Curriculum Psychosomatik Duale Hochschule Villingen-Schwenningen Ausbildungsbereich SOZIALWESEN IV. Quartal 2016– Modul 13 Dr. Wolfgang Ruf-Ballauf Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Facharzt für Innere Medizin Psychotherapie – Sozialmedizin – Rehabilitationswesen www.ruf-ballauf.de Tutorium: 14. oder 17. November 2016 jeweils 13:30 Uhr 1 Curriculum Psychosomatik Duale Hochschule Villingen-Schwenningen Ausbildungsbereich SOZIALWESEN IV. Quartal 2016 Lehrziele: Die Studierenden sollen Verständnis für den wechselseitigen Zusammenhang zwischen körperlichem und psychischem Befinden von Menschen auf dem Hintergrund ihrer sozialen Situation entwickeln. Sie sollen Grundkenntnisse über psychosomatische Erkrankungen sowie präventive und kurative Hilfsmöglichkeiten erhalten. Der Beitrag der Sozialarbeit innerhalb des multiprofessionellen Behandlungsteams soll dabei deutlich werden. 2 Psychosomatik Duale Hochschule Villingen-Schwenningen Ausbildungsbereich SOZIALWESEN IV. Quartal 2016 Inhalt • Grundlagen – Entwicklung der Medizin – Wechselwirkungen • Psycho-Somatische Wechselwirkungen • Somato-Psychische Wechselwirkungen • Psychosomatische Störungen im engeren Sinne 3 Inhalt • Allgemeine Psychosomatik – Psychosomatische Symptombildung – Psychosomatische Modelle • • • • • • – – – – Schwachstellenkonzept Modell der vegetativen Spannungen Modell der De- und Resomatisierung Konfliktmodell Lerntheoretisches Modell Neurobiologisches Modell („Stresskonzept“) Chronifizierung Psychosomatischer Störungen Bedeutung der Symptombildung Psycho-Somatischer Teufelskreis Vermeidung und Gratifikation 4 Inhalt • Spezielle Psychosomatik – Somatoforme Störungen – Essstörungen • Anorexia nervosa • Bulimie – Psychosomatik ausgewählter Fachgebiete • • • • • • Kardiologie Gynäkologie und Sexualstörungen Neurologie Krebs Schmerzstörungen Posttraumatische Belastungsstörungen 5 Inhalt • Behandlungsansätze – Körperbezogene Verfahren • Trainingstherapie • Körperwahrnehmung • Andere Verfahren (z.B. Feldenkrais) – Psychotherapie (Die Psychotherapieverfahren werden im Rahmen der Vorlesung „Psychodiagnostik und Psychotherapie“ abgehandelt) – Entspannungsverfahren • Autogenes Training • Progressive Muskelrelaxation • Andere Verfahren – Ergänzende Verfahren (Ergänzende Verfahren (z.B. Kreativtherapie, Tanztherapie u.a. werden im Rahmen der Vorlesung „Psychodiagnostik und Psychotherapie“ abgehandelt) • Bedeutung für die soziale Arbeit – – – – Erkennen von Störungen Umgang mit psychosomatischen Patienten/Klienten Vermeidung von Chronifizierung Beratung über Behandlungsmöglichkeiten 6 Inhalt • Epidemiologie (entfällt) – – – – – Definition und Forschungsgegenstand Epidemiologische Grundbegriffe Epidemiologische Studien, Studientypen Ausgewählte Ergebnisse epidemiologischer Forschung Beurteilung der Qualität von Studien Bitte lesen Sie hierzu das Vorlesungsskript ab S. 33! 7 Psychosomatik - Betrachtungsebenen • Die biologische Ebene der Körperstruktur und –funktion: traditionelle Sichtweise des Menschen als Summe seiner Einzelteile und einzelnen Funktionen der Zellen und Organsysteme; auch seelische Funktionen werden hierunter subsumiert. Diese Ebene wird häufig auch als „objektive Ebene“ betrachtet. • Die personale Ebene: hier rückt die Persönlichkeit des Betroffenen in den Vordergrund. Diese „subjektiven Ebene“ ist geprägt von eigenen Erfahrungen (Biographie), Wertungen, Emotionen und Kognitionen (Denken), die von der objektiven Ebene sehr verschieden sein können, für den Betroffenen aber entscheidend sind. 8 Psychosomatik - Betrachtungsebenen • Die interpersonelle Ebene: der Fokus der Betrachtung liegt hier bei den zwischenmenschlichen Auswirkungen und Interaktionen im Zusammenhang mit seelisch-körperlichen Störungen. Oft sind interaktionelle Konflikte auch Ursache psychosomatischer Störungen. Insbesondere frühkindliche Konflikte mit sozialen Objekten (Bezugspersonen) können sich so verfestigen, dass sie zeitlebens zu Gesundheitsstörungen beitragen (s. Chronifizierung). • Die soziokulturelle Ebene: Einstellungen, Erlebnis- und Verhaltensweisen sind auch durch gesellschaftliche Normen geprägt, die in jeder Gesellschaft verschieden sind. Dies betrifft u.a. die Einstellung zum eigenen Körper und zur Sexualität, die Bedeutung des familiären Zusammenhalts, zur Freizügigkeit usw. 9 Psychosomatik - Betrachtungsebenen • Die Integration der verschiedenen Betrachtungsebenen zu einer ganzheitlichen Sicht ist das Ziel in der Psychosomatik 10 Curriculum Psychosomatik- Einführung psychosomatisches Denken am Beispiel aus der Frankfurter Appendizitis-Studie: Appendizitis = Blinddarmentzündung Operationsindikation: akute Appendizitis anschließend wurde die Diagnose durch feingewebliche Untersuchung bestätigt (korrekte Diagnose) oder widerlegt (Fehldiagnose) %-Anteil Männer %-Anteil Frauen -----------------------------------------------------------------------------akute Appendizitis 59 41 keine akute Appendizitis 28 72 (=Fehldiagnosen) -----------------------------------------------------------------------------11 Curriculum Psychosomatik- Einführung psychosomatisches Denken am Beispiel aus der Frankfurter Appendizitis-Studie: Operationsindikation: akute Appendizitis anschließend wurde die Diagnose durch feingewebliche Untersuchung bestätigt (korrekte Diagnose) oder widerlegt (Fehldiagnose) %-Anteil Männer %-Anteil Frauen alle 23-25 Jährige -----------------------------------------------------------------------------akute Appendizitis 59 41 davon keine akute Appendizitis 28 72 61 (=Fehldiagnosen) -----------------------------------------------------------------------------12 Curriculum Psychosomatik- Einführung psychosomatisches Denken am Beispiel aus der Frankfurter Appendizitis-Studie: Relative Häufigkeit der Fehldiagnosen bei Männern und jungen Frauen, aufgeschlüsselt nach Wochentagen 0,7 0,6 0,5 0,4 Männer 0,3 j.Frauen 0,2 0,1 0 MI DO FR SA/SO MO DI 13 Allgemeine Psychosomatik Begriffsklärungen SEELE KÖRPER PSYCHE = Seele SOMA = Körper Psychosomatik umfasst • Seelisch-leibliche (psychosomatische) Zusammenhänge • Leiblich-seelische (somatopsychische) Zusammenhänge 14 Allgemeine Psychosomatik psychosomatische Wechselwirkungen SEELE KÖRPER Primär seelische Störungen, die • körperliche Auswirkungen zeigen – • sich nur oder überwiegend körperlich bemerkbar machen – • Beispiel: Depression -> Druck in der Brust Beispiel: Panikattacke -> Herzjagen durch Körperreaktionen die seelische Störung (negativ) beeinflussen – Beispiel: „Angst vor der Angst“ 15 Allgemeine Psychosomatik somatopsychische Wechselwirkungen SEELE KÖRPER Primär körperliche Störungen, die • seelische Auswirkungen zeigen – • sich nur oder überwiegend seelisch bemerkbar machen – • Beispiel: Depression nach Herzinfarkt Beispiel: Depression bei Schilddrüsenunterfunktion durch psychische Symptome die körperliche Störung (negativ) beeinflussen – Beispiel: Schmerzen -> Depression -> stärkere Schmerzen 16 Allgemeine Psychosomatik psychosomatische Störungen KÖRPER SEELE Psychosomatische Störungen im engeren Sinne: • Somatisierungsstörungen – • d.h. körperliche Störungen ohne körperliche Ursache (sog. funktionelle Störungen) Beispiel: Reizdarm „klassische“ Psychosomatosen – körperliche Störungen, bei denen eine seelische Ursache vermutet wird, jedoch nicht offensichtlich ist: Beispiele: Bluthochdruck, Störungen des Immunsystems (Allergien und sog. Autoimmunerkrankungen), hormonelle Störungen (Schilddrüsenüberfunktion), u.a. 17 Allgemeine Psychosomatik psychosomatische Symptombildung Psychosomatische Symptome können Folge sein von • Disposition, die entweder biologischer Natur („angeboren“ bzw. genetisch festgelegt) ist oder biographisch durch frühkindliche Prägungen (Beziehungsdefizite, Beziehungskonflikte, Traumatisierungen) erworben wurde • negativen lebensgeschichtlichen Erfahrungen im weiteren Verlauf des Lebens • nicht gelungene Bewältigung („Coping“-Defizit) biographischer Erfahrungen oder durchgemachter Krankheiten, auch Traumata oder • Spezielle Auslöser z.B. Stress, Konflikte, Trennungen u.a. 18 Allgemeine Psychosomatik psychosomatische Symptombildung Psychosomatische Symptome können bedeuten: • Körperlicher Ausdruck seelischer Befindlichkeit (Somatisierung) • Körperlicher Ausdruck einer Gefühlsspannung (oft als vegetative Reaktion) • Symbolhafte körperliche Darstellung eines seelischen Konflikts (Konversion) • Abwehr eines seelischen Konflikts (Verdrängung ins Körperliche) • Nonverbale Kommunikationsform bzw. Mitteilung („Sprachrohr“) • Interaktionsform (Beziehungsgestaltung) 19 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Übersicht Klassisches Modell der vegetativen Spannungen (durch Handlungsblockierung) Psychoanalytisches Modell (Konfliktmodell) Theorie der De- und Resomatisierung Lerntheoretisches Modell Neurobiologisches Modell (Stressmodell) 20 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Konzept der körperlichen Schwachstelle Warum nur bestimmte Organe betroffen sind oder bestimmte Symptome auftreten wird mit dem „Schwachstellenkonzept“ erklärt. Jeder Mensch soll eine körperliche Schwachstelle haben mit der er meistens reagiert oder wo sich allgemeine Spannungen bevorzugt niederschlagen. Beispiele (das Schwachstellenkonzept ist im Volksmund durchaus beliebt): Ø „das schlägt mir auf den Magen“ Ø „das macht mir Kopfzerbrechen“ Ø „er hat seine Last zu Tragen“ Ø „sie steht unter Druck“ 21 Ø „das geht mir an die Nieren“ Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Modell der vegetativen Spannung Psychosomatische Störungen entstehen, wenn eine nach außen gerichtete Handlung unterlassen wird. Auf diese Weise könne die emotionale Spannung, die Anlass zu dieser Handlung ist, nicht abgeführt werden und zieht -vor allem im Wiederholungsfall- eine bleibende Anspannung im vegetativen Nervensystem nach sich. Langfristig führt dies zu Organ-Schäden. Man kann diese Organ-Schäden demnach als Folge einer normalen Reaktion der vegetativen Organe auf das Anhalten einer nicht abgeführten emotionalen Spannung auffassen. Beispiel: Schäden durch permanenten Stress 22 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Psychoanalytisches Modell (Konfliktmodell) • Ein Konflikt ergibt sich aus dem gleichzeitigen Vorhandensein oder Aufeinandertreffen gegensätzlicher Einstellungen, Interessen, Wünschen, Bedürfnissen ... • Konflikte führen häufig zu starken emotionalen Spannungen und Reaktionen mit dem Impuls zu handeln, um die Konfliktspannung abzubauen. Ø Interpersonelle Konflikte sind häufig Folge ungelöster bzw. verdrängter innerer Konflikte. 23 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Psychoanalytisches Modell Theorie der inneren und neurotischen Konflikte äußerer Konflikt (interaktioneller Konflikt) in frühester Kindheit Verinnerlichung (Abbildung des Konfliktmusters im Inneren infolge ständiger Wiederholung) Innerer Konflikt (als „Ambivalenzkonflikt“, d.h. ein inneres Hin-und-Hergerissen-sein) Neurotischer Konflikt (als Folge der Verdrängung = Unbewusstmachung einer Seite des Konflikts) 24 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Psychoanalytisches Modell (Konfliktmodell) Innere Konflikte führen zu gesundheitlichen Störungen, wenn • sie nicht gelöst werden können, • die Konfliktspannung hoch ist • und vor allem: wenn Konflikte in ihrer wirklichen Dimension nicht bewusst sind, d.h. wenn ein Teil des Konfliktes verdrängt wurde (neurotischer Konflikt), weil ein gegensätzlicher Wunsch nicht akzeptabel ist. 25 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Psychoanalytisches Modell (Konfliktmodell) Beispiel Konfliktmodell: (Fallvigniette: Herr M., 45 Jahre) Herr M. ist im Betrieb anerkannt und erfolgreich. Er hat sich hochgearbeitet. Als der bisherige Chef in den Ruhestand geht, wird diese Position wird von einer jüngeren, energischen Frau eingenommen. Herr M. gibt sich Mühe und arbeitet zunächst erfolgreich weiter. Nach einem halben Jahr entwickelt er hohen Blutdruck und wird nach einem Jahr schließlich wegen (depressiver) Erschöpfung krank geschrieben. Aus der Lebensgeschichte von Herrn M.: Das Verhältnis zur vielbeschäftigten Mutter war durch hohe Erwartungen an Pflichterfüllung und Leistung geprägt. Anerkennung und Wertschätzung wurde über Leistung erreicht, Ärger musste unterdrückt werden, da dies 26 Zuwendung gefährdet hätte. Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Psychoanalytisches Modell (Konfliktmodell) Fallvigniette: Herr M., 45 Jahre – Fortsetzung Leistung bedeutet für Herrn M. Zuwendung; dies gelingt nur bei gleichzeitiger Unterdrückung (Verdrängung) aggressiver Impulse (gegenüber der Mutter). Es entsteht ein innerer Konflikt (Auflehnung versus Anpassung). In der neuen Chefin erlebt Herr M. unbewusst eine Wiederholung des Konflikts zur Mutter. Er passt sich an, gibt sich Mühe, wird aber in seiner (unrealistischen) Erwartung bezüglich Anerkennung und Wertschätzung frustriert. Den Ärger darüber kann er nicht äußern, da er unbewusst bleibt (Verdrängung aggressiver Impulse). Dies führt in seinem Fall zu Bluthochdruck und schließlich zur Depression. 27 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Theorie der De- und Resomatisierung „Säuglinge sind Somatisierer“ Säuglinge reagieren unmittelbar körperlich auf eine Störung ihrer Wohlbefindlichkeit. Dies ist eine Form der Kommunikation, die ja verbal noch nicht möglich ist. Der direkte körperliche Ausdruck wird Primärprozess genannt.. Entwicklungsaufgabe: De-Somatisierung Im Lauf der Entwicklung lernt das Kleinkind, Unlustgefühle verbal mitzuteilen, Gefühlsspannungen bis zu einem gewissen Grad auszuhalten und Befriedigungswünsche zeitweilig zurückzustellen (Sekundärprozess). Die Veränderung der Reaktionsweise vom Primär- zum Sekundärprozess entspricht der Abkehr vom Lustprinzip 28 und Hinwendung zum Realitätsprinzip. Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Theorie der De- und Resomatisierung Das Ergebnis der De-Somatisierung ist, dass seelische Spannungen nicht mehr primär körperliche Reaktionen hervorrufen. Re-Somatisierung: In Stress-, Konflikt- oder Gefahrsituationen kann es dazu kommen, dass alte Muster der Primärprozesse wieder aktiviert werden und unmittelbar körperliche Reaktionen auftreten. Dies nennt man ReSomatisierung. Die Verknüpfung von Auslöser und Körperreaktion ist oft nicht erkennbar oder bleibt unbewusst. 29 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Lerntheoretisches Modell (Wiederholung) Die Verhaltensmedizin hat auf der Basis der Lerntheorie alternative Modelle entwickelt. Als integratives, ganzheitlich-systemisches Modell setzt sich heute das bio-psycho-soziale Modell durch. Biologische Psycholog. Faktoren Faktoren Soziale Faktoren 30 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Lerntheoretisches Modell Biologische, psychologische und soziale Faktoren stehen zueinander in Wechselwirkung und bilden ein Bedingungsgefüge für Krankheitsentstehung und Gesundung (Salutogenese). Welches Organ von einer Störung betroffen ist, wird als individuelle Reaktionsbereitschaft verstanden (s. Schwachstellenkonzept) Gefühlsvorgänge können wie körperliche Vorgänge konditioniert werden und finden ihren Niederschlag im vegetativen Nervensystem und im Hormonsystem. B P S 31 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Bedingungsgefüge als Basis der Verhaltensanalyse Biologische und Soziale Faktoren: • B biologische, physiologische, biochemische (medizinische) Bedingungen • O soziale und ökologische Bedingungen Psychologische Faktoren: • L Lerngeschichte und situative (psychologische) Bedingungen • P dispositionelle, persönlichkeitsstrukturelle, affektive und kognitive (psychologische) Bedigungen 32 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Lerntheoretisches Modell Fallvigniette: Frau S., 25 Jahre Die verheiratete Patientin leidet seit vielen Jahren unter Bauchschmerzen und Dyspareunie. Im letzten Jahr nahmen die Schmerzen zu und es kam zu nächtlichen Schmerzanfällen. Wegen Verdacht auf Appendizitis wird eine Appendektomie vorgenommen, die die Schmerzen jedoch nicht beseitigt. Nach ausführlicher Diagnostik wird eine Milchzucker-Unverträglichkeit festgestellt. Eine Laktose-freie Diät erbringt jedoch auch keine Besserung. Bei der psychologischen Untersuchung fällt eine Selbstunsicherheit und die Unfähigkeit “nein” zu sagen auf. Ferner vermittelt die Patientin den Eindruck, dass ihre Mutter alles regelt und keinen Widerspruch duldet. Aus der Biographie erfahren wir, dass die Patientin jahrelang vom Ehemann der älteren Schwester missbraucht worden ist. 33 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Lerntheoretisches Modell - Verhaltensanalyse: Betrachtungsebenen des Verhaltens am Fallbeispiel • B biologisch-medizinische Zugangsund Beschreibungsebene • z.B. Beschwerdemuster (Unterbauchschmerzen) • A affektive Ebene • Unfähigkeit zur Wahrnehmung und Beschreibung eigener Gefühle (z.B. Angst, Wut ...) • M motivationale Ebene • Gehorsam, Pflicht 34 Allgemeine Psychosomatik- Theoretische Konzepte Lerntheoretisches Modell - Verhaltensanalyse: Betrachtungsebenen des Verhaltens am Fallbeispiel • M motorisch-verhaltensmäßige Ebene • Einschränkung der sozialen Kompetenz durch Passivität und Vermeidungsverhalten • P perzeptiv-kognitive Ebene • „ich kann mich nicht wehren“, erlernte Hilflosigkeit • I interpersonelle Ebene • inadäquate Kommunikationsmuster in der Folge einer verzerrten Wahrnehmung anderer (des Ehemannes) 35 Allgemeine Psychosomatikpsychosomatischer Kreislauf Körpersymptom Selbstbeobachtung ängstliche Besorgnis Psych. Symptom Bei psycho-somatischen Störungen stellt sich oft ein Teufelskreis („circulus vitiosus“) ein, der die Behandlung erschwert, der jedoch durchbrochen 36 werden muss. Allgemeine Psychosomatikpsychosomatischer Kreislauf Herzrasen bei Panikattacke HERZ Körpersymptom Wann kommt die nächste Attacke? Selbstbeobachtung ANGST tritt später auf wegen möglicher neuer Attacken („Angst vor der Angst“) Was ist mit meinem Herzen los? ängstliche Besorgnis Psych. Symptom überstehe ich die nächste Attacke? Ich bin vielleicht herzkrank ANGST Bei psycho-somatischen Störungen stellt sich oft ein Teufelskreis („circulus vitiosus“) ein, der die Behandlung erschwert, der jedoch durchbrochen 37 werden muss. Allgemeine Psychosomatikpsychosomatische Störungen und Krankheitsgewinn Unter Krankheitsgewinn versteht man den „Nutzen“ oder Vorteil, der durch das Auftreten einer Krankheit oder eines Symptoms für den Erkrankten auftritt. • Primärer Krankheitsgewinn – • Unmittelbar positive Effekte einer Krankheit (Ruhe, Erholung, Entlastung ...) – fördern die Heilung / Regeneration Sekundärer Krankheitsgewinn – Mittelbare Vorteile durch die Erkrankung (Krankschreibung, Versorgung, Krankengeld, Rente ...) – wirkt der Heilung entgegen und birgt die Gefahr der Chronifizierung einer Störung In der Psychosomatik spielt der sekundäre Krankheitsgewinn oft eine erhebliche Rolle und verhindert dann eine erfolgreiche Behandlung. In der Sozialarbeit ist dieser sekundäre Krankheitsgewinn oft 38 Gegenstand der Beratung. Allgemeine Psychosomatikpsychosomatische Störungen und Chronifizierung Psychosomatische Störungen neigen zur Chronifizierung. Die wird begünstigt durch – lange medizinische „Karriere“ vor der eigentlichen Diagnosestellung (ca. 5-7 Jahre!) – Das Symptom wird „benötigt“ (zur Entlastung, um Aufmerksamkeit zu erhalten, …) – Die eigentlichen Konflikte werden nicht gelöst oder sind nicht lösbar – Das Symptom „steuert“ interpersonale Beziehungen – Spirale von körperlicher und seelischer Beeinträchtigung („psychosomatischer Teufelskreis“ – s.o.) – Sekundärer Krankheitsgewinn mit – Gratifikationserwartungen 39 Allgemeine PsychosomatikSymptombildung – Auslösesituationen (1) • Eine bisher stabile Bewältigungsstrategie wird labilisiert Beispiel: die Neigung zum Naschen von Süßigkeiten kann im Stress nicht mehr unterdrückt werden, Symptom: Gewichtszunahme. • Eine neue Verarbeitungsstrategie produziert Symptome Beispiel: Ein sonst aktiver Mensch verhält sich nach Herzinfarkt plötzlich passiv („ich muss mich schonen“) und hat negative Kognitionen („ausgerechnet mir muss das passieren“). Symptom: Depressivität. • Eine defizitäre Persönlichkeitsstruktur führt zur Symptombildung Beispiel: Impulsdurchbrüche und abnorme Kränkbarkeit bei BorderlineStörung. Symptom: Fremd- oder Eigenaggression. 40 Allgemeine PsychosomatikSymptombildung – Auslösesituationen (2) • Neurotische Symptombildung: stabile Abwehr eines unbewussten Konflikts um den Preis der Einengung und Symptombildung Beispiel: Durch ausgeprägtes Vermeidungsverhalten bei situativen Ängsten (Phobien) kann die Angst zwar kontrolliert werden, jedoch kann die konsequente Vermeidung angstauslösender Situationen eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität bedeuten. Symptom: sozialer Rückzug, Immobilität, Unfähigkeit, notwendige Dinge zu erledigen. • Neurotische Symptombildung: der (neurotischer) Konflikt kann nicht mehr abgewehrt werden, weil er re-aktualisiert wird (s. Fallvigniette Konfliktmodell) 41 Spezielle PsychosomatikKapitel F des ICD-10 in der Übersicht • F00-F09 • F10-F19 • • • • F20-F29 F30-F39 F40-F48 F50-F59 • • • • F60-F69 F70-F79 F80-F89 F90-F98 • F99 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Affektive Störungen Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Intelligenzminderung Entwicklungsstörungen Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Nicht näher bezeichnete psychische Störungen 42 Häufig finden sich psychosomatische Symptome und Störungen in folgenden ICD-10 F-Untergruppen • Somatisierungsstörungen – F45.1/F45.2 • Essstörungen – F50 • sexuelle Funktionsstörungen – F52 • Konversionsstörungen (z.B. psychogene Lähmung) – F44 • (somatoforme) Schmerzstörungen F45.4 • Posttraumatische Belastungsstörungen (BTPS) – F43.1 • Psychische Faktoren bei körperlichen Krankheiten – F54 -----------------------------------------------------------------------------• Depressive Störungen mit „somatischem Syndrom“ – F32/F33 • Angststörungen, insbesondere Panikstörung - F40/F41 • Zwangsstörungen (Folgen von Zwangshandlungen) - F42 • Substanzmissbrauch und Abhängigkeit – F55 43 • Schlafstörungen – F51 Spezielle Psychosomatik: Somatoforme Störungen – F45 Definition der somatoformen Störungen Das Charakteristikum ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Wenn körperliche Befunde vorhanden sind, erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten. Unterteilung der somatoformen Störungen: Somatisierungsstörungen (Video-Fallvorstellung) hypochondrischen Störungen (Fallbeispiel im Skript) Somatoforme autonome Funktionsstörung (Fall „Herzschmerz“) Somatoforme Schmerzstörungen (Video-Fallvorstellung) 44 Spezielle Psychosomatik: Somatisierungsstörungen - F45.1/F45.2 Bei den Somatisierungsstörungen sind vielfältige, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome charakteristisch, die wenigstens zwei Jahre bestehen. Die meisten Patienten haben eine lange und komplizierte Patienten-Karriere hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen und vergebliche Operationen durchgeführt sein können. Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen. Der Verlauf der Störung ist chronisch und wechselnd und häufig mit einer langdauernden Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens verbunden. 45 Beispiel: Video-Falldemonstration „Chronifizierte Somatisierungsstörung“ Spezielle Psychosomatik: Somatoforme Störungen – F45 Bedeutung der somatoformen Störungen Ø Somatoforme Störungen sind außerordentlich häufig und führen zu einer übermäßigen Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Versorgungssysteme (SozialarbeiterInnen!), verursachen dadurch erhebliche Kosten und bergen die Gefahr, durch Komplikationen medizinischer Eingriffe eine Schädigung zu erleiden 46 Spezielle Psychosomatik: Essstörungen – Lebenserwartung und BMI BMI = body mass index • BMI = Körpergewicht in kg dividiert durch Körpergröße in Metern2 BMI Gewichtsgrenzen o < 13 akute Lebensgefahr o < 18 Magersucht o 18-20 Untergewicht o 20-25 Normalgewicht o 25-30 geringes bis mittleres Übergewicht o 30-40 Adipositas (Fettsucht) 47 o > 40 schwere Fettsucht Spezielle Psychosomatik: Essstörungen – Anorexia nervosa (Magersucht) • Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und ältere Frauen sind selten betroffen. • Die Krankheit ist mit speziellen Vorstellungen über den Körper verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. 48 Spezielle Psychosomatik: Essstörungen – Anorexia nervosa (Magersucht) Fallbeispiel: Skript S. 20 Die 15jährige Gymnasiastin M. wog 54 kg bei einer Größe von 1,64 m (BMI 20). Im Mai begann sie nach Hänseleien über ihr Aussehen eine Diät. Sie aß vermehrt Rohkost und verzichtete auf Süßigkeiten. Nach einer Gewichtsabnahme von 2 kg begann sie zu joggen, erst ein bis zweimal pro Woche, später dann täglich für ein bis zwei Stunden. Sie nahm noch einmal 3 kg an Gewicht ab. Nachdem die Eltern im Juli erfuhren, das M.s Regelblutung ausblieb, kam es zur Vorstellung beim Kinderarzt, der vor einer weiteren Gewichtsabnahme warnte. Trotz mehrfachen Bemühens der Eltern, ihre Tochter zu einer normalen Nahrungsaufnahme zu bewegen, aß M. zunehmend nur noch Obst und Joghurt und nahm weiterhin an Gewicht ab. (… ) Nach einem erneuten Kreislaufkollaps wurde M. bei einem Gewicht von 41 kg (BMI 15) in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie aufgenommen. BMI Gewichtsgrenzen o < 13 akute Lebensgefahr o < 18 Magersucht o 18-20 Untergewicht o 20-25 Normalgewicht 49 Spezielle Psychosomatik: Essstörungen – Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) Ein Syndrom, das durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert ist. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und Erbrechen oder Gebrauch von Abführmitteln. Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der Anorexia nervosa, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht. Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen (Störungen der Blutsalze) und körperlichen Komplikationen führen. Bei Bulimie steht die Angst vor Gewichtszunahme und die ständige Beschäftigung mit dem Thema Essen im Vordergrund. 50 Spezielle Psychosomatik: Essstörungen – Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) Fallbeispiel Skript S.21: Bei der leicht übergewichtigen 17jährigen T. (BMI 24) bestanden seit dem Wechsel auf die weiterführende Schule Probleme im sozialen Bereich. Häufig hatte sie Auseinandersetzungen mit Mitschülerinnen, da sie sehr impulsiv und heftig auf Kritik und Kränkung reagierte. In ihrer Klasse hatte T. nur wenige Freunde. Auch im familiären Rahmen kam es häufig zu Streit mit den Eltern und Geschwistern, infolge dessen T. sich oft angespannt und wütend auf ihr Zimmer zurückzog. Die Wut schlug schnell in Traurigkeit und Hilflosigkeit um. T. fühlte sich einsam und von niemanden verstanden. In diesen Phasen begann sie im Alter von 16 Jahren aus „Frust“ größere Mengen Schokolade zu essen…. Aus Scham verheimlichte sie die Essattacken und das Erbrechen gegenüber Familie und Freunden. Die Mutter bemerkte zwar, dass Lebensmittel fehlten, eine Erklärung hatte sie aber nicht. Erst nachdem T. im Alter von 17,5 Jahren dabei beobachtet wurde, wie sie Geld aus ihrem Portemonnaie ihrer Mutter n ahm, um Nahrungsmittel zu kaufen, erzählte sie ihrer Mutter von ihrer Krankheit. Dieses führte zur Einleitung einer ambulanten Psychotherapie. 51 Spezielle Psychosomatik: Psycho-Kardiologie - Herzbeteiligung bei psychischen Störungen (z.B. Panikattacken) - Herz als „Schwachstellenorgang“ bei Somatisierung - Psychosoziale Faktoren bei Herzkrankheiten (z.B. Herzinfarkt) Koronare Herzkrankheit (KHK) Somatische Risikofaktoren beeinflussbar: Rauchen Bluthochdruck Hohe Blutfettwerte Zuckerkrankheit androides Übergewicht (Bauchfett) nicht beeinflussbar: Alter, Geschlecht Vererbung Psychosoziale Risikofaktoren psychisch: Depressivität vitale Erschöpfung phobische Angst „Hostility“ sozial: Soziale Isolierung niedriger sozioökonomischer Status berufliche Distressbelastung 52 (negativer Stress Spezielle Psychosomatik: Psychosomatische Gynäkologie Übersicht • Primär körperliche gynäkologische Erkrankungen mit seelischen Folgen z.B. Depression und Sexualstörungen bei unerfülltem Kinderwunsch oder Angststörung nach Krebserkrankung • Primär seelische Ursachen gynäkologischer Beschwerden meist Unterbauchbeschwerden infolge Konfliktsituationen z.B. bei inneren Konflikten, Identitätskonflikten (Rolle als Frau), Selbstwertkonflikten oder Partnerkonflikten • Psychosoziale Ursachen gynäkologischer Beschwerden aktuelle oder frühere Belastungen aus dem Umfeld z.B. durch sexuellen Missbrauch, Doppelbelastung (Familie und Beruf), Situation als Alleinerziehende, belastende Lebensereignisse u.a. Fallbeispiel s. 53 lerntheoretisches Modell Spezielle Psychosomatik: Psychosomatische Neurologie Konversionsstörungen • Konversion ist die Umwandlung oder Verschiebung eines seelischen Konflikts bzw. einer seelischen Belastungssituation ins Körperliche und tritt meist in der Folge interpersonaler Schwierigkeiten auf Fallbeispiel: Skript S. 23: Eine 46-jährige Hausfrau wurde vom Psychiater ihres Mannes zur Konsultation überwiesen. Im Verlauf der Erörterung bestimmter Ehekonflikte, die er mit seiner Frau hatte, hatte der Mann die „Schwindelattacken“ seiner Frau erwähnt, die sie sehr behinderten. In der Konsultation beschrieb die Frau, sie werde vier oder fünf Abende pro Woche von extremem Schwindel, begleitet von leichter Übelkeit, überwältigt. Während dieser Attacken erscheine ihr das Zimmer um sie herum „schimmernd“ und sie habe das Gefühl zu „schweben“ …. Auf die Frage nach ihrer Ehe beschrieb die Frau ihren Mann als äußerst anspruchsvollen Tyrannen, der sie und ihre vier Kinder verbal misshandelte. Sie gab zu, dass sie täglich seine Rückkehr von der Arbeit fürchtete, weil sie wusste, dass er das Haus als Saustall bezeichnen und 54 ihm das Essen, wenn es eines gab, nicht schmecken würde… Spezielle Psychosomatik: Psychosomatische Neurologie Dissoziative Störungen • Dissoziation wird definiert als teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen. Dissoziation heißt Trennung oder Spaltung; Gemeint ist die Trennung von Gefühl und Inhalt einer belastenden Situation, oft ausgelöst durch oder in der Folge einer Traumatisierung. Fallbeispiel: Skript S. 24: Eine 23-jährige Frau wird schuldlos in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt, bei dem ein Mensch stirbt und zwei weitere schwere Verletzungen erleiden. Sie selbst bleibt wie durch ein Wunder unverletzt. Wie Umstehende später berichten, verhält sich die junge Frau ruhig und zielgerichtet, alarmiert die Rettungsdienste und kümmert sich um die Verletzten. Nach dem Abtransport der Verletzten erscheint sie zunehmend 55 teilnahmslos und distanziert. … Spezielle Psychosomatik: Schmerzstörungen "Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder möglichen Gewebsschädigung einher geht oder als solches beschrieben wird. Schmerz ist immer subjektiv.„ Schmerzdefinition der Internationalen Gesellschaft zum 56 Studium des Schmerzes Spezielle Psychosomatik: Schmerzstörungen "Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder möglichen Gewebsschädigung einher geht oder als solches beschrieben wird. Schmerz ist immer subjektiv.„ Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes 57 Spezielle Psychosomatik: Schmerzstörungen Anhaltende Somatoforme Schmerzstörung • Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen Körpervorgang oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf. Die Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder medizinische Hilfe und Unterstützung. Schmerzzustände die andere psychische Störungen begleiten können (z.B. bei Depression oder Schizophrenie), sind hier nicht gemeint. Beispiel: Video-Falldemonstration „Schmerzen beim Gehen“ 58 Spezielle Psychosomatik: Schmerzstörungen Chronifizierung von Schmerz • • • • • • Entwicklung einer Schmerzgewohnheit Schmerzgedächtnis des Körpers Schmerz als Ausdruck eines seelischen Konflikts Schmerz als Folge einer Traumatisierung Sekundärer Krankheitsgewinn Reaktion der Umwelt In Deutschland leiden 6 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen! Die geschätzten Kosten (Untersuchungen, Medikamente, Arbeitsausfall, Frühberentung usw.) betragen ca. 25 Milliarden Euro jährlich. 59 Spezielle Psychosomatik: Schmerzstörungen Chronischer Spannungskopfschmerz mögliche psychosomatische Ursachen • psychosozialer Stress, • Arbeitsstress, • zwischenmenschliche Belastungen, • Schlafstörungen, • sexuelle Probleme, • Angststörungen, • depressive Erkrankungen oder • Störungen der Schulter-Nacken-Muskulatur 60 Spezielle Psychosomatik: Psychotraumatologie Posttraumatische Belastungsstörung (BTPS) Diese entsteht als eine verzögerte oder/und verlängerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Bei welchen Menschen nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS ausgelöst wird, lässt sich nicht vorhersagen. Häufigkeit der PTBS nach folgenden Ereignissen: Vergewaltigung (55%), Kriegserfahrungen (39%), Misshandlungen in der Kindheit (35%), Vernachlässigung in der Kindheit (22%), sexuelle Belästigung (19%), Verkehrsunfälle (11%), Naturkatastrophen (5%). 61 Spezielle Psychosomatik: Psychotraumatologie Posttraumatische Belastungsstörung (BTPS) Fallbeispiel Skript S. 27: Die 22-jährige Studentin Maja K. besucht ihre Freundin, die in einer anderen Stadt wohnt. Sie übernachtet bei der Freundin in deren Dachgeschoßwohnung. Als sie abends nach einem Kinobesuch schlafen gehen wollen, bemerken sie Rauch in der Wohnung. Nach einigem Suchen entdecken sie, dass der Rauch aus dem Treppenhaus kommt. Sie können noch die Feuerwehr alarmieren, aber da sich die Wohnung rasend schnell mit Rauch füllt, geraten beide in Panik und stehen Todesängste aus, ob sie von der Feuerwehr rechtzeitig gerettet werden können. Sie werden beide von der Feuerwehr über Drehleitern evakuiert und überstehen den Brand soweit unbeschadet. Einige Wochen nach dem Erlebnis stellen sich bei Maja erste Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung ein. Rauchartige Gerüche, aber auch scheinbar neutrale Situationen lösen bei ihr Intrusionen aus, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlt. Sie hat große Schwierigkeiten sich länger in höheren Etagen eines Gebäudes aufzuhalten… 62 Spezielle Psychosomatik: Psychotraumatologie Posttraumatische Belastungsstörung (BTPS) Typische Merkmale Ø wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Intrusionen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen Ø andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit Ø Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen Ø Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Freudlosigkeit Ø Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten (sog. Triggersituationen) Ø Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen Ø Angst und Depression häufig als Begleitstörungen oder Folgen Ø Suizidgedanken nicht selten Ø Erschüttertes (Selbst-) Vertrauen Ø Schuld- und Schamgefühle Behandlung der BTPS s. Vorlesung „Psychodiagnostik und Psychotherapie“63 Spezielle Psychosomatik: Behandlungsansätze in der Psychosomatik Körperbezogene Verfahren • Trainingstherapie • Körperwahrnehmung • Andere Verfahren (z.B. Feldenkrais) Psychotherapie s. Vorlesung „Psychodiagnostik und Psychotherapie“ Entspannungsverfahren • Autogenes Training • Progressive Muskelrelaxation • Andere Verfahren Ergänzende Verfahren s. Vorlesung „Psychodiagnostik und Psychotherapie“ 64 Spezielle Psychosomatik: Behandlungsansätze in der Psychosomatik Körperbezogene Verfahren – Trainingstherapie (Effekte) • Positive Körpererfahrung • somatoforme Störungen bessern sich oft erstaunlich • das allgemeine Körpergefühl wird positiv gesteigert • durch verbesserte Fitness fällt Vieles leichter • Ausdauertraining steigert die Immunabwehr • Ausdauertraining wirkt anti-depressiv: eine Depression geht durch Ausdauertraining schneller zurück geht und kommt seltener wieder • Ausdauertraining wirkt entängstigend: Patienten mit Ängsten fassen wieder Zutrauen zu ihren eigenen Fähigkeiten 65 Spezielle Psychosomatik: Behandlungsansätze in der Psychosomatik Körperbezogene Verfahren – Körperwahrnehmung Ziele von Körperwahrnehmung: • Konzentration auf den eigenen Körper • nach innen gerichtete Wahrnehmung von Körperzuständen und – reaktionen, • Körper als Kommunikationsmittel (Körperhaltung, Gestik, Bewegungsverhalten) • Körperreaktionen als Beziehungserfahrungen 66 Spezielle Psychosomatik: Behandlungsansätze in der Psychosomatik Körperbezogene Verfahren – Feldenkrais Die FELDENKRAIS-Methode ist offiziell eine pädagogische Methode, dennoch ergeben sich wesentliche therapeutische Effekte. Körperbewegungen, Körper“handlungen“, Körperempfinden, Körperhaltungen usw. verlaufen nach gewohnheitsmäßigen Schemata, die häufig nicht optimal sind und an der Aufrechterhaltung von Beschwerden beteiligt sind. Bei der Feldenkrais-Arbeit geht es darum, diese Schemata aufzubrechen, herauszubekommen, was günstiger ist und somit weniger Beschwerden zu haben, sich körperlich wohler zu fühlen. Die Öffnung und das Ausprobieren neuer Wege ist auch im übertragenen Sinne eine positive Wendung für viele Menschen mit chronifizierten psychosomatischen Beschwerden. 67 Spezielle Psychosomatik: Behandlungsansätze in der Psychosomatik Entspannungsverfahren - Autogenes Training • Autogenes Training (AT) ist das bekannteste autosuggestive Verfahren, welches eine systematische Entspannung und Beruhigung des gesamten Körpers einschließlich seiner vegetativen Funktionen (Atmung, Herz, Bauch) ermöglicht. Die vollständigen Übungen der sog. Grundstufe umfassen auch die Beruhigung der Gedanken („kühle Stirn“). • Durch sich wiederholende Entspannungsformeln werden innere Bilder von Entspannung und Ruhe erzeugt, die psychophysiologische Wirkungen haben, d.h. die Vorstellungskraft kann unsere Körperfunktionen beeinflussen. Neben einer allgemeinen Entspannung kann das AT auch zur gezielten Besserung von Beschwerden angewandt werden durch spezielle Formeln (individuelle Vorsatzbildungen). 68 Spezielle Psychosomatik: Behandlungsansätze in der Psychosomatik Entspannungsverfahren - Progressive Muskelrelaxation • Das Grundprinzip der Progressive Relaxation besteht darin, dass nacheinander einzelne Muskelgruppen (z.B. die Hände, die Schultern oder die Zehen) für einige Sekunden willentlich angespannt und anschließend deutlich länger entspannt und gelockert werden. Man lernt dabei, Anspannungs- und Entspannungszustände im Körper genauer zu unterscheiden. Damit einher, geht ein allgemeines Entspannungsgefühl. • Wie bei anderen Entspannungsverfahren kommt es zu einer Erweiterung der Hautgefäße mit Wärmegefühl, eine Verlangsamung und größere Gleichmäßigkeit von Atmung und Herzschlag und eine psychische und körperliche Gelöstheit und Entspannung. Erholung des gestressten Körpers mit Gelassenheit gegenüber Außen- und Innenreizen stellt sich ein. Durch die Entspannung lassen auch Ängste nach, 69 Spezielle Psychosomatik: Psychosomatik und soziale Arbeit Die Aufgaben der sozialen Arbeit sind u.a.: • Störungen erkennen (soweit dies möglich ist) • Psychosomatische Teufelskreise durchbrechen, Chronifizierung verhindern • Die psychosozialen Auswirkungen einer Störung mildern • An die „richtige“ Stelle verweisen und zur Therapie motivieren • Die Balance zwischen notwendiger Unterstützung und erforderlicher Abgrenzung wahren • Kompetent beraten (z.B. bei Leistungsbegehren wie Schwerbehinderung oder Berentungswunsch) – ohne dadurch eine Chronifizierung zu fördern • Therapie-unterstützende Angebote im psychosozialen Bereich umsetzen (z.B. Expositionsübungen begleiten, Ämtergänge unterstützen u.a.) 70 Spezielle Psychosomatik: Psychosomatik und soziale Arbeit Umgang mit psychosomatisch erkrankten KlientInnen • Gleichbleibende Aufmerksamkeit, d.h. scheinbare Nebensächlichkeiten genauso beachten • Empathie: Ruhiges „empathisches“ Zuhören • Neutralität: Verständnis äußern, dennoch neutral bleiben, keine Partei ergreifen, keine Werturteile fällen • Sich nicht instrumentalisieren („benutzen“) lassen • Gegenübertragung kontrollieren, d.h. für sympathische und unsympathische KlientInnen ein gleiches Engagement zeigen. Die Gegenübertragung (tiefenpsychologisch) ist die Summe der bewussten und unbewussten gefühlsmäßigen Reaktionen des Therapeuten auf einen Patienten. • Sich angemessen abgrenzen, um dem „burn out“ vorzubeugen („mitfühlen – aber nicht mitleiden!“) • Beratung und Vorschläge, die zu einer Aktivierung führen (die Dinge selbst in die Hand nehmen) • Private Kontakte gelten als unprofessionell 71 Spezielle Psychosomatik: Psychosomatik und soziale Arbeit Ø Vermeidung von Chronifizierung Psychosomatische Störungen neigen zur Chronifizierung. Dies wird begünstigt durch o Langwierige medizinische Abklärungen vor der Diagnosestellung Ø Das Symptom wird „benötigt“ (zur Entlastung, um Aufmerksamkeit zu erhalten, …) Ø Die eigentlichen Konflikte werden nicht gelöst oder sind nicht lösbar Ø Das Symptom „steuert“ interpersonale Beziehungen Ø Spirale von körperlicher und seelischer Beeinträchtigung („psychosomatischer Teufelskreis“ – s.o.) Ø Sekundärer Krankheitsgewinn mit Ø Gratifikationserwartungen (z.B. Rentenwunsch) 72 Psychosomatik und soziale Arbeit Psychosoziale Risiken in der Kindheit und (spätere) Gesundheit (1) • • • • • • • • • Niedriger sozioökonomischer Status Schlechte Schulbildung der Eltern Arbeitslosigkeit Große Familien mit wenig Wohnraum Kontakte mit Einrichtungen der soz. Kontrolle Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils Mütterliche Abwesenheit im ersten Lebensjahr z.B. Berufstätigkeit Verlust der Mutter Alleinerziehende Mutter - 20 % aller Kinder wachsen mit einem Elternteil auf - 90 % der Alleinerziehenden sind Mütter - Sozialhilfequote beträgt 39 % gegenüber 2,5 % - Erhöhte gesundheitliche Gesamtbelastung 73 Psychosomatik und soziale Arbeit Psychosoziale Risiken in der Kindheit und (spätere) Gesundheit (2) • • • • • • • • • Längere Trennungen von den Eltern in den ersten 7 Lebensjahren Chronische Disharmonie in der Primärfamilie Unsicheres Bindungsverhalten des Kindes nach 12. oder 18. Lebensmonat Psychische oder schwere körperliche Erkrankung eines Elternteils Häufig wechselnde frühe Beziehungen Streit der Eltern nach Trennung Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in der Schule Altersabstand < 18 Monate zum nächsten Geschwister Jungen vulnerabler (verletzlicher) als Mädchen 74 Psychosomatik und soziale Arbeit Psychosoziale Vulnerabilität bei Jungen und Mädchen Warum sind Jungen vulnerabler (verletzlicher) als Mädchen? • Jungen benötigen mehr die Unterstützung durch andere Menschen • für Mädchen sind eher persönliche Eigenschaften von Bedeutung • Erziehungsfaktoren : - Risiko für Jungen: Haushalte ohne klare Regeln, kein Rollenmodell (fehlender Mann im Haushalt) - bei Mädchen protektiv: Betonung von Unabhängigkeit, weibliche Führungsperson • Reaktion auf Geschwister - erstgeborene Mädchen profitieren von der Geburt eines Geschwisters - erstgeborene Jungen reagieren in der Beziehung zur Mutter negativ 75 Psychosomatik und soziale Arbeit Psychosoziale Risiken und Gesundheit Folgende Gesundheitsstörungen sind im Erwachsenenalter häufiger, wenn psychosoziale Risikofaktoren in der Kindheit vorlagen: Seelische Störungen • Depressive Störungen • Angststörungen • Essstörungen (v.a. Bulimie) • PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) • Dissoziative und Konversionsstörungen • Schwere Persönlichkeitsstörungen • Suchterkrankungen • Sexuelle Funktionsstörungen Körperliche Erkrankungen • Herz-Kreislauf-Erkrankungen • Schlaganfall • Virushepatitis • Chronisch obstruktive Lungenerkrankung • Typ-2 Diabetes (Zuckerkrankheit) • Osteoporose (Knochenschwund) 76 Psychosomatik und soziale Arbeit: Psychosoziale Schutzfaktoren für die Gesundheit können teilweise durch soziale Arbeit gefördert werden Ø Individuell: IQ, Aktivitätsgrad, gutes Sozialverhalten, gute Sprache und Lesen, internale Kontrollüberzeugungen Eine hohe internale Kontrollüberzeugung liegt dann vor, wenn ein Mensch davon überzeugt ist, die eigene Gesundheit wesentlich selbst beeinflussen zu können (Prinzip der Selbstwirksamkeit). Ø Beziehungen: stabil und einfühlsam zu mindestens einem Elternteil, Geschwister oder später auch Partner, die in Krisen stützen. Ø Unterstützende Systeme von außen welche zur Förderung individueller Fähigkeiten und zur Entwicklung einer positiven Lebenseinstellung beitragen (Schule, Arbeit, kirchliche Bezüge u.a.) . 77