Einleitung 1. Die Philosophie des Geistes und das Projekt einer Wissenschaft des Bewußtseins Die Hirnforschung wird in absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, […] widerspruchsfrei Geist, Bewußtsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen. […] Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Das Manifest 1 Bewußtsein, Selbstbewußtsein und die für sie charakteristische Subjektivität stehen heute wieder im Zentrum philosophischer Debatten, nachdem diese zentralen Themen der Philosophie des Geistes im Laufe des 20. Jahrhunderts durch verschiedene Strömungen vernachlässigt, ausgeblendet und mitunter bereits totgesagt worden waren. In der Psychologie dominierte lange Zeit der methodische Behaviorismus, die Analytische Philosophie konzentrierte sich auf die Wissenschafts- und Sprachtheorie und im Kontext der vornehmlich von Frankreich ausgehenden subjektkritischen Postmoderne war schließlich gar vom ›Tod des Subjekts‹ die Rede. Verantwortlich für die jüngste Renaissance der Bewußtseinsphilosophie scheinen allerdings weniger philosophische Bemühungen zu sein als vielmehr die stürmische Entwicklung in den Neurowissenschaften. Noch im Jahre 1984 bedauerte der Neurologe Jean-Pierre Changeux, daß die Humanwissenschaften ihren »Mutterboden«, die Biologie, vernachlässigten und die »vielfältigen Bezüge zwischen sozialen und zerebralen Funktionen unter den Tisch fallen« ließen, weil »jede wissenschaftliche Tätigkeit, die direkt oder indirekt die Immaterialität der Seele in Zweifel zieht, […] eine Gefahr für die Religion und mit dem Feuertod zu bestrafen« sei: »Frisch auf, dezerebrieren wir die Gesellschaft!«2 Doch nur zehn Jahre später erklärte sein Kollege Francis Crick den ›Streit der Fakultäten‹ in bezug auf das Leib-Seele-Problem zugunsten der Gehirnforschung bereits für beendet: 1 2 Elger et al. 2004, 36 f. Changeux 1984, 8 f. 14 Einleitung »Die Ansicht, nur Philosophen könnten dieses Problem behandeln, ist völlig haltlos. Die Bilanz der Philosophen in den letzten zweitausend Jahren ist derart armselig, daß ihnen eine gewisse Bescheidenheit besser anstünde als die hochtrabende Überheblichkeit, die sie gewöhnlich an den Tag legen.«3 Es sei nun die Zeit gekommen, so Crick, »wissenschaftlich über das Bewußtsein (und seine Beziehung zur hypothetischen unsterblichen Seele, falls es eine Beziehung gibt) nachzudenken und […] die experimentelle Untersuchung des Bewußtseins in Angriff zu nehmen.« Nach der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts sollte nun auch der ›neuronale Code‹ des Geistes geknackt und somit endgültig das Rätsel Mensch gelöst werden. Insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Körper wollen die Gehirnforscher nun auf der Basis ihrer bahnbrechenden Erkenntnisse über Struktur und Arbeitsweise des Gehirns endgültig aufklären. Neben den Neurowissenschaftlern beteiligen sich bis heute auch Kognitionspsychologen, Biochemiker und Psychophysiker sowie Forscher aus weiteren Disziplinen an der Suche nach dem Geist im Gehirn. Mit Hilfe modernster physikalischer Meßmethoden4 können die Forscher dem Gehirn gleichsam ›bei der Arbeit zuschauen‹ und die komplexen Aktivitäten des Gehirns – wie seine Durchblutung, Stoffwechselvorgänge und bioelektrische Energieverarbeitung – sichtbar machen. Sie beanspruchen, dadurch bald die dualistische Auffassung ›korrigieren‹ zu können, derzufolge sich uns in der persönlichen Erfahrung eine tiefe Kluft zwischen dem Geistig-Seelischen, unserer Innenwelt, und dem Physikalisch-Körperlichen, der Außenwelt – zwischen Subjektivem und Objektivem – darbietet. Glücklicherweise stellt sich das Verhältnis zwischen Gehirnforschern und Philosophen heute nicht als die Konfrontation dar, die in Cricks Bemerkungen zum Ausdruck kommt. Geeint durch das gemeinsame Ziel, das Verhältnis von Geist und Gehirn zu bestimmen, haben Philosophie und Gehirnforschung im Gegenteil mehr und mehr wechselseitige Beachtung 3 4 Crick 1997, 316, zum Folgenden 10. Bildgebende Verfahren wie Positronenemissionstomographie (PET) und funktionale Kernspintomographie (fMRI) informieren über Stoffwechselveränderungen und Blutfluß im Gehirn und machen damit den Energieverbrauch aktiver Neuronen auf der Ebene größerer Areale des Gehirns sichtbar. Je aktiver die Nervenzellen, desto stärker der Blutfluß in diesen Arealen, da aktive Zellen mehr Energie verbrauchen als passive. Magnet- und Elektroencephalographie (MEG und EEG) erfassen hingegen über Elektroden von der Kopfhaut die bioelektrischen Aktivitäten sowie Veränderungen von Magnetfeldern um Neuronenverbände im Gehirn. Die ersten beiden Methoden verfügen über eine gute räumliche Auflösung, hinken aber zeitlich dem Geschehen hinterher, während es bei letzteren umgekehrt ist. Vgl. dazu einführend Greenfield 1999, ausführlicher informieren Posner & Raichle 1994. Einen Überblick über die Geschichte der Gehirnforschung bietet Breidbach 1997. 1. Die Philosophie des Geistes und die Wissenschaft des Bewußtseins 15 gefunden, was sich in der Entstehung und Etablierung einer nach Patricia Churchlands programmatischem Buch benannten »Neurophilosophie«5 niedergeschlagen hat, einer »aposteriorischen Philosophie des Mentalen«, wie Henrik Walter sie charakterisiert. Einerseits führen Messungen von Gehirnaktivitäten Neurowissenschaftler zwangsläufig zu philosophischen Fragestellungen, andererseits machen sich Philosophen neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu eigen, um die traditionellen philosophischen Fragen anzugehen. Im Zentrum der zeitgenössischen Forschungen steht somit folgerichtig die Suche nach einem, nach mehreren oder gar nach dem »neuronalen Korrelat des Bewußtseins«, d.h. solchen biochemischen und bioelektrischen Gehirnvorgängen, die sich von anderen, prinzipiell unbewußt bleibenden Vorgängen dadurch unterscheiden, daß sie mit bestimmten Aspekten des menschlichen Bewußtseins und Selbstbewußtseins einhergehen. Welche neuronalen Vorgänge oder Strukturen hier in Frage kommen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Neben Messungen am gesunden Gehirn liefern auch Patienten mit Gehirnschäden (Läsionen) aufgrund der bei ihnen auftretenden pathologischen Ausfallerscheinungen auf geistiger Ebene wichtige empirische Daten in bezug auf das Verhältnis von Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Gehirn und erlauben auch vorsichtige Rückschlüsse darüber, welche Regionen im gesunden Gehirn für welche geistigen Fähigkeiten unerläßlich zu sein scheinen.6 Die Ausweitung des Erklärungsanspruchs der Gehirnforscher auf nahezu alle wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche nimmt allerdings mitunter bizarre Züge an: Nicht nur wird von vielen Gehirnforschern beansprucht, mit neurobiologischen Erkenntnissen etwa zur Handlungsvorbereitung über ethisch-moralische Fragen wie die Freiheit des Willens entscheiden zu können, woran sich dann weitere strittige Fragen bezüglich der Verantwortung und strafrechtlichen Verfolgung von Tätern anschlie5 6 Vgl. Churchland 1986. Zum Folgenden Walter 1999, 161, der darauf aufmerksam macht, daß bereits die Kollaboration von Popper & Eccles 1982 (zuerst 1977) einen Ansatz in der Neurophilosophie darstellt. Allerdings ist bei der Auswertung pathologischer Fälle Vorsicht geboten. Denn weil Läsionen wahrscheinlich die Architektur der hochkomplexen zerebralen Wechselwirkungen im Gehirn tiefgreifend verändern, ist eine exakte Verortung einer bestimmten Bewußtseinsleistung oder gar eines Bewußtseinszentrums problematisch: Zum einen kann man einem Patienten sogar einen Großteil des Gehirns entfernen, ohne daß seine motorischen und gedanklichen Leistungen beeinträchtigt werden. Zum anderen kann es grundsätzlich bestimmten Regionen des Gehirns gelingen, die Aufgaben einer geschädigten Region zu übernehmen. Lokal begrenzte Läsionen zeigen, daß das Gehirn über alternative Wege verfügt, denselben Output zu produzieren, was auch als Plastizität des Nervensystems bezeichnet wird (vgl. Edelman & Tononi 2004, 119 ff.). 16 Einleitung ßen, sobald Handlungsfreiheit generell bestritten wird. Kernspintomographen sollen zudem die Ursache des Bösen an den Tag bringen und für die Rechtsprechung die Frage klären, warum Menschen zu Tätern werden. Auch suchen »Neurotheologen« bereits in verschiedenen Gehirnarealen nach dem menschlichen Glauben an Übersinnliches, was gar einem neurobiologischen Gottesbeweis gleichkommen soll. Neue Disziplinen wie die »Neuropädagogik« sollen unseren Schülern helfen, bei der nächsten PISAStudie besser abzuschneiden. Schließlich sollen neuronale Verschaltungen nicht nur Kreativität, Musik- und Kunstgeschmack verständlich machen, sondern auch das Konsumverhalten der Menschen, wenn »Neuroökonomen« Firmen beim Absatz ihrer Produkte helfen sollen. Demgemäß verkündeten kürzlich einige führende deutsche Gehirnforscher in einem Manifest, daß bereits »in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen« unseres Menschenbildes ins Haus stünden. Denn das Gehirn schicke sich nun an, »sich selbst zu erkennen«7. Dieses angeblich bereits am Horizont heraufziehende und grundstürzende Veränderungen der traditionellen Vorstellungen von menschlichem Geist mit sich bringende neue Menschenbild läßt sich treffend mit dem Titel des oben bereits zitierten Buches von Jean-Pierre Changeux fassen: Der neuronale Mensch. Natürlich scheinen nicht alle dieser in die Gehirnforschung gesetzten Erwartungen gleichermaßen berechtigt. Im Gegenteil haben die empirischen Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften zumeist eher neue philosophische Debatten angestoßen statt die alten philosophischen Fragen endgültig zu beantworten: Ist der Geist das Gehirn? Bilden Gehirnvorgänge eine notwendige oder gar zugleich hinreichende Grundlage für menschliches Bewußtsein und Selbstbewußtsein? Wird es einmal möglich sein, subjektives Erleben in objektiven naturwissenschaftlichen Begriffen zu erklären oder entgeht es einem solchen objektivierenden Blick prinzipiell? Lassen sich Bewußtsein und Selbstbewußtsein auf Gehirnvorgänge reduzieren oder haben unser Selbst und unser freier Wille in der Welt der Neuronen keinen Platz mehr? Erliegen wir nur einer Illusion, wenn wir alltäglich von der Realität dieser Phänomene ausgehen? Muß man die Vorstellung von einem einheitlichen Ich aufgeben, wenn man ein solches auf der Ebene der Neuronen nicht zu fassen vermag und kein Bewußtseinszentrum im Gehirn ausmachen kann? Kann man das geordnete Zusammenwirken zahlreicher Neuronen oder Neuronenverbände für die Einheit des bewußten Erlebens verantwortlich machen? Sind wir kausale Urheber unserer Handlungen und 7 Elger et al. 2004, 37. Vgl. zur sogenannten Neurotheologie Newberg, D’Aquili & Rause 2003 und Persinger 1999, zur Neuropädagogik Spitzer 2002, zu Neurobiologie und Freiheit besonders Roth 2001, dazu auch Kap. II.6. 1. Die Philosophie des Geistes und die Wissenschaft des Bewußtseins 17 für diese auch ethisch und rechtlich verantwortlich oder liefern Neuronen auch hierfür eine hinreichende Erklärung? Gerade an der letzten Frage zeigt sich, daß die Antworten der Philosophie des Geistes auf die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn nicht nur Implikationen für die theoretische, sondern auch für die praktische Philosophie enthalten. Unser Selbstverständnis als moralisch verantwortlich handelnde Subjekte führt unweigerlich zu den philosophischen Fragestellungen um Subjektivität, Selbstbewußtsein und Freiheit zurück wie auch die neuen Möglichkeiten der Bio- und Neurotechnologie. Dies wird in den jüngeren Ethik-Debatten um das Klonen und die Verwendung von Stammzellen deutlich, in denen über den personalen Status von Embryonen entschieden werden muß, weil diese zu Forschungszwecken verwendet, d.h. letztlich getötet werden sollen. Mit den hier nötigen philosophischen Differenzierungen kann und muß die Philosophie des Geistes auch solchen ethischen Fragestellungen grundlegend vorausgehen. Auch wenn also die Neurowissenschaften für das gegenwärtig große Interesse an Bewußtsein und Selbstbewußtsein verantwortlich zu sein scheinen, so sind philosophische Theorien, Argumentationen und Begriffsklärungen in der neuen »Wissenschaft des Bewußtseins«, der zahlreiche Tagungen, Sammelbände und Zeitschriften gewidmet werden, keinesfalls obsolet geworden, sondern erforderlicher denn je. Denn obwohl ein interdisziplinärer Zugang sowie eine Bündelung der Erkenntnisse zum menschlichen Bewußtsein und Selbstbewußtsein sicherlich wünschenswert ist, kann man noch nicht behaupten, diese Neurophilosophie als empirisch ausgerichtete Philosophie des Geistes gehe bereits den »sicheren Gang einer Wissenschaft«. Vielmehr steckt sie noch in den Kinderschuhen bzw. nach Robert Van Gulicks Einschätzung in einer Phase der ›außerordentlichen Wissenschaft‹ im Kuhnschen Sinne, in der alle möglichen, auch spekulativen und mitunter abwegigen Hypothesen getestet werden.8 Eines der sich aus solcher Interdisziplinarität ergebenden vorrangigen Probleme ist konzeptueller Art, denn es unterbleibt nicht selten eine genauere Bestimmung der zentralen, zugegeben schwer zu fassenden Untersuchungsgegenstände Bewußtsein und Selbstbewußtsein, die den empirischen Forschungen aber vorausgehen muß. Das führt dazu, daß die heute angebotenen überaus diversen Theorien des Bewußtseins bei genauerer Prüfung durchaus nicht immer von derselben Sache handeln; nicht selten wird sogar ein recht undifferenziertes Alltagsverständnis dieser Phänomene zugrunde gelegt. Solche Ungenauigkeit kommt gerade in Äußerungen von Gehirn8 Vgl. Van Gulick 2001a, 1 f., 29 ff. Zum Projekt einer Wissenschaft des Bewußtseins vgl. auch Revonsuo 1994 und Chalmers 2004a. 18 Einleitung forschern zum Ausdruck. So bezeichnet etwa Vilaynur Ramachandran die Forderung der Philosophen nach genaueren Phänomenbeschreibungen als »semantische Spitzfindigkeiten«, während seine Kollegen Francis Crick und Christof Koch eine vorausgehende Bestimmung dessen, was sie mit ihren Untersuchungen der neuronalen Basis des Bewußtseins eigentlich erklären wollen, gar für hinderlich halten. Damit die Neurophilosophie sich jedoch erfolgreich entwickeln kann, müssen nicht nur die Philosophen empirische Forschungen zu den biologischen Grundlagen des Bewußtseins berücksichtigen; auch darf die empirische Forschung auf eine genauere Differenzierung der Explananda nicht verzichten. Vielmehr sollte sie Rechenschaft darüber geben, was jeweils unter der Bezeichnung »Bewußtsein« erforscht wird. 9 Daher wird im ersten Teil dieser Arbeit zunächst versucht, eine solche differenzierende Bestimmung von Bewußtseins- und Selbstbewußtseinsphänomenen zu liefern – unter Berücksichtigung sowohl philosophischer Überlegungen als auch empirischer Erkenntnisse. Erst daraufhin kann eine Evaluation konkreter Theorien erfolgen (Kapitel I). Zuvor seien jedoch einige einführende Bemerkungen zum methodischen Vorgehen vorangeschickt sowie eine typologische Skizze der Positionen zum Verhältnis von Geist und Gehirn entworfen. Die zahlreichen Theorien aus der heute unüberschaubaren Literatur lassen sich in wenige Varianten des Materialismus und des Dualismus einordnen. Es sollen für jede dieser Varianten exemplarisch konkrete Lösungsvorschläge untersucht werden. Als Kriterium zur Unterscheidung der verschiedenen Varianten des Materialismus und des Dualismus soll ein prinzipielles Problem hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Gehirn und Geist dienen, das auch als Erklärungslücke bezeichnet wird. 2. Die Erklärungslücke zwischen Geist und Gehirn Der Streit zwischen Materialisten und Dualisten bestimmt schon seit der Antike die philosophischen Diskussionen zum Leib-Seele-Problem bzw. nun spezieller zur Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn. Konnte aber Gilbert Ryle 1949 noch den cartesianischen Dualismus, der die substantielle Verschiedenheit von Geist und Gehirn lehrt, als die »offizielle Doktrin« bezeichnen und heftig kritisieren, ist seitdem der Materialismus in seinen verschiedenen Spielarten zur vorherrschenden Lehrmeinung 9 Vgl. zum vorigen Crick & Koch 1990, 278; Ramachandran & Blakeslee 2002, 390. Die Unverzichtbarkeit philosophischer Begriffsklärungen gegen die Vorgehensweise von Crick, Koch u. a. betonen kritisch Metzinger 2003, 2 f.; Noë & Thompson 2004, sowie Düsing 1997, 15 u. ö.