ARD-Morgenmagazin Service

Werbung
ARD-MORGENMAGAZIN – SERVICE 09.10.2013
THEMA:
Autorin:
EXPERTE IM STUDIO:
Funktion:
HILFE BEI DEPRESSIONEN
Uschi Müller
DR. MOHSEN RADJAI
Facharzt für Allgemeinmedizin
Depressive Störungen gehören weltweit zu den häufigsten und am meisten unterschätzten
Krankheiten – allein in Deutschland sind rund vier Millionen Menschen akut betroffen. Trotzdem
ist die Depression ein Tabuthema.
Viele Patienten versuchen, sich ihre Krankheit nicht anmerken zu lassen, solange es eben
geht. Doch das große Schweigen beim Thema Depression verursacht unnötiges Leid. Man
schätzt, dass bis zu 15% der unbehandelten Patienten mit einer schweren Depression Selbstmord begehen.
Bereits 1621 beschrieb Robert Burton in seinem Buch "Anatomy of Melancholy" anschaulich,
was eine Depression bedeutet: "Wenn es eine Hölle gibt auf Erden, dann findet man sie im
Herzen eines melancholischen Menschen".
Denn eine Depression ist nicht der vielzitierte "Moralische" oder "Durchhänger", sondern eine
behandlungsbedürftige Krankheit, die Stimmung, Denken, Körperfunktionen und Verhalten beeinträchtigt. Aus diesem Grunde wird sie auch als eine psychobiologische Erkrankung bezeichnet, bei der Körper und Seele betroffen sind.
Symptome
Zu den Hauptsymptomen zählt man gedrückte, depressive Stimmung, Interessenverlust und
Freudlosigkeit, Antriebsmangel und Ermüdung. Zu den Nebensymptomen gehören: Verminderte Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, reduziertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, übertriebene Zukunftsängste, Suizidgedanken
oder gar Suizidversuche, Selbstverletzungstendenzen, Schlafstörungen und insbesondere
Früherwachen, reduzierter Appetit mit Gewichtsverlust, reduziertes sexuelles Verlangen (Libidoverlust). Die Nebensymptome bestimmen den Schweregrad einer Depression mit. Es gibt
auch Halluzinationen im Bereich des Geschmacks-, Geruchs- oder Tastsinns. Es können
Mundtrockenheit, Übelkeit, Verstopfung, Durchfall oder diffuse Schmerzen auftreten. Verschlimmert sich die Depression, fühlt man sich zunehmend hilflos und glaubt sich in einer ausweglosen Situation, oft folgen Suizid oder zumindest die Gedanken daran.
Bei manchen Menschen kann es auch zu Verhaltensänderungen kommen: Man bemerkt sie
manchmal kaum, aber sie können zu enormen Problemen führen. Unter Umständen kämpfen
die Betroffenen ständig mit den Tränen, machen einen permanent traurigen Eindruck, gehen
stark gebeugt oder sind verlangsamt. Es kann auch das Gegenteil eintreten: Unruhe in Form
von ständigem Auf- und Abgehen, Ruhe- und Rastlosigkeit, Händereiben oder ähnlichem.
Manche Menschen sind durchaus in der Lage, ihrer Arbeit nachzugehen, fühlen sich aber
schrecklich deprimiert. Andere können noch nicht einmal die wesentlichen Dinge des Alltags
wie Einkaufen gehen oder Geschirrspülen verrichten. Manche setzen ein Lächeln auf und versuchen ihre Niedergeschlagenheit zu überdecken. Doch die Aufrechterhaltung der äußeren
Fassade ist ungemein anstrengend und erschöpfend. Betroffene beschreiben typischerweise
ein Morgentief, was sich erst im Tagesverlauf abschwächt, um dann am nächsten Tag von
neuem zu beginnen.
Die unangenehmen Begleiter der Depression
Depressive Menschen haben häufig neben ihrer Depression auch noch andere Krankheiten.
Bei einigen liegt das daran, dass die Depression Folge der anderen Krankheit ist. So sind Zustand nach Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus und neurologischer Erkrankungen wie
ARD-MORGENMAGAZIN – SERVICE 09.10.2013
-2-
Parkinson und insbesondere auch chronische Schmerzen mit Depressionen vergesellschaftet.
Es kann aber auch eine kranke Schilddrüse dahinter stecken. Deshalb muss der Arzt bei der
Diagnose einer Depression zuerst prüfen, ob nicht andere körperliche Krankheiten vorliegen. Er
wird auch nach Medikamenteneinnahme fragen, denn es ist bekannt, dass zum Beispiel manche Bluthochdruckmittel eine Depression verursachen können. Aber auch wenn die Depression
nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer anderen Krankheit steht, so verschlechtert sie
doch erheblich den Verlauf chronischer Krankheiten. Darüber hinaus gilt eine Depression z. B.
als Risikofaktor für das Entstehen einer koronaren Herzerkrankung.
Ursachen
Die Ursachen für Depressionen können genetisch bedingt sein. In der Regel kommen aber
weitere relevante Faktoren hinzu, die unter anderem im sozialen Umfeld des Betroffenen zu
suchen sind. Kompensationsmechanismen zur Stressbewältigung scheinen ebenfalls eine Bedeutung zu haben.
Biologische Faktoren: Gene und Hormone, Botenstoffe im Gehirn oder körperliche Krankheit.
Wenn ein eineiiger Zwilling eine Depression bekommt, besteht eine Wahrscheinlichkeit von
70%, dass auch der Andere eine Depression entwickelt. Bei Eltern, Kindern und Geschwistern
ist die Wahrscheinlichkeit geringer. Menschen in deren Verwandtschaft keine Depressionen
auftreten bzw. aufgetreten sind, haben ein Risiko von 2-3%.
Psychosoziale Faktoren: Missbrauch, Vernachlässigung, Armut, Scheidung, Tod. Bei mehr
als 75% findet sich ein belastbares Lebensereignis in den 12 Monaten vor Begin der Krankheit.
Unfähigkeit der Stressbewältigung: Stress ist relativ, es kommt darauf an, wie man den damit verbundenen Druck aushält und bewältigen kann. Im Blut und Urin findet man vielfach höhere Mengen des Stresshormons Kortisol.
Psychodynamische Faktoren: eine wichtige Rolle spielt das Zusammensein mit anderen
Menschen, in der Fachsprache Psychodynamik genannt. Vor allem das emotionale Verhältnis
zu den Eltern prägt uns grundlegend. Bei depressiven Patienten sind diese ersten wichtigen
Bindungen oft gestört, z. B. durch Krankheit, Vernachlässigung oder Tod eines oder beider
Elternteile.
Behandlung
Forscher vermuten, dass bei einer Depression bestimmte Botenstoffe im Gehirn für die Reizweiterleitung eine zu geringe Aktivität zeigen. Hier sollen Antidepressiva unterstützen, indem
sie das Angebot dieser Botenstoffe (Serotonin, Noradrenalin) im Nervengewebe anheben. Antidepressiva machen nicht abhängig, es besteht also keine Suchtgefahr. Weil es relativ lange
dauert, bis man weiß, ob ein Medikament anschlägt, suchen Wissenschaftler nach Methoden,
mit denen man schon früher voraussagen kann, welches Mittel für einen Patienten das Richtige
ist. Stresshormon-Tests zum Beispiel könnten vielleicht dabei helfen. Das Stresshormonsystem vieler Depressiver reagiert überschießend. In einer Studie wurde gemessen, wie hoch der
Gehalt an Stresshormonen im Blut war, und zwar einmal vor Beginn einer medikamentösen
Therapie, und einmal zwei Wochen später. Bei den Patienten, deren Stresshormonhaushalt
sich in der Zeitspanne zwischen den Blutentnahmen beruhigt hatte, schlugen die Medikamente
gut an. Die Patienten aber, die wenig Veränderung im Stresshormonhaushalt zeigten, reagierten auch schlechter auf die Antidepressiva.
Schlafentzugs-Therapie
Dies ist vielleicht die einfachste aller Therapien – ihr einziger Nachteil: Die Wirkung hält nur
einen Tag an. Bei der Schlafentzugstherapie werden die Patienten um ein Uhr morgens geweckt und bleiben dann den Rest der Nacht und den kompletten darauffolgenden Tag wach.
Kein noch so kleines Nickerchen ist gestattet, sonst bleibt die gewünschte Wirkung aus. Und
ARD-MORGENMAGAZIN – SERVICE 09.10.2013
-3-
die ist durchschlagend: Direkt nach der durchwachten Nacht geht es zwei Dritteln der Patienten
besser. Die Behandlung wird häufig in Kliniken durchgeführt, manchmal mehrmals wöchentlich.
Warum sie so gut funktioniert, weiß niemand. Die Wirkung verfliegt zwar schon nach der
nächsten durchschlafenen Nacht, aber viele depressive Menschen schöpfen wieder Hoffnung,
wenn sie erfahren, wie sich ein Tag ohne Depression anfühlen kann.
Lichttherapie
Mittel der Wahl bei der saisonal abhängigen Depression, auch "Winterdepression" genannt.
Der Name ist allerdings irreführend, da längst nicht jede im Winter auftretende Depression eine
echte "Winterdepression" ist: Für die Lichttherapie gibt es spezielle Lampen mit hoher Lichtintensität – ein Lichtbad unter der Wohnzimmerlampe reicht nicht aus. Gewöhnliche Wohnraumbeleuchtung erreicht nämlich nur ungefähr ein Zehntel der Lichtintensität, die man draußen bei
bedecktem Himmel durch das Tageslicht abbekommen kann. Vor den speziellen Tageslichtlampen für die Therapie sitzt der Patient täglich eine halbe Stunde oder länger. Man vermutet,
dass das über die Netzhaut aufgenommene Licht im Gehirn die Ausschüttung von Botenstoffen
beeinflusst. Bei schweren Formen von Winterdepression werden zusätzlich Psychotherapie
oder Medikamente eingesetzt. Übrigens: Ein täglicher Spaziergang kann in leichteren Fällen
ebenfalls nützen – da bekommt man das Lichtbad gratis.
Elektrokrampftherapie und Magnetstimulation
Es klingt drastisch: Stromschläge gegen die Depression. Doch die neuen Methoden haben
nichts mit den grausamen Elektroschocks, mit denen Menschen in den Anfängen der Psychiatrie traktiert wurden, zu tun. Heute gehen die Ärzte viel vorsichtiger vor, und für manche Patienten ist eine moderne Elektrokrampftherapie das einzige, was sie aus ihrer tiefen Depression
herausreißen kann. Die kontrollierten Stromschläge wirken bei vielen Patienten, bei denen Medikamente und Psychotherapie versagt haben. Durch den elektrischen Impuls wird eine Art
künstlicher epileptischer Anfall ausgelöst; der Patient bekommt davon jedoch nichts mit, er befindet sich in Narkose. Die Behandlung wird innerhalb weniger Wochen mehrfach wiederholt.
Wegen möglicher Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und vorübergehender Gedächtnisschwäche bleibt die Elektrokrampftherapie trotz ihrer hervorragenden Wirksamkeit eine Reserve-Maßnahme für schwere Fälle.
Transkranielle Magnetstimulation
Arm an Nebenwirkungen ist dagegen die Anwendung von Magnetfeldern, die "repetitive transkranielle Magnetstimulation". Dabei wird am Kopf des Patienten eine Magnetspule befestigt.
Das Magnetfeld soll den Stoffwechsel von Hirnzellen verändern; die Wirkung scheint allerdings
eher schwach zu sein. Die repetitive transkranielle Magnetstimulation wird bei leichten bis mittelschweren Depressionen eingesetzt.
Hirnschrittmacher
Forscher experimentieren auch mit Eingriffen ins Gehirn, zum Beispiel mit der sogenannten
Tiefenhirnstimulation: Dabei pflanzen Chirurgen eine Elektrode in eine bestimmte Hirnregion.
Sie gehört zu einem Netzwerk von Hirnzentren, das bei Depressiven angeblich fehlgesteuert
ist. Die Elektrode ist über ein Kabel mit einem Schrittmacher verbunden. Das Kabel verläuft
unter der Haut bis hin zum Brustmuskel, wo der Schrittmacher sitzt. Er kann durch den Arzt mit
Fernsteuerung auf verschiedene Frequenzen und Spannungen eingestellt werden. Aufgrund
der geringen Patientenzahl ist die Wirksamkeit noch nicht ausreichend erforscht. Informationen
dazu finden sich auf der Homepage der Universität Bonn: http://www.ukb.unibonn.de/42256BC8002AF3E7/vwWebPagesByID/77BD38424F568105C12578290049FFA6
ARD-MORGENMAGAZIN – SERVICE 09.10.2013
-4-
Psychotherapie
Sie kann als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden. Im jeweils gewählten Therapieverfahren
geht der Therapeut auf die Psyche des Patienten ein. Eine ganz wichtige Grundlage dafür ist
natürlich die vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung zwischen Patient und Therapeut.
Hier den richtigen "Ansprechpartner" zu finden ist nicht immer leicht. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten für Psychotherapie im Rahmen des sogenannten "Richtlinienverfahren". Hierzu zählen die Verhaltenstherapie und psychoanalytisch begründeten Verfahren.
Ihre Wirksamkeit gilt insbesondere bei leichten und mittelgradigen Depressionen als belegt. Sie
können unter Umständen auch mit Antidepressiva kombiniert eingesetzt werden. So ist z. B. bei
schwergradigen Depressionen in der Regel eine medikamentöse Begleittherapie erforderlich.
Verhaltenstherapie (VT)
Die VT will die Symptome der Depressionen lindern, anstatt die tieferen Ursachen zu erforschen. Negative Denkmuster und Verhaltensweisen sollen geändert werden.
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP)
Die TP fokussiert einen bestimmten, unter der depressiven Problematik liegenden Konflikt. Dieser besteht oft darin, dass man eng mit Menschen verbunden, aber auch selbstständig sein
möchte – das macht es z. B. so schwer "nein" zu sagen. Die TP will den Zusammenhang zwischen heutigen und früheren Gefühlen und Erfahrungen aufspüren.
Psychoanalyse (PA)
Bei der PA soll der Patient frei seine Gedanken, Fantasien, Gefühle und Empfindungen ohne
Rücksicht auf Logik, Bedeutung und Moral äußern. Der Therapeut hat hier eine deutlich passive Position. Die Entwicklung der Therapie führt über Rückschritte in alte Gefühle und Erinnerungen zur Veränderung. Die PA ist sehr zeitintensiv (drei bis fünf Sitzungen pro Woche) mit
einer Gesamtdauer von bis zu mehreren Hundert Stunden über drei bis fünf Jahre hinweg. Allerdings gibt es nur wenige Studien, die eine bessere Wirksamkeit als andere Verfahren belegen. Ziel ist auch nicht unbedingt die Heilung bestimmter Symptome, sondern die grundsätzliche Einsicht, Persönlichkeitsveränderung und die persönliche Reifung.
Informationen
Deutsche Gesellschaft für psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM):
www.dgpm.de
Stiftung Deutsche Depressionshilfe: www.deutsche-depressionshilfe.de
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde: www.dgppn.de
Literatur
Fuljahn, Heide: Kalt erwischt, Diana Verlag ISBN 978-3-453-29115-7
Herunterladen