heute allerdings nicht mehr anwendbare kirchenrechtliche Definition von
Abtreibung: „eiectio foetus immaturi“ (Auswerfung des unreifen Fötus). Schon drei
Jahre später führt aber Gregor XIV. das Unterscheidungskriterium von beseelt und unbeseelt wieder ein. Erst Pius IX. schafft 1869 in der Bulle „Apostolicae Sedis“ definitiv
dieses Unterscheidungskriterium ab: Alle, die sich eines vorsätzlich durchgeführten
(„erfolgreichen“) Abtreibungsvergehens schuldig machen, ziehen sich die Kirchenstrafe
der Exkommunikation „latae sententiae“ (die Strafe tritt mit der Tat ein) zu. In dieser
Härte geht diese Bestimmung auch in das kirchliche Gesetzbuch, den Codex Iuris Canonici (CIC) von 1917 (cc. 2350 § 1; 985 n. 4) ein.
Der CIC von 1983 bestätigt (in cc. 1398, 1041 n. 4, 695) mit einigen Modifikationen,
die aber nicht die grundsätzliche Beurteilung berühren, die vorangehende Theorie und
Praxis: Auf eine vorsätzlich erfolgte Abtreibung steht die schwerste Kirchenstrafe für
alle effektiv Beteiligten. Soweit derzeit kirchenjuristische Reform- oder weitere Modifikationsbestrebungen erkennbar sind, betreffen sie weniger diese Beurteilung selbst, als
vielmehr eine Reihe von neuen Interpretationsfragen, die – trotz einer klärenden Intervention des für die authentische Interpretation des CIC zuständigen Rates in Rom
(1988) – vor allem im Zusammenhang mit den rasanten neuen medizinischen und technischen Zugriffsmöglichkeiten auf menschliche Embryonen (z. B. „verbrauchende“
Embryonenforschung, erweiterte Überlebensmöglichkeiten für Föten) entstanden sind.
Verlautbarungen des Lehramts
Die päpstlichen Lehräusserungen zum Schwangerschaftsabbruch im 20. Jahrhundert
führten die strenge Linie der Tradition (vor allem Sixtus V. und Innozenz XI. im 16.
und 17. Jahrhundert) auf dem Hintergrund der zunehmenden naturwissenschaftlichembryologischen Kenntnisse weiter. Im 20. Jahrhundert setzte sich Pius XI. im Sinne
einer solchen Lehrkontinuität mit den verschiedenen modernen Indikations-Modellen
auseinander (vgl. Enzyklika „Casti Connubii“ von 1930, DH 3719–3721). Pius XII. äusserte sich mehrfach zur Abtreibungsfrage, am deutlichsten vielleicht in einer Ansprache
vor der italienischen Ärztevereinigung vom Hl. Lukas im November 1944; in ihr
schloss er jeden als Zweck oder als Mittel zum Zweck durchgeführten Schwangerschaftsabbruch kategorisch aus. Johannes XXIII. hob das von Anbeginn an auf Gottes
schöpferisches Wirken angewiesene Leben des Menschen als „heilige Sache“ hervor
(Enzyklika „Mater et Magistra“ von 1961, DH 3953). Das II. Vatikanische Konzil verurteilte in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ den Schwangerschaftsabbruch als
„verabscheuungswürdiges Verbrechen“ (Art. 51). Unter Paul VI. veröffentlichte die
Glaubenskongregation am 18. November 1974 ihre Erklärung über den vorsätzlichen
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Schwangerschaftsabbruch (das Adjektiv „vorsätzlich“ fehlt meist in deutschen Übersetzungen; es ist aber im entsprechenden lateinischen Wort procurare bereits impliziert).
Diese Erklärung, die sich u. a. mit neuen naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen und aktuellen Tendenzen einer Aufweichung des Lebensschutzes von Anfang an
befasst, kommt zum Schluss: „Selbst wenn darüber ein Zweifel bestehen sollte, ob die
Frucht der Empfängnis schon eine menschliche Person sei, so bedeutet es doch objektiv
eine schwere Sünde, das Risiko einer Tötung einzugehen“ (Nr. 13). In einer eigenen
Anmerkung unterstreicht diese Deklaration im Übrigen nachdrücklich, dass sie „die
Frage nach dem Zeitpunkt der Eingiessung der Geist-Seele beiseite lässt“.
Die Glaubenskongregation hat später in ihrer Instruktion „Donum Vitae“ (22. 2. 1987)
den ethischen Grundmassstab zur Beurteilung jeglichen Umgangs mit entstehendem
menschlichem Leben folgendermassen zusammengefasst: „Ein menschliches Geschöpf
ist von seiner Empfängnis an als Person zu achten und zu behandeln, und deshalb sind
ihm von jenem Augenblick an die Rechte einer Person zuzuerkennen, als deren erstes
das unverletzliche Recht auf Leben angesehen wird, dessen sich jedwedes unschuldige
menschliche Geschöpf erfreut“ (Kap. I, Nr. 1). Johannes Paul II. schliesslich hat sich
immer wieder mit grossem Engagement für einen konsequenten Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens eingesetzt. Exemplarisch geschieht dies in der Enzyklika
„Evangelium Vitae“ (25. 3. 1995). Auf der Basis der „absoluten Unantastbarkeit des
unschuldigen Menschenlebens“, die von allen verbindlichen Orientierungsquellen der
Kirche konstant und einmütig vertreten werde (Nr. 57), verurteilt er die vorsätzlich begangene Abtreibung („beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes
in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz“)
folgendermassen: „Die sittliche Schwere der vorsätzlichen Abtreibung wird in ihrer
ganzen Wahrheit deutlich, wenn man erkennt, dass es sich um einen Mord handelt, und
insbesondere, wenn man die spezifischen Umstände bedenkt, die ihn kennzeichnen.
Getötet wird hier ein menschliches Geschöpf, das gerade erst dem Leben entgegengeht,
d. h. das absolut unschuldigste Wesen, das man sich vorstellen kann: Es könnte niemals
als Angreifer und schon gar nicht als ungerechter Angreifer angesehen werden!“ (Nr.
58).
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Leitsatz 3: Die Entwicklung des Embryos aus Sicht der
Naturwissenschaften
Die embryonale Entwicklung verläuft als kontinuierlicher Prozess. Es gibt zwar
Entwicklungsschritte, aber keine eigentlichen Zäsuren oder qualitativen Sprünge.
Auch aus der Sicht der Embryologie erscheint das vorgeburtliche menschliche Leben als ein sich entwickelndes Gut, das vom Zielpunkt, d. h. vom vollentfalteten,
personalen Leben her, zu sehen ist: als Wesen der Würde. Eine Fristenregelung ist
damit nicht in Einklang zu bringen.
Bei der Beurteilung der Fristenlösung muss aus naturwissenschaftlicher Sicht eine
Frage im Vordergrund stehen: Unterscheidet sich das Entwicklungsstadium des Embryos in der vorgesehenen Straflosigkeitsfrist (12 bzw. 14 Wochen nach der letzten Monatsregel) qualitativ derart von der späteren Phase, dass während dieser Zeit ein
Schwangerschaftsabbruch unbedenklicher ist als danach?
Die früheste Entwicklung des Embryos
Als Embryo wird normalerweise der sich entwickelnde menschliche Keim ab der Fertilisation bis zum Ende der Organanlagenentwicklung bezeichnet (8. Woche nach der
Befruchtung); danach spricht man vom Fötus (von der 9. Woche bis zur Geburt).
Zur Berechnung des Schwangerschaftsalters sind zwei Bezugspunkte gebräuchlich:
Zum einen wird das Alter des Embryos „nach der Befruchtung“ (post conceptionem,
p. c.) angegeben; dies entspricht dem tatsächlichen Schwangerschaftsalter und ist in der
Embryologie geläufig. Zum andern wird aber auch die Zeit nach der letzten Menstruationsblutung (post menstruationem, p. m.) angegeben; in diesem Fall werden die ersten
14 Zyklustage bis zum mutmasslichen Eisprung hinzugezählt. Demnach entspricht z. B.
die 4. Schwangerschaftswoche p. c. der 6. Schwangerschaftswoche p. m.
Die befruchtungsfähige Eizelle (Oozyte) und die befruchtungsfähige Samenzelle (Spermium) werden als Gameten bezeichnet. Durch die Vereinigung der männlichen und
weiblichen Vorkerne, die so genannte Konjugation, entsteht der Chromosomensatz von
46 Chromosomen. Diese Bildung der Zygote – der Befruchtungsvorgang – geschieht innerhalb von Stunden, ohne dass ein exakter Zeitpunkt der Befruchtung festgelegt werden kann. Durch Furchungsteilung entstehen dann die ersten Zellen (Blastomere). Die
Erbinformation des neuentstandenen menschlichen Lebewesens beginnt so, selbst aktiv
zu werden.
Am zweiten oder dritten Tag nach der Befruchtung (8–16-Zellstadium) geschieht eine
erste Differenzierung in Embryoblast- und Trophoblast-Zellen (Morula). Nach etwa vier
bis fünf Tagen gelangt der Keim aus dem Eileiter in die Gebärmutter. Dabei wird er zur
Blastozyste umgebildet, die sich in der Gebärmutter-Schleimhaut einnisten kann. Bis zu
dieser Einnistung (Nidation oder Implantation) ist die Verlustrate sehr hoch: In der
Embryologie geht man davon aus, dass sich nur etwa jeder dritte Keim einnistet. Als
Ursachen werden u. a. chromosomale, hormonelle oder immunologische Störungen in
der Frühschwangerschaft angegeben.
Auch die Nidation ist ein kontinuierlicher Prozess: In der zweiten Woche nach der Befruchtung differenziert sich der Embryoblast zu einer Keimscheibe, die aus äusserem
und innerem Keimblatt besteht. Zu Beginn der dritten Schwangerschaftswoche zeigt
sich auf einem Teil des äusseren Keimblatts eine embryonale Längsachse (Primitivstrei-
14
fen). Von diesem ausgehend entwickelt sich ein drittes, mittleres Keimblatt. Ab diesem
Zeitpunkt kann eine Aufteilung zur Bildung von eineiigen Zwillingen nicht mehr stattfinden. – Besonders im englischsprachigen Schrifttum wird bis zu diesem Stadium vom
„Präembryo“ gesprochen. Das präembryonale Stadium ist definiert als der Zeitraum von
der Befruchtung bis zur Ausbildung des Primitivstreifens (erste 14 Tage nach der Befruchtung). Die Redeweise vom Präembryo ist freilich sehr problematisch, weil sie eine
tiefgreifende Zäsur zur nachfolgenden Entwicklung suggeriert.
Bis zum Ende der Embryonalperiode (achte Woche nach der Befruchtung) ist aus den
Keimblättern anlagemässig der menschliche Körper mit allen Organen entstanden, die
in der nachfolgenden Fötalentwicklung und nach der Geburt weiter ausreifen und wachsen. Das erste funktionsfähige System des Embryos ist das Blutgefässsystem; die Blutzirkulation beginnt schon am Ende der dritten Woche nach der Befruchtung. Am Ende
der vierten Woche treten koordinierte Herz-Pulsationen auf, die zu einem gerichteten
Blutstrom führen. Am Ende der sechsten Schwangerschaftswoche kann durch Ultrasonografie die Herztätigkeit des Embryos dargestellt werden.
Fast gleichzeitig mit dem Beginn der Zirkulation setzt ab der dritten Woche nach der
Befruchtung die Ausbildung der Neuralplatte, des Gehirns und des Rückenmarks ein.
Die Differenzierung des Grosshirns beginnt in der fünften Woche; die Ausbildung von
Nervenbahnen zwischen Grosshirn und Zwischenhirn setzt in der siebten Woche ein.
Ab der achten Woche finden sich Nervenbahnen vom Stammhirn zum Rückenmark, die
erste Bewegungen erlauben. Eine Verbindung (Synapse) mit Informationsaustausch
zwischen den Nervenzellen der Grosshirnrinde kann etwa ab der zehnten Schwangerschaftswoche angenommen werden. Diese Synapsen ermöglichen eine erste Funktion
des Grosshirns. Der Nachweis einer Hirnstromaktivität im Elektroenzephalogramm ist
zu diesem Zeitpunkt schon möglich. Die Entwicklung des Gehirns ist im übrigen mit
der Geburt bzw. dem Kleinkindalter noch nicht abgeschlossen.
Die spätere Entwicklung des Fötus
In der neunten Woche setzen erste Bewegungsabläufe wie Atembewegungen ein. Nach
der 12. Schwangerschaftswoche ist die gesamte Körperoberfläche des Fötus bereits
druck- und vibrationsempfindlich. Der Fötus reagiert ab diesem Zeitpunkt auf Druck
und Vibration von aussen mit einer Änderung seines Bewegungsverhaltens (z. B. mit
Fluchtbewegungen). Gleichzeitig kann als Ausdruck einer Stressreaktion auch häufig
eine Steigerung der Herzfrequenz beobachtet werden. Bei einem Schwangerschaftsabbruch zu diesem Zeitpunkt muss also mit einer gewissen Reaktionsfähigkeit des betroffenen Fötus gerechnet werden.
Ab der achten Woche nach der Befruchtung beginnen sich die Gesichtszüge des Fötus
auszubilden. Etwa ab der 16. Woche (bisweilen sogar früher) nimmt die Mutter die ersten Bewegungen des Kindes wahr; spätestens ab diesem Zeitpunkt ist eine Kontaktaufnahme zwischen der Mutter, dem Fötus und der Aussenwelt möglich. Das Gehör des
Fötus ist nach der 22. Schwangerschaftswoche annähernd ausgereift, er kann darauf
auch reagieren. Bereits ab der 30. Schwangerschaftswoche kann ein Frühgeborenes
grundsätzlich ohne intensivmedizinische Betreuung überleben.
Eine kontinuierliche Entwicklung ohne Zäsuren
Diese Ausführungen zeigen es deutlich: Ein Fristenregelungsmodell, also die Festlegung eines Zeitpunkts, bis zu dem ein Embryo abgetrieben werden kann, lässt sich naturwissenschaftlich nicht begründen. In der zehnten oder zwölften Woche nach der Be-
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fruchtung ereignet sich kein „Entwicklungssprung“, der eine Fristenregelung legitimieren würde.
16
Leitsatz 4: Der moralische Status des Embryos
Der menschliche Embryo hat ein moralisches Recht auf Leben. Eine Missachtung
dieses Rechts im Sinne einer vorsätzlichen Abtreibung wird von der katholischen
Moraltheologie als gezielte, direkte Tötung eines unschuldigen Menschenlebens
verstanden und abgelehnt. Eine gewisse Ausnahmestellung – abgesehen von bestimmten Fällen einer therapeutisch begründeten indirekten Tötung – nahm und
nimmt die vitale Indikation ein.
Embryologische Tatsachen allein, wie sie in Leitsatz 3 referiert wurden, begründen
noch keine ethisch-normativen Aussagen. Moralische Normen müssen aber diesen Tatsachen Rechnung tragen. Für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs bedeutet das,
dass die Einheit und Unteilbarkeit der menschlichen Entwicklung berücksichtigt werden
muss. Hier müssen wir nun einen Schritt weiter gehen: Die spezifisch ethische Frage
nach den moralischen Rechten des menschlichen Embryos und der Schutzwürdigkeit
des vorgeburtlichen Lebens muss durch anthropologische, philosophische und theologische Reflexion beantwortet werden. Die Menschenwürde ist kein naturwissenschaftlicher Begriff. Hingegen zeigt uns die Biologie, dass die Lebensgeschichte einer menschlichen Person alle Lebensstadien umfasst, auch die Phase vor der Geburt.
Die Würde des ungeborenen Kindes
Auch dem sich entwickelnden Embryo kommt Menschenwürde zu: Diese Aussage beruht auf der glaubensmässigen Überzeugung, dass die unsterbliche Seele von Gott unmittelbar dem von den Eltern gezeugten neuen Menschen mitgeteilt wird. In dieser
Sicht kann und muss schon für die Zygote, für die früheste Form menschlichen Lebens,
anlagehaft von leib-seelischer Einheit und Ganzheit gesprochen werden. Damit unmittelbar verknüpft ist die in der neueren theologischen Ethik als Präformismus bezeichnete Position, die ab der Zygotenbildung auch die biologisch-genetische Individualität
des gezeugten neuen Wesens annimmt; in ihm sind ab diesem Zeitpunkt alle charakteristischen Besonderheiten eines bestimmten Individuums schon vorgebildet (präformiert), diese bilden sich später nur weiter aus. Demgegenüber versteht der so genannte
Epigenismus (nachträgliche Bildung), der im Kern auch von Moraltheologen wie Franz
Böckle und Johannes Gründel vertreten wird, die menschliche Zygote als noch relativ
ungegliederten „artspezifischen“ Keim, der erst noch eines weiteren Transformierungsprozesses bedarf, um als individuelles – und damit „personfähiges“ – menschliches Leben gelten zu können. Mit der Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut endet die
Möglichkeit der eineiigen Zwillingsbildung; erst von diesem Zeitpunkt ab könne mit der
Festlegung von biologischer Individualität als Voraussetzung personaler Individualität
gesprochen werden und sei der volle Lebensschutz angezeigt. Die epigenetische Deutung der „Personwerdung“ ist durch die weitere Verfeinerung des embryologischen
Wissens nicht bestätigt worden; sie scheint in der Theologie an Boden verloren zu haben und spielt für die Fristenregelungsfrage im Übrigen keine besondere Rolle, weil
auch aus Sicht des Epigenismus eine 12- bzw. 14-Wochen-Frist nicht akzeptabel wäre.
Der menschliche Embryo entwickelt sich nicht erst zum Menschen, sondern bereits als
Mensch. Es ist letztlich immer ein und dasselbe menschliche Wesen, das als Embryo
oder Fötus und als neugeborenes Kind zu schützen ist. Dieses Frühstadium bildet die
Grundlage dafür, dass sich menschliches Personsein voll entfalten kann. Das Potential
dazu ist bereits im Embryo angelegt. Der gesamte Lebenszusammenhang eines Men-
17
schen ist als ein Kontinuum zu deuten, das insgesamt unter dem Vorzeichen der Menschenwürde steht. Diese Menschenwürde findet ihre theologische Entsprechung in der
gottebenbildlichen Erschaffenheit des Menschen als Mann und Frau (vgl. Gen 1,26–28).
Menschliches Leben ist zu schützen und zu bewahren
Mit der Menschenwürde ist der Gedanke der Selbstzwecklichkeit des Menschen verknüpft: Menschliches Leben ist immer um seiner selbst willen zu achten und darf nie als
Mittel für andere Zwecke missbraucht werden. Dieser notwendigen Achtung entspricht
als Minimalkonsequenz die Verpflichtung, menschlichem Leben nicht zu schaden.
Auch die Bibel verbindet mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Forderung
nach Respektierung und Schutz menschlichen Lebens (vgl. Gen 9,5f).
Im Leitbegriff der menschlichen Personwürde ist über die Pflicht zum Nicht-Schaden
hinaus auch die Verantwortung begründet, die Mitmenschen nach Möglichkeit in ihrer
Entfaltung zu fördern. Die Schutz- und Förderungswürdigkeit des Menschen ist ebenso
unteilbar wie seine Entwicklung. Von daher ist Abtreibung als Zerstörung dieses Lebens aus ethischer Sicht abzulehnen. Diese Schlussfolgerung wird vom kirchlichen
Lehramt in einer absoluten Weise verteidigt (vgl. insbesondere Johannes Paul II.,
„Evangelium Vitae“, Nr. 58–62).
Die einzigen Fälle, in denen der Tod eines Embryos oder Fötus von der Theologie als
hinnehmbar betrachtet wurde und teilweise wird (indirekte Tötung als Folge eines therapeutisch unabdingbaren Eingriffs bei der Mutter: vitale Indikation), widersprechen diesem Würdeverständnis nicht: Für die extreme Situation, dass von „zwei sonst unrettbaren Leben wenigstens eines gerettet werden“ kann, betont der von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene „Katholische Erwachsenenkatechismus“ unter Berufung auf eine Erklärung der Deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1976, dass einer Gewissensentscheidung eines Arztes zur Rettung der Mutter „niemand die Achtung vorenthalten“ wird (S. 292).
Der Personbegriff, wie ihn kirchliches Lehramt und Theologie verwenden, hat eine
lange theologische und philosophische Tradition. Sie nimmt die Person als Ganze, d. h.
auch mit ihrer ganzen Geschichte, in den Blick. Person wird als moralisches Subjekt
einer Lebensgeschichte verstanden. Ausgeschlossen wird damit eine in gewissen Teilen
der heutigen Bioethik verbreitete reduktionistische und naturalisierende Deutung der
Person. Hier zeigt sich, dass die in einzelnen bioethischen Strömungen der Gegenwart
relativ problemlos als erlaubt betrachtete Abtreibungspraxis um den hohen Preis einer
Verwässerung, Aufspaltung und Fragmentierung des Personverständnisses erkauft wird.
Konsequenz ist, dass der Lebensschutz für Menschen auch in anderen Problemlagen nur
noch begrenzt gewährt wird.
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Leitsatz 5: Die Schutzaufgabe des Staates.
Der staatliche Gesetzgeber muss sich nach der Verfassung richten. Er hat demzufolge die verfassungsrechtlichen Forderungen sowohl in Bezug auf den Schutz des
werdenden menschlichen Lebens als auch in Bezug auf den Anspruch der Schwangeren auf Entscheidungsfreiheit und Schutz der Privatsphäre zu berücksichtigen.
Zur juristischen Problematik
Die Grundrechte müssen in der gesamten Rechtsordnung zur Geltung gebracht werden
(vgl. Art. 35 Abs. 1 BV). Zugleich ist stets auch die Vereinbarkeit des geltenden Rechts
mit den ratifizierten Menschenrechtskonventionen und weiteren völkerrechtlich verbindlichen Dokumenten zu prüfen. Die Grundrechte sind als Individualrechte auf die
Belange des Einzelnen hin auszulegen; sie beinhalten Handlungsaufträge an staatliche
Behörden (vgl. Art. 35 Abs. 2 BV). Grundrechte betreffen nach herrschender Auffassung nicht nur die unmittelbaren Beziehungen zwischen Staat und Privaten, sondern
auch das Verhältnis unter Privaten selbst (Dritt- oder Horizontalwirkung der Grundrechte; vgl. Art. 35 Abs. 3 BV).
Stehen unterschiedliche Grundrechtspositionen unter Privaten miteinander in Konflikt,
muss nach Möglichkeit ein Ausgleich angestrebt werden. Dies ist die grundsätzliche
Ausgangslage im Falle des Schwangerschaftsabbruches. Der Nasciturus, das werdende
menschliche Leben, gilt als Begünstigter des Grundrechtsschutzes auch dann, wenn ihm
noch keine eigene zivilrechtliche Rechtspersönlichkeit gemäss Art. 31 des Zivilgesetzbuches zugeschrieben wird. „Der Nasciturus geniesst den Schutz aller Grundrechte, die
für ihn in Frage kommen (...). Er geniesst auch den Schutz des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit. Die Menschenwürde kommt ihm unbedingt zu. Der Schluss drängt
sich daher auf, dass ihn grundsätzlich auch das Recht auf Leben schützt. (...) Im Hinblick auf die möglichen Gefährdungen des Nasciturus und im Hinblick auf die Zuerkennung von Grundrechtsschutz an den Nasciturus in allen anderen Bereichen, in denen
ein Grundrecht für ein ungeborenes Kind vernünftigerweise in Frage kommt, wäre es
widersprüchlich und willkürlich, dem Nasciturus nicht grundsätzlich auch den Schutz
des Grundrechts auf Leben zuzuerkennen“ (Hangartner S. 28f).
Andererseits tangieren Abtreibungsverbote die grundrechtlich geschützte Freiheit der
betreffenden Frau. Auch ihr Recht auf Leben sowie auf körperliche und geistige Unversehrtheit ist zu schützen. Auch dieser Frau gegenüber hat der Staat eine Schutzpflicht.
Nach weithin geteilter juristischer Auffassung stösst der dem Embryo geschuldete Lebensschutz zumindest dort an seine Grenzen, wo schwere Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter besteht. Ähnliches wird für die durch eine Vergewaltigung gezeugte Leibesfrucht angenommen (vgl. Hangartner S. 35). Das eigentliche Problem liegt
aber darin, ob und wie weit dem Staat darüber hinaus noch ein legitimer Regelungsspielraum offen steht.
Für die schweizerische Diskussion zu dieser Frage ist vom Menschenwürdeartikel der
Bundesverfassung auszugehen (Art. 7 BV). „Keine Rolle spielt, ob dem Nasciturus die
Menschenwürde unmittelbar als Würde des noch nicht geborenen Menschen oder bloss
als Vorwirkung der Menschenwürde eines potentiell zur Welt kommenden Menschen
zukommt“ (Hangartner S. 38). Dass das ungeborene menschliche Leben am grundrechtlichen Schutz der Menschenwürde teilhat, betont auch der Verfassungsartikel über Fortpflanzungs- und Gentechnologie im Humanbereich (Art. 119 Abs. 2 Bst. a, b und e
BV). Es wäre zudem unverständlich, wenn die Bundesverfassung unter dem Begriff
19
„Würde der Kreatur“ zwar das Keim- und Erbgut von Tieren und Pflanzen schützt (vgl.
Art. 120 Abs. 2 BV), das ungeborene menschliche Leben jedoch nicht. Der Vergleich
mit dem Schutz des Embryos im Reagenzglas verdeutlicht übrigens, dass der grundrechtliche Lebensschutz in der Perspektive der Bundesverfassung bereits vom Beginn
des menschlichen Lebens an greift. Der staatliche Gesetzgeber ist daher in Bezug auf
die gesetzliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen gehalten, bestimmte Gründe
(Indikationen) zu nennen, „die als sachliche und genügend ins Gewicht fallende Gründe
für einen Schwangerschaftsabbruch anerkannt werden. Hingegen darf er Abbrüche, die
nicht begründet werden (sogenannte Fristenlösung) oder deren Begründung im Hinblick
auf die Achtung der Menschenwürde des Nasciturus als missbräuchlich oder zu leichtgewichtig erscheint, nicht als zulässig erklären“ (Hangartner S. 41). Zur Verhinderung
von unzulässigen Schwangerschaftsabbrüchen wird der Gesetzgeber nicht völlig auf die
Mittel des Strafrechts verzichten können. Er muss bei strafrechtlichen Bestimmungen
darauf achten, dass er eine mit den Regelungen anderer Rechtsbereiche (z. B. Zivilrecht) konsistente Wertung zugrunde legt.
Bei der anstehenden Rechtsgüterabwägung muss der staatliche Gesetzgeber schliesslich
auch auf das öffentliche Interesse Rücksicht nehmen. Dieses fordert in jedem Fall eine
Regelung, die verhältnismässig und wirksam bzw. durchsetzbar ist und die das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung möglichst positiv beeinflusst. Ein künftiges neues Gesetz
zur Regelung des Schwangerschaftsabbruches müsste in jedem Fall ein konkretes Verbot missbräuchlicher und willkürlicher Schwangerschaftsabbrüche mit Angabe entsprechender Tatbestände beinhalten. Eine lediglich allgemeine Formulierung würde den Anforderungen an eine Strafrechtsbestimmung nicht entsprechen. Diese staatliche Pflicht
wäre auch bei den erforderlichen verfahrensrechtlichen Bestimmungen (z. B. Kontrolle
der Berechtigung zum Abbruch, Information und Beratung) sowie bei anstehenden zivil- und verwaltungsrechtlichen Problemen (z. B. Lohnfortzahlung, Krankenversicherungsleistung) zu beachten.
Sozialethische Stellungnahme
Die katholische Kirche versteht den Staat als Institution der Schöpfungsordnung. Die
Bürgerinnen und Bürger des Staates wissen sich aus eigener Einsicht dem politischen
Gemeinwohl (bonum commune) verpflichtet. Der Staat hat somit notwendigerweise
einen instrumentellen Charakter; er ist um des Menschen willen da, zum Schutz und zur
Wahrung der menschlichen Würde. Als eine anerkannte, normative „Auslegungsordnung“ dieser Würde gelten die Menschenrechte. Sie sind von ihrem Ursprung her moralische Rechte und werden durch ihre Aufnahme (Positivierung) in das staatliche
Rechtssystem als Grundrechte in die höchste Verbindlichkeitskategorie von Rechtsnormen eingereiht. Der Verfassungsrang von Grundrechten fordert, dass Gesetze ihnen
zumindest nicht widersprechen. Im übrigen kommt den Grundrechten nicht nur eine
Abwehrfunktion zu (Sicherung eines Freiraums für Einzelne, in der sie sich selbst frei
bestimmen können; Anspruch auf Unterlassung grundrechtswidriger Handlungen), sondern auch eine Gestaltungsfunktion für das gesamte staatliche Handeln.
Mit den Grundrechten ist auch die Unterscheidung und wechselseitige Zuordnung von
Recht und Moral angesprochen: Recht und Moral sind nicht als identische Grössen oder
nach der Vorstellung konzentrischer Kreise – Recht als „ethisches Minimum“ –, sondern nach dem Modell sich überschneidender Kreise zu verstehen. Recht und Moral
gehören zwar zusammen; zwischen ihnen bestehen aber auch deutliche Unterschiede.
Sie bilden zwei eigene Sphären, die sich inhaltlich teilweise überschneiden und die in
der Art ihrer Geltung differieren. Die Menschenrechte liegen präzis in der Überschneidungsfläche beider Sphären. Der Einsatz für die Menschenrechte ist damit Aufgabe der
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Kirche als Institution mit moralischer Kompetenz und (wenn auch nur im Sinne einer
Dimension ihrer Gesamtaufgabe) moralischer Sendung. Zugleich gehen die Menschenrechte als Grundrechte in die Regelungsaufgaben und -kompetenzen des Staates ein, der
Gestalter und Garant der Rechtsordnung ist. Zur Verwirklichung seiner Aufgaben benützt der Staat das Recht als sein typisches Handlungsmittel, wobei er dessen Grundsubstanz (Menschenwürde und Menschenrechte) aber nicht selbst schaffen kann, sondern als präpositive, normative Fundamente anerkennen muss.
Diese Doppelkonstellation einer moralisch dimensionierten Kompetenz und Verpflichtung der Kirche einerseits und der rechtlichen Verankerung, Garantie und Durchsetzung
der Grundrechte durch den Staat andererseits bringt nun – wie die Erfahrung lehrt – eine
Reihe von Reibungs- und Konfliktmöglichkeiten mit sich. Die Kirche kann gar nicht
anders, als auf die Achtung der Menschen- und Grundrechte in Politik und Recht zu
dringen. Sie muss verlangen, dass sich das Recht im Rahmen des moralisch Akzeptablen bewegt. Die ethische Vernunft selbst verlangt die Unrechtsvermeidung, notfalls unter Einsatz staatlicher Sanktionen im Sinne des Einsatzes von Mitteln des Rechtszwangs. Von da her sind auch das Prinzip staatlicher Zwangsmassnahmen zur Unrechtsabwehr legitimiert.
Der entscheidende Gradmesser für die staatliche Rechtssetzung besteht in der Achtung
der Würde der menschlichen Person als notwendiges, wenn auch in der Regel noch
nicht hinreichendes Fundamentalkriterium rechtlicher Normierungen. Das staatliche
Recht entspricht dieser ethischen Vorstellung, insofern es gravierende Verletzungen der
Personwürde im gesellschaftlich-sozialen Zusammenleben unter Strafe stellt.
Die Würde der Person ist absolut. Es gibt nicht „ein bisschen weniger“ oder „ein bisschen mehr“ Menschenwürde. Dem Menschen kommt entweder Würde zu oder nicht.
Für die Würde des menschlichen Embryos heisst dies, dass sie grundsätzlich nicht geringer geachtet werden darf als diejenige geborener Menschen.
Wenn auf gravierende Verstösse gegen die Personwürde geborener Menschen staatlich
verhängte Strafen stehen, so kann man konsequenterweise eine vorsätzliche Abtreibung
grundsätzlich nicht von der Strafbarkeit ausnehmen. Zu prüfen bleibt allenfalls, ob es
unter bestimmten, präzis zu benennenden Bedingungen Ausnahmen geben kann. Auf
diesem Grundgedanken basieren die verschiedenen Indikationenregelungen (vgl. Leitsatz 6).
Die in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Ländern durchgeführten teilweisen
Strafbefreiungen des Schwangerschaftsabbruchs in Form von Fristenregelungen gehen
aber weit darüber hinaus. Im Prinzip der Fristenregelung hat sich die gestiegene Sensibilität für das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau zu Lasten des Lebensrechts des Kindes niedergeschlagen. Die Rechte auf Persönlichkeitsentfaltung und
Selbstbestimmung entspringen zwar ebenfalls letztlich der Personwürde, finden aber
ihre Grenze dort, wo die Rechte anderer tangiert werden. Die Beeinträchtigung der
Rechte auf Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung kann niemals generell die
Tötung eines Menschen (auch nicht eines ungeborenen Menschen) rechtfertigen. Bei
einem Schwangerschaftskonflikt geht es ja nicht nur darum, dass dem Recht auf Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung die Einschränkung eines Rechts eines anderen gegenübersteht; vielmehr steht die Anerkennung eines weit fundamentaleren
Rechts, nämlich die Anerkennung des grundsätzlichen Anspruchs auf Leben eines anderen Menschen überhaupt in Frage. Aus dem Selbstbestimmungsrecht eines Menschen
(in diesem Fall der schwangeren Frau) kann man nicht ein Verfügungsrecht über Tod
und Leben eines anderen Menschen (in diesem Fall des ungeborenen Kindes) ableiten.
Das Recht auf Leben gehört zu den Grundrechten und kann nicht wie ein relatives
Recht von Bedingungen abhängig gemacht werden, die über Gewährung oder Verweigerung entscheiden.
21
Diese Überlegungen sprechen für die grundsätzliche Beibehaltung der Strafbarkeit von
Schwangerschaftsabbrüchen. Die Frage von Ausnahmemöglichkeiten oder vielleicht
auch von „schwachen“ Entpönalisierungs-Massnahmen ist damit aber noch nicht beantwortet.
Für die Kirche muss aber stets klar sein und bleiben, dass sie nicht bei den strafrechtlichen Aspekten stehen bleiben darf. Für ihren seelsorglichen Auftrag sind andere Gesichtspunkte entschieden wichtiger. Eine Strafandrohung beseitigt ja noch nicht die
Konfliktlage der Schwangeren. Dazu kann schon eher eine umfassende Sozial- und Familienpolitik beitragen (vgl. Leitsatz 8). Die Kirche muss sich auf gesellschaftlich-politischer Ebene einsetzen; sie darf es aber auch an ganz konkretem Engagement zur Bewältigung materieller, sozialer, familiärer und psychischer Not der Betroffenen nicht
fehlen lassen. Ein wirksamer Schutz des ungeborenen Lebens ist in jedem Fall eine
komplexe Aufgabe, bei deren Bewältigung dem Strafrecht keineswegs der erste Rang
zukommt. „Wer die Abtreibung verbietet, aber die bestehenden Notlagen nicht ändern
will, macht es sich auf seine Art zu billig mit dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs. Hinter einem nur plakativ vorangetragenen Lebensschutz kann sich sogar eine
besonders zynische Form der Gleichgültigkeit verbergen, die für menschliche Not blind
bleibt, in die Frauen durch eine Schwangerschaft geraten können“ (E. Schockenhoff,
Der Schutz des menschlichen Lebens S. 660).
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Leitsatz 6: Indikationen- und Fristenregelung in ethischer Sicht
Der Schwangerschaftsabbruch ist Gegenstand strafrechtlicher Bestimmungen,
weil er eine Rechtsgutverletzung darstellt. In Bezug auf eine konkrete gesetzliche
Regelung kommen gegenwärtig – wenn man Extremvorstellungen (Totalverbot
bzw. völlige Freigabe) einmal als politisch-rechtlich irreale Varianten beiseite lässt
– primär zwei Grundmodelle in Betracht: Strafbefreiung aufgrund bestimmter
Indikationen oder aufgrund bestimmter Fristen. Varianten ergeben sich, wenn
diese beiden Grundmodelle mit einer Pflichtberatung verbunden werden. Die ethische Wertung muss gegenüber dem Fristenmodell letztlich unüberwindliche
Grundsatzbedenken anmelden. Aber auch Indikationenmodelle können – je nach
konkreter Ausgestaltung – gravierende moralische Probleme aufwerfen.
Eine Beurteilung der zwei real verbleibenden Grundmodelle muss theoretische und
praktische Aspekte berücksichtigen. Sie hat sich an den in den vorangehenden Leitsätzen entfalteten Erkenntnissen und Grundsätzen zu orientieren.
Indikationenregelung
Das nach dem Regel-Ausnahme-Prinzip aufgebaute Indikationen-Grundmodell berücksichtigt auf der theoretischen Ebene die ethische Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs als vorsätzliche Tötung menschlichen Lebens. Die Indikationenregelung unterstreicht die Schutzpflicht des Staates auch für das ungeborene menschliche Leben, weil
dieses ein eigenständiges Rechtsgut darstellt. Diese Schutzpflicht drückt sich in der
grundsätzlichen Strafbedrohung der Abtreibung aus. Die Indikationenregelung macht
deutlich, dass Abtreibung nicht irgendein Regelverstoss ist, sondern das Grundrecht auf
Leben missachtet, das geborenen und ungeborenen Menschen zukommt. Von Strafe
kann nur in begründeten Ausnahmen (Strafbefreiungsgründe, „Indikationen“) abgesehen werden. Als solche Strafbefreiungsgründe kommen lediglich sehr gravierende Belastungsfaktoren in Betracht.
Das Recht der schwangeren Frau auf Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung
kann nicht gegen den umfassenden Lebensschutz ins Feld geführt werden. Der Wille
zum Lebensschutz hat erstens eine wichtige bekenntnismässige und symbolische Bedeutung, die für die Bildung des Rechtsbewusstseins und insbesondere der Unrechtssensibilität der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung ist. Das Recht auf Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung kann zweitens deshalb nicht die Tötung anderer rechtfertigen, weil diese Rechte ihre Grenze an den Rechten anderer finden. Im Fall
des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich drittens nicht nur um eine Einschränkung, sondern um die Verneinung des Existenzrechts eines anderen. Insgesamt gilt also:
Dem Selbstbestimmungsrecht der Frau steht das Lebensrecht des Kindes gegenüber.
Das Recht auf Leben und Existenz eines Unschuldigen darf – ethisch gesehen – nicht
dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung anderer untergeordnet werden. Leben zu dürfen ist ja nicht nur irgendeine Form der Selbstbestimmung und der Persönlichkeitsentfaltung, sondern deren Grundlage.
Abgesehen vom Fall der Lebensbedrohung der werdenden Mutter kommen in einer
Reihe der bisherigen Indikationssysteme weitere Ausnahmegründe in Betracht; durch
sie wird anerkannt, dass das Austragen einer Schwangerschaft in bestimmten Fällen
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einer Frau nicht zugemutet werden kann. Die Unzumutbarkeit muss allerdings für die
Zwecke eines Gesetzes hinreichend konkretisiert werden. Hier liegt wohl das grösste
Problem jeder Indikationenregelung: Wenn über die vitale Indikation hinaus weitere
Indikationen zugelassen werden sollen, so stellt sich die äusserst schwierige Frage nach
dem zuverlässigen Kriterium des (Un-) Zumutbaren. Die Schwierigkeit liegt gerade in
der Sicherheit und Klarheit der Abgrenzung der anzuerkennenden Fälle.
Die Feststellung, dass es unzumutbar ist, eine eingetretene Schwangerschaft auszutragen, wird im konkreten Fall immer objektive und subjektive Faktoren berücksichtigen
müssen. Damit ergibt sich ein gesetzgeberisches Dilemma: Straffreistellungsgründe
müssen auf der einen Seite so klar und eindeutig wie möglich sein, damit Interpretationsspielräume klein bleiben. Auf der anderen Seite sollten sie aber flexibel genug
formuliert sein, um den verschiedenen Konfliktsituationen gerecht werden zu können.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Rechtseindeutigkeit einerseits und notwendiger
Anpassungsflexibilität andererseits lässt sich nicht auf eine Seite hin auflösen. Jedes
Zumutbarkeits-Kriterium ist interpretationsbedürftig und damit – wie die bisherigen
Erfahrungen lehren – auch missbrauchsanfällig.
Hinzu kommen, wie wiederum die schon gemachten Erfahrungen im In- und Ausland
zeigen, die Probleme mit dem Urteil der einzuschaltenden, aussenstehenden Person, die
das Zutreffen bzw. Nichtzutreffen der Indikationen zu prüfen hat. Dafür muss sich diese
Drittperson auf die Angaben der betroffenen Frau stützen. Sie hat die Beweislast für den
Nachweis einer konkret unzumutbaren Konfliktsituation zu tragen. So fliessen natürlich
subjektive Momente in die rechtliche Urteilsbildung ein. Die verschiedenen Indikationenregelungen mögen dieses Problem der Unsicherheit und Beliebigkeit unterschiedlich
gut bewältigen; es wird aber schwerlich ganz auszuschliessen sein.
Auch Indikationenmodelle arbeiten im Übrigen oft mit Zeitbestimmungen, die zu Diskussionen Anlass geben können (der gegenwärtige Art. 120 des Schweizerischen Strafgesetzbuches kennt allerdings keine solchen zeitlichen Beschränkungen). In Bezug auf
die Bildung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung muss zudem beachtet werden,
dass Indikationen tendenziell als (rechtliche und ethische) Legitimationen wahrgenommen werden könnten. Letzteres wäre insbesondere im Fall einer so genannten sozialen
Indikation fatal, zumal diese – wieder eine Erfahrungstatsache – leicht in einem ökonomisch verengten Sinn verstanden werden kann. Unter solchen Umständen kann ein Indikationenmodell auch in Richtung einer verkappten Fristenregelung degenerieren.
Damit sind praktische, oft beklagte und häufig an den Stichworten „Handhabbarkeit“
und „Durchsetzbarkeit“ festgemachte Schwierigkeiten umschrieben. Sie sind zweifellos
ernst zu nehmen, und sie legen die Messlatte für einen ethisch und juristisch überzeugenden Entwurf einer Indikationenregelung recht hoch. Sie erinnern eindringlich daran,
dass mit der Aufrechterhaltung einer Strafandrohung die Konfliktnotlagen noch nicht
beseitigt sind. Deshalb zeigt sich auch aus dieser Perspektive die Notwendigkeit, Auswege aus materieller, sozialer, familiärer, psychischer und moralischer Not aufzuzeigen.
Die aufgezeigten Probleme von Indikationenregelungen sind aber nicht als Votum für
Fristenregelungen zu verstehen.
Fristenregelung
Der Begriff „Fristenregelung“ erklärt sich aus dem Umstand, dass der Schwangerschaftsabbruch während einer bestimmten Frist (häufig 12 bis 14 Wochen ab der letzten
Menstruation) straffrei sein soll. Nach Ablauf dieser Frist setzt die generelle Strafandrohung wieder ein. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass die Letztentscheidung bzw.
Letztverantwortung bei der schwangeren Frau liegt. Die Fristenregelung stellt die Gewissensentscheidung der Schwangeren in den Vordergrund und vertraut auf deren Ei-
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genurteil. Sie beansprucht damit, den Forderungen nach Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung der Schwangeren entgegenzukommen. Allerdings erhöht sie auf
diese Weise zugleich auch die Möglichkeiten, dass Dritte auf die Entscheidung der
Schwangeren einwirken – und zwar bis hin zu massiven Pressionen (vgl. dazu ausführlicher die Stellungnahme der Schweizer Bischofskonferenz zum Vorentwurf über die
Änderung des Strafgesetzbuches betr. Schwangerschaftsabbruch vom 8. 9. 1997). Eine
Reihe von praktischen Problemen der Indikationen-Feststellung entfallen indes gänzlich.
Wesentlich für die Bewertung der Fristenregelung ist zunächst die Frage, wie der befristete Strafverzicht genau begründet wird. In der Diskussion sind primär zwei Varianten
erkennbar: Entweder wird gesagt, der Abbruch der Schwangerschaft während der festgesetzten Frist sei keine Rechtswidrigkeit, oder es wird argumentiert, während dieser
Frist sei der Abbruch zwar rechtswidrig, aber von Strafe befreit. Welche Begründung
zum Einsatz kommt, ist im Hinblick auf geltend gemachte zentrale Einwände wesentlich: In der schwächsten Fassung (lediglich zugesicherter, befristeter Strafverzicht bei
grundsätzlich bestehender Rechtswidrigkeit) werden wichtige Massstäbe des staatlichen
Lebensschutzes zumindest theoretisch nicht ausdrücklich negiert, während das beim
Grundsatz der Nicht-Rechtswidrigkeit sehr wohl der Fall ist. Welche Begründung gewählt wird, dürfte auch beachtliche Folgen für die Beurteilung weiterer juristischer Probleme haben, so etwa bei der Frage von Versicherungsleistungen für Abtreibungen.
Zu den gravierenden Schwächen dieses Grundmodells müssen folgende Punkte gezählt
werden:
− Das ungeborene Kind wird als eigenständiger Rechtsträger – je nach Variante – zu
wenig bis gar nicht wahrgenommen. Der Staat kann den Schutz des Grundrechts auf
Leben nicht delegieren, sondern muss ihn auch im Einzelfall gewährleisten.
− Die Frist von 12 oder 14 Wochen findet keinen Rückhalt in der biologischen Entwicklung des Embryos (vgl. Leitsatz 3). Damit erscheint dieses Regelungsmodell
willkürlich.
− Eine straffreie Frist könnte mit einem rechtsfreien Raum oder – noch verhängnisvoller – mit rechtlicher und ethischer Legitimation gleichgesetzt werden.
− Durch eine Fristenregelung wächst die Gefahr einer Diskriminierung von behinderten Menschen, da sie ja straffrei hätten „verhindert“ werden können, und wächst
auch der Druck auf Eltern, die ein – vielleicht – behindertes Kind erwarten, es abzutreiben.
− Für die Bildung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung wäre es fatal, wenn sich im
Zusammenhang mit der gewährten Straffreiheit der Eindruck einer „befristeten Legalität“ durchsetzen würde. Auf diese Weise könnte leicht der Annahme Vorschub
geleistet werden, dass Abtreibung in den ersten Wochen etwas Normales sei, dass es
auf den Grund einer Abtreibung nicht wirklich ankomme, sondern allenfalls auf das
Entwicklungsstadium des Kindes.
Fristenregelung mit Beratungspflicht
Ob die Verknüpfung der Fristenregelung mit einer Beratungspflicht an den erwähnten
Nachteilen wirklich etwas Wesentliches zu ändern vermag, hängt insbesondere davon
ab, wie stark die Wahrung des Lebensrechts des Ungeborenen konkret gesichert werden
kann. Der Bedarf an Hilfestellung und Beratung steigt gerade bei grösserer Liberalisierung und der damit einhergehenden Erweiterung von Handlungsfreiräumen. Die Beratung dient der Bearbeitung von bestehenden Konfliktlagen; sie informiert über die verfügbaren Hilfsmittel, die die Fortsetzung einer Konfliktschwangerschaft erleichtern; sie
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trägt bei zur Klärung der Situation und zu einem angemessenen, eigenverantwortlichen
Entscheid der Schwangeren bzw. des betroffenen Paares; nach Möglichkeit sollte der
Vater des ungeborenen Kindes einbezogen werden, denn beide Eltern tragen Verantwortung für das von ihnen gezeugte Leben. Solche Beratung kann indes keineswegs die
Verantwortung der Schwangeren für den von ihr persönlich zu fällenden Entscheid abnehmen.
Die Kirche kann und soll sich in diesem Aufgabenfeld engagieren. Sie muss aber dabei
auf Rahmenbedingungen achten, die ihr ein glaubwürdiges Engagement für das ungeborene Leben ermöglichen und sie nicht in eine Grauzone der Beteiligung an Abtreibungsentscheidungen bringen.
Die obligatorische Verknüpfung mit einer Beratung, wie sie von ausländischen Regelungen bekannt ist (vgl. BRD), vermag indes den Grundcharakter des Fristenmodells
selbst noch nicht entscheidend zu verändern. Ob und inwieweit der Vorschlag der Leitung des Schweizerischen Studentenvereins dieser Schlussfolgerung entgeht, ist damit
noch nicht vorentschieden, weil er zum Schutz des Ungeborenen einen weiteren Faktor
(eine entscheidungsbefugte Justizperson) vorsieht (vgl. dazu Leitsatz 9). Ausserdem ist
damit die Bedeutung fakultativer Beratung (auch von Seiten kirchlicher Stellen) nicht
aufgehoben. Es gibt jedenfalls Anhaltspunkte dafür, dass eine qualifizierte Beratung
helfen kann, die Zahl der Abtreibungen zu senken.
Fazit
Wie die Erfahrungen in andern Ländern zeigen, muss man sich bei der Suche nach einer
strafrechtlichen Regelung wohl darauf einstellen, „eine Lösung zu finden, die die am
wenigsten unbefriedigende ist“ (E.-W. Böckenförde S. 205).
− Die Fristenregelung dürfte zwar in der Rechtspraxis (insbesondere wenn man sie
mit der jetzigen unbefriedigenden Indikationenregelung vergleicht) gewisse Vereinfachungen versprechen. Solche pragmatische „Stärken“ sind aber zu einem sehr hohen Preis erkauft. Auch wenn man von der schwächeren Variante des Fristenmodells
(blosser befristeter Strafverzicht, keine generelle Rechtmässigkeit) ausgeht, bleibt
der für eine christliche Ethik ausschlaggebende Einwand bestehen, dass das Recht
des Schwächsten, des ungeborenen Kindes, dabei nicht zum Tragen kommt. Darüber
kann sich die Kirche nicht hinwegsetzen.
− Beim Indikationenmodell ist auf möglichst eindeutige Umschreibung der Straffreistellungsgründe zu drängen. Auch dann sind für die Praxis noch genügend Probleme
vorauszusehen. Aber wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht, ist selbst
eine unvollkommene Praxis besser als eine zu weit gehende Relativierung oder gar
eine befristete Aufgabe des Lebensschutzes. Im letzteren Fall würde die Grenze, jenseits derer Menschenrechte nicht mehr ernst genommen werden, überschritten.
26
Leitsatz 7: Arzt und nichtärztliches Personal
Je nach rechtlicher Ausgestaltung birgt eine Fristenregelung ein im Vergleich zur
geltenden Praxis noch grösseres Konfliktpotential bezüglich elementarer medizinethischer Grundsätze. Das „Genfer Ärztegelöbnis“ (1948) betont die Pflicht des
Arztes, „das menschliche Leben von der Empfängnis an bedingungslos (zu) achten“. Das nicht-ärztliche Personal leistet seinen Einsatz im Rahmen der gleichen
ethischen Grundkriterien.
Die Ethik medizinischer Berufe
Das medizinische System hat im Gefolge der naturwissenschaftlichen Orientierung, des
zunehmenden Spezialistentums und der heute beispiellosen Technisierung gewaltige
Veränderungen erlebt und eine enorme Leistungsfähigkeit entwickelt. Das Aufgabenspektrum umfasst Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation.
Die fundamentalen ethischen Grundsätze, die in neueren, für die Grundlegung des medizinethischen Handelns gewichtigen Dokumenten (z. B. Gelöbnisse, Erklärungen des
Weltärztebundes) niedergelegt sind, lassen in allem Wandel doch ein grundsätzliches
Festhalten an elementaren Leitkonstanten erkennen. Das „Wörterbuch medizinischer
Grundbegriffe“ formuliert sie folgendermassen:
− „Das Wohl des Kranken voranstellen
− Das Leben erhalten
− Dem Kranken nicht schaden
− Die Würde des Menschen achten
− Vertrauenswürdig sein“ (S. 80).
Der Verfasser des zitierten Artikels (der Arzt, Medizinhistoriker und -ethiker Eduard
Seidler) definiert die traditionelle Rolle des Arztes „als Wahrer der Gesundheit und
Kämpfer gegen die Krankheit“; diese Aspekte will er um die „alte, vielfach vergessene
Dimension der Begleitung im Leid“ erweitern. Weitere Schwerpunkte aus der heutigen
Standard-Diskussion betreffen Fragen der sozial gerechten Verteilung medizinischer
Leistungen (so genannte Ressourcenallokation), wodurch das Einzelwohl in Beziehung
gesetzt wird zum Wohl der Gesamtheit, sowie berufsständische Pflichten (insbesondere
Aufklärungs- bzw. Informationspflicht, Wahrhaftigkeit, Schweigepflicht, Wahrung der
Privatsphäre).
Diese Konstanten stehen in Verbindung mit der alten hippokratischen Tradition und
spiegeln die verschiedenen medizinethischen Deklarationen und Richtlinien auf internationaler und nationaler Ebene (vor allem Deklarationen des Weltärztebundes und Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften). Ein im ärztlichen Ethos ausgewiesener Ansatzpunkt für die Berechtigung (oder gar Pflicht) zur
Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen im weiten Rahmen einer Fristenregelung findet sich in diesen Grundlagen nicht.
Dort allerdings, wo auch nach Auffassung etlicher Moraltheologen ein Schwangerschaftsabbruch im Sinne einer Ausnahme von der Regel („Indikation“) für verständlich
oder wenigstens tolerierbar erachtet wird, verlangt das medizinische Ethos auch, dass
ein solcher Eingriff nach dem jeweiligen Stand der ärztlichen Kunst, also möglichst
schonend für die Gesundheit der betroffenen Frau, durchgeführt wird.
27
Patientenautonomie und medizinisches Ethos
In den vergangenen Jahren ist die Patientenautonomie immer stärker in den Vordergrund der medizinisch-ethischen Diskussion getreten. Das Selbstbestimmungs- bzw.
Selbstentscheidungsrecht der Patientinnen und Patienten findet jedoch – und das ist in
der medizinethischen Literatur kaum bestritten – eine Grenze am Lebensrecht anderer.
Eben diese Konstellation steht im Zentrum einer medizinethischen Bewertung der Fristenregelungspraxis. Wenn die Aufgabe des Arztes grundsätzlich im Dienst am Leben
besteht, dann kann die Tötung von sich entwickelndem menschlichem Leben nicht zu
einem regulären, gültigen Element des ärztlichen Selbstverständnisses werden. Er
könnte allerdings in das Dilemma geraten, durch Befolgung einer vorrangigen Pflicht
(nämlich das zu tun, was zur unmittelbaren Lebensrettung erforderlich ist) in bestimmten Konfliktsituationen ein anderes Leben nicht retten zu können.
In jedem Fall muss festgehalten werden, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder der Patientin die Verantwortung des Arztes und des übrigen medizinischen Personals gegenüber steht. Medizinalpersonen dürfen nicht zu willenlosen Erfüllungsgehilfen der Entscheidungen der Patienten degradiert werden.
Das Berufsbild des Arztes und des nichtärztlichen Personals steht freilich – wie die Geschichte eindringlich zeigt – in ständiger Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen
Umfeld. Es scheint in nicht wenigen Gesellschaften die Erwartung zuzunehmen, dass
das Töten Ungeborener als Teil des ärztlichen Auftrages zu gelten hat.
Theologie und Kirche müssen sich gegen solche Tendenzen zur Wehr setzen. Sie müssen betonen, dass eine Gesellschaft nicht ein Gesundheitswesen wollen kann, das sich
an das Töten menschlichen Lebens als Routine gewöhnt hat. Und die Angehörigen des
ärztlichen Berufsstandes sowie das nichtärztliche Personal sollten verdeutlichen, dass
sie nicht für die Vollstreckung des Todesurteils über gesundes menschliches Leben zuständig sind.
Mit der Zulassung des Präparats RU 486/Mifegyne und vergleichbar wirkender Mittel
ändert sich die Rolle des Arztes in bemerkenswerter Weise: Sein Anteil am gesamten
Vorgang des Schwangerschaftsabbruches wird indirekter. Die medikamentöse Tötung
der Leibesfrucht erfordert keinen direkten ärztlichen Eingriff mehr; er wirkt mit durch
Beratung, Verschreibung oder Aushändigung des Präparats und durch Begleitung der
betroffenen Frau. Die Rolle der Frau hingegen wird direkter. Ihre Eigenverantwortung
schlägt sich deutlicher in konkreten Handlungsschritten nieder.
Allerdings ändert dies noch nichts Wesentliches an der grundsätzlichen ethischen Bewertung. Sie betrifft auch das mitwirkende nicht-ärztliche Personal. Auch das Pflegepersonal untersteht den ethischen Zielen heilberuflicher Tätigkeit.
Für beide Kategorien (Ärzte und nicht-ärztliches Personal) sollten daher im Sinne einer
ethischen Minimalforderung klare rechtliche Voraussetzungen gesichert werden, damit
sie nicht zur Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen gezwungen werden können.
Dabei sind sowohl direkte wie auch indirekte Zwänge (z. B. Nichtberücksichtigung bei
Bewerbungen) zu beachten.
28
Leitsatz 8: Die familienpolitische Dimension
Es ist Aufgabe der Kirche, ihre Ablehnung der Abtreibung durch ein glaubhaftes
und konkretes familienpolitisches Engagement zu untermauern.
Die Notwendigkeit der Familienpolitik
Wenn das Kinder-Haben ausschliesslich als Privatsache betrachtet wird, in die sich
Staat und Gesellschaft nicht einzumischen und die sie somit auch nicht substanziell zu
unterstützen haben, ist es nicht erstaunlich, dass umgekehrt auch viele Paare und Frauen
die Verhinderung von Kindern – und sei es auch mittels Abtreibung – als ihre private
Angelegenheit ansehen. Die Privatisierung der Elternschaft und der Ruf nach einer Fristenregelung sind die zwei Seiten derselben Medaille, nämlich der strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber den Familien und ihren Bedürfnissen (F.-X.
Kaufmann). Somit erscheint eine Abtreibungsprävention allein durch das Strafrecht
wenig aussichtsreich, und die Schutzaufgabe des Staates gegenüber dem ungeborenen
Leben beschränkt sich auch keineswegs auf das Strafrecht. Wirksamer – aber auch teurer – dürften sozial- und gesellschaftspolitische Massnahmen zu Gunsten der Familien
sein.
Familienpolitisch muss die Schweiz, im Vergleich zu anderen Industrieländern und insbesondere im Vergleich zu ihren Nachbarn, als Entwicklungsland bezeichnet werden.
Dies gilt, um nur einige Beispiele anzuführen, für das System der sozialen Sicherheit
(keine Mutterschaftsversicherung, kein ausreichender Familienlastenausgleich, kein familienfreundliches Steuersystem) ebenso wie für das Arbeitsrecht (unzureichende Berücksichtigung von Familienpflichten im Arbeitsgesetz und im Obligationenrecht) oder
auch bezüglich der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu Gunsten der Familien (unzureichende Bereitstellung familienexterner Betreuungsplätze, unkoordinierte Schulzeiten, fehlende Mittagstische). Aus sozialethischer Sicht ist das stossend, weil erstens die
enormen Leistungen, die die Familien zu Gunsten der Gesamtgesellschaft erbringen,
nicht honoriert und zweitens die spezifischen Bedürfnisse der Familien ignoriert werden.
Besondere Dringlichkeit erhält dieser Befund angesichts der Abtreibungsproblematik:
Es muss vermutet werden, dass die strukturelle Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft
gegenüber Familien und Kindern einen gewichtigen Faktor für den individuellen Entschluss zum Abbruch einer Schwangerschaft darstellt. In einer kinderfreundlicheren
(und das heisst auf gesellschaftlicher Ebene auch: in einer durch soziale Netze besser
strukturierten, weniger atomisierten und anonymisierten) Gesellschaft könnten sich eine
betroffene Frau und ihr Partner leichter für das Kind entscheiden. Dagegen hilft der Einwand, junge Frauen und Männer, die keine Kinder wollen und diese (durch Verhütung
oder Abtreibung) verhindern, seien egoistisch nur auf den eigenen Vorteil bedacht, wenig weiter, und er ist letztlich in dieser Pauschalität auch ungerecht, weil er gesellschaftliche Defizite individualmoralisch ausgleichen will.
Die Verpflichtung der Kirche
Für das politische Engagement der Kirche zu Gunsten der Familien können drei prioritäre Aufgabenfelder benannt werden:
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1. Jungen Frauen muss ermöglicht werden, Erwerbs- und Familienarbeit besser zu
vereinbaren.
Es sind junge Frauen, die über Zeitpunkt und Zahl ihrer Kinder und faktisch auch
über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Ihnen muss glaubwürdig die Perspektive eröffnet werden, gleichzeitig erwerbstätig sein und die (gesellschaftlich
notwendigen!) Familienarbeiten erbringen zu können.
Massnahmen in diesem Bereich sind unter anderen die Schaffung familienexterner
Kinderbetreuungsmöglichkeiten, deren Kosten steuerabzugsfähig sein müssen, die
Förderung von Teilzeitarbeit (auch bezüglich Karrieremöglichkeiten) und die konsequente Berücksichtigung von Familienbedürfnissen im Arbeitsrecht.
2. Kinder dürfen kein Armutsrisiko sein.
Bezeichnenderweise liegen bis heute noch keine vertrauenswürdigen Zahlen über
die Armutsbetroffenheit von Familien mit Kindern in der Schweiz vor. Gestützt auf
den neusten und umfassendsten Armutsbericht (Leu et al.) kann aber gesagt werden:
„Der Anteil der Familien am Total der Armen beträgt rund 60 %. Dabei handelt es
sich etwa zur Hälfte um Paare mit einem oder zwei Kindern. Grössere Familien und
vor allem Alleinerziehende haben ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko. Somit sind
viele Kinder von Armut betroffen. Nachdenklich stimmt einen, dass 40 % der Armen verheiratete Paare sind, bei denen nur ein Teil erwerbstätig ist. Obwohl sich
hinter dieser Kategorie verschiedene Familientypen verbergen (Rentnerhaushalte,
Teilerwerbstätige, Paare ohne Kinder), ist das Ergebnis ein Hinweis darauf, dass ein
Einkommen für den Unterhalt einer Familie auch bei uns oft nicht mehr ausreicht
und die Zahl der sogenannten ‚working poor‘ zunimmt“ (Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen, S. 33).
Als Massnahmen in diesem Bereich drängen sich unter anderem auf: Schaffung einer erwerbsunabhängigen Mutterschaftsversicherung, Einrichtung ebenfalls erwerbsunabhängiger und bedarfsdeckender Familienzulagen, steuerliche Entlastung
von Familien, die Schaffung eines sozialen Existenzminimums zumindest für Kinder sowie die spezielle Berücksichtigung von Familien in einem zu schaffenden
Rahmengesetz für Sozialhilfe des Bundes. Der Einsatz für einen „Familienlohn“ im
direkten Anschluss an QA 71 und LE 19, 3–5 ist hingegen weniger aussichtsreich,
weil hier noch sehr stark von der traditionellen Rollenteilung zwischen dem Mann
als erwerbstätigem Ernährer seiner Familie und der Frau als Familienmutter ausgegangen wird (anders aber CA 50!).
3. Die Gesamtgesellschaft muss behindertenfreundlicher werden.
Unser qualitativ ausserordentlich hoch stehendes Gesundheitswesen hat unter anderem zur negativen Konsequenz, dass sich breite Teile der Bevölkerung an der
„Machbarkeit“ von „Gesundheit“ und damit auch an der „Vermeidbarkeit“ von
„Behinderungen“ orientieren. Die berechtigte Wertschätzung von Gesundheit
schlägt tendenziell um in die Herabsetzung von Menschen, die eben nicht in diesem
Sinne „gesund“ sind. Gleichzeitig wachsen – auch das eine prinzipiell positive Entwicklung – die diagnostischen Möglichkeiten der Medizin rasant an (Pränataldiagnostik, Gendiagnostik), ohne dass aber auf der anderen Seite die therapeutischen
Möglichkeiten damit Schritt zu halten vermöchten. Die Kombination dieser beiden
Entwicklungen ist für unser Thema von grösster Bedeutung: Sie führt dazu, dass
jede pränatal absehbare Behinderung des Kindes unterschiedslos als gravierend eingestuft und damit automatisch die Frage nach einer Abtreibung gestellt wird. Kurz:
Wenn Verfügbarkeit und Einsatz präsymptomatischer Diagnosemöglichkeiten weiter steigen, ohne dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Behinderungen und Behinderten ebenso zunimmt und deren umfassend verstandene soziale Sicherheit
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langfristig für alle einsehbar garantiert ist, besteht die dringende Gefahr, dass die
Abtreibungen zunehmen. Die Situation wird absehbar, wo eine Frau unter Rechtfertigungsdruck gerät, wenn sie wissentlich und willentlich ein „behindertes“ Kind austrägt.
Wie soll die Kirche auf diese Gefahr reagieren? Behindertenpolitische Gleichstellungsanliegen sind selbstverständlich vorbehaltlos zu unterstützen. Darüber hinaus
ist es aber nicht einfach, konkrete sozialpolitische Massnahmen für diesen dringlichen Bereich anzugeben. Es geht hier nämlich um eine gesellschaftliche Bewusstseinsbildung, für die die Kirche eine grosse Verantwortung trägt. Gleichzeitig wird
sich die Kirche weiterhin und noch verstärkt bemühen müssen, spezialseelsorgerliche und diakonische Hilfestellungen anzubieten und ein überzeugendes Gesamtkonzept zur Integration Behinderter und ihrer Familien in den Pfarreien vorzulegen.
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Leitsatz 9: Beratung
Mit jeder strafrechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs lässt sich auch
ein Beratungsmodell verbinden. Mit einer Beratung können schwangere Frauen,
die einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, in ihrer schwierigen Situation begleitet und zu einem verantworteten Entscheid geführt werden. In einer Beratung
können Alternativen zum Schwangerschaftsabbruch aufgezeigt werden. Die Beratungsstellen können den Frauen verschiedene Hilfestellungen während und nach
der Schwangerschaft anbieten und gegebenenfalls auch Frauen nach einer Abtreibung Unterstützung vermitteln.
In der politischen Diskussion um eine Neuregelung der gesetzlichen Bestimmungen
zum Schwangerschaftsabbruch ist von der CVP ein „Schutzmodell mit Beratungspflicht“ vorgeschlagen worden, das analog dem in Deutschland eingeführten Modell
entwickelt wurde. Im Vorschlag der CVP von 1997 ist es mit einer Fristenlösung kombiniert, während im Schwerpunktprogramm 1994 der CVP noch ein Beratungsmodell
mit Indikationenlösung angestrebt wurde. Die ethische Beurteilung von Indikationenund Fristenregelung wurde im Leitsatz 6 vorgenommen.
Der Schweizerische Studentenverein hat eine weiterführende Idee zur Ausgestaltung
einer Beratung vorgelegt: Er schlägt einerseits die Beteiligung einer Justizperson bei der
Beratung vor, die den getroffenen Entscheid rechtsgültig macht, andererseits wird als
Ziel der Beratung die Erarbeitung eines Sorgevertrages für das ungeborene Kind genannt.
Eine schwangere Frau, die sich mit einem allfälligen Abbruch auseinandersetzt, wird
zumindest eine Konsultation ihres Arztes in Anspruch nehmen. Nach den geltenden
gesetzlichen Vorschriften hat dieser die Aufgabe, die Indikationen für einen Schwangerschaftsabbruch zu prüfen und zu beurteilen, ob ein Abbruch vorgenommen werden
darf. Es findet also jetzt schon vor jedem Schwangerschaftsabbruch zumindest eine
Konsultation statt. Es gibt eine Anzahl Gründe, die dafür sprechen, diese zu einer umfassenden Beratung auszubauen und einem erweiterten Netz von qualifizierten Beratungsstellen zu übertragen, die von allen Frauen aufgesucht werden müssen, die einen
Schwangerschaftsabbruch erwägen:
1. Es ist unmenschlich, wenn eine Frau in einer Konfliktschwangerschaft allein gelassen wird. Sie braucht Begleitung und Betreuung auf dem Weg zu einer Entscheidung. Gleichzeitig muss sie vor allfälligem Druck bewahrt werden, der von verschiedenen Seiten auf sie ausgeübt werden kann. Schliesslich sollte auch der werdende Vater in den Prozess eingebunden werden.
2. Schon jetzt bestehen verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten für Frauen, die sich
ausserstande fühlen, ein (weiteres) Kind zur Welt zu bringen und zu betreuen. Diese
Strukturen sollten weiter ausgebaut werden, damit dem ungeborenen Kind und der
werdenden Mutter wirkliche Hilfe angeboten werden kann (vgl. Leitsatz 8). In einer
Pflichtberatung soll diese Hilfe angeboten werden, damit die schwangere Frau in jedem Fall davon Kenntnis nehmen kann.
3. Im Konflikt zwischen dem ungeborenen Kind und der werdenden Mutter in ihrem
gesellschaftlichen Umfeld muss das Lebensrecht des ungeborenen Kindes eingebracht werden; dies soll in einer Beratung geleistet werden, die sich am Schutz des
ungeborenen Kindes orientiert und mit der schwangeren Frau nach Alternativen zu
einem Schwangerschaftsabbruch sucht. So kann der Staat seine Pflicht zum Schutz
des Lebens zumindest teilweise wahrnehmen.
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4. Ein Beratungsmodell kann mit jeder zur Diskussion stehenden strafrechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruches kombiniert werden und bietet eine gute
Chance, in einer Anzahl Konfliktschwangerschaften einen Schwangerschaftsabbruch zu verhindern.
5. Die Beratungsstellen müssen so ausgestattet sein, dass sie ihr Unterstützungsangebot auch nach der Geburt sicherstellen können.
6. Die Beratungsstellen haben ebenfalls die Aufgabe, Frauen, die sich nach einem erfolgten Schwangerschaftsabbruch an sie wenden, eine kompetente Begleitung zu
ermöglichen.
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Zusammenfassung
Der katholischen Kirche der Schweiz kann es nicht gleichgültig sein, wie die rechtliche
Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in unserem Land ausfällt. Weder aus Sicht der
Verfassung noch aus Sicht der Medizin noch aus Sicht des christlichen Glaubens gibt es
Gründe dafür, das Recht auf Leben des werdenden Menschen nicht gesetzlich zu schützen. Auch das Selbstbestimmungsrecht der Mutter rechtfertigt keine „liberalere“ Gesetzgebung, wenn damit das weit fundamentalere Lebensrecht des ungeborenen Kindes
missachtet wird. Eine Fristenregelung ist von da her nicht akzeptierbar: Der Staat kann
seine Pflicht, menschliches Leben zu schützen, nicht dem privaten Entscheid überlassen.
Mit der Ablehnung der Fristenregelung ist es freilich nicht getan. Es kann in unserem
Land keine rein (straf-) rechtliche Lösung des Problems der Schwangerschaftsabbrüche
geben. Verbote allein reichen nicht aus. Es braucht vielmehr eine bessere Familienpolitik in der Schweiz, und es braucht Beratung und Unterstützung werdender Eltern, damit
realistische Alternativen zum Abbruch einer Schwangerschaft angeboten werden.
Schwangerschaftsabbruch heisst Tötung menschlichen Lebens. Unsere Gesellschaft darf
sich nicht damit abfinden, dass diese Tötung auf dem Gesetzesweg zur Normalität erklärt wird.
34
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Abkürzungen
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CA:
DH:
GS:
LE:
QA:
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