PDF zum Herunterladen - Kassenärztliche Vereinigung Sachsen

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KVH • aktuell
Pharmakotherapie
Jhrg. 17, Nr. 1 – März 2012
Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis
Gestaltet von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen
Magenulkus: Nicht nur an H. pylori,
auch an ASS und NSAR denken!
Es war eine kleine Revolution, als man vor vielen Jahren erkannte, dass Magenund Duodenalulzera nicht einfach auf einem Säureüberschuss, sondern auf einer
Infektion beruhen. Trotzdem darf man bei der Ulkusbehandlung keineswegs nur
an die Eradikation von H. pylori denken. Denn zum einen ist nach wie vor die
Säuresuppression die Basis der Therapie und zum anderen tragen oft auch ASS
oder NSAR zum Ulkus bei oder sind sogar die einzige Ursache. Mehr zum aktuellen
Stand der rationalen Ulkusbehandlung finden Sie ab
Seite 4
Alte und neue Antidepressiva
Gibt es überhaupt Unterschiede?
Ja die gibt es: Die neuen Substanzen, gerne bedeutungsschwer als Antidepressiva der zweiten Generation bezeichnet, sind wesentlich teurer als die älteren
Medikamente. Aber was Wirksamkeit und Nutzen betrifft, unterscheiden sie sich
kaum von den alten und bewährten Substanzen, hat nun eine umfangreiche
Metaanalyse ergeben.
Seite 8
Soll ich meine Patienten
auf Dabigatran umstellen?
Der neue Thrombinhemmer Dabigatran verspricht zwar eine deutlich unkompliziertere Behandlung als die bisher übliche Antikoagulation mit Cumarinen,
bleibt aber dennoch in der Diskussion. Eine eindeutige Empfehlung ist derzeit
kaum möglich, hier muss jede Kollegin und jeder Kollege selbst entscheiden.
Damit dies auf einer möglichst soliden Basis geschehen kann, haben wir das
Thema auch in diesem Heft wieder aufgegriffen: Zwei Autoren stellen jeweils
die Argumente pro und contra Dabigatran zusammen und verschweigen auch
nicht, wie sie selbst in der Praxis damit umgehen.
Seite 16
Niedermolekulares Heparin für internistische Patienten
Nutzen mehr als fraglich
Immer wieder kommen Patienten – beispielsweise nach einem Apoplex oder mit
einem schweren M. Parkinson – aus dem Krankenhaus zurück, und auf ihrem Therapieplan steht niedermolekulares Heparin. Fasst man die derzeitigen Erkenntnisse
zu dieser Behandlung zusammen, ergibt sich allerdings: Der Nutzen ist gering, das
Schadpotenzial etwa ebenso hoch, dafür sind organisatorischer Aufwand und Therapiekosten umso höher. Unterm Strich spricht also vieles dafür, das niedermolekulare
Heparin bei diesen Patienten umgehend wieder abzusetzen. Seite 21
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Seite 2
Editorial
Nr. 1 / 2012
Arzneimittelinformationen sind wichtig,
aber unabhängig müssen sie sein!
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,
täglich erhalten wir eine Vielzahl an Informationen zu neuen Arzneimitteln. Auch
zu Arzneimitteln, die seit Jahren zur Verfügung stehen, gibt es gelegentlich Neues
zu berichten, z.B. wenn eine Zulassungserweiterung erfolgt ist, eine bisher nicht
bekannte Nebenwirkung gehäuft beobachtet wurde oder neue Studienergebnisse
zur Wirksamkeit im Vergleich zu einem anderen Arzneimittel vorliegen. Neu sind die
Informationen in der Regel immer, aber sind sie auch für unsere ärztliche Tätigkeit
relevant und vor allem sind sie unabhängig von den Interessen des Herstellers oder
anderer Akteure im Gesundheitswesen?
Inzwischen gibt es zahlreiche Publikationen, die anerkannntermaßen als unabhängig
gelten. Dazu gehören beispielsweise
das arznei-telegramm
der Arzneimittelbrief
die Zeitschrift für Allgemeinmedizin (DEGAM)
die Fortbildungsmodule des Institutes für hausärztliche Fortbildung (IhF)
die Arztbibliothek des Ärztlichen Zentrums für Qualitätssicherung (ÄZQ)
die Arzneiverordnungen in der Praxis und die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)
Während das arznei-telegramm, der Arzneimittelbrief und die Zeitschrift für Allgemeinmedizin nur von deren Abonnenten umfassend genutzt werden können,
stehen die Fortbildungsangebote des IhF, der ÄZQ und der AkdÄ auf den jeweiligen
Webseiten allen Interessierten zur Verfügung. Bitte nutzen Sie diese Angebote und
informieren Sie sich über aktuelle Entwicklungen im Bereich der evidenzbasierten
Pharmakotherapie.
Abschließend bitte ich Sie, die neuen Richtgrößen 2012 für die Verordnung von
Arznei-, Verbandmittel und Sprechstundenbedarf zu beachten. Diese konnten im
Vergleich zum Vorjahr auch in diesem Jahr erneut gesteigert werden. Die Richtgrößen für das Jahr 2012 wurden in der Zeitschrift PRO 1/2012 veröffentlicht. Die
entsprechende Arzneimittelvereinbarung mit den Wirtschaftlichkeitszielen und den
vereinbarten Praxisbesonderheiten (Anlage 5 und 6 zur Prüfvereinbarung) finden Sie
auf unserer Homepage unter www.kvsa.de >> praxis >> verordnungsmanagement
>> arzneimittel.
Ihr
Burkhard John
Nr. 1 / 2012
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Editorial 2
Ulkuskrankheit – eine aktuelle Übersicht
Dr. med. Klaus Ehrenthal
4
Gibt es Qualitätsunterschiede moderner Antidepressiva?
Dr. med. Klaus Ehrenthal
8
Inhaltsverzeichnis
Sicherheitsbedenken und Dosissenkungen für Cipramil® und Cipralex®11
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
IQWiG findet keine eindeutige Aussage
Normnahe Blutzuckersenkung für alle Diabetiker: Nutzen bleibt unklar
12
ADDITION-Europe
Normnahe BZ-Senkung für„frische Diabetiker“: Nutzen weiterhin nicht belegt 13
Dr. med. Uwe Popert
Rote Hand für Aliskiren-haltige Arzneimittel
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
14
Beliebte Vitaminpillen
Sicher kein Allheilmittel, sondern sogar gefährlich15
Pro und Contra
Antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran umstellen?
Dr. med. Günther Egidi und Dr. med. Armin Mainz
16
Niedermolekulares Heparin für internistische Patienten: Wirklich nötig?
Dr. med. Joachim Fessler
21
Thromboembolieprophylaxe bei internistischen Patienten
21
IQWiG zu Ticagrelor:
Zusatznutzen für bestimmte Patienten
22
Strattera : Tachykardie und RR-Anstieg bei Kindern
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
24
Sicherer verordnen
Dr. med. Günter Hopf
Paracetamol bei Risikogruppen: Maximale Tagesdosis halbieren!
Metformin: Laktazidose
Tod nach fehlender Masernimpfung
Dabigatran: tödliche Blutungen
Pelargoniumextrakt (Umckaloabo®): Lebertoxizität
Bisphosphonate: Update unerwünschter Wirkungen (UAW)
ACE-Hemmer: Wechselwirkung mit Selbstmedikation
Misteltherapie: Klarstellung
25
Terminhinweis: Personalisierte Medizin
28
Briefe an die Redaktion
Wechselwirkung Hyperkaliämie: Nur bei Cotrimoxazol
oder auch bei Trimethoprim alleine?
Otitis media: Mut und Vertrauen sparen so manches Antibiotika-Rezept
Otitis media: Luftballon sorgt für Druckausgleich und lindert Schmerzen
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Hausärztliche Leitlinie Kardiovaskuläre Prävention
Allgemeine Präventionsmaßnahmen
Medikamentöse Präventionsmaßnahmen
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®
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Impressum
Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden
Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15,
60325 Frankfurt (www.kvhessen.de)
Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.),
Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med.
Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld,
Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Cornelia Kur, Dr. med. Jutta Witzke-Gross
Fax Redaktion: 069 / 79502 501
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;
Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt
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Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was
Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und
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Ulkuskrankheit – eine aktuelle Übersicht
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Im November 2011 erschien zum Thema der Ulkuskrankheit in der Schweiz eine lesenswerte Übersichtsarbeit von E. Burri und R. Meier [1], aus der hier einige wichtige
Erkenntnisse referiert werden sollen, die auch gerade für den hausärztlich tätigen
Arzt Bedeutung haben.
ASS und NSAR
sind
häufiger Ursache
als gedacht
Nachdem sich die pathophysiologischen Vorstellungen zur Ulkusentstehung in
den letzten 20 Jahren grundlegend geändert haben, und die Bedeutung des 1982
entdeckten Campylobacter pylori (jetzt Helicobacter pylori) [2,3] erkannt wurde,
verließen Gastroenterologen und Chirurgen die Vorstellung der Ulkusgenese als
Folge eines primären Magensäureüberschusses (früher: „Ohne Säure kein Ulkus“)
und verstanden sie neu als Infektionskrankheit. Das wurde inzwischen weltweit
bestätigt. Die Entdecker des Helicobacter pylori, Marshall und Warren, erhielten
2005 hierfür den Nobelpreis.
Derzeit werden zwei Hauptrisiken für die Ulkusentstehung gesehen:
die Infektion mit Helicobacter pylori und
die medikamentöse Therapie mit ASS oder NSAR.
Seltener treten Magenkarzinom, Lymphom, Zollinger-Ellison-Syndrom, Zustand nach
Billroth-II-Operationen, M. Crohn, eosinophile Gastroduodenitis oder radiologische
Schleimhautschäden als ulkugene Faktoren auf.
Ulzera bei Helicobacter-pylori-Infektionen
Infektionen mit H. pylori sind in 90 bis 95% der Fälle beim Ulkus duodenale und in
60 bis 90% beim Ulkus ventrikuli nachweisbar [4]. Ungefähr geschätzte 50% der
Weltbevölkerung ist mit H. pylori infiziert (in Westeuropa und USA ca 30 bis 40%,
in der Schweiz ca 12%) je nach sozioökonomischer Exposition [1]. Die Durchseuchung wurde in Südosteuropa, der Türkei und in Dritte-Welt-Ländern deutlich höher
gefunden. Insgesamt nimmt die Prävalenz von H. pylori in westlichen Ländern ab
[1]. Allerdings entwickelten nur 10 bis 15% aller Infizierten ein Ulkus, wofür neben
genetischen Unterschieden noch weitere Faktoren diskutiert werden.
Die Wirkung einer H-pylori-Infektion auf Magen und Duodenum kann unterschiedlich ausfallen, dabei kommt es auf den Schwerpunkt der Infektion und den Effekt
des vom Erreger produzierten Ammoniaks auf die Bildung von säureförderndem
Gastrin an [5]. Am Magen wird durch die Infektion besonders die lokale Immunantwort gesteigert [6].
Ulzera bei negativem Helicobacter-pylori-Befund (ASS-NSAR-Ulzera)
ASS und NSAR schädigen dosisabhängig die Schleimhaut, indem die Unterdrückung
der Zyklooxygenase eine Prostaglandin-Synthese-Hemmung bewirkt. Dadurch leidet
der Schleimhautschutz (Verminderung von Mukusproduktion, Bikarbonatsekretion, epthelialer Zellproliferation und Durchblutung der Mukosa). Freie Radikale
und Proteasen werden freigesetzt und führen zu Obstruktion der Kapillaren, was
Wundheilungen beeinträchtigt.
Bei gleichzeitigem Befall mit H. pylori ist das Ulkusrisiko um das 3,5-fache erhöht,
weswegen die prophylaktische Eradikation vor einer längeren NSAR-Behandlung
sinnvoll sein kann.
Idiopathische Ulzera
Ulzera bei negativem Helicobacter-pylori-Befund und negativer ASS- oder NSARGabe werden als idiopathische Ulzera bezeichnet. Da die Inzidenz der
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Helicobacter-pylori-Infektion in der Bevölkerung deutlich rückläufig ist, scheinen
H.-pylori-negative Ulzera zuzunehmen [7]. Dabei muss jedoch eine sehr genaue
Medikamenten-Anamnese erhoben werden, auch von Mitbehandlungen und
Selbstbehandlungen mit rezeptfreien Präparaten. Außerdem sind die verwendeten
Helicobacter-Testverfahren auf ihre Validität hin zu hinterfragen. Erst wenn andere
Noxen und seltene Krankheitsbilder ausgeschlossen werden können (z.B. Rauchen,
Zollinger-Ellison-Syndrom), kann von einem seltenen idiopathischen Ulkus gesprochen werden.
Krankheitsbild
Nüchternschmerzen sind bekanntermaßen typisch für Duodenalulzera, wobei Nahrungsaufnahmen sie lindern, wohingegen epigastrische Schmerzen, die sich bei Nahrungsaufnahme verschlimmern, typisch sind für ein Magenulkus. Allerdings haben
ältere Patienten häufig keine solchen typischen Beschwerden. Bei einem Drittel der
Patienten sind Schmerzen und Verlauf völlig asymptomatisch. Dann ist die Anamnese wichtig. Alarmsymptome können sein: Gewichtsabnahme, Mattigkeit, Müdigkeit, Leistungsschwäche, Obstruktion, gastroentestinale Blutungen, anamnestische
Ulzera, Einnahme von ASS und/oder NSAR, Thrombozyten-Aggregationshemmern,
Steroiden, Antikoagulation. Im Alter steigt das Blutungsrisiko, welches häufiger
durch asymptomatische Ulzera verursacht wird.
Deswegen wurden Vorschläge zur Minimierung NSAR-bedingter Ulkuskomplikationen gemacht [11, 12]. Die Bevorzugung von Naproxen oder Misoprostol sowie
eine Kombinationsbehandlung mit PPI können die Ulkusgefahren mildern, wenn
gerade bei Älteren länger dauernde antientzündliche Maßnahmen erforderlich
werden.
Diagnostik
Bei epigastrischen Beschwerden liegt nur bei 1 bis 3% der Fälle eine maligne
Erkrankung vor, nur bei 5 bis 15% ein Ulkus. Sehr viel häufiger liegt – besonders
bei jüngeren Patienten – eine funktionelle Erkrankung vor [1], weswegen eine
endoskopische Abklärung möglichst nur für die Patienten vorgesehen werden sollte,
die Warnsignale einer organischen Erkrankung (z. B. Karzinom, Ulkus) aufweisen.
Das gilt besonders für ältere Patienten über 55 Jahre [1]. Die Karzinomprävalenz
ist in Westeuropa niedrig, in Japan allerdings höher, dort sind deswegen vermehrte
gastroskopische Abklärungen notwendig. Die individuellen und lokalen Verhältnisse sollten immer besonders fallbezogen betrachtet werden und deswegen die
Durchführung einer Gastroskopie nicht von einer starren Altersgrenze und von
Kostenüberlegungen abhängig gemacht werden [1].
Es kann sein, dass einerseits durch eine sofortige gastroskopische Diagnostik
Krankheitsbilder wie Refluxösophagitis und Ulzera frühzeitig erkannt und behandelt
werden, andererseits bei negativem endoskopischen Befund „Krebsängste“ und
andere psychosomatisch ausgelöste Beschwerden und Ängste beruhigt werden
können, die sonst fortlaufend unbestimmte und unnötige Untersuchungen, Beratungen und auch Behandlungen nach sich ziehen könnten.
Vorgehen zur Helicobacter-Diagnostik
Die Validität der verschiedenen Testverfahren auf Helicobacter pylori ist unterschiedlich [1]. Neben nicht-invasiven Nachweisverfahren (Serologie, C13-Atemtest,
Stuhlantigen) werden invasive Verfahren (Urease-Schnelltest, Histologie, Kultur,
PCR-Analyse) angewendet.
Serologie:
Drei Wochen nach einer Infektion sind Antikörper gegen H. pylori und danach
über Jahre im Serum oder Urin nachweisbar (Sensivität 85%, Spezifität 79%).
Nachteil: für eine Therapiekontrolle ungeeignet.
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C13- Harnstoff-Atemtest:
Die Harnstoffbildung durch die Urease-Produktivität von H. pylori wird gemessen, indem untersucht wird, ob sich oral eingenommener C13-markierter
Kohlenstoff im Harnstoff wiederfindet und so den Nachweis durch einen Radioaktivitätstest der Ausatemluft erbringt (Sensivität und Spezifität >95%, allerdings
reduziert eine gleichzeitige Säuresuppression die Sensivität).
Vorteil: zur Therapiekontrolle gut geeignet, Nachteil: erhöhte Kosten.
Nachweis von H.-pylori-Antigen im Stuhl
Durch Nachweis monoklonaler Antikörper im Stuhl können neuerdings Infektionen mit H. pylori nachgewiesen werden (Sensitivität und Spezifität ähnlich
dem C13-Atemtest), Nachteil: aufwendig und teuer.
Kultureller Nachweis von H. pylori
Selten angewendet und sinnvoll nur zur Resistenzbestimmung nach erfolglosen
Eradikationsbehandlungen.
PCR-Analysen aus Magenbiopsien, Histologie der Magenbiopsien
Der Nachweis bakterieller DNA weist eine höhere Sensivität auf als die Histologie
und kann ebenfalls zur Resistenzprüfung bei Eradikationsversagern verwendet
werden.
Medikamentöse Ulkusbehandlung
Immer noch
Standard bei der
Eradikation:
PPI,
Clarithromycin
und Amoxicillin
Eine wirksame Säuresuppression ist der Grundpfeiler der Therapie der Ulkuskrankheit. In der Behandlung haben die verschiedenen PPI die H2-Blocker weitgehend
verdrängt. Nach acht Wochen sind 90% der Ulzera abgeheilt. NSAR-induzierte,
H.-pylori-negative Duodenalulzera heilen dabei etwas schneller ab als Magen­
ulzera.
Eine notwendige langdauernde Komedikation mit ASS, NSAR, Steroiden ist zu
überdenken und kann ggf. einen länger dauernden PPI-Schutz erforderlich machen
[11, 12, 13].
Bei der Behandlung H.-pylori-positiver Ulzera steht die Eradikationsbehandlung im
Mittelpunkt. Während H.-positive unkomplizierte Duodenalulzera alleine durch eine
Eradikation ausheilen können, sollte bei Magenulzera eine anschließende 8-wöchige
Säureblockade folgen [8,9].
Eradikationstherapien
Die Therapievorschläge folgen je nach lokaler Antibiotika-Resistenzlage verschiedenen Schemata. Sie alle sollten entsprechend den sogenannten Maastricht-IIIKonsensus-Empfehlungen eine Eradikationsrate von >80% erreichen [10]. Hierbei
wird primär die Triple-Behandlung mit PPI, Clarithromycin und Amoxicillin, alternativ
Metronidazol empfohlen.
Bei Clarithromycin-Resistenz wird die Vierfach-Therapie empfohlen: mit PPI, Metronidazol, Tetracyclinen, Wismut.
Die empfohlene Therapiedauer liegt in Europa meist bei 7 Tagen, in den USA
werden10 bis 14 Tage empfohlen. Die beiden Schweizer Autoren raten bei uns zu
einer 10-tägigen Behandlung [1].
Nachkontrollen
Da 5 bis 11% aller Magenulzera maligne sind, sollten Magenulzera immer biopsiert
und üblicherweise nach 8 bis 12 Wochen nachkontrolliert werden. Die Re-Endoskopie wird bei jüngeren Patienten mit unverdächtigem Magenulkus und typischem Ulkusrisiko (H.-pylori-positiv, ASS/NSAR-Einnahme) nicht strikt gefordert [1], hingegen
müssen atypische Magenulzera immer endoskopisch auf Karzinomentwicklungen
nachkontrolliert werden, auch wenn zunächst die Biopsien negativ waren.
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Intestinale Metaplasien
Die in unterschiedlichen Formen selten vorkommende intestinale Metaplasie bildet
eine Übergangsstufe hin zum Magenkarzinom. Sie sollte bei Hochrisikopatienten
(Immigranten aus Risikogebieten, familiäre Belastung) endoskopisch kontrolliert
werden [1].
Bei Ulkuskrankheit immer auch an ASS und NSAR denken
Trotz abnehmender Prävalenz der Helicobacter-pylori-Infektionen sind es gerade
die Komedikationen mit ASS/NSAR, die immer wieder Ulzera entstehen lassen,
auch ohne H.-pylori-positive Befunde.
Eine primäre diagnostische Endoskopie bei Oberbauchbeschwerden sollte nur
bei über 55-jährigen Patienten, oder, wenn Alarmzeichen vorliegen (wie z. B.
Karzinomverdacht, ASS/NSAR-Einnahme), durchgeführt werden.
Für Diagnose und Nachkontrolle einer H.-pylori-Infektion sollten der C13Atemtest oder die Stuhlantigenbestimmung verwendet werden.
Eradikationsbehandlungen sollten durch PPI, Clarithromycin und Amoxicillin
oder Metronidazol, bei Clarithromycin-Resistenz oder -Unverträglichkeit als
4-fach-Therapie (PPI, Metronidazol, Tetracycline, Wismut) erfolgen.
Magenulzera sollten immer biopsiert und nach 8 bis 12 Wochen nachkontrolliert
werden.
Indikationen zu einer Langzeitbehandlung mit einem NSAR sollten stets besonders streng gestellt werden unter Berücksichtigung des kardiovaskulären und
gastrointestinalen Risikoprofils [11, 12, 13].
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1 Burri E, Meier R: Ulkuskrankheit – Update 2011. Schweiz Med Forum 2011;11(49): 897-906
2 Warren JR, Marshall BJ: Unidentified curved bacilli on gastric epithelium in active chronic gastritis. Lancet
1983;1(8336):1273-1275
3 Marshall, BJ, Warren JR: Unidentified curved bacilli in the stomach of patients with gastritis and peptic ulceration. Lancet 1984;1(8390):1311-1315
4 Kuipers EJ, Thijs JC, Festen HP: The prevalence of Helicobacter pylory in peptic ulcer disease. Aliment Pharmacol
Ther 1995;9 Suppl 2:59-69
5 Khulusi S, Badve S, Patel P, Lloyd R, Marrero JM, Finlayson C, et al.: Pathogenesis of gastric metaplasia
of the human duodenum: role of Helicobacter pylori, gastric acid, and ulceration.
Gastroenterology 1996;110(2):452-458
6 Mauch F, Bode G, Ditschuneit H, Malfertheimer P: Demonstration of a phospholipid-rich zone in the human
gastric epithelium damaged by Helicobacter pylori. Gastroenterology 1993;105(6):1698-1704
7 Bytzer P, Teglbjaerg PS: Helicobacter pylori-negative duodenal ulcers: prevalence, clinical characteristics, and
prognosis – results from a randomized trial with 2-year follow-up. Am J Gstroenterol 2001;96(5):1409-1416
8 Harris AW, Misiewicz JJ, Bardhan KD, Levi S, O`Morain C, Cooper BT, et al.: Incidence of duodenal ulcer healing
after 1 week of proton pump inhibitor triple therapy for eradication of Helicobacter pylori. The Lanzoprazole
Helicobacter Study Group. Aliment Pharmacol Ther 1998;12(8):741-745
9 Colin R: Duodenal ulcer healing with 1-week eradication triple therapy followed, or not, by anti-secretory treatment: a multicentre double-blind placebo-controlled trial. Aliment Pharmacol Ther 2002;16(6):1157-1162
10 Malfertheimer P, Megraud F, O`Morain C, Bazzoli F, El-Omar E, Graham D, et al.: Current concepts in the management of Helicobacter pylori infection: the Maastricht III Consensus Report. Gut 2007;56(6):772-781
11 Lanza FL, Chan FK, Quigly EM: Guidelines for prevention of NSAID-related ulcer complications Am J Gastroenterol 2009;104(3):728-738
12 Burmester G, Lanas A, Biasucci L, Hermann M, Lohmander S, Olivieri I, et al.: The appropriate use of non-steroidal anti-inflammatory drugs in rheumatic disease: opinions of a multidisciplinary European expert panel. Ann
Rheum Dis 2011;70(5):818-822
13 Fischbach W, Malfertheimer P, Hoffmann JC, Bolten W, Bornschein J, Gotze O, et al.: S3-guideline „Helicobacter
pylori and gastroduodenal ulcer disease“. Z Gastroenterol 2009;47(1):68-102
Bedeutung
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Nr. 1 / 2012
Gibt es Qualitätsunterschiede moderner
Antidepressiva ?
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Selektive Wiederaufnahmehemmer und einige andere neuere Antidepressiva (AD)
werden gegenüber den älteren „klassischen“ trizyklischen Antidepressiva (nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren, NSMRI, wie z.B. Amitriptilin)
häufig als „moderne Antidepressiva“ der „zweiten Generation“ dargestellt und für
etliche Spezial-Indikationen hoch gelobt. Dass spezielle Vorteile einzelner neuerer
AD nicht immer für die ärztlichen Verordnung so entscheidend sein müssen, hat
zu mehreren Untersuchungen [1,2] geführt, bei denen es weniger um Vor- und
Nachteile der moderneren „second-generation“-Antidepressiva gegenüber den
klassischen Trizyklika (TZA) geht, als vielmehr darum, zu klären, ob wesentliche
Unterschiede der einzelnen neueren AD in Wirksamkeit, Nebenwirkungsspektrum
und Interaktionsgefahr überhaupt zu beobachten sind und wie bedeutsam diese
Unterschiede sind.
Bisher werden seitens der Hersteller bei der Vermarktung besonders die Unterschiede der einzelnen neueren AD hervorgehoben, was auch in den hohen Marktpreisen für viele selektive Reuptake-Hemmer begründet liegen mag. In den USA
werden jährlich etwa 400 Millionen US-Dollar von den Herstellern alleine für die
Vermarktung der second-generation-AD ausgegeben, wie Gartlehner et al. anlässlich ihrer aktuellen Metaanalyse berichten [1]. Auch der psychiatrische Fachmann
kann bei den zahllosen „Neuerungen“ des Marktes leicht die Übersicht verlieren.
(Siehe dazu auch unsere Bewertung der Nebenwirkungshäufigkeit bei der Behandlung mit SSRI im Gegensatz zu Trizyklika bei Depressionen im KVH aktuell Nr 4/2011
vom letzten November [3].)
Angesichts der immensen Kosten, die in den USA die pharmakologische Behandlung von Majordepression (sowie Dysthymie und Minordepression) mit selektiven
Monoaminoxidase-Hemmern, den neueren AD, verschlingt, untersuchte Gartlehner
mit seiner Arbeitsgruppe für die US Agency for Healthcare Research and Quality
in einer ersten großen Metaanalyse im Jahr 2007 [2] die Wirksamkeit der neueren
AD. Bereits damals fanden sie, dass die Wirksamkeit der TZA und der neueren AD
sehr ähnlich war, und dass sie sich nur in ihrem Nebenwirkungsprofil teilweise
unterschieden.
In einer großen Update-Metaanalyse hat das gleiche Autorenteam jetzt 2011 die
gesamte Literatur der letzten 30 Jahre inklusive neuerer Studien zur Wirkungsweise und Effektivität der second-generation-AD (SSRI, SSNRI, SNRI, Bupropion und
Trazodon) untersucht. Im Einzelnen nahmen sie Studien und Berichte zu folgenden
neueren AD unter die Lupe:
SSRI (selective Serotonin-Wiederaufnahmehemmer):
Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin.
SSNRI (selective Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer):
Duloxetin.
SNRI (selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer):
Mirtazapin, Venlafaxin.
Andere: Bupropion, Trazodon.
Vorgehensweise bei der Metaanalyse:
Die Autoren untersuchten jetzt in 2011 erneut nach Recherchen in PubMed, Embase, Cochrane Library, PsycInfo und International Pharmaceutical Abstracts von
1980 bis August 2011 unter den Stichworten „major depressive disorder, dysthymia,
minor depression, subsyndromal depressive disorder“ 1457 geeignete Berichte,
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von denen aktuell 228 Studien für die Re-Metaanalyse ausgewählt werden konnten.
Es handelte sich um randomisierte Studien (RCT’s), die mindestens sechs Wochen
dauerten oder um Beobachtungsstudien mit jeweils mindestens 1000 erwachsenen Patienten. Davon konnten 96 Studien mit ausreichender statistischer Qualität
verwendet werden.
Es wurden analog zu der Vorläuferuntersuchung in 2007 [2] mittels in 5 Gruppen
sortierter Schlüsselfragen die gefundenen Studienergebnisse aufgearbeitet und die
Ergebnisse zusammenfassend bewertet (Evidenzstärke, Studiendesign, Ausführlichkeit der Ergebnisse, Relevanz der Ergebnisse für die Alltagspraxis u.a.). Es handelte
sich um die Ergebnisse zu folgenden Krankheitsbildern:
Majordepression,
Dysthymie,
subsyndromale Depression,
begleitende Symptomen-Cluster wie Angst, Insomnia, Antriebslosigkeit,
Melancholie, Schmerz, Somatisation.
Es wurden auch die gefundenen Risiken dargestellt:
Allgemeine Verträglichkeit der AD (unerwünschte Nebenwirkungen allgemein, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsabnahme, unerwünschte gastrointestinale Nebenwirkungen, Somnolenz, Desorientiertheit, aktive Verwirrtheit, Lebensqualität).
Ernsthafte Störwirkungen (Suizidalität in Gedanken und Verhalten, sexuelle Dysfunktion, Krampfanfälle, kardiovaskuläre Ereignisse, Entwicklung
einer Hyponatriämie, Entwicklung eines Serotonin-Syndroms).
Außerdem wurden folgende Beobachtungen aus den Studien aufgelistet. Sie flossen
in das Gesamtergebnis ein:
die Therapietreue,
das Geschlecht,
die ethnische oder rassische Zugehörigkeit,
andere Komorbiditäten.
Ergebnisse
Gartlehner et al. kamen auch bei ihrer neuen Metaanalyse 2011 [1] zu dem gleichen
Ergebnis wie 2007 [2], nämlich, dass (bei 78 gefundenen paarweisen Wirkungsvergleichen) die Wirksamkeit und der Nutzen der neuen, sogenannten secondgeneration-Antidepressiva sich trotz großer Preisunterschiede nicht wesentlich
voneinander unterscheiden.
Die Verabreichung eines speziellen AD kann somit nicht durch seine generelle
Wirksamkeit begründet werden, im Prinzip sind die pharmakologischen Wirkungen
der verschiedenen second-generation-AD alle gleichartig.
Wichtige weitere Ergebnisse der erneuten Metaanalyse waren die schlechte
Ansprechrate und die schlechte Wirkungsrate bei Behandlungen mit den neueren
Antidepressiva:
37% der Patienten reagierten nicht auf second-generation-AD,
53% der Patienten erreichten keine Remission durch diese AD.
Allerdings gibt es Unterschiede bei den Nebenwirkungen und Interaktionen, die
im Einzelfall von Bedeutung sein können. Ebenso ist die Zeit bis zum Beginn einer
Wirksamkeit bei einzelnen Wirkstoffen unterschiedlich.
Da manche der Studien an hochselektierten Patientengruppen durchgeführt worden waren, die nicht unbedingt der Gruppe der hausärztlichen Patienten gleichen,
und da die Evidenzen mitunter wegen eines unterschiedlichen Studiendesigns
Viele Patienten
sprechen auf die
neuen Antidepressiva
gar nicht an
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nicht immer dem optimalen Standard entsprachen, können, so Gartlehner et al.,
die Wirksamkeit und der allgemeine Nutzen einer Therapie mit second-generationAntidepressiva überschätzt worden sein [1].
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Vorsicht
besonders bei
älteren Patienten!
Keine grundlegenden Unterschiede zwischen alten
und neuen Antidepressiva
Die neueren second-generation-Antidepressiva (SSRI, SSNRI, SNRI sowie Bupropion, Trazodon) wirken beim Vergleich untereinander nicht wesentlich und
grundsätzlich unterschiedlich. Besondere Eigenschaften einzelner Substanzen
dieser Gruppe konnten 2011 in dieser großen Re-Metaanalyse [1], wie auch
schon bei der ersten Metaanalyse 2007 [2], nicht aufgespürt werden.
Unterschiede bestehen allerdings beim Zeitpunkt des Wirkungsbeginns, bei
einzelnen Nebenwirkungen und bei möglichen Interaktionen.
Das Ergebnis zeigte, dass 37% der Patienten nicht ausreichend auf die secondgeneration-Antidepressiva ansprachen und 53% keine Remission erreichten.
Die erhoffte antidepressive Wirksamkeit der neueren Antidepressiva ist also eher
schwach und wird möglicherweise überschätzt, was ihre Vorzugsbewertung
gegenüber den klassischen Trizyklika infrage stellen kann.
Eine Behandlung mit AD sollte stets auf einer möglichst gesicherten Diagnose
fußen, die Wirkung ausreichend überwacht und, wenn ein Effekt gesehen werden kann, ausreichend lange durchgeführt werden. Dabei ist eine gesicherte
Einnahmetreue erforderlich.
Nach wie vor sind auch ältere Antidepressiva (TZA) unter Berücksichtigung
der individuellen Komorbiditäten und des Gesamtrisikos bei Depressionen
sinnvolle Medikamente, wenn nichtmedikamentöse Maßnahmen nicht ausreichen.
Besonders im Alter und bei komorbiden Patienten haben auch die neueren
Antidepressiva besondere Risiken: kardiovaskuläre Gefahren, Apoplexien,
Stürze mit Frakturen, Suizidalität, Serotonin-Syndrom, Epilepsieanfälle, Hypo­
natriämie [3, 4]
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1 Gartlehner G, Hansen RA, Morgan LC, Thaler K, Lux L, Van Noord M, Mager U, Thieda P, Gaynes BN, Wilkins T,
Strobelberger M, Lloyd S, Reichenpfader U, Lohr KN: Comparative Benefits and Harms of Second-Generation
Antidepressants for Treating Major Depressive Disorder. An Updated Meta-Analysis of the 2007 Comparative
Effectiveness Review No.46.Ann Intern Med 2011;155(11):772-785
www.effectivehealthcare.ahrq.gov/reports/final.cfm.
2 Gartlehner G, Hansen RA, Thieda P, De Veaugh-Geiss AM, Gaynes BN, Krebs EE, Lux LJ, Morgan LC, Shumate JA,
Monroe LG; Lohr KN: Comparative Effectiveness of Second-Generation Antidepressants in the Pharmacologic
Treatment of Adult Depression. Comparative Effectiveness Review No.7. Agency for Healthcare Research and
Quality January 2007. www.effectivehealthcare.ahrq.gov/reports/final.cfm.
3 Ehrenthal K: Risiken bei der Behandlung mit SSRI. KVH aktuell Pharmakotherapie 2011;16(4):29-30
4 Coupland C, Dhiman P, Morriss R, Arthur A, Barton G, Hippisley-Cox J: Antidepressant use and risk of adverse
outcomes in older people: a population based cohort study. BMJ 2011;434:d4551, doi: 10.1136/bmj.d4551
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
Sicherheitsbedenken und
Dosissenkungen für Cipramil®
und Cipralex®
Seite 11
Kritische
Analyse
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
Citalopram (Cipramil® und weitere Citalopram®-Generika) sowie Escitalopram (Cipralex®) sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Behandlung von
Episoden einer Majordepression, Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie, sozialer
Angststörung (sozialer Phobie), generalisierter Angststörung und Zwangsstörung.
Eine Studie an gesunden Erwachsenen in Amerika zeigte im EKG eine dosisabhängige Verlängerung des QT-Intervalls für das Razemat Citalopram (Cipramil®) und
das linksdrehende Isomer des Razemats Escitalopram (Cipralex®). Eine Verlängerung
des QT-Intervalls im EKG ist auch von anderen Antidepressiva aus der Gruppe der
selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bekannt.
Das QT-Intervall im EKG zeigt die ventrikuläre Repolarisation an. Eine Verlängerung
kann zu Herzrhythmusstörungen wie der ventrikulären Tachyarrhythmie „Torsade
de pointes“ führen. Die Patienten erleiden Krampfanfälle, Schwindelgefühle oder
Synkopen.
Jederzeit kann diese Tachyarythmie in ein Kammerflimmern übergehen und einen
plötzlichen Herztod verursachen. Neben der Dosis von Citalopram und Escitalopram
sind weitere Risikofaktoren für Herz-Rhythmusstörungen: das weibliche Geschlecht,
Hypokaliämie und/oder Hypomagnesiämie sowie ein bereits bestehendes verlängertes QT-Intervall und andere Herzerkrankungen.
Aus diesem Grund wird bei bestimmten Patienten zum vorsichtigen Einsatz
von Cipramil® und Cipralex® geraten. Dazu gehören: Patienten mit Herzinsuffizienz, Zustand nach kürzlich aufgetretenem Myokardinfarkt, Bradyarrhythmien oder einer Neigung zu Hypokaliämie oder Hypomagnesieämie
(aufgrund von Begleiterkrankungen oder zusätzlicher Medikamente) sowie
generell auch Patienten mit einem Alter über 65 Jahren
Eine bekannte QT-Verlängerung im EKG bzw. ein angeborenes Long-QTSyndrom ist eine Kontraindikation für Citalopram (Cipramil®) und Escitalopram (Cipralex®).
Achtung;
QT-Verlängerung ist
Kontraindikation!
Um das Risiko dieser Behandlung zu reduzieren wird für das Razemat Citalopram
(Cipramil®) die Tagesdosis auf 40 mg und für Patienten im Alter von über 65
Jahren auf 20 mg gesenkt. Bei Patienten mit verminderter Leberfunktion wird
die empfohlene Maximaldosis ebenfalls auf 20 mg gesenkt.
Für das linksdrehende Isomer des Razemats Citalopram, das Escitalopram
(Cipralex®) wird die Tagesdosis auf 20 mg und die Dosis bei Patienten im Alter
von über 65 Jahren auf 10 mg reduziert.
Praxis-Tipp
Patienten mit verminderter Leberfunktion sollten pro Tag nicht
mehr als 20 mg Citalopram bzw. 10 mg Escitalopram erhalten.
Unsicher, ob ein bestimmtes
Patienten sind darüber zu informieren, dass sie bei Feststellung
Medikament die QT-Zeit
verlängert? Hier finden Sie
einer Herz-Rhythmusstörung unter Einnahme von Citalopram bzw.
die Antwort:
Escitalopram sofort einen Arzt aufsuchen müssen.
http://www.qtdrugs.org/
Interessenkonflikte: keine
Quelle: Rote-Hand-Brief und weiterführende Informationen der Firma Lundbeck vom 31.10.2011
Rote-Hand-Brief und weiterführende Informationen der Firma Lundbeck vom 5.11.2011
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Kritische
Analyse
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2012
IQWiG findet keine eindeutige Aussage
Normnahe BZ-Senkung für alle
Diabetiker: Nutzen bleibt unklar
Hinweise auf Vorteile aber auch auf Nachteile – Weniger nichttödliche Herzinfarkte stehen häufigeren Unterzuckerungen
gegenüber
Ob Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 davon profitieren,
wenn man versucht, ihren Blutzucker durch eine Therapie auf normnahe Werte
abzusenken, bleibt eine ungeklärte Frage. Die derzeit verfügbaren Studien liefern
Hinweise auf einen Nutzen aber auch Hinweise auf einen möglichen Schaden. Zu
diesem Ergebnis kommt ein am 5. Juli 2011 veröffentlichter Bericht des Instituts für
Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass bei Menschen mit Typ-2-Diabetes
das Risiko für gefäßbedingte Erkrankungen oder Todesfälle mit der Höhe der Blutzuckerwerte steigt. Um diabetesbedingte Folgeschäden zu vermeiden, empfehlen
Leitlinien deshalb die Senkung der Blutzuckerwerte auf Werte im „normnahen“
Bereich. Darunter versteht man Werte, die denen von Menschen ohne Diabetes
nahekommen. In dem jetzt vorgelegten Bericht, einem sogenannten Rapid Report,
hat das IQWiG untersucht, ob diese Therapiestrategie, also das Anstreben von
(nahezu) normalen Blutzuckerwerten tatsächlich auch das Risiko für DiabetesFolgekomplikationen vermindert [1].
Vergleich von zwei Therapiestrategien
Das IQWiG hat dazu randomisierte kontrollierte Studien gesucht, die zwei Therapiestrategien bei Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes miteinander
verglichen: In einer Gruppe sollten die Maßnahmen darauf zielen, den Blutzucker
langfristig auf normnahe Werte zu bringen. In der Vergleichsgruppe sollte es diese
Absicht nicht oder nicht in gleichem Maße gegeben haben. Maßgebliche Kriterien für die Bewertung des Nutzens oder Schadens waren dabei die Sterblichkeit
(Gesamtsterblichkeit), Diabetes-Folgekomplikationen (Herzinfarkte, Schlaganfälle,
Nieren- oder Augenschädigungen u.a.) sowie die Lebensqualität.
Drei Studien nach 2000 durchgeführt
Insgesamt konnte das IQWiG sieben Studien in die Bewertung einbeziehen, an
denen insgesamt 28.000 Patientinnen und Patienten teilgenommen hatten. Die
Studien waren recht unterschiedlich: Vier Studien waren bereits zwischen den
1960er und 1990er Jahren entstanden, die übrigen nach dem Jahr 2000. Teils handelte es sich um Patienten einer bestimmten Ethnie (Japan) und in einigen Studien
wurden Medikamente breit eingesetzt, die heute nicht mehr auf dem Markt sind
(Rosiglitazon).
IQWiG findet bei wichtigen Therapiezielen keine Unterschiede
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden bei der Auswertung dieser Studien bei maßgeblichen Aspekten der Therapie keine Unterschiede zwischen den beiden
Gruppen. Weder zur Gesamtsterblichkeit noch zu tödlichen Herzinfarkten, (tödlichen
und nichttödlichen) Schlaganfällen, zu Niereninsuffizienz (und ihren Vorstufen), Amputationen oder Vorstufen der Erblindung gibt es Belege oder Hinweise darauf, dass
eine der beiden Therapiestrategien mehr Vor- oder Nachteile bietet. Was die Zielgrößen
Lebensqualität und Erblindung betrifft, gibt es nicht genügend Daten.
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
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Lediglich beim Therapieziel der nichttödlichen Herzinfarkte fand das Kölner Institut
in den Studien Hinweise, dass Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes von
einer normnahen Blutzuckersenkung einen Vorteil hatten. Gleichzeitig gibt es aber
auch Hinweise, dass schwere Unterzuckerungen sowie andere schwerwiegende
Ereignisse zum Teil deutlich häufiger auftraten als bei einer weniger intensiven
Blutzuckersenkung.
In der Gesamtschau decken sich die Ergebnisse des aktuellen IQWiG-Berichts mit
denen von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen, die andere Wissenschaftler in
jüngerer Zeit durchgeführt und vorgelegt haben.
Frage nach der besseren Therapiestrategie
bleibt weiter unbeantwortet
„Es ist schon erstaunlich: Einzelne Interventionen, vor allem Medikamente, sind
zum Teil gut in Studien untersucht. Über Vor- und Nachteile von Therapiestrategien
wissen wir aber relativ wenig“, kommentiert IQWiG-Leiter Jürgen Windeler den
aktuellen Bericht. „Wenn Ärzte also vor der Frage stehen, was sie ihren DiabetesPatienten konkret anbieten können, ob sie den Blutzucker möglichst weit absenken
sollen und bei welchen Patienten dies vielversprechend ist und bei welchen weniger,
bekommen sie noch immer keine befriedigenden Antworten.“ Obwohl dies eine
zentrale Fragestellung bei der Versorgung von Menschen mit Typ-2-Diabetes sei,
ließen die wenigen Studien keine zuverlässigen Aussagen zu.
Quelle: Mitteilung des IQWiG
[1]Der komplette Report des IQWiG ist im Internet zu finden:
www.iqwig.de/download/A05-07_Rapid-Report_NormnaheBlutzuckersenkung-bei-Diabetes-mellitus-Typ-2.pdf
ADDITION-Europe-Studie
Normnahe BZ-Senkung für „frische
Diabetiker“: Nutzen weiterhin nicht belegt
Dr. med. Uwe Popert
Methode: In einer multizentrischen (Dänemark, Niederlande, England) pragmatischen Kohorten-Studie wurde die Effektivität einer frühen multifaktoriellen
Intervention bei Diabetes Typ 2 untersucht [1]. Nach einem Screening-Programm
wurden 3.057 Patienten (Alter 40 bis 69 Jahre) mit erstmaliger Diabetes-Diagnose
(WHO-Kriterien) innerhalb der 343 hausärztlichen Praxen Cluster-randomisiert und
verblindet behandelt. Die eine Gruppe wurde wie üblich therapiert, die andere entsprechend der derzeit strengsten Empfehlungen (Intervention bei HbA1c > 6,5%;
RR > 120/80 mm Hg; Gesamtcholesterin > 3,5 mmol/l; routinemäßige Verordnung
von ASS 100 mg/d).
Vorab festgelegter primärer Endpunkt: erstes kardiovaskuläres Ereignis (Morbidität, Mortalität, Revaskularisation) und nicht-traumatische Amputation innerhalb
von fünf Jahren. Sekundäre Endpunkte: Gesamtmortalität und einzelne Items des
primären Endpunktes.
Resultate
Die Intention-to-treat-Auswertung nach mittlerem Follow-up von 5,3 Jahren erfolgte
für 3.055 (99,9%) der Patienten. Die intensiv behandelten Patienten schnitten
Beiträge
der
Redaktion
KVH • aktuell
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Nr. 1 / 2012
etwas, aber nicht signifikant besser ab: 7,2% gegenüber 8,5% kardiovaskuläre
Ereignisse und 6,2% versus 6,7% Gesamtsterblichkeit. (Die kardiovaskulären
Ereignisse betrafen im Wesentlichen Morbidität und Interventionen; die Sterblichkeit
beruhte im Wesentlichen auf nicht-kardiovaskulären Ursachen.)
Diskussion
Fragestellung, Klientel und Setting muten wie eine Neuauflage der berühmten
UKPDS an. Wäre ein signifikantes Ergebnis herausgekommen, wäre der ADDITIONEurope-Studie wohl auch wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden. So
fragt man sich eigentlich nur im Vorübergehen, warum wohl nichts daraus werden
konnte. Im begleitenden Editorial werden im Wesentlichen zwei Gründe genannt:
einmal wurden während der Laufzeit die Leitlinien-Zielwerte für die Kontrollgruppe
ebenfalls niedriger angesetzt, zum anderen war die Ereignisrate insgesamt nur halb
so hoch wie in der Power-Kalkulation angenommen. In der Tat sind die im Follow-up
erreichten Durchschnittswerte sehr ähnlich: HbA1c 6,7 vs. 6,6%; RR syst 138,1 vs.
134,8 mmHg, RR diast 80,7 vs. 79,9 mmHg; Gesamtcholesterin 4,4 vs. 4,2 mmol/l.
Auffällig ist lediglich die in der Intensivgruppe erhöhte Verschreibungsrate von ASS:
41,7% vs. 70,7% (Standard vs. Intensivtherapie).
Nachdem die Ergebnisse von ACCORD-, ADVANCE-, VADT- und CurrieStudie zu einer wesentlich weniger strengen Behandlung von Diabetikern
mit längerem und/oder komplizierterem Verlauf mahnen (und die meisten
Leitlinien auch angepasst wurden) fehlt damit weiterhin ein Studienbeleg
für eine Intensivbehandlung von frisch diagnostizierten Diabetikern. Die
ADDITION-Europe-Studie konnte diesen Beweis jedenfalls nicht erbringen.
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1 Simon J Griffin, Knut Borch-Johnsen, Melanie J Davies, et al., Effect of early intensive multifactorial therapy on
5-year cardiovascular outcomes in individuals with type 2 diabetes detected by screening (ADDITION-Europe): a
cluster-randomised trial. www.thelancet.com Published online June 25, 2011
DOI:10.1016/S0140-6736(11)60698-3
Beiträge
der
Redaktion
Rote Hand für Aliskiren-haltige
Arzneimittel
Sicherheitsbedenken bezüglich der Behandlung bei Patienten mit
Diabetes mellitus Typ 2 und Nierenfunktionsstörungen und/oder
kardiovaskulären Erkrankungen
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
In der ALTITUDE-Studie wurde Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die ein hohes
Risiko für tödliche oder nichttödliche kardiovaskuläre Erkrankungen und renale
Ereignisse hatten und deren arterieller Blutdruck bei Studienbeginn in der Regel
ausreichend eingestellt war, zusätzlich zur Standardtherapie, die einen ACE-Hemmer
oder ein Angiotensinrezeptorblocker beinhaltete, Aliskiren 300 mg gegeben.
Ziel dieser vierjährigen multinationalen, randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studie war die Untersuchung des potentiellen Nutzens der Zusatztherapie mit Aliskiren hinsichtlich der Reduktion des Risikos für kardiovaskuläre und
renale Ereignisse.
Zwischenauswertungen zeigten, dass die Studienpatienten nicht von der Behandlung mit Aliskiren profitierten. Weiterhin wurde bei diesen Hochrisikopatienten
eine höhere Inzidenz unerwünschter Ereignisse im Bezug auf nichttödlichen
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2012
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Schlaganfall, renale Komplikationen, Hyperkaliämie und Hypotonie beobachtet.
Dies führte dazu, dass nach Absprache mit der europäischen Arzneimittelagentur
(EMA) und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die
Firma Novartis in einem Rote-Hand-Brief über folgendes informierte:
Bei Patienten, die Aliskiren-haltige Arzneimittel – Rasilez®, Rasilez HCT®,
Rasilamlo® – erhalten, wird eine Routineüberprüfung empfohlen.
Aliskiren oder Aliskiren-haltige Kombinationspräparate sollen bei Diabetikern nicht zusammen mit ACE-Hemmern oder Angiotensinrezeptorblockern angewendet werden.
Ärztinnen und Ärzte sollen bei Diabetikern, die gleichzeitig einen ACEHemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker einnehmen, Aliskirenhaltige Arzneimittel absetzen. Gegebenenfalls muss eine alternative
blutdrucksenkende Behandlung in Betracht gezogen werden.
Bei Diabetikern, die einen ACE-Hemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker einnehmen, soll keine Therapie mit Aliskiren-haltigen Arzneimitteln begonnen werden.
Patienten sollen die Einnahme nicht selbstständig beenden, sondern dies
mit ihrer Ärztin/ihrem Arzt besprechen.
Es wurden leider nur Diabetiker untersucht. Ob dies auch für Nicht-Diabetiker gilt,
bleibt offen.
Interessenkonflikte: keine
Quelle: Rote-Hand-Brief und Informationen der Firma Novartis vom 05.01.2012
Beliebte Vitaminpillen
Ganz sicher kein Allheilmittel,
sondern sogar gefährlich
Sofern es nicht mit Anstrengungen verbunden oder sonstwie mühsam ist, geben
sich die Deutschen gesundheitsbewusst. Sie nehmen beispielsweise gerne frei
käufliche Präparate mit Vitaminen und Spurenelementen ein, denn das muss ja
einfach gesund sein. Es geht zudem schnell und aus der Puste kommt man dabei
auch nicht. Dass die beliebten Präparate – sofern nicht gerade ein dokumentierter
Mangel damit beseitigt wird – zweifelhaft sind, hatten wir auch in KVH aktuell schon
mehrfach aufgezeigt (Hefte 1/2007, 2/2007, 3/2007, 1/2011). Schlimmer noch, wie
man neuerdings auch in seriösen Publikumsmedien lesen konnte: solche Präparate
können sogar Schaden anrichten.
Die Berichte fußen vor allem auf zwei in letzter Zeit veröffentlichten Studien. Eine
davon beruht auf den Daten der IOWA Women‘s Health Study und schließt die Daten
von 38.722 älteren Frauen ein, die 18 Jahre lang beobachtet wurden [1]. Das Ergebnis: Die Einnahme von Multivitaminpräparaten, Vitamin B6, Folsäure, Magnesium,
Zink, Kupfer und vor allem Eisen war mit einer erhöhten Gesamtmortalität korreliert.
Eine zuvor veröffentlichte Studie [2], in der 182.099 Probanden in Hawaii und
Kalifornien (allerdings nur 11 Jahre lang) beobachtet worden waren, hatte die
Zusammenhänge zwischen Vitaminpräparaten einerseits und Gesamtmortalität,
kardiovaskulärer Erkrankungen sowie Krebs andererseits untersucht. Hier fand
sich schlicht gar kein Zusammhang, also weder eine positive noch eine negative
Wirkung – ob die Leute Vitaminpillen schluckten oder nicht, blieb ohne Wirkung.
BW
Literatur:
1 Mursu, J. et al.: Arch Inten Med. 2011; 171 (18): 1625-1633. DOI: 10.1001/archinternmed.2011.445
2 Park, S.-Y. et al.: Am. J. Epidemiol. (2011) 173 (8): 906-914. DOI: 10.1093/aje/kwq447
Kurze
Meldung
Mortalität
war erhöht
KVH • aktuell
Seite 16
Der
Gastbeitrag
Nachdruck aus ZFA
(Z Allg Med 2012; 88
(1) S.43) mit freundlicher Genehmigung
der Autoren und der
Redaktion der ZFA.
Nr. 1 / 2012
Soll ich meine antikoagulierten
Patienten mit Vorhofflimmern auf
Dabigatran umstellen?
Dr. med. Günther Egidi und Dr. med. Armin MainzI
Hintergrund
Am 4.8.2011 hat die europäische Zulassungsbehörde EMA die Vermarktung von
Dabigatran (Pradaxa®) auch bei Patienten mit Vorhofflimmern erlaubt. Die mit
Boehringer-Ingelheim (Hersteller von Dabigatran) konkurrierenden Produzenten der
Thrombininhibitoren Apixaban [1] und Rivaroxaban [2] haben ebenfalls Zulassungsanträge gestellt. Bereits 2008 hatte Dabigatran eine Zulassung zur perioperativen
Thrombose-Prophylaxe erhalten – und fällt damit nicht unter die Festbetragsregelung des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG).
Dabigatran wirkt als direkter Thrombininhibitor. Die Pradaxa®-Hartkapseln enthalten 110 bzw. 150 mg Dabigatran-Etexilat. Die Kapseln sollen zweimal täglich
unzerkaut geschluckt werden. Eine vorherige Öffnung
der Kapseln ist mit einem erhöhten Blutungsrisiko
Zusammenfassung: Am 4.8.2011 hat die
assoziiert. Eine Labor-Überwachung der Therapie ist
EMA Dabigatran für Patienten mit Vorhofweder erforderlich noch möglich, ein Antidot ist nicht
flimmern zugelassen. Im Pro- und Contrabekannt. Die renale Ausscheidung der Substanz beFormat werden Argumente aus einer Listdingt als Kontraindikation eine auf unter 30 ml/min
server-Diskussion zusammengefasst. Soll ich
gesunkene eGFR. Im Fall einer schweren Überdosierung
meine antikoagulierten Patienten (Warfarin
bliebe die Dialyse als Behandlungsoption. Entsprechenbzw. Phenprocoumon) auf Dabigatran umde Erfahrungen sind begrenzt.
stellen? Pro: Die Verordnung von DabigaWechselwirkungen bestehen mit anderen blutungstran kann bei leichtem Vorteil gegenüber
aktiven Substanzen sowie mit Ketoconazol, AmiodarWarfarin Kosten minimieren. Dabigatran
on, Verapamil, Clarithromycin sowie Chinidin [3].
ist eine echte Innovation und zumindest für
Die Tagestherapie-Kosten liegen für beide Dabigadie Hausarztpraxen komfortabler. Letztlich
tran-Dosierungen bei 3,55 Euro [4].
müssten die Krankenkassen entscheiden,
ob sie für diesen Komfort ihrer Versicherten
Eine am 12.11.2011 durchgeführte Pubmed-Suche
bezahlen wollen. Contra: Die Datenlage
unter den Suchbegriffen „dabigatran etexilate“ AND
spricht gegen einen unkontrollierten Ein„Atrial Fibrillation“ mit der Beschränkung auf Metaanasatz von Dabigatran. Verzerrungen in der
lysen und RCTs sowie in Deutsch oder Englisch veröfRE-LY-Studie und die erheblichen Nachfentlichte Untersuchungen am Menschen ergab zehn
teile bei der praktischen Anwendung sind
Treffer. Acht davon beziehen sich auf die RE-LY-Studie
die Hauptgründe, um an der bisherigen
(s.u.), einer ist eine Dosisfindungs- und Toxizitäts-Studie
Praxis der Antikoagulation mit Cumarinen
[5] und einer ein indirekter Vergleich mit Placebo und
festzuhalten. Die vorhandenen Ressourcen
Thrombozytenaggregationshemmern [6].
sollten eher für ein besseres INR-Monitoring
In der 2009 veröffentlichten RE-LY-Studie [7] wureingesetzt werden.
de der direkte Thrombininhibitor Dabigatran in zwei
verschiedenen Dosierungen mit dem im angelsächsischen Raum verbreiteten Vitamin-K-Antagonisten Warfarin verglichen (ob das
vergleichsweise kürzer wirkende Warfarin mit dem in Deutschland gebräuchlichen
Phenprocoumon hinsichlich erwünschter und unerwünschter Wirkungen gleich
gesetzt werden kann, ist nicht völlig unumstritten).
In der RE-LY-Studie traten bei den insgesamt 18.113 untersuchten Patienten mit
Vorhofflimmern Insulte oder systemische Embolien pro Jahr auf:
bei 1,69% unter Warfarin,
I
Günther Egidi ist Hausarzt in Bremen, Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin Universitätsmedizin Göttingen,
Vorsitzender der Akademie für hausärztliche Fortbildung Bremen
Armin Mainz ist Facharzt für Innere Medizin, Korbach
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KVH • aktuell
bei 1,53% unter 110 mg Dabigatran (RR Dabigatran 0.91;
95%-CI: 0.74–1.11; P<0.001 für Nichtunterlegenheit)
und bei 1,11% unter 150 mg Dabigatran (RR 0.66; 95%-CI: 0.53–0.82;
P<0.001 für Überlegenheit).
Größere Blutungen traten
bei 3,36% unter den mit Warfarin Behandelten jährlich auf,
unter 110 mg Dabigatran bei 2,71% (P = 0.003)
und in der 150-mg-Dosierung mit 3,11% (P = 0.31).
Die jährliche Gesamtmortalität lag bei
4.13% unter Warfarin,
3.75% unter 110 mg Dabigatran,
3.64% unter 150 mg Dabigatran.
Der Nutzen der höheren Dabigatran-Dosis zur Verhinderung des primären Endpunktes war somit signifikant bei gleichem Blutungsrisiko. Die niedrigere DabigatranDosis war hinsichtlich von Blutungen signifikant überlegen, unterschied sich aber
hinsichtlich des primären Endpunktes nicht signifikant von Warfarin. In der höheren
Dosis verfehlte Dabigatran mit p 0,051 knapp das Signifikanz-Niveau hinsichtlich
der Gesamtmortalität.
Aktuelle Diskussion im allgemeinmedizinischen Listserver
Die möglichen Konsequenzen einer Marktzulassung sind im allgemeinmedizinischen
Listserver der DEGAM [8] breit diskutiert worden. Die am 07.09.2011 gestellte
Ausgangsfrage war: „In unserem QZ möchten wir heute u.a. die aktuelle Lage zu
Dabigatran diskutieren. Dabigatran hat ja vor einigen Tagen auch in […] Europa
die Zulassungserweiterung für Vorhofflimmern erhalten. Wie sieht es nun mit der
rationalen und wirtschaftlichen Verordnung der Substanz aus? In einer Info der KV
Nordrhein wird vorgerechnet, dass die Tagestherapiekosten sich verachtzehnfachen
[…]. Gibt es noch weitere Meinungen/Einschätzungen zur Indikation und Verordnung von Dabigatran?“
Dieser Artikel fasst Vor- und Nachteile einer Umstellung der präventiven Behandlung antikoagulierter Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran aus dieser
Diskussion zusammen und stellt die Argumente in einem Pro- und Contra-Format
zusammen.
Soll ich meine antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern
auf Dabigatran umstellen?
– PRO (Günther Egidi)
Phenprocoumon, das neben der Insult-Prävention bei Vorhofflimmern zur Behandlung von Thrombosen, einer Thrombophilie oder zur Embolie-Prophylaxe bei
künstlichen Herzklappen oder bei bestimmten Gefäß-Prothesen eingesetzt wird,
liegt unter den Substanzen, die durch unerwünschte Wirkungen zu einer stationären
Krankenhausaufnahme führen, auf einem der vorderen Plätze [9–11].
In der RE-LY-Studie [7] war Dabigatran gegenüber Warfarin zumindest gleichwertig, wenn nicht übelegen.
Die Betreuung antikoagulierter Patienten bindet erhebliche personelle Valenzen
in den Hausarztpraxen. Je nach Verfahren der Befundmitteilung sind manchmal
mehrere Arzt-Patient-Kontakte pro Tag erforderlich.
Die Bestimmung der Thromboplastinzeit für Systeme mit trägergebundenen Reagenzien ist über die EBM-Ziffer 32026 als Akutparameter im ärztlichen Präsenzlabor
mit 4,70 Euro seit 01.10.2008 abrechnungsfähig [12]. Die Kosten für die Reagenzien
werden durch die Abrechnung der Ziffer erstattet. Für die Arztpraxis ergibt sich in
etwa eine Nullsumme von Kosten und Einnahmen. Die Kosten im beauftragten
Labor sind ähnlich, diejenigen für Blutabnahmesysteme zu vernachlässigen.
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Hinzu kommt aber bei durchschnittlich geschätzten täglichen 3 bis 4 INR-Kon­
trollen pro Hausarztpraxis eine halbe bis eine ganze Arbeitsstunde für medizinische
Fachangestellte von geschätzt 10 bis 20 Euro für die Blutentnahme und eine viertel
Arztstunde für die Festlegung der Phenprocoumon-Dosierung à 25 Euro. Die Gesamtkosten für die Arztpraxis für personellen Aufwand liegen also bei geschätzten
35 bis 45 Euro/Tag.
Unter Dabigatran wären diese Kontrollen nicht erforderlich – hierdurch können
die genannten Kosten minimiert werden. Auch für die Patienten entfielen die meist
mindestens vierwöchentlich erforderlich werdenden Arztbesuche. Für Berufstätige
bedeutet das weniger Kosten durch Arbeitsausfälle. Die Anwendung des neuen
Medikamentes wäre also auch für die Patienten erheblich komfortabler. Was die
in Frage gestellte Sicherheit bei Überdosierung angeht, gibt es erste Hinweise [13]
darauf, dass Dabigatran im Fall einer Überdosierung antagonisiert werden könnte.
Wir haben also in der Summe in der entscheidenden Zulassungsstudie eine tendenziell dem Warfarin leicht überlegene Substanz.
Jetzt haben wir HausärztInnen eine besondere Situation:
Wir haben betriebswirtschaftlich ein direktes Interesse daran, eine mühsame und gelegentlich lästige sowie zeitaufwendige Tätigkeit wie die INRKontrolle loszuwerden,
Hinzu kommen eher günstige Daten aus der der Zulassung zugrunde
liegenden Studie.
Wir würden aber unser Verordnungsbudget durch eine massive Verteuerung der Tagestherapiekosten von durchschnittlich 20 Cent (3 mg Phenprocoumon) auf 3,55 Euro belasten. Wobei diese Verteuerung diejenigen,
die mit ihrem Budget keine Probleme haben, angesichts der in der RE-LYStudie belegten Vorteile der Substanz nicht stören dürfte.
Zusammenfassung
Dabigatran ist eine echte Innovation und zumindest für die Hausarztpraxen einfach
komfortabler. Letztlich müssten die Krankenkassen entscheiden, ob sie für diesen
Komfort ihrer Versicherten bezahlen wollen (und wir müssten eine Umstellung aus
dem Budget herausgerechnet bekommen).
Der Autor hat die Pro-Argumente aus didaktischen Gründen in dieser Form zusammengestellt. Real wird er selbst in der nächsten Zeit seinen Patienten zunächst nicht
die Umstellung auf Dabigatran empfehlen, solange die Datenlage nicht besser ist.
Soll ich meine antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern
auf Dabigatran umstellen?
– Contra (Armin Mainz)
Sicher ist die Perspektive verlockend, die bislang übliche Phenprocoumon-Antikoagulation von Patienten mit Vorhofflimmern durch die Umstellung auf den
Thrombinhemmer Dabigatran abzulösen, denn das derzeitige Vorgehen ist nicht
nur zeit- und personalintensiv, sondern birgt auch entsprechende Risiken. Beim
derzeitigen Stand des Wissens spricht jedoch eine ganze Reihe von Argumenten
gegen eine Änderung des bestehenden Standards:
Die multinationale RE-LY-Studie wurde allein durch den Produzenten finanziert.
Die Autoren weisen vermeidbare Interessenkonflikte auf (Verflechtungen mit
dem Hersteller des Medikaments).
Im Studienverlauf kam es im Interventionsarm zu einer höheren Abbruchrate,
deren Gründe zunächst sorgfältig analysiert werden sollten.
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
Die in der RE-LY-Studie angegebene Gleichwertigkeit bzw. Überlegenheit von
Dabigatran gegenüber Warfarin beruht möglicherweise auf weiteren Verzerrungen. So fehlen Angaben über die Intensität der INR-Schwankungsbreiten in
der Kontrollgruppe. Stärkere Schwankungen bei den INR-Werten sind jedoch
mit einer höheren Komplikationsrate assoziiert [14]. Durch ein besseres Drug
monitoring wären sie prinzipiell vermeidbar [15, 16].
Außerdem hängen Ergebnisse bzw. Ereignisse unter einer Antikoagulation von
der Güte der INR-Einstellung ab. In der Subgruppenanalyse der Studie gibt es
starke Hinweise darauf, dass das Gesamtergebnis der multinationalen Studie
von den Ergebnissen aus Ländern wie Indien, Mexiko, Peru oder Rumänien bestimmt wird, deren INR-Einstellungsgüte deutlich unter dem mitteleuropäischen
Standard liegt. Ein daraus folgender konstruktiver Ansatz wäre es zum Beispiel,
in diesen Ländern die INR-Einstellungsgüte durch public-health-Maßnahmen zu
verbessern. Denn angesichts der hohen Kosten für das neue Medikament darf
bezweifelt werden, ob gerade diese Länder mit einer hohen Armutsrate genügend Ressourcen für die Finanzierung der neuen Substanz aufbringen könnten.
Der beobachtete Trend zu einer Zunahme von Herzinfarkten unter dem Thrombinhemmer sollte zumindest Anlass sein, eine Verordnung nur unter kontrollierten Bedingungen zuzulassen. Dabigatran muss anders als Phenprocoumon
zweimal täglich eingenommen werden. Die kürzere Halbwertszeit macht sich
bei Verschiebungen des Einnahmezeitpunktes in stärkeren Schwankungen des
Wirkspiegels bemerkbar, als dies beim lang wirksamen Phenprocoumon der Fall
ist. Der Mindestabstand zwischen der Einnahme der beiden Kapseln beträgt sechs
Stunden. Eine Überdosierung führt zu einem erhöhten Blutungsrisiko. Dadurch,
dass kein Drug monitoring erfolgen kann, wird dieses Risiko nicht erkannt.
Aufgrund der Einnahmebedingungen sind Patienten mit einer problematischen
Adherence nicht für die Umstellung geeignet: Das Mittel muss bis zur Einnahme
in der Originalverpackung aufbewahrt werden und sollte keinesfalls in Tagesoder Wochendispenser umgefüllt werden. Unter dem Einfluss von Feuchtigkeit
zerfällt der Wirkstoff, und es droht ein Wirksamkeitsverlust. Man sollte die
Tabletten erst kurz vor der Einnahme aus dem Blister holen. Die Kapseln sollen
nicht durchgedrückt werden, sondern es muss die Alufolie abgezogen werden.
Die Pellets dürfen nicht ohne die Kapsel geschluckt werden; anderenfalls erhöht
sich das Blutungsrisiko, da sich die Bioverfügbarkeit um 75% erhöhen kann.
Bei Überdosierung und/oder der Notwendigkeit, die Wirkung schnell zu beenden, ergeben sich Probleme, da es kein Antidot gibt. Notfalls muss dialysiert
werden; allerdings muss der Nutzen einer Dialyse noch geprüft und die entsprechenden logistischen Voraussetzungen müssen geschaffen werden.
Eine geschätzte Kreatinin-Clearance von unter 30 ml/min war ein Ausschlusskriterium für die Studienteilnahme. Nicht wenige unserer älteren antikoagulierten
Patienten haben aber eine eingeschränkte Nierenfunktion.
Das arznei-telegramm [17] empfiehlt in Anlehnung an einen britischen HTA-Report
[18, 19] den Einsatz von Dabigatran bei Patienten, bei denen es sich als schwierig
herausstellt, eine Antikoagulation im INR-Zielbereich zu erzielen. Aber auch diese
pragmatische Empfehlung kann aufgrund der vorgestellten Argumente nicht ohne
Widerspruch bleiben. Sie dient allerdings als Argument, dass eine Entscheidung
von dieser Tragweite nur getroffen werden kann, wenn dabei die hausärztliche
Kompetenz mit der Kenntnis des ganzen Menschen angemessen berücksichtigt
wird. Eine über Kliniken oder Spezialpraxen herbeigeführte Einführung des neuen
Medikaments wäre kontraproduktiv.
Medikamentöse Innovationen zur Vereinfachung der Patientenversorgung sind
uneingeschränkt wünschenswert. Sie dürfen jedoch nicht zu Lasten der Patientensicherheit gehen. Bemerkenswert, dass bereits zwei Kasuistiken [20] von Komplikationen unter Dabigatran erschienen sind. In einem Fall handelt es sich um eine
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letale Blutung bei einer 84-Jährigen mit einer Kreatinin-Clearance von 32 ml/min.
Weltweit sind bis zum 06.11.2011 mittlerweile 256 tödliche Blutungskomplikationen unter Dabigatran bekannt geworden [21].
Einer NNT von 125/Jahr für den zusammengesetzten Endpunkt [7] ist der Ansatz
gegenüberzustellen, den Benefit der bisherigen Antikoagulation vorrangig durch
eine weitere Optimierung des Drug monitoring zu erhöhen. Spezifisch geschulte
Praxismitarbeiterinnen könnten die Hausärzte bei dieser Aufgabe unterstützen. In
Schweden [22] und den Niederlanden ist es üblich, dass geschulte Fachkräfte die
Phenprocoumon-Dosen adjustieren – in diesen Ländern wurden die besten INRZielerreichungsgrade verzeichnet.
Zusammenfassung
Hinsichtlich des Nutzens und der Sicherheit von Dabigatran bestehen erhebliche
Zweifel. Vor einer unkontrollierten Anwendung sind zunächst weitere Überprüfungen und ggf. Studien erforderlich. In der Zwischenzeit sollte in den Arztpraxen das
Verfahren zur Antikoagulation optimiert werden.
Interessenkonflikte: Als Kleinunternehmer hat G. Egidi ein Interesse an Einsparungen im Personalbereich.
Armin Mainz ist niedergelassener Hausarzt.
Literatur:
1 Granger C, Alexander J, Mc Murray J, et al. Apixaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J
Med 2011; 365: 981–92
2 Patel M, Mahaffey K, Garg J et al. Rivaroxaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med
2011; 365: 883–891
3 Fachinformation Pradaxa® 110 mg Hartkapseln vom August 2011
4 IfAp-Liste vom 15.9.2011
5 Ezekowitz M, Reilly P, Nehmitz G et al. Dabigatran With or Without Concomitant Aspirin Compared With Warfarin Alone in Patients With Nonvalvular Atrial Fibrillation (PETRO Study). Am J Cardiol 2007; 100: 1419–1426
6 Roskell NS, Lip GY, Noack H, Clemens A, Plumb JM. Treatment for stroke prevention in atrial fibrillation: a network metaanalysis and indirect comparisons versus dabigatran etexilate. Thromb Haemost 2010; 104: 1106–15
7 Connolly S, Ezekowitz M, Yusuf S, et al. Dabigatran versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J
Med 2009; 361: 1139–51
8 http://degam.de/alt/cme/index_cm. htm
9 Pirmohamed M, James S, Meakin S, et al. Adverse drug reactions as cause of admission to hospital: prospective
analysis of 18 820 patients. BMJ 2004; 329: 15–19
10 Moore T, Cohen M, Furberg C. Serious Adverse Drug Events Reported to the Food and Drug Administration,
1998–2005. Arch Intern Med. 2007; 167: 1752–1759
11http://www.jeder-fehler-zaehlt.de/
12 Bekanntgabe im Deutschen Ärzteblatt vom 22.12.2008
13 Eerenberg E, Kamphuisen P, Sjipkens M, et al. Reversal of Rivaroxaban and Dabigatran by Prothrombin Complex
Concentrate. A Randomized, Placebo-Controlled, Crossover Study in Healthy Subjects. Circulation 2011; 124:
1573–79
14 Wan Y, Heneghan C, Perera R, et al. Anticoagulation control and prediction of adverse events in patients with
atrial fibrillation: a systematic review. Circ Cardiovasc Qual Outcomes 2008; 1: 84–91
15 Horstkotte D, Bergmann R. European Heart Journal Supplements, Volume 3 suppl Q; December 1, 2001
16 Dumont Z, Bunka D. in RxFiles Trial Summary, Nov, 2010 (http://www.rxfiles.ca/rxfiles/uploads/ documents/RELY-Trial-Dabigatran.pdf)
17 NN. Dabigatran (Pradaxa) bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern. arznei-telegramm 2011; 42: 74–77
18 Spackman E, Burch J, Faria R, et al. Dabigatran etexilate for the prevention of stroke and systemic embolism in
atrial fibrillation: Evidence Review Group Report. http://www.hta.ac.uk/erg/reports/ 2359.pdf
19 Pink J, Lane S, Pirmohamed M, Hughes DA. Dabigatran etexilate versus warfarin in management of non-valvular
atrial fibrillation in UK context: quantitative benefit-harm and economic analyses. BMJ 2011; 343: d6333 doi:
10.1136/bmj.d6333
20 Legrand M, Mateo J, Aribaud A, et al. The Use of Dabigatran in Elderly Patients Arch Int Med 2011; 111:
1185–86
21 Homepage der europäischen Zulassungsbehörde EMA zuletzt besucht am 20.11.2011. http://www.
ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/news_and_events/news/2011/11/news_detail_001390.
jsp&mid=WC0b01ac058004d5c1
22 Wieloch M, Själander A, Frykman V, et al. Anticoagulation control in Sweden: reports of time in therapeutic
range, major bleeding, and thromboembolic complications from the national quality registry AuriculA. Eur Heart
J 2011; 32: 2282–89
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KVH • aktuell
Niedermolekulares Heparin für
internistische Patienten: Wirklich nötig?
Dr. med. Joachim Fessler
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Beiträge
der
Redaktion
Wer hat sie nicht, die Patienten, die nach Apoplex oder mit einem schweren M.
Parkinson aus dem Krankenhaus kommen und in deren Entlassungsplan täglich
niedermolekulares Heparin angesetzt wurde? Oft sind auch die Angehörigen informiert worden, dass diese Verordnung unbedingt fortgesetzt werden soll, sonst
drohe eine Lungenembolie.
Es geht um die Thromboembolieprophylaxe bei internistischen Patienten,
nicht um die perioperative. Diese Indikation ist offensichtlich lebenslang gegeben.
Nun ist Heparin in der Dauertherapie nicht unproblematisch, es müssen auch
regemäßige Blutbildkontrollen erfolgen, auf Grund der Grunderkrankung ist die
Blutentnahme im Allgemeinen mit einem Hausbesuch verbunden, kurzum, das ist
in der Praxis ein immenser Aufwand. Doch ist er wirklich indiziert? Wie stellt sich
die Indikation in der Studienlage dar?
Hierzu ist eine aktuelle und kompakte Zusammenfassung im arznei-telegramm
erschienen, die wir mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Verlag des
arznei-telgramms im Anschluss an diesen Text abdrucken.
Aus dieser Zusammenfassung ziehen wir unser Fazit für die Praxis:
Einem sehr geringen Nutzen steht ein genauso geringes Schädigungspotential
gegenüber.
Der organisatorische Aufwand ist erheblich.
Die Therapiekosten sind erheblich.
Die meisten der in Frage kommenden Patienten dürften multimorbide sein und
einer Polypharmazie unterliegen, so dass hier ein zusätzlicher Arzneistoff in
die Behandlung eingeführt wird. Auch unter dem Aspekt der Vermeidung von
Polypharmazie ist dieser Arzneistoff absetzbar bzw. vermeidbar.
Da diese Verordnungen im Allgemeinen von Krankenhausärzten initiiert werden, empfiehlt sich eine Rücksprache mit diesen Ärzten, ggf. die Durchführung
gemeinsamer Qualitätszirkel.
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Interessenkonflikte: keine
Da dieses Problem immer wieder in hausärztlichen Praxen auftaucht, ist es
für uns interessant, zu erfahren, wie Sie damit umgehen. Bitte schreiben
Sie uns Ihre Praxistipps!
Kurz und bündig
Thromboembolieprophylaxe bei
internistischen Patienten
Die Datenlage zur Thromboembolieprophylaxe bei stationären Patienten mit
internistischen Erkrankungen ist verglichen mit der bei chirurgischen Patienten
dürftig. Eine 2007 durchgeführte systematische Übersicht fand bei gepoolter Auswertung von neun randomisierten Studien lediglich eine absolute Reduktion des
Lungenembolierisikos durch Antikoagulanzien um 0,3% (a-t 2008; 39: 47-8). Im
Rahmen der Aktualisierung einer US-amerikanischen Leitlinie erscheint jetzt eine
neue systematische Übersicht zum Nutzen von Heparinen und mechanischen
Der
Gastbeitrag
Nachdruck aus
arznei-telegramm
1/2012
(a-t 2012; 43: 14)
mit freundlicher
Genehmigung der
Redaktion und des
Verlages des
arznei-telegramm.
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Verfahren zur Thromboembolieprophylaxe bei hospitalisierten nicht-chirurgischen
Patienten. 18 Studien mit etwa 36.000 Patienten, darunter auch Schlaganfall-, nicht
aber Infarktpatienten, vergleichen Heparine mit Plazebo oder Nichtbehandlung.
Lungenembolien werden relativ um 30% reduziert (p = 0,001). Es sind seltene
Ereignisse, sodass pro 1.000 Patienten nur drei verhindert werden. Die relative
Reduktion der Mortalität um 7% erreicht fast die Signifikanzgrenze (p = 0,056).
Pro 1.000 Patienten könnten sechs Todesfälle weniger auftreten. Symptomatische
tiefe Venenthrombosen werden nicht vermindert. Blutungen nehmen signifikant
zu, insgesamt um 28% (9 pro 1.000 Patienten), schwere um 61% (4 pro 1.000 Patienten). In den acht Studien mit Schlaganfallpatienten findet sich kein signifikanter
Einfluss auf symptomatische Venenthrombosen und Mortalität, und im Gegensatz
zu einem Cochrane Review ist auch die Minderung von Lungenembolien um 3
pro 1.000 Patienten nicht signifikant. Schwere Blutungen sind dagegen um 66%
häufiger (p = 0,002; 9 pro 1.000 Patienten). In den Studien ohne Schlaganfallpatienten wird nur die Lungenembolierate um 31% gesenkt (p = 0,006; 4 pro 1.000
Patienten), Blutungen insgesamt nehmen signifikant um 34% zu (9 pro 1.000
Patienten). Mechanische Maßnahmen wie Kompressionsstrümpfe bleiben in drei
Studien ohne Effekt (vgl. a t 2009; 40: 65-6; LEDERLE, F.A. et al.: Ann. Intern. Med.
2011; 155: 602-15/ati-d). Eine aktuelle randomisierte Doppelblindstudie mit 8.307
überwiegend asiatischen Patienten vergleicht täglich 40 mg Enoxaparin (CLEXANE)
subkutan über im Mittel zehn Tage erneut mit Plazebo. Die stationären Patienten
leiden vorwiegend an akuter Herzinsuffizienz (31%) oder schweren Infektionen
(57%). Alle sind mit angepassten Kompressionsstrümpfen versorgt. Enoxaparin hat
keinen Einfluss auf die Mortalität nach 30 Tagen (4,9% versus 4,8%, p = 0,83) oder
90 Tagen (8,4% vs. 8,6%; p = 0,71). Für symptomatische tiefe Venenthrombosen
(0,2% vs. 0,1%) und schwere Blutungen (0,4% vs. 0,3%) finden sich ebenfalls
keine Unterschiede. Leichte Blutungen sind unter Enoxaparin geringfügig häufiger
als unter Plazebo (1,8% vs. 1,1%; p = 0,02; KAKKAR, A.K. et al.: N. Engl. J. Med.
2011; 365: 2463-72). Beide Untersuchungen belegen nochmals, dass eine Thromboembolieprophylaxe mit Heparinen bei internistischen Patienten keinen sicheren
Einfluss auf die Mortalität hat und nur von geringem klinischen Nutzen ist, die Rate
auch schwerer Blutungen aber erhöhen kann, –Red.
(Weitere Informationen und die Möglichkeit des Abonnements unter www.arznei-telegramm.de)
Kritische
Analyse
IQWiG zu Ticagrelor:
Zusatznutzen für bestimmte Patienten
Weniger Todesfälle und Herzinfarkte bei
instabiler Angina Pectoris und NSTEMI
Um Blutgerinnseln vorzubeugen, steht bei einer akuten Durchblutungsstörung
des Herzmuskels zusätzlich zu Acetylsalicylsäure (ASS) seit Anfang 2011 auch der
Wirkstoff Ticagrelor (Brilique®) zur Verfügung. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat nun untersucht, ob Ticagrelor
Patientinnen und Patienten mit einem akuten Koronarsyndrom (AKS) gegenüber
herkömmlichen Medikamenten Vorteile bietet [1]. Dies ist die erste sogenannte
frühe Nutzenbewertung, die das IQWiG gemäß den neuen gesetzlichen Vorgaben
auf Basis eines Dossiers des Herstellers durchgeführt hat.
Das Institut kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Ticagrelor für Patientinnen und
Patienten mit einem „leichteren“ Herzinfarkt ohne typische EKG-Veränderungen
(NSTEMI) oder mit einer instabilen Angina pectoris (IA) einen beträchtlichen Zusatznutzen hat, da Ticagrelor das Risiko für Todesfälle und Herzinfarkte senkt. Für
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„schwerere“ Herzinfarkte (STEMI), bei denen das EKG meist in charakteristischer
Weise verändert ist, fehlen entsprechende Belege jedoch.
Vorteil bei Sterblichkeit und Herzinfarkt
Für die Indikation IA oder NSTEMI, für die der G-BA Clopidogrel als zweckmäßige
Vergleichstherapie bestimmt hatte, konnte der Hersteller anhand von Daten der
PLATO-Studie belegen, dass Ticagrelor Patientinnen und Patienten Vorteile bietet:
Bei Ticagrelor kommt es seltener zu Todesfällen als bei Clopidogrel. Auch Herzinfarkte traten unter Ticagrelor seltener auf, allerdings blieb dabei unklar, wie häufig
es sich um relevante, also spürbare Herzinfarkte handelte.
Keine Belege, dass schwere Blutungen häufiger auftreten
Medikamente, die Teile des Gerinnungssystems im Blut hemmen, erhöhen in der
Regel auch das Risiko für Blutungen. Schwere Blutungen traten bei der Behandlung
mit Ticagrelor aber nicht häufiger auf als bei der Behandlung mit Clopidogrel. Einen
Beleg für einen höheren Schaden von Ticagrelor fanden die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler indes in Hinblick auf Studienabbrüche wegen unerwünschter
Ereignisse und Atemnot (Dyspnoe).
Zusatznutzen mittlerer Kategorie bei IA und NSTEMI
Die Einzelergebnisse abwägend, stuft das IQWiG den Zusatznutzen von Ticagrelor
gegenüber Clopidogrel bei Patientinnen und Patienten mit IA oder NSTEMI insgesamt als „beträchtlich“ ein. Um das Ausmaß des Zusatznutzens festzustellen, hat
der Gesetzgeber drei Stufen vorgegeben: „gering“, „beträchtlich“ und „erheblich“.
Dabei soll nach den vom Gesetzgeber formulierten Anforderungen die höchste
Kategorie allerdings Medikamenten vorbehalten sein, die als „nachhaltige ... bisher
nicht erreichte große Verbesserung“, also als Durchbruch für die Behandlung einer
Erkrankung angesehen werden können.
Kein Beleg für Zusatznutzen bei Patienten mit STEMI
Was Patientinnen und Patienten mit STEMI betrifft, lieferte das Dossier keine Belege
für einen Zusatznutzen von Ticagrelor. Für Patienten, bei denen nach einem STEMI
die Herzkranzgefäße mittels eines Ballonkatheters geweitet wurden (PCI), zeigte
der Vergleich mit Prasugrel, einem anderen Gerinnungshemmer, keine Vorteile. Für
Patienten, die nach einem STEMI nur medikamentös behandelt werden oder eine
Bypass-Operation bekommen, legte der Hersteller keine aussagekräftigen Daten
vor. Dies lag auch daran, dass AstraZeneca von der vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie für die Indikation STEMI abwich. Diese Abweichung
hat AstraZeneca aus Sicht des IQWiG nicht ausreichend begründet, da sie zum Teil
sogar dem Zulassungsstatus der Gerinnungshemmer widerspricht.
Gesetz verlangt Abwägung von Nutzen und Schaden
„Bei Ticagrelor sind Herzinfarkte und Todesfälle seltener als bei Clopidogrel. Allerdings gibt es auch Belege für einen höheren Schaden, etwa in Form von häufiger
auftretender Atemnot. Diese Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, ist
schwierig“, erklärt Institutsleiter Jürgen Windeler. „Hier fließen Werturteile ein und
eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Methodik, wie man solche Abwägungen treffen kann, gibt es bislang nicht.“
Dennoch muss das IQWiG eine solche Abwägung treffen, denn der Gesetzgeber
verlangt bei der Nutzenbewertung gemäß AMNOG ausdrücklich eine Gesamtaussage auch zum Ausmaß des Zusatznutzens. „Wir haben erläutert, wie wir zu unserer Bewertung einzelner Endpunkte gelangt sind und wie wir die Gesamtaussage
abgeleitet haben. Wir möchten dies ausdrücklich als Vorschlag verstanden
Fazit:
Zusatznutzen fand
das IQWiG bei:
1: instabiler
Angina
pectoris
2: NSTEMI
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wissen“, so Windeler. Nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Methodik könne
im Stellungnahmeverfahren beim G-BA thematisiert werden.
Quelle: Mitteilung des IQWiG
[1] Die komplette Nutzenbewertung des IQWiG ist im Internet zu finden:
www.g-ba.de/downloads/92-975-5/2011-01-01-D-001_Ticagrelor_IQWiGNutzenbewertung.pdf
Beiträge
der
Redaktion
Strattera® bei ADHS: Tachykardie und
RR-Anstieg bei Kindern
Sicherheitsbedenken bei Atomoxetin (Strattera®) zur Behandlung
des ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
Der Hersteller von Strattera® – die Firma Lilly Deutschland GmbH – hat kürzlich
mitgeteilt, dass bei bis zu 12% der mit Strattera® behandelten Kinder und Erwachsenen klinisch relevante Veränderungen der Herzfrequenz und des Blutdrucks
beobachtet wurden. Die Herzfrequenz stieg um 20 Schläge oder mehr pro Minute
und der systolische Blutdruck um 15 bis 29 mm Hg oder mehr an. Bei einem Drittel
dieser Patienten, die klinisch relevante Herzfrequenz- und Blutdruckveränderungen
während der Strattera®-Behandlung zeigten, kommt es zu einem anhaltenden oder
weiterem, sich verstärkendem Anstieg.
Dies führt zu nachfolgenden Empfehlungen bzw. zu einer geänderten Fachinformation:
Strattera® darf nicht bei Patienten mit schwerwiegenden kardiovaskulären oder
zerebrovaskulären Erkrankungen angewendet werden, wenn das Auftreten eines klinisch bedeutsamen Herzfrequenz- und Blutdruckanstieges (Erhöhung der
Herzfrequenz um 20 Schläge oder mehr pro Minute oder einen Blutdruckanstieg
von 15 bis 20 mm Hg oder mehr) eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lässt.
Kardiovaskuläre Erkrankungen, die eine Behandlung mit Strattera® nicht zulassen, können u. a. schwerwiegende Hypertonie, Herzinsuffizienz, arterielle Verschlusskrankheiten, Angina pectoris, hämodynamisch relevanter angeborener
Herzfehler, Kardiomyopathie, Myokardinfarkt, möglicherweise lebensbedrohliche Arrhythmien und Ionenkanalerkrankungen, schwerwiegende zerebrovaskuläre Erkrankungen wie Aneurysma oder Schlaganfall sein.
Bevor Patienten mit Strattera® behandelt werden können, muss durch eine
sorgfältige Anamnese sowie eine körperliche Untersuchung das Vorliegen einer
kardiovaskulären Erkrankung abgeklärt bzw. ausgeschlossen werden. Finden
sich Hinweise auf eine kardiovaskuläre Erkrankung oder eine entsprechende
Erkrankung in der Vorgeschichte, muss eine weitergehende Beurteilung durch
einen Spezialisten erfolgen.
Der kardiovaskuläre Befund, Herzfrequenz und Blutdruck sind bei allen Patienten, die mit Strattera® behandelt werden, bei jeder Dosisanpassung und
mindestens alle 6 Monate zu kontrollieren und die Herzfrequenz, sowie der
Blutdruck in einer grafischen Darstellung zu dokumentieren.
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
Rote Hand Brief vom 07.12.2011
Geänderte Fachinformation von Strattera® vom November 2011
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KVH • aktuell
Paracetamol bei Risikogruppen:
Maximale Tagesdosis halbieren!
Die Berücksichtigung niedriger Kinderdosierungen von Paracetamol-haltigen Arzneimitteln – abhängig vom Lebensalter oder vom Körpergewicht – ist gut bekannt.
Weniger bekannt ist, dass auch bei Erwachsenen die allgemein empfohlene
maximale Tagesdosis von 4 g zu hoch sein kann:
Ein 43-jähriger Patient mit Morbus Crohn und einem Körpergewicht von 30 kg
erhielt über 4 Tage 4g/d Paracetamol. Das sich entwickelnde Leberversagen
konnte mit ärztlichen Maßnahmen nicht mehr gestoppt werden.
Eine 32-jährige Patientin mit chronischem Alkokolabusus und einem Körpergewicht von 44 kg erhielt zur Therapie von Entzugserscheinungen und GastritisSchmerzen u.a. auch 4 g/d Paracetamol. Nach 3 Tagen trat ein akutes Leberversagen auf, die Patientin erholte sich nach 15 Tagen.
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Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
Paracetamol wird verstärkt zu dem lebertoxischen Metaboliten N-acetyl-p-benzoquinonimin (NAPQ) verstoffwechselt bei
Glutathionmangel,
Cytochrom P450 –Enzyminduktion,
Überdosis.
Patienten sind insbesondere bei Glutathionmangel gefährdet. Dieser Mangel kann
eintreten, wenn Patienten
untergewichtig (< 50 kg KG) oder
alkoholabhängig sind oder
die Glutathionsynthese anderweitig gestört ist.
Die Autoren empfehlen, bei diesen Patienten eine Dosis von 2g/d Paracetamol nicht zu überschreiten.
Quelle: Brit. Med. J. 2010; 341: 1269
Metformin: Laktazidose
Metformin (viele Generika) ist aufgrund von Endpunktstudien eindeutig Mittel der
ersten Wahl beim Diabetes Typ 2. Parallel zu steigenden Verordnungszahlen nahm
auch die Anzahl berichteter Laktazidosefälle zu (circa 16 pro Jahr). Dies wird von
unserer Überwachungsbehörde als Zeichen zu wenig beachteter Kontraindikationen und Warnhinweise gedeutet. Nachdem circa ein Drittel der Fälle letal verliefen,
nachfolgend eine Auflistung der Kontraindikationen:
diabetische Ketoazidose, diabetisches Präkoma
Störungen der Nierenfunktion und entsprechende akute Krankheitszustände
wie Dehydratation, schwere Infektionen, Schock, jodhaltige Kontrastmittel,
kardiale oder respiratorische Insuffizienz, frischer Myokardinfarkt,
Leberinsuffizenz, akute Alkoholintoxikation.
Metformin ist zwar im Allgemeinen gut verträglich, hat jedoch wie alle wirksamen
Arzneistoffe UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkungen), die beachtet werden
müssen. Wie bei allen zum ersten Mal verordneten Arzneimitteln ist ein Blick in die
Fachinformationen zu empfehlen, ein Exemplar dieser Informationen sollte zum
eventuellen späteren Überprüfen vorrätig gehalten werden.
Quelle: Bull. AM-Sicherheit 2011, Nr. 2, 6 – 9
Bitte auch an die
Warnung in der
Fachinformation
denken: Metformin
sollte 48 Stunden
vor elektiven
chirurgischen
Eingriffen unter
Voll­narkose
abgesetzt werden.
Die Fortsetzung
der Therapie sollte
nicht früher als 48
Stunden nach dem
Eingriff erfolgen.
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Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2012
Tod nach fehlender Masernimpfung
Eltern würden ihren Kindern kaum empfehlen, ohne Rücksicht auf die Gefahr durch
den Straßenverkehr in der Straßenmitte zu gehen, um möglicherweise herunterfallenden Dachziegeln aus dem Weg zu gehen. Impfgegner haben jedoch
genau diese falsche Risikoeinschätzung: schwere UAW durch die Masernimpfung
sind nicht bekannt, erst kürzlich erlag jedoch in NRW eine ungeimpfte 13-Jährige
einer unheilbaren subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE), 11 Jahre nach
der Infektion. Damals wurden noch 6 weitere Kinder angesteckt, bei zweien wurde
ebenfalls SSPE diagnostiziert – der jahrzehntelange Verlauf dieser Erkrankung lässt
auf kein gutes Ende schließen.
Nach einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
hält jeder dritte Elternteil Masern für nicht gefährlich, 90% hoffen jedoch auf fundierte und sachliche Informationen vom Arzt.
In einer neuen Publikation wird zusammengefasst, wie 2010 in Essen und Berlin
sowie 2011 in Freiburg und Offenburg Masernausbrüche in anthroposophisch geführten Waldorf-Schulen auftraten. Der Autor weist mit Recht darauf hin, dass es
keinen Beleg dafür gibt, dass Kinder durch eine Maserninfektion „physische und
mentale Stärke gewinnen“. Wäre es nicht an der Zeit, gegen diese Impfgegner mit
ihrer „missionarischen Blindheit gegen Fakten“ zumindest berufsrechtlich vorzugehen?
Quellen: Ärztezeitung 2011, Nr. 189 S.1; Nr. 192 S.1; Dt.Med.Wschr. 2011; 136: 2271-2
Dabigatran: tödliche Blutungen
Mehrere letale Blutungen unter der Einnahme des Thrombinhemmers Dabigatran
(Pradaxa®) – hauptsächlich bei älteren Patienten mit schwerer Einschränkung der Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance unter 30 ml/min, das ist grundsätzlich eine Kontraindikation!) – führten zu der Erkenntnis, dass vor der Einnahme dieses neuen direkten
Thrombinhemmers unbedingt die Nierenfunktion überprüft werden muss, ebenso
wie eine regelmäßige Kontrolle der Kreatinin-Clearance (Serumkreatininwert reicht
nicht aus). Dies ist insbesondere bei älteren Patienten sowie bei Verdacht auf eine
akute Abnahme der Nierenfunktion (u.a. bei Hypovolämie, Dehydratation) notwendig.
Nach einer klinischen Studie soll jedoch die Rate schwerer Blutungen unter
Dabigatran im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten signifikant niedriger sein.
Wie bei jedem neu eingeführten Arzneistoff muss die Zeit zeigen, ob durch
Dabigatran ein neues Kapitel bei der Gerinnungshemmung in der Praxis aufgeschlagen wurde.
Quellen: AkdÄ Drug Safety Mail 2011-178, Ärztezeitung 2011; Nr. 198 S. 3
Bitte beachten Sie zum Thema Dabigatran auch unseren Beitrag auf Seite 16
Pelargoniumextrakt (Umckaloabo®):
Lebertoxizität
Die AkdÄ informierte über das Auftreten einer medikamentös-toxischen Hepatitis unter
der Einnahme von Umckaloabo®, einem Pflanzenextrakt zur Behandlung von akuter
Bronchitis und Erkältung. Zusätzlich wies sie noch auf mehrere Verdachtsberichte
über Transaminasenerhöhungen und weitere Hepatitiden hin. Die klinische Relevanz
der geltend gemachten Symptomverbesserungen sei unklar. Jedes Auftreten einer
schweren unerwünschten Wirkung muss deshalb kritisch gesehen werden.
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KVH • aktuell
Der Hersteller erklärte, dass es keinen gesicherten oder wahrscheinlichen Fall
erhöhter Leberwerte gäbe. Vorsorglich will er jetzt jedoch in der Gebrauchs- und
Fachinformation auf entzündungsbedingte Leberveränderungen im Einzelfall
hinweisen.
In der Vergangenheit wurden bei der Einnahme verschiedener Pflanzenextrakte
lebertoxische Reaktionen beobachtet. Eine Auswahl: 2006 Cimicifuga, 2002 Kava
Kava, 1999 Schöllkraut, 1998 pyrrolizidinhaltige Pflanzen wie Huflattich, 1996
chinesische Heilkräuter. Teils waren überhöhte Dosierungen verantwortlich, in der
Mehrzahl der Fälle könnten jedoch idiosynkratische Reaktionen aufgrund genetisch unterschiedlicher Enzymmuster in der Leber ursächlich für die Lebertoxizität
gewesen sein.
Pflanzenextrakte werden nur auf ihre Hauptinhaltsstoffe standardisiert. In Anbetracht unzähliger weiterer Inhaltsstoffe, je nach Charge auch in unterschiedlichen
Konzentrationen, ist es nicht verwunderlich, dass Patienten in Einzelfällen empfindlich reagieren können.
Quellen: Dt. Ärztebl. 2011; A 1651-52; Dt. Apo Ztg. 2011; 151: 3589-91
Bisphosphonate: Update
unerwünschter Wirkungen (UAW)
Ohne Zweifel gehören Bisphosphonate z.B. in der Therapie der manifesten Osteoporose zum Standard. UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkungen) gehören jedoch
grundsätzlich zu einer Therapie mit wirksamen Arzneistoffen. Nachfolgend einige
aktuelle Anmerkungen zu UAW dieser Stoffklasse.
Ösophaguskarzinom: nach oraler Einnahme über mehr als 5 Jahre (oder
nach mindestens 10 Verordnungen) verdoppelte sich das Risiko in einer Studie,
in einer anderen mit der gleichen Datenbasis konnte nach 4,5 Jahren nur ein
minimal erhöhtes Risiko von 1,07 gefunden werden. Die amerikanische Überwachungsbehörde FDA hat eine Induktion von Ösophaguskarzinomen durch
Bisphosphonate derzeit nicht bestätigt.
Ösophagitis: Eine chronische Ösophagitis unter 2-jähriger Risedronsäuretherapie exazerbierte nach der 3-tägigen Gabe von Clindamycin. Eine medikamenteninduzierte Ösophagitis sollte als Differentialdiagnose zu einer Refluxösophagitis
beachtet werden
Atypische Frakturen: bei Bisphosphonaten zur Osteoporosetherapie können
z.B. bei älteren Patienten nach Bagatelltraumen Arzneigruppen-spezifische
subtrochantäre oder diaphysäre Femurfrakturen auftreten. Die Notwendigkeit
einer Weiterbehandlung sollte individuell beurteilt werden, wenn entsprechende
Symptome auftreten.
Knochen-, Gelenk- und Muskelschmerzen: Insbesondere in der Osteoporosetherapie können bei 2 bis 5% der Patienten heftige Knochen- Gelenk- oder
Muskelschmerzen auftreten, erstmals auch noch lange Zeit nach Einnahmebeginn.
Osteonekrosen des Kiefers: Insbesondere bei immunsupprimierten Patienten
können vor allem bei iv.-Gabe eines Bisphosphonates Kiefernekrosen auftreten.
In der Osteoporosetherapie mit sehr viel niedriger Dosierung als in der Therapie
von Knochenmetastasen beträgt das Risiko circa 1:13.500, bei kieferchirurgischen Eingriffen sollte sicherheitshalber jedoch für drei Monate die Therapie unterbrochen werden. Eine generelle Therapiepause nach mehrjähriger Einnahme
wird derzeit diskutiert.
Quellen: Dtsch Med.Wschr 2010; 135: 2224-5; Dtsch.Med.Wschr. 2009; 134:1517-9; Pharm.Ztg. 2011;
156:87-8; Prescr. Internat. 2009; 18: 23; Dtsch Med. Wschr. 2011; 136: 2109-10
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Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Seite 28
Nr. 1 / 2012
ACE-Hemmer: Wechselwirkung mit
Selbstmedikation
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
Wenn einem Hochdruckpatient ein ACE-Hemmer oder Sartan verschrieben werden,
eventuell auch in Kombination mit einem Diuretikum, so sollte der verordnende
Arzt auf jeden Fall darauf hinweisen, dass die zusätzliche Einnahme vieler freiverkäuflicher nichtsteroidaler Antiphlogistika (ASS, Diclofenac, Ibuprofen) z.B. bei Alltagsbeschwerden oder grippalen Infekten die Nierenfunktion erheblich schädigen
kann (bis hin zum akuten Nierenversagen). Besonders betroffen sind Patienten über
65 Jahre, Diabetiker, Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion.
Quelle: Pharm. Ztg. 2011; 156; 3842
Misteltherapie: Klarstellung
Das Bundessozialgericht hat klargestellt, dass die Erstattung einer palliativen
Misteltherapie mit homöopathischen oder anthroposophischen Arzneimitteln zu Lasten der GKV möglich ist, nicht jedoch für eine kurative Therapie.
Nach einer Zusammenfassung ist in der Tat die Wirksamkeit einer kurativen Misteltherapie nicht eindeutig belegt. Palliativ jedoch scheint die Studienlage besser: in
14 von 16 Studien wurde ein Nutzen in Bezug auf Lebensqualität, psychologische
Parameter, Symptome oder UAW einer Chemotherapie festgestellt – wenn auch
nur zwei Studien von hoher methodischer Qualität waren.
Auf Mistellektin standardisierte Präparate sollten vorgezogen werden – sie liefern
am ehesten reproduzierbare Ergebnisse und lassen möglicherweise auftretende
UAW besser erkennen. Insgesamt ist die Datenlage so uneinheitlich, dass auf dem
schwierigen Gebiet der Tumortherapie Einzelfallentscheidungen (z.B. auch auf
Wunsch des Patienten) gefällt werden sollten. Die Hoffnung auf klinische Studien
hoher Qualität scheint sowohl bei homöopathischen als auch anthroposophischen
Arzneimitteln eher unerfüllt zu bleiben.
Nur eines wurde klargestellt: die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA können vom Bundesgesundheitsministerium in Zukunft nicht einfach
beanstandet werden, der G-BA unterliegt nur der Rechtsaufsicht des Ministeriums.
Quellen: Dt.med. Wschr. 2011:136: S13-15; Dtsch. Apo. Ztg. 2011; 151: 2384
Personalisierte Medizin
Über personalisierte Medizin wird viel geredet und geschrieben. Natürlich muss ein Patient als Individuum betrachtet und behandelt werden, man hat aber gelegentlich den Eindruck, als würde das
Schlagwort der „personalisierten Medizin“ vom Pharmamarketing benutzt, um die evidenzbasierten
Erkenntnisse zugunsten einer großzügigeren Verordnung aufzuweichen. Ein Symposium der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zu diesem Thema während des nächsten Internistenkongresses wird nun ohne interessengeleitetes Sponsoring Gelegenheit bieten, mit efahrenen
Experten über das Thema zu diskutieren.
Termin: Samstag, 14.04.2012, 14.00–15.30 Uhr
Ort:
Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185 Wiesbaden
(gegenüber Rhein-Main-Hallen)
Infos: Karoline Luzar, Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
E-Mail: [email protected], Telefon: 030-400456-500, Fax: 030-400456-555
oder unter www.akdae.de
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2012
Riskante Wechselwirkung Hyperkaliämie
Nur bei Cotrimoxazol
oder auch bei Trimethoprim alleine?
Zum Beitrag „Spironolacton und Cotrimoxazol nicht gleichzeitig geben“
in Heft 4/2011
Man sollte ja schon länger nicht mehr Cotrim verordnen, sondern nur Trim, wegen der häufigen Allergien des Sulfonamidanteils. Auf Grund unserer ländlichen
Resistenzsituation ist Trim immer noch erste Wahl für mich bei Harnwegsinfekten.
Beruht die Nebenwirkung Hyperkaliämie eventuell auch auf dem Sulfonamidanteil?
Dr. med. Wolfgang Stenner, Facharzt für Allgemeinmedizin
Anmerkung der Redaktion: Die Studie bezog sich auf Cotrimoxazol, das auch
heute noch oft genug verschrieben wird, so dass die Aussage zur Wechselwirkung
streng genommen nur hierfür gilt. Aus theoretischen Erwägungen dürfte aber der
Trimethoprim-Anteil wesentlich an der Verstärkung der Hyperkaliämie beteiligt sein.
Denn Trimethoprim ähnelt strukturell und pharmakologisch dem kaliumsparenden
Amilorid, so dass es wahrscheinlich ganz wesentlich zur Kaliumretention beiträgt;
darauf weisen auch die Autoren der Studie hin. Für den Sulfonamid­anteil ist derartiges nicht bekannt. Auch wenn die Wechselwirkung zwischen Spironolacton und
Trimethoprim alleine nicht geprüft wurde, ist es daher sicher sehr sinnvoll, auch bei
der alleinigen Gabe von Trimethoprim die Wechselwirkung in Betracht zu ziehen
und an eine Verstärkung der Kaliumretention zu denken.
BW
Otitis media
Wie gehen Sie in der Praxis damit um?
Akute Otitis media: Antibiotika – ja oder nein? Diese Frage hatten wir in Heft
4/2011 gestellt und sie letztlich offen lassen müssen: Zwei neue Studien hatten
ergeben, dass Antibiotika möglicherweise doch nützlich sein könnten, doch
bevor man die antibiotische Zurückhaltung bei diesem Krankheitsbild aufgibt,
sollten erst weitere Untersuchungen zu diesem Thema abgewartet werden.
Nichtsdestotrotz hat sich der Niedergelassene nicht nur mit Studienergebnissen,
sondern mit den Verhältnissen in der Praxis und dabei unter anderem auch
mit den Vorstellungen seiner Patienten bzw. deren Eltern und Angehörigen
auseinanderzusetzen. Zwei Leser haben uns mitgeteilt, wie sie mit der Otitis
media umgehen.
Mut und Vertrauen sparen
so manches Antibiotika-Rezept
Die Frage einer antibiotischen Therapie der Otitis media im Kindesalter wird seit
Jahren kontrovers diskutiert. Ich arbeitete als General practitioner in Schottland für
ein Jahr und vorher 17 Jahre in Deutschland in eigener Praxis und habe reichlich
Kinder mit Ohrenschmerzen betreut. Gedanken hierzu:
1 Oft sind die Trommelfelle überhaupt nicht beurteilbar – ein vor Schmerzen oder
Angst schreiendes Kind hat auch „rote“ Trommelfelle, die allein für die
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Briefe an die
Redaktion
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Briefe an die
Redaktion
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Nr. 1 / 2012
Diagnose der Otitis media nicht ausreichen. Es entscheidet das „Bauchgefühl“
des Arztes. Die Blickdiagnose „ist ein Kind wirklich krank“ = beeinträchtigt, ist
eine Herausforderung für jeden Arzt. Als Hausarzt kennt man das Kind gut, die
Eltern kennen es besser und man sollte hier zusammen mit den Eltern entscheiden und therapieren (ohne sie geht es sowieso nicht).
Manche Eltern oder Pflegebeauftragte sind kognitiv nicht in der Lage, mit uns
zusammenzuarbeiten; sie würden bei Verschlechterung des Zustandes nicht
unbedingt sofort wieder die Sprechstunde aufsuchen, sodass „careful watching“
unmöglich und somit gefährlich sein kann.
Bei vorgewölbten, gerötetem Trommelfell und schwer beeinträchtigtem Kind
würde ich auf jeden Fall ein Antibiotikum geben (Amoxicillin, bei „Penicillin­
allergie“ ein Makrolid).
Ich halte nach wie vor abschwellende Nasentropfen für essentiell in der Behandlung der Otitis media.
Es ist nur beschränkt möglich, eine „verzögerte“ Rezeptierung ( = man gibt
den Eltern ein Antibiotika-Rezept mit; es soll bei Verschlechterung eingelöst
werden) vorzunehmen: Zuverlässigkeit und Urteilsvermögen der Eltern müssten
sichergestellt sein.
Ein guter Weg: ich arbeitete eine Zeitlang in einer anthroposophischen Praxis:
dort setzten wir sehr sehr selten Antibiotika ein, und die Eltern brachten die
Kinder oft vormittags und nachmittags und täglich. Dies ist sicher in unserer
heutigen hektischen Zeit, in der beide Ehepartner berufstätig sind, nicht immer
realisierbar, sollte aber dort versucht werden, wo es sowohl sozial wie auch
kognitiv machbar ist.
Generell gilt aber: schwer beeinträchtigte, „sick children“, noch dazu mit allen
Zeichen einer floriden Otitis media (Rötung, Immobilität, Vorwölbung Trommelfell)
sollten auf jeden Fall abschwellende Nasentropfen, eine gescheite Schmerzmedikation (Ibuprofen = abschwellend und entzündungshemmend) und ein Antibiotikum,
am besten Amoxicillin, erhalten.
Sätze, wie „Antibiotika sind keine Fiebersenker“ und „Kinder sind keine kleinen
Erwachsenen“ nutzen nichts in einer Zeit, in der wir uns ständig in irgendeiner
Haftung befinden, und Antibiotika für manche von uns Allheilmittel gegen die
immer mögliche Verschlechterung einer Zustandsbildes zu sein scheinen. Mut
und Verantwortung, gepaart mit Vertrauen in uns selbst und in unsere Patienten
(einschließlich Eltern) ersparen so manches Antibiotika-Rezept. Wenn dazu noch
eine gute Beratung kommt, wird daraus eine richtige gute Behandlung, auch
ohne Studien aus Amerika oder UK! Was nutzen mir im Einzelfall alle Studienergebnisse?
Dr. med. Heike Braun, Fachärztin f. Allgemeinmedizin
Luftballon sorgt für Druckausgleich und
lindert Schmerzen
Bei Otitis media lasse ich mich vom allgemeinen Krankheitsbild des Kindes und
dem Trommelfellbefund leiten. Solange keine deutliche Rötung des Trommelfells
und Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens vorliegt, gebe ich kein Antibiotikum. Zur Schmerzlinderung durch Druckausgleich empfehle ich einen Luftballon
auf ein Röhrchen zu stecken, dann können auch kleinere Kinder mal versuchen
den Ballon aufzupusen, natürlich neben Nasentropfen (im Liegen zu applizieren)
und Ibu-Saft.
Dr. med. Wolfgang Stenner, Facharzt für Allgemeinmedizin
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
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Hausärztliche Leitlinie
Kardiovaskuläre Prävention
Version 1.00 vom 02.08.2011
Hausärztliche
Revision
bis spätestens
August 2014
Leitlinie
Kardiovaskuläre Prävention
Anmerkung:
Die Leitlinie umfasst insgesamt 107 Seiten. Wir veröfVersion 1.00 vom 02.08.2011
fentlichen angesichts des Umfangs nur die wichtigsten
Aspekte. In diesem Heft finden Sie den zweiten Teil der
Leitlinie.
Revision bis spätestens
Die gesamte
Leitlinie einschließlich der im Text erwähnAugust 2014
ten Anhänge und Literaturstellen (Ziffern in Klammern),
die hier nicht abgedruckt sind, finden Sie im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de. Auf dieser Webseite
bitte den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der
Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken. Dann können
Sie die gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDF-Datei
auf Ihren Computer herunterladen. Eine weitere Bezugsquelle finden Sie unter www.leitlinien.de. Dort oben auf
„Leitlinie finden“ klicken, dann links Anbieter auswählen,
anschließend führt unter L die „Leitliniengruppe Hessen“
zu den hausärztlichen Leitlinien.
Darüber hinaus gibt es die Hausärztlichen Leitlinien inzwischen auch als Buch aus dem Deutschen Ärzteverlag:
„Hausärztliche Leitlinien“, 851 Seiten mit 115 Abbildungen und 210 Tabellen, mit CD-ROM.
ISBN 978-3-7691-0604-6
F. W. Bergert
M. Braun
H. Clarius
K. Ehrenthal
J. Feßler
J. Gross
J. Hintze
U. Hüttner
B. Kluthe
A. Liesenfeld
E. Luther
J. Seffrin
W. Bergert
G. F.
Vetter
M. Braun
U. Popert (DEGAM)
H. Clarius
S. Ludt (DEGAM)
K. Ehrenthal
I. Schubert (PMV)
J. Feßler
J. Gross
J. Hintze
U. Hüttner
B. Kluthe
A. Liesenfeld
E. Luther
J. Seffrin
G. Vetter
U. Popert (DEGAM)
S. Ludt (DEGAM)
I. Schubert (PMV)
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Nr. 1 / 2012
Allgemeine Präventionsmaßnahmen
Lifestyle und Auswirkungen
Unter den vorliegenden Studien sind besonders
fünf beeinflussbare Faktoren des Lebensstils von
Bedeutung, die das gesundheitliche Risiko bestimmen:
1. Raucherstatus
2. Ernährung
3. Bewegung
4. Alkoholkonsum
5. (Psychosozialer) Stress
Die vorliegenden Studien (INTERHEART [226,
287, 288] , EPIC-Norfolk [150] HALS [156], HALEProjekt [155]) untersuchten die einzelnen Risikofaktoren sowie die Frage, wie sich das Risiko bei
der Kombination dieser Einzelfaktoren entwickelt.
Als Endpunkte wurden das Herzinfarktrisiko (INTERHEART [226]), die Gesamtmortalität sowie die
ursachenspezifische Mortalität für verschiedene
Altersgruppen betrachtet.
Einer der wichtigsten Faktoren für die Prognose
ist das Rauchen. Im Vergleich der einzelnen
Risikofaktoren wirkte sich das Rauchen am
stärksten auf die Mortalität aus [150, 287].
Bereits bei der geringen Menge von 1 bis 5
Zigaretten pro Tag erhöht sich das Risiko um
38% im Vergleich zu Nichtrauchern [287]. Das
erhöhte Risiko gilt auch für Pfeifenraucher oder
andere Formen des Tabakkonsums (Kautabak,
Wasserpfeife).
»Schlechte Ernährung« (definiert als weniger
als drei Portionen Obst und/oder Gemüse pro
Tag) zeigte ein um 31% erhöhtes Mortalitätsrisiko (HR von 1,31 nach Tab. 2) [156]. Regelmäßiger Konsum von Obst und Gemüse kann
das relative Risiko für einen Myokardinfarkt um
30% senken (INTERHEART [287].
Bewegungsmangel: In allen Studien konnte
für körperlich inaktive Personen ein erhöhtes
Mortalitätsrisiko nachgewiesen werden (HR:
1,56 nach Tab. 2 [156]). Als »inaktiv« wurden
Personen bezeichnet, die pro Woche <2 Std.
sportlich aktiv waren (z. B. Joggen, Schwimmen, Tanzen) bzw. <30 Min. täglich (EPIC
[150], HALE-Projekt [155]).
Alkohol hat in geringen Mengen einen protektiven Effekt auf das Herz-Kreislauf-System. In
der Epic-Norfolk Studie, einer prospektiven
Kohortenstudie an 20.000 Männern und Frauen im Alter zwischen 45 bis 79 Jahren, wurde
dies für Mengen bis zu 14 Units pro Woche
(1 Unit = 8g reiner Alkohol oder 100 ml
10%iger Wein) gezeigt. Erhöhter Alkoholkonsum (>14 Units/ Woche für Frauen, >21
Units/Woche für Männer) erhöhte jedoch das
Mortalitätsrisiko um 26% (HR 1,26 aus Tabelle
2) [156].
Der Einfluss von psychosozialen Faktoren wie
z. B. Stress, Depression, Mangel an Selbstbestimmung/Selbstwirksamkeit oder besondere
Lebensumstände wird häufig unterschätzt. In
der INTERHEART-Studie [226] konnte gezeigt
werden, dass das Risiko, durch Stress einen
Myokardinfarkt zu erleiden, durchaus vergleichbar ist mit dem Risiko, das durch Hypertonie
oder Übergewicht entsteht. Ein positives Selbstbild bei älteren Menschen erhöht die Lebenserwartung. Der Effekt ist größer als der Einfluss
einer Blutdruck- oder Cholesterinsenkung [170].
Kombinierte Effekte
Übereinstimmend wurde in allen Studien gezeigt,
dass alle der genannten potenziell beeinflussbaren
Lifestylefaktoren mit einer erhöhten Mortalität
verbunden sind. Der kombinierte Effekt mehrerer
schlechter Lebensgewohnheiten ist mit einer signifikant höheren Gesamtmortalität assoziiert.
In der HALS-Studie [156] waren von allen Personen, die vier Risikoverhaltensweisen aufwiesen (ohne psychosoziale Risikofaktoren), nach 20
Jahren 29% verstorben, von den Menschen mit
gesunder Lebensweise 7%.
Lifestyle und Todesursachen:
Betrachtet man die unterschiedlichen Risikofaktoren bezüglich der Todesursachen, so erhöht
Rauchen vor allem die Krebsmortalität und „andere“ Todesursachen (HR 1,72). Bewegungsmangel erhöht die kardiovaskuläre Mortalität (HR
1,64). Übermäßiger Alkoholkonsum ist mit einem
erhöhten Risiko über alle Endpunkte assoziiert
(HR 1,15-1,28 [156].
Neuere Ergebnisse zur Ernährung
Studien zur Auswirkung der Ernährung werden
seit 50 Jahren durchgeführt. Zahlreiche ältere
Studien sind schwer zu interpretieren, da sie oft
methodische Mängel haben. In einem neueren
Review [189] konnte ein kausaler Zusammenhang
zwischen protektiven Ernährungsfaktoren und KHK
nur für folgende Nahrungsbestandteile festge-
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
stellt werden: Gemüse, Nüsse, einfach ungesättigte
Fettsäuren und am stärksten für die mediterane
Ernährungsweise (RR=0,67) mit einem höheren Anteil an Gemüse, Hülsenfrüchten, Früchten, Nüssen,
Vollkornprodukten, Käse oder Joghurt, Fisch und
einfach ungesättigten Fettsäuren (im Verhältnis zu
gesättigten Fettsäuren).
Die für die mediterrane Ernährungsweise beschriebenen Effekte konnten auch durch eine
randomisiert kontrollierte Studie bestätigt werden.
Die Zusammensetzung der Nahrungsfette spielt
eine wichtigere Rolle als der Gesamtfettgehalt: Der
Ersatz von gesättigten Fettsäuren durch einfachund mehrfach ungesättigte Fettsäuren ist effektiver bezüglich der Reduktion des kardiovaskulären
Risikos als eine Fettreduktion per se [126]. Aus
randomisierten kontrollierten Studien ließ sich eine
gepoolte relative Risikoreduktion von 19% durch
den Ersatz von gesättigten durch ungesättigte
Fettsäuren ableiten.
Fette und Fettsäuren
Auf Grund der unklaren Evidenz hinsichtlich des
Stellenwertes bestimmter Nahrungsmittel oder
Ernährungsweisen für die kardiovaskuläre Risikoprävention sprechen die Autoren der Leitlinie hierzu
keine Empfehlung aus (s. oben, siehe als Überblick
arznei-telegramm 2010;41:19-23). Gemieden
werden sollten Transfettsäuren, deren schädigende Wirkung belegt ist. Sie entstehen bei
der Härtung von Pflanzenölen und kommen vor
allem in Margarine, in gebackenen und frittierten
Lebensmitteln und Fertigprodukten vor. Sie erhöhen Triglyceride [145] und LDL-Cholesterin und
senken HDL-Cholesterin-Konzentrationen im Blut,
wodurch sie die schädigende Wirkung gesättigter
Fettsäuren auf das kardiovaskuläre Risiko noch
übertreffen [17, 18, 255]. In großen epidemiologischen Kohortenstudien (Evidenzgrad IIa) konnte
einvernehmlich ein höheres kardiovaskuläres Risiko
bei steigender Zufuhr an Trans-Fettsäuren belegt
werden [129, 214, 18, 195, 209].
Salzkonsum
Bei den meisten Erwachsenen liegt der Salzkonsum mit über 8 g pro Tag über dem empfohlenen Maximalwert von 5 bis 6 g. Dabei ist
das Nachsalzen von selbst zubereiteten Speisen
das kleinere Problem. Der größte Anteil des Salzes
wird über industriell gefertigte Lebensmittel wie
Brot, Wurst, Schinken, Käse und Fastfood aufgenommen [36]. Auch viele Lebensmittel, bei denen
der Verbraucher es nicht erwartet wie z. B. Scho-
Seite 33
kolade, Konservengemüse oder Softdrinks [88],
weisen einen relativ hohen Salzgehalt auf. Generell
sollte der Salzkonsum niedrig gehalten werden
[88]. Angaben über den Salzgehalt pro 100g eines
Lebensmittels sagen jedoch nichts darüber aus, ob
die Menge für den Menschen von Bedeutung ist.
Entscheidend sind die Ernährungsgewohnheiten
und die individuell verzehrte Menge der Lebensmittel. Im Allgemeinen haben Brot/Brötchen mit
22-27% den größten Anteil an der tägl. Natriumbzw. Salzzufuhr [43].
Folgen eines hohen Salzkonsums
Eine erhöhte Kochsalzaufnahme (>6g pro Tag) ist
mit einer Erhöhung des Blutdrucks, des kardiovaskulären Risikos und der Gesamtmortalität assoziiert. Unabhängig von der Blutdrucksteigerung ist
auch eine erhöhte Schlaganfallmortalität zu beobachten [55, 62, 152, 229, 254, 276].
Kochsalzverbrauch pro Tag
Durchschnittliche NaCl-Menge im durchschnittlichen Tagesverbrauch (mod. nach [152])
1g
unverarbeitete Grundlebensmittel
(Gemüse, Getreide, Milch, Fleisch)
2 bis 3 g
alle Brotsorten
3 bis 5 g
Wurst, Schinken, Pökelware, Käse,
Fischmarinaden
4 bis 5 g
Industriell bearbeitete Lebensmittel (z. B.
Tütensuppen, Fertiggerichte, Tiefkühlkost),
Konserven, Fischgerichte, selbst zubereitete
Speisen
1 bis 2 g
Nachsalzen und Würzen mit salzhaltigen
Gewürzen
Kochsalzrestriktion
Generell ist eine Reduzierung der Kochsalzaufnahme auf unter 6 g pro Tag anzustreben [88, 281].
Nachteilige Effekte sind, auch für Schwangere,
daraus nicht zu erwarten.
Sowohl für normotone Patienten und insbesondere bei Hypertonikern zeigte sich bei Reduktion der
täglichen Kochsalzaufnahme ein positiver Effekt auf
den Blutdruck. [33, 36] In mehreren Studien konnte
auch eine Senkung der kardiovaskulären Morbidität
und Mortalität gezeigt werden [28, 152].
Eine wirksame Salzrestriktion ist nur durch die
Reduktion des Kochsalzgehaltes industriell bearbeiteter Lebensmittel möglich.
Kaliumreiche Ernährung: Kaliumreiche und ballaststoffhaltige Nahrungsmittel (Obst, Gemüse,
Kartoffeln in der Schale gekocht) wirken sich günstig auf die Senkung der Blutdruckwerte aus
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KVH • aktuell
[142]. Bei gleichzeitiger antihypertensiver Therapie
und bei Patienten mit Niereninsuffizienz sind regelmäßig Kaliumkontrollen durchzuführen.
Antioxidantien (z.B. Vitamin E) und
Vitamine/-Nahrungsergänzungsmittel
Ausreichende Belege für die Wirksamkeit der
Präparate zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen liegen bisher nicht vor. Im Gegenteil
können sogar Schäden auftreten.
Beim derzeitigen Kenntnisstand muss von der Einnahme von Antioxidanzien zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen abgeraten werden.
Ernährung: Fazit für die Praxis
Aufgrund der dargestellten Evidenzlage können
Empfehlungen mit Mengenangaben bestimmter Nahrungsmittel i. S. eines Diätplans für die
Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen nicht
gegeben werden. Es geht vielmehr um die Vermittlung eines Ernährungskonzeptes (z.B. der
Stellenwert der ungesättigten Fettsäuren, Vermeidung ungünstiger Ernährungsweisen wie
Fastfood-Konsum). Zu empfehlen ist, dass der Patient über zwei Tage alles protokolliert, was er isst
und trinkt. Bei der Besprechung dieses Protokolls
können dann Ansatzpunkte für Veränderungen
gefunden werden.
Übergewicht und Adipositas
Einem systematischen Review zufolge [196] ist die
Gesamtmortalität von Personen mit Übergewicht
(BMI 25-29.9 kg/m2) im Vergleich zu normalgewichtigen Personen nicht erhöht. Die erkrankungsspezifische Mortalität zeigt keinen einheitlichen
Trend. Adipositas (BMI ≥30kg/m2) ist jedoch für
einige Erkrankungen – auch KHK – mit einem
höheren Morbiditätsrisiko assoziiert [107, 196;
198]. In einem neuen umfassenden Review konnte
außerdem gezeigt werden, dass sowohl der BMI,
der Bauchumfang als auch die „waste-to-hip-ratio“
keine nennenswerte Modifikation der Risikokonstellation liefern, wenn weitere Risikofaktoren (wie
im Framingham-Modell bekannt) berücksichtigt
bzw. herausgerechnet werden [259]. Da sich Blutdruck-, Blutzucker- und Lipidwerte verbessern,
wird übergewichtigen Patienten mit erhöhtem
kardiovaskulären Risiko eine Gewichtsabnahme
empfohlen [233] {B}.
Trotz vielfältiger Auswirkungen der Gewichtsreduktion auf kardiovaskuläre Risikofaktoren,
konnte bisher noch nicht klar belegt werden, dass
Nr. 1 / 2012
eine Gewichtsabnahme bei übergewichtigen oder
adipösen Patienten zu einer Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität führt [216,
151, 202]. Es konnte immerhin gezeigt werden,
dass Gewichtsreduktion zur Blutdrucksenkung
führt [10, 202, 197]. In einer schwedischen Studie konnte lediglich für eine Patientengruppe mit
einem BMI >40 nach bariatrischer Chirurgie eine
dauerhafte Gewichtsreduktion und eine Reduktion
der Gesamtmortalität gezeigt werden [241].
Bei der Beratung ist immer darauf zu achten,
den Patienten nicht zu belehren, sondern zunächst
seine Bereitschaft und Fähigkeit zur Veränderung
seines Lebensstils zu erkunden. Die Grundhaltung
sollte sein, den Patienten dort abzuholen, wo er
steht, und zu ermitteln, was er versteht. Erst dann
sind weitere Schritte gemeinsam zu erwägen. Zur
Verstärkung des Gesundheitsverhaltens sollten
Folgetermine vereinbart werden. Es darf nie vergessen werden, den Patienten für seine Erfolge zu
loben und negative Wertungen bei Misserfolgen
zu unterlassen.
Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten am Ende des Heftes finden Sie Beispiele aus
der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß der
jeweiligen Interventionsphase zum Thema Ernährungsumstellung ansprechen und unterstützen
können (5 A-Strategie).
Bewegung als Prophylaxe
Die Bedeutung von Bewegungsmangel als Risikofaktor für die kardiovaskuläre Mortalität wurde
schon dargestellt. Weiterhin gibt es gute Belege,
dass durch körperliches Training die Mortalität
und Morbidität, auch bei Älteren, gesenkt werden
können [169, 171, 176, 201, 207, 212, 274]. Auch
körperlich Behinderte haben Möglichkeiten zu Aktivitäten, die an ihre Behinderung angepasst sind
(Aquatraining, Stepper, Handkurbelgeräte).
Die Intensität des körperlichen Trainings sollte
sich nach dem individuellen Therapieziel richten
und Wünsche und Möglichkeiten des Patienten
berücksichtigen. Bei Patienten, die mit Sport beginnen wollen, wird die Durchführung einer Vorsorgeuntersuchung sowie eines Ruhe-EKGs empfohlen
[177, 247].
Bei den Trainingsempfehlungen ist zu unterscheiden, ob es sich um allgemeinen Gesundheitssport
handelt oder ob bereits eine Erkrankung vorliegt
Empfehlungen zum Erhalt der Gesundheit und
zur Behandlung von Erkrankungen [112]
Der Hausarzt ist meist nicht in der Lage, dem
Patienten einen kompletten Trainingsplan zu
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
erstellen. Er sollte allerdings den Anstoß geben und
auch Vorgaben machen. Für die weitere Betreuung
des Patienten sollte sich der Hausarzt vor Ort mit
anderen Anbietern von Bewegungsangeboten,
z.B. Sportvereinen, Fitnessstudios vernetzen und
entsprechende Informationen vorhalten.
Allgemeiner Gesundheitssport zur Reduktion kardiovaskulärer Risiken (Adipositas, Hypertonie, Diabetes mellitus etc.)
Optimal sind 30 Minuten tägliche moderate
Bewegung, mindestens jedoch an 5 Tagen/
Woche [110, 204, 203]. Die Belastungsintensität sollte dabei nur langsam gesteigert werden.
Eine Steuerung durch die Herzfrequenz ist im
Allgemeinen nicht notwendig, es reicht meist
der Hinweis, sich nur so zu belasten, dass man
sich noch unterhalten kann: „Laufen ohne
zu schnaufen“. Dies entspricht dem aeroben
Schwellenbereich unterhalb der Laktatgrenze
von 2 mmol/l.
Ggf. Training nach Herzfrequenz: Trainingsfrequenz = 180 – Lebensalter (dies entspricht
in etwa 75-80% der max. Herzfrequenz). Dies
gilt nicht unter Betablockerbehandlung.
Es können auch moderate und anstrengende Tätigkeiten miteinander kombiniert werden. Aktivitäten
von mindestens 10 Minuten Dauer können aufsummiert werden, um auf die angegebene Zeitdauer zu kommen.
Studien zufolge hat sich regelmäßiges Walking,
auch als Nordic Walking mit Stöcken (dann 20%
mehr Kalorienverbrauch) bewährt: In der Nurses
Health Study hatten Frauen, die regelmäßig mindestens 3 Std./Woche Walking betrieben, ein um
35% reduziertes Risiko, einen Herzinfarkt oder
Schlaganfall zu erleiden [184, 108].
Motivationssteigernd wirkt sich häufig ein
Laufen in einer Gruppe aus. Ggf. ist auch ein
Schrittzähler unterstützend.
Zusätzlich ist ein Krafttraining sinnvoll, v.a. bei
älteren Menschen > 65 J., um dem Muskelschwund entgegenzuwirken und das Sturzrisiko
so zu reduzieren.
Empfehlungen für Erwachsene
älter als 65 Jahre [201]
Für ältere Erwachsene gelten nach entsprechenden
Voruntersuchungen (s.o) prinzipiell dieselben Emp­
fehlungen, jedoch richtet sich die Intensität nach
der bestehenden Fitness, so dass die subjektiv empfundene Intensität von der tatsächlich gemessenen
Intensität abweichen kann. Ferner kommen mus-
Seite 35
kelaufbauenden Aktivitäten, Übungen zur besseren
Beweglichkeit, sowie Gleichgewichtstraining bei
sturzgefährdeten Älteren eine größere Bedeutung
zu.
Körperliches Bewegungstraining zur Veränderung bereits vorhandener kardiovaskulärer Risikofaktoren (Adipositas, Diabetes mell.,
Hyperlipidämie, Hypertonie etc.)
Tägliches Spazierengehen von 4 km zeigte bei
Senioren nach 12 Jahren eine Halbierung der
Mortalität [109].
Meist ermöglicht erst ein Krafttraining den Beginn eines Ausdauertrainings, das sonst wegen
Muskelschwäche nicht aufgenommen wird.
Außerdem erhöht ein Krafttraining die Insulinsensitivität über die Zunahme der Muskelmasse.
Die Glukoseaufnahmekapazität wird hierdurch
gesteigert. Durch die Zunahme der Muskelmasse und der Muskelarbeit kommt es zur
Senkung des HbA1c-Wertes. Relevant ist die
Veränderung der Körperkomposition, nicht die
Gewichtsabnahme. Diese Veränderung wird
durch den BMI nicht erfasst.
Möglicherweise spielt auch die kardiorespiratorische Fitness eine Rolle. Es hat sich gezeigt,
dass Personen mit guter Fitness ein signifikant
niedrigeres Mortalitätsrisiko haben als Normalgewichtige mit schlechter Fitness. „Lieber fett
und fit als schlank und schlapp“ [42].
Allen Patienten soll zumindest moderates körperliches Training empfohlen werden.
[233, 287] {B} [282] {A}
Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten am Ende des Heftes finden Sie Beispiele
aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß
der jeweiligen Interventionsphase zum Thema
Bewegung ansprechen und unterstützen können
(5 A-Strategie).
Rauchen
Wichtigste ärztliche Maßnahme: Patienten auf
Rauchen ansprechen, auf die Vorteile des Rauchstopps und auf Verfahren zur Raucherentwöhnung
hinweisen. Rauchstopp lohnt sich zu jedem Zeitpunkt, für alle Zielgruppen! [56, 71, 146, 225].
Diese Minimalintervention ist wirksam [13, 14,
102, 158] {A}.
Rauchen stellt nicht nur einen Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität dar, sondern ist die wichtigste durch Verhaltensänderung
vermeidbare Ursache von Krankheit und Tod:
Seite 36
KVH • aktuell
Rauchen verstärkt Asthma, ist eine zentrale Noxe
für die Entwicklung einer COPD, führt zu erhöhter
Infektanfälligkeit, Impotenz und Unfruchtbarkeit,
verursacht verschiedene Krebserkrankungen sowie
zahlreiche weitere Erkrankungen (z. B. Durchblutungsstörungen der Beine, Thrombosen, Gefahr
von Frühgeburten, kindliche Entwicklungsstörungen bei schwangeren Raucherinnen, Sterilität,
vorzeitige Hautalterung, mangelndes Einwachsen
bzw. verkürzte Lebensdauer von Zahnimplantaten)
[71]. Die positive Wirkung eines Rauchstopps auf
den Rückgang kardiovaskulärer Erkrankungen,
sowie von Asthma, Pneumonie und Bronchitis
ist durch eine Studie aus Kanada, wo in einigen
Regionen ein sehr umfassendes Rauchverbot in
der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz besteht,
dargelegt worden [199].
Die Leitlinienautoren weisen darauf hin, dass die
Empfehlung eines Rauchstopps nicht durch
andere präventive Maßnahmen zur Senkung
des kardiovaskulären Risikos (z. B. Bewegung,
Statintherapie) ersetzt werden soll (siehe hierzu
die entsprechenden Abschnitte). Außerdem sind
hinreichende gesetzliche Maßnahmen zum Nichtraucherschutz notwendig.
Argumentationshilfen
Informieren Sie die Raucher über den Nutzen des
Nichtrauchens. Dies kann emotionale wie kognitive
Aspekte umfassen (Ästhetik, verbesserter Geruchsund Geschmackssinn, Gesundheit, Geld).
Was haben Raucher für ihre Gesundheit zu erwarten, wenn sie mit dem Rauchen aufhören?
20 Minuten nach der letzten Zigarette gleichen
sich die Herzschlagfrequenz und die Körpertemperatur derjenigen des Nichtrauchers an.
Schon 8 Stunden nach der letzten Zigarette hat
sich das Kohlenmonoxid in den Blutbahnen verflüchtigt und dem Sauerstoff Platz gemacht.
Schon einen Tag nach dem Rauchstopp wird
das Herzinfarktrisiko kleiner.
Zwei Tage nach dem Rauchstopp verfeinert sich
der Geruchs- und Geschmackssinn, drei Tage
nach der letzten Zigarette verbessert sich die
Atmung merklich.
Die Lungenkapazität kann sich nach 3 Monaten
um bis zu 30% erhöhen.
Ein Jahr nach dem Rauchstop ist das Risiko von
Erkrankungen der Herzkranzgefäße nur noch
halb so groß.
Zwei Jahre nach Rauchstopp ist das Herzinfarktrisiko auf fast normale Werte abgesunken.
10 Jahre nach dem Rauchstopp ist das Lungen-
Nr. 1 / 2012
krebsrisiko fast gleich groß wie bei echten
Nichtrauchern.
15 Jahre nach dem Rauchstopp ist das Risiko
von Herz-Kreislauf-Erkrankungen so, als hätte
man nie geraucht.
(Quelle: American Cancer Society; zit. nach [279]).
Für die Raucherberatung ist eine gute Beratungsund Kommunikationsstrategie notwendig.
Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten hinten in diesem Heft finden Sie Beispiele
aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß
der jeweiligen Interventionsphase zum Thema
Rauchstopp ansprechen und unterstützen können
(5 A Strategie).
Rückfall-Vorbeugung und Beratung bei kürzlichem Rückfall
Erkunden, welche persönlichen Umstände zum
Rückfall führten bzw. Abstinenz erschweren
wie Stress, Alkohol, fehlende Unterstützung,
Depression, Gewichtszunahme
Neuen Stichtag festlegen
Professionelle Unterstützung anbieten (Kostenfrage klären)
Neuen Termin als Follow-up vereinbaren
(modifiziert nach [113])
Beratung bei problematischem
Alkoholkonsum
Bei Verdacht auf Alkoholgebrauch in einem schädlichen Ausmaß ist es sinnvoll, den Patienten zu seinem Alkoholkonsum – am besten strukturiert – zu
befragen.
Mit vier Fragen ist beispielsweise der CAGETest [86] einfach durchzuführen:
Hatten Sie schon das Gefühl, dass Sie Ihren
Alkoholkonsum reduzieren sollten? (Cut down
drinking)
Hat es Sie schon aufgeregt, wenn andere Leute
Ihr Trinkverhalten kritisieren? (Annoyance)
Hatten Sie wegen Ihres Alkoholkonsums Gewissensbisse? (Guilty)
Haben Sie morgens nach dem Erwachen schon
als erstes Alkohol getrunken, um Ihre Nerven
zu beruhigen oder den Kater loszuwerden? (Eye
opener)
Interpretation: Wahrscheinlichkeit für Alkoholmissbrauch ist
62% bei einer positiven Antwort,
89% bei 2 positive Antworten,
99% bei 3 und 4 positiven Antworten.
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
Wichtig
Problem offen ansprechen, der Betroffene muss
sich zu seinem schädlichen Alkoholgebrauch
bekennen.
Nach einer stationären Entgiftung konsequent
ambulant weiterbehandeln mit psychosozialer
Betreuung (z. B. regelmäßige ärztliche Weiterbetreuung, regelmäßiger Kontakt zu psychosozialen Diensten, zu Abstinenzler-Gruppen).
Das meist durch den Alkoholgebrauch beschädigte soziale Netz (Arbeitsplatzprobleme,
Fami-lien-, Partnerprobleme) mit Hilfe eines
sucht-therapeutischen und verhaltenstherapeutischen Ansatzes tragfähig machen.
Bei Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit ist der
Hausarzt als alleiniger Ansprechpartner oft überfordert. Er sollte nach Offenlegung einer Alkoholabhängigkeit sehr konsequent ein abstinenzorientiertes Verhalten des Patienten anstreben.
Cave: Der Arzt darf sich nicht zum Komplizen des
Suchtkranken machen lassen!
Leichtere Formen schädlichen Alkoholkonsums
können durchaus im ärztlichen Gespräch anlässlich geklagter Beschwerden mit Erfolg bearbeitet
werden.
Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten hinten in diesem Heft finden Sie Beispiele
aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß
der jeweiligen Interventionsphase zum Thema Alkoholverzicht ansprechen und unterstützen können
(5 A Strategie).
Reduktion von psychosozialem Stress
Psychosoziale Faktoren gehören zu den beeinflussbaren Risikofaktoren einer KHK
Psychosozialer Stress ... [4, 5]
ist ein signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung einer KHK,
kann akute kardiale Ereignisse auslösen,
ist mit spezifischen pathophysiologischen Prozessen und riskantem Verhalten verknüpft,
führt zu Barrieren in der Verhaltensumstellung,
ist bei kardiologischen Patienten häufig,
ist häufig durch kardiale Symptome maskiert.
Es sollte geklärt werden, ob der Patient der unteren Sozialschicht angehört, ob Anzeichen für ein
unzureichendes soziales Netzwerk bestehen, ob
der Patient Hinweise auf psychosozialen Stress am
Arbeitsplatz oder Familie zu erkennen gibt und ob
Angst und depressive Verstimmung vorliegen (zit
nach [157], s. auch [86]).
Seite 37
Dem „Positionspapier zur Bedeutung von psychosozialen Faktoren in der Kardiologie“ [157] zufolge
wird eine routinemäßige Behandlung psychosozialer Belastungsfaktoren mit dem Ziel einer
kardiovaskulären Prävention dann als indiziert angesehen, wenn gleichzeitig mindestens ein weiterer
somatischer oder verhaltensbezogener Risikofaktor
vorliegt oder das Risikomerkmal Krankheitswert
aufweist wie z.B. bei einer Depression. Geduldiges
Zuhören, Akzeptanz von Beschwerden und Ängsten und Eingehen auf Beschwerdeschilderungen
sowie verständliche Erläuterung von Befunden sind
sehr oft ausreichende Gesprächstechniken, die den
Patienten deutliche Entlastung bringen [157]), ggf.
Empfehlung von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen wie Sport, Diätberatung, Entspannungsverfahren, Vereine.
Orientierende Fragen auf Depressivität
[6, 30, 105]
Was sind Sie von Beruf? Was haben Sie für
eine Position? Haben Sie Probleme an Ihrem
Arbeitsplatz?
Haben Sie Personen, auf deren Unterstützung
Sie zählen können?
Fühlen Sie sich den Anforderungen ihrer
Arbeit gewachsen?
Haben Sie ernsthafte Probleme mit Ihrem
Partner oder in der Familie?
Fühlen Sie sich häufig ärgerlich und angespannt?
Einfache Fragen sind gut geeignet und sollten routinemäßig eingesetzt werden:
Fühlen Sie sich häufiger niedergeschlagen
und hoffnungslos?
Haben Sie Interesse und Freude am Leben
verloren?
Für ein Erkennen der Depression hat sich der kurze
Selbstbeurteilungsfragebogen (WHO 5 oder WHO
10) bewährt [23, 117]. Liegen Anzeichen für eine
Depression vor, so ist immer die Suizidgefährdung
des Patienten aktiv anzusprechen. Konsil und Mitbehandlung durch Spezialisten ist sinnvoll (http://
www.problemkreis-sad.de/downloads/ WHO5.
pdf).
Offensichtlich hat ein positives Selbst- und Fremdbild zum Altern einen positiven Effekt auf die Mortalität. Menschen mit positiver Einstellung zum
Alterungsprozess leben deutlich länger als Menschen mit negativer Einstellung zum Altern, wie
eine über 22 Jahre angelegte Studie eindrucksvoll
zeigen konnte [170].
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KVH • aktuell
Nr. 1 / 2012
Medikamentöse Präventionsmaßnahmen
Blutdrucksenkung
Die Indikation zur Arzneimitteltherapie mit Antihypertensiva, Antidiabetika, Thrombozytenaggregationshemmern und Lipidsenkern richtet sich nach
dem Gesamtrisiko des Patienten. Die Ausgestaltung der Therapie orientiert sich an Möglichkeiten,
Präferenzen und Begleiterkrankungen der Patienten und bedient sich individuell abgestimmter
Präventions- bzw. Therapieschemata. Mittels arriba© können dem Patienten der Zusammenhang
zwischen hohem Blutdruck und kardiovaskulärem
Risiko dargestellt und die Maßnahmen zur Beeinflussung des Risikos erläutert werden. Nichtmedikamentöse Maßnahmen sind auch bei medikamentöser Behandlung ein zentraler Baustein der
Therapie.
Welche Zielwerte?
Je höher der Blutdruck desto größer sind einerseits
das Gefäßrisiko und andererseits der erreichbare therapeutische Benefit. Ein Cochrane-Review von 2009
stellt fest, dass es keine Evidenz dafür gibt, einen
Wert unterhalb des Zielwertes von 140/90 mm Hg
anzustreben [12]. Der Zielwert gilt auch für Diabetiker [2,245] und für ältere Patienten [24]. Für über
80-jährige Patienten kann nach Ergebnissen der
HYVET-Studie ein Zielwert von bis zu 150/90 mm Hg
toleriert werden. [24] Neuere Studien zeigten eine
erhöhte Sterblichkeit von KHK-Patienten bei einer
RR-Senkung unter 120/85 mm Hg. [190]. Bei Gesunden gibt es ebenfalls einen vergleichbar optimalen
Blutdruckbereich: Eine Langzeituntersuchung von
18-jährigen Wehrpflichtigen zeigte, dass ein Blutdruck von 120-140/90 mm Hg über einen Zeitraum
von 24 Jahren mit der geringsten Sterblichkeit verbunden war. [256]
Blutdruck: Welche Medikamente?
Es sollten prioritär Antihypertensiva zum Einsatz
kommen, deren Wirksamkeit zur Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse belegt ist: Diuretika (für
Chlortalidon belegt), Betarezeptorenblocker, ACEHemmer, langwirksame Kalziumantagonisten,
(Cave Herzinsuffizienz), Angiotensin-1-Blocker
(bei ACE-Hemmer-Intoleranz). Es empfiehlt sich,
Wirkstoffe auszuwählen, die jeweils möglichst nur
einmal täglich gegeben werden müssen, um den
Verordnungsplan übersichtlich zu halten und die
Therapietreue/Adhärenz zu steigern. Grundsätzlich
gilt, dass bei Dosissteigerung die Nebenwirkungen
überproportional zur Wirkung steigen. Deshalb
sollte nicht bis zur Höchstdosierung eines Wirkstoffes gesteigert werden, sondern eher ein weiteres Antihypertensivum verordnet werden.
Es gibt keinen wesentlichen Unterschied in der
Risikoreduktion durch Blutdrucksenkung bei den
einzelnen Antihypertensiva [160]. So ist die Auswahl der betreffenden Arzneistoffe der ersten Wahl
vorrangig in Anbetracht von Begleiterkrankungen
(z.B. Betablocker bei KHK) und Unverträglichkeiten
zu treffen.
Der Therapiebeginn kann auch mit einem Kombinationspräparat erfolgen. Bei nicht ausreichender
Blutdrucksenkung sind alle Klassen von Antihypertensiva grundsätzlich miteinander kombinierbar
mit der Einschränkung, dass Kalziumantagonisten
vom Diltiazem- und vom Verapamiltyp nicht mit
Betablockern kombiniert werden dürfen.
Sollte ein Absetzen erforderlich werden, so
sollte dies bei Betablockern, Clonidin und AlphaMethyldopa ausschleichend erfolgen. Es sollten
nur langwirksame Kalziumantagonisten eingesetzt
werden, die unretardierten Nifedipinpräparate sind
obsolet. (siehe auch hausärztliche Leitlinie Hypertonie [164]).
Diabetes mellitus:
Welche HbA1c-Zielwerte?
Neu entdeckter Diabetes bei Patienten
unter 60 Jahren: Für Patienten, die diätetisch
oder zusätzlich mit einer Metformin-Monotherapie behandelt werden, empfehlen die
Leitlinienautoren einen Ziel-wert für HbA1c von
<7.0%. Allerdings gibt es hierzu kaum gute
Studien mit relevanten Endpunkten. (In der
UKPDS 33 wurde der Ausgangs-HbA1c-Wert
von 7,9% mit Insulin auf 7,1%, mit Glibenclamid auf 7,2% gesenkt [265]. In einer Substudie
(UKPDS 34) bei Übergewichtigen wurde mit
Metformin oder Insulin das HbA1c von 8,0 auf
7,4% gesenkt [266]. Trotz gleicher HbA1cSenkung konnte dabei zunächst nur durch
Metformin die Gesamtsterblichkeit signifikant
gesenkt werden. Ein vergleichsweise deutlich
schwächerer Effekt durch Sulfonylharnstoffe
bzw. Insulin lässt sich nur aus der Auswertung
der UKPDS als Kohortenstudie nach weiteren
10 Jahren ableiten [123]).
Bei einer Diabetesdauer über 10 Jahren
oder einem Alter von > 60 Jahren, bei zusätzlichem Antidiabetika-Bedarf oder bei
vorhandenen Folgeerkrankungen/Kom-
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
plikationen (KHK, AVK und Apoplex) ist – im
Gegensatz zu Aussagen älterer Leitlinien – eine
vorsichtige Diabetes-Einstellung wichtig. Als
Zielwert ist 7,5% (Bereich 7,0 bis 8,0%) anzustreben, sofern keine Hypoglykämien unter der
Therapie auftreten [2]. Bei Auftreten von Hypoglykämien ist der Zielwert nach oben anzupassen. In aktuellen großen Studien ACCORD [2],
ADVANCE [3] und VADT [74] zeigte eine HbA1cSenkung unter 7% bei multimorbiden Diabetikern keine Vorteile, sondern sogar eine erhöhte Sterblichkeit. In der Auswertung von über
40.000 Patienten in englischen Praxen (GPRD)
zeigte sich bei fortgeschrittenen Diabetikern die
geringste Sterblichkeit bei HbA1c von 7,5%; die
Sterblichkeit bei 6,5% entsprach etwa der bei
9,5% HbA1c [61]. Dass Unterzuckerungen die
Erklärung für die erhöhte Gesamtsterblichkeit
bei zu ehrgeiziger Diabetestherapie sind, ist nur
eine von mehreren Theorien. Möglicherweise
hat Metformin neben der Blutzuckersenkung
auch pleiotrope Effekte – vergleichbar dem der
Statine.
Bei Patienten mit Mikroangiopathie (z.B.
Retinopathie, Polyneuropathie, Nephropathie) zeigt die ADVANCE-Studie [3] für einen
Zielbereich von HbA1c 7% eine geringfügige
Verbesserung der Endpunkte.
Diabetes: Welche Medikamente?
Die Auswahl der Arzneistoffe sollte berücksichtigen, dass insbesondere für Metformin (in geringerem Ausmaß auch für Sulfonylharnstoffe und
Insulin) Endpunktstudien vorliegen, die eine Mortalitätssenkung zeigen. Die Kombination von Metformin und Sulfonylharnstoffen zeigt eine geringe
Übersterblichkeit (UKPDS 34) [266]. Für andere
orale bzw. subkutan anzuwendende Antidiabetika
liegen derzeit keine positiven Endpunktstudien vor.
Für Insulin ist der Nutzen belegt [123].
Wichtig: Der Diabetiker kann sein kardiovaskuläres Risiko deutlicher durch Nikotinstopp, regelmäßige Bewegung, Statintherapie oder eine Blutdrucksenkung als durch eine Senkung des HbA1c
reduzieren [122, 123]. (siehe auch hausärztliche
Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 [165]).
Lipidsenkung
Zur Therapieentscheidung wird die Durchführung
von arriba© empfohlen. I
I
Wir haben arriba® bereits in KVH aktuell Nr. 3/2008, Seite 16
vorgestellt. Details und natürlich auch die Kalkulations- und Beratungsbögen sowie eine Software-Lösung dazu erhalten Sie auch
im Web unter www.arriba-hausarzt.de.
Seite 39
Aktuelle Meta-Analysen und Reviews [221, 258]
zeigen nur einen begrenzten Nutzen der Statintherapie in der Primärprävention, jedoch fehlen noch
Daten zur Langzeitwirkung. Bei Patienten mit isolierter Cholesterinerhöhung muss anhand des
kardiovaskulären Risikos individuell über eine
Statintherapie entschieden werden {C} (in den
Arzneimittel-Richtlinien vom 1.4.2009 wird eine
GKV-Rezeptierung nur ab einem kardiovaskulären
Risiko >20% in 10 Jahren gestattet).
Fixdosis oder Titrieren?
Es ist wichtig, keine „Laborkosmetik“ durchzuführen, sondern auf evidenzbasierte Maßnahmen zu
achten, die zu besserer Gesundheit und längerer
Überlebenszeit des Patienten führen. In früheren
Studien wurden als Ergebnisvariablen häufig Surrogatparameter wie z. B. LDL-Cholesterinsenkung
verwendet. Diese gehen jedoch nicht unbedingt
mit einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse
oder der Mortalität als primäre Endpunkte einher.
Entscheidend ist, inwieweit Herzinfarkte, Schlaganfälle und dadurch bedingte Todesfälle reduziert
werden. Der schützende Effekt von Statinen war
in der Heart Protection Study [115] unabhängig
von der Höhe der Blutwerte für Cholesterin bzw.
LDL-Cholesterin, so dass in Abhängigkeit von
Leber- bzw. Nierenfunktion des Patienten einer
der beiden Wirkstoffe Simvastatin oder Pravastatin in einer Fixdosis von 20 bis 40mg („fire and
forget“-Methode) gegeben werden soll [159].
Diese Empfehlung entspricht der Position der
Allgemeinmedizin in der NVL KHK und dem DMP
KHK. Die Leitlinienautoren empfehlen diese
„Fixdosistherapie“, dadurch entfallen auch
engmaschige Cholesterinwertbestimmungen.
Eine Statin-Hochdosis-Therapie zeigte in einer
großen Metaanalyse [51] keine Vorteile bezüglich
der Gesamtsterblichkeit. Bei der Auswahl der Substanz sind Interaktionen zu beachten.
Lipidsenkung: Welche Medikamente?
Bei einer Therapie mit 20 mg und 40 mg Simvastatin sowie für 20 m g Pravastatin (IQWIG [133])
konnte eine Reduktion der Endpunkte in der
Sekundär-prävention gezeigt werden.
Simvastatin und Pravastatin unterscheiden sich in
ihrer Pharmakokinetik und damit in ihrem Interaktionspotential. Simvastatin ist ein Substrat von Cytochrom P450 3A4, deshalb erhöhen alle Inhibitoren
dieses Cytochroms das Risiko für eine Myopathie
und Rhabdomyolyse (z. B. Itraconazol, Ketoconazol, Erythromycin, Clarithromycin, Telithromycin,
HIV-Proteasehemmer). Diese Substanzen können
jedoch gleichzeitig mit Pravastatin einge-
Seite 40
KVH • aktuell
nommen werden, da Pravastatin nur in geringem
Umfang durch Cytochrom P450 verstoffwechselt
wird. (Zu den weiteren Interaktionspartnern s.
pharmakologische Literatur bzw. Fachinformation).
Die Leitliniengruppe Hessen und die DEGAM
empfehlen, während einer Therapie mit den
oben genannten Arzneimitteln sicherheitshalber eine CSE-Hemmer-Behandlung zu unterbrechen. {C}
Für Ionenaustauscher und Omega-Liponsäure
liegen keine relevanten Endpunktstudien vor, die
ihren Einsatz begründen.
Studien und Metaanalysen zu Fibraten (Helsinki
Heart; ACCORD-Lipid-Studie) zeigten ebenso wie
solche zu Nikotinsäure allenfalls eine Verminderung der Insultrate, nicht aber eine Verminderung
der kardiovaskulären oder Gesamtmortalität [40,
194]. (Unabhängig davon können Fibrate – insbesondere Gemfibrozil – bei stark erhöhten Hypertriglyceriden zur Vermeidung einer Pankreatitis
eingesetzt werden.
Für den Cholesterinresorptionshemmer Ezetimib
konnte gegen Placebo bei einer Basistherapie von
80 mg Simvastatin lediglich eine Senkung des LDLCholesterins gezeigt werden. Endpunkte oder der
(nicht aussagekräftige) Surrogatparameter IntimaMedia-Dicke der Halsschlagader wurden nicht verändert [144]. Es bestehen außerdem noch Sicherheitsbedenken (SEAS-Studie; s. ati 2008;38:8-9)
Somit sehen die Leitliniengruppe Hessen und die
DEGAM keine Indikation für einen Einsatz. Der GBA
hat trotz der oben genannten Stellungnahme im
November 2009 die GKV-Rezeptierung für Ezetimib
u.a. auf folgende Indikationen beschränkt:
Monotherapie bei primärer Hypercholesterin­
ämie und Unverträglichkeit von Statinen
Kombinationstherapie bei hohem Risiko und
unzureichender Wirksamkeit bei alleiniger Statinbehandlung.
Omega-3-Fettsäuren konnten in einem Review keinen Vorteil in der Prävention und der Behandlung
der KHK gegenüber Placebo zeigen [125].
Gerinnungshemmung:
ASS und Clopidogrel
In einer Metaanalyse konnte gezeigt werden,
dass mit dem Thrombozytenaggregationshemmer
ASS 100mg/d eine relative Risikoreduktion von
nicht-tödlichen Herzinfarkten und Schlaganfällen
zwischen 12% (Primärprävention) und 19% (Se-
Nr. 1 / 2012
kundärprävention) erwartet werden kann [11]. Für
die Sekundärprävention wurde auch eine Verringerung der Sterblichkeit gezeigt [11]. Angesichts
des erhöhten Blutungsrisikos muss der Einsatz von
ASS insbesondere in der Primärprävention auch bei
Hochrisikopatienten sorgfältig abgewogen werden.
Die Leitliniengruppe empfiehlt ASS (100mg)
bei Patienten mit einem kardiovaskulären Risiko von >20% in 10 Jahren.
Inwieweit eine ASS Resistenz vorliegt, ist schwer
zu bestimmen. Studien weisen auf einen Anteil
von etwa 25% [116] (9% bis 40%) der mit ASS
Behandelten hin; allerdings sind die Tests nicht
ausreichend evaluiert bzw. standardisiert. Zudem
findet sich bei der Hälfte der Betroffenen eine
Doppelresistenz auch gegenüber Clopidogrel. Es
gibt bisher keinen Studienbeweis, dass eine Clopidogrel-Behandlung bei ASS-Non-Respondern ein
Rezidiv verhindern kann. Jedes Gefäß-Ereignis
(Myokardinfarkt, Apoplex) unter ASS Therapie als
ASS-Resistenz zu interpretieren, geht außerdem
von der falschen Vorstellung aus, dass eine Therapie/Prävention eine 100% Wirkung haben könnte,
also die NNT = 1 sei. Ein Wechsel von ASS auf
Clopidogrel nach Apoplex kann deswegen nicht
generell empfohlen werden.
Für Clopidogrel konnte in der CAPRIE-Studie bei
symptomatischen pAVK-Patienten ab Stadium IIb
eine geringfügig bessere Wirkung gegenüber ASS
bei der Prävention von Apoplexien gezeigt werden,
so dass Clopidogrel in der Monotherapie zur Prävention von kardiovaskulären Endpunkten lediglich
für Patienten mit pAVK ab Stadium IIb und für
Patienten mit ASS-Unverträglichkeit zu empfehlen
ist. Clopidogrel ist als primäre Monotherapie nur
bei AVK zugelassen. (Eine Kombination mit PPI,
hier wurde eine Verdoppelung der Herzinfarktrate
beobachtet [253], wird kontrovers diskutiert. Von
den amerikanischen Fachgesellschaften wird derzeit empfohlen, auch bei Therapie mit Clopidogrel
PPI weiterzugeben, wenn sie indiziert sind. Nach
Einschätzung des arznei-telegramms gilt dies auch
für Omeprazol. Es sollte jedoch geprüft werden, ob
PPI im Einzelfall durch H2-Blocker ersetzt werden
können [16].)
Die Kombination von ASS und Clopidogrel
zeigt eine erhöhte Blutungsrate ohne signifikant
bessere Prävention. Der duale Ansatz wird nach
Stentimplantation (BM = bare Metall = unbeschichtet: 4 Wochen, DES = drug eluting = beschichteter
Stent: 1 Jahr) empfohlen und ist somit – auch wenn
formal off-label use – zulässig (s. Hausärztliche Leitlinie stabile Angina pectoris [166], DEGAM Leitlinie
Schlaganfall [65]).
Dipyridamol: Laut IQWiG-Abschlussbericht
Nr. 1 / 2012
KVH • aktuell
gibt es zwar einen Hinweis auf einen Nutzen der
Kombinationsbehandlung Dipyridamol+ASS bezüglich der Verhinderung nicht-tödlicher Schlaganfälle und TIAs in der Langzeittherapie (mind. 12
Monate), jedoch keinen Zusatznutzen gegenüber
einer Monotherapie mit ASS. Es gibt aber keinen
Beleg für eine Reduktion der Mortalität. Es gibt andererseits Hinweise auf Schaden durch Blutungen,
Studienabbrüche wegen unerwünschter Ereignisse
und UEs insgesamt [136]. Deshalb empfiehlt die
Leitliniengruppe Hessen und die DEGAM eine
Monotherapie mit ASS nach Apoplex und TIA.
Vitamine
Da Beobachtungsstudien (z. B. [205]) eine Assoziation zwischen erhöhten Homocysteinwerten
und einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre
Erkrankungen zeigten, wurde postuliert, dass eine
Senkung mit Folsäure, Vitamin B6 und Vitamin
B12 eine Risikoreduktion erzielt werden kann. Dies
wurde durch die NORVIT-Studie und die WENBIT
Studie widerlegt [37, 76].
Ein Übermaß an B-Vitaminen beschleunigt das
Fortschreiten von Nierenerkrankungen bei Diabetikern. Zu diesem Schluss ist ein kanadisches
Forscherteam gekommen und warnt Patienten mit
diabetischer Nephropathie ausdrücklich vor einer
Vitamin-B-Therapie [128]
Die Leitliniengruppe spricht keine Empfehlung für die Vitamingabe (Vit B6, Vit B12, Folsäure) aus [282] {C} (s. hierzu auch den Abschnitt
Ernährung).
Arzneitherapie der Adipositas
Hier stehen folgende Wirkstoffe zur Verfügung:
Orlistat (apothekenpflichtig) führt zu einer Gewichtsreduktion durch die Resorptionshemmung
von Fetten. Hierdurch erklärt sich auch das häufige
Nebenwirkungsspektrum mit Blähungen, Durchfällen und übelriechenden Fettstühlen. Zwischen
5% und 15% der Patienten zeigten eine verminderte Absorption fettlöslicher Vitamine, deren
klinische Bedeutung ungeklärt ist. Möglicherweise
besteht ein Zusammenhang mit dem Auftreten
schwerer Leberschäden (FDA-Sicherheitshinweis
vom 26.05.2010). Die Gewichtsreduktion geht
nach Absetzen des Medikamentes verloren [15,
240]. Eine Senkung der kardiovaskulären Morbidität bzw. Mortalität ist für Anti-Adipositas-Medikamente nicht nachgewiesen. Eine Therapie hiermit
wird von der Leitliniengruppe nicht empfohlen.
Sibutramin: Die EMA beurteilte im Januar 2010
die Nutzen-Schaden-Bilanz als negativ und emp-
Seite 41
fahl europaweit das Ruhen der Zulassung. Sibutraminanwender (übergewichtige Patienten mit
kardiovaskulären Erkrankungen, Typ-2-Diabetiker
mit weiterem Risikofaktor) erlitten signifikant
häufiger eine schwere kardiovaskuläre Komplikation im Vergleich zu Placeboanwendern [141]. Die
Gewichtsabnahme wird als gering eingestuft. Der
Hersteller hat das Arzneimittel aus Apotheken zurückgerufen; allerdings ist davon auszugehen, dass
diese Medikamente noch über Internetbestellung
verfügbar sind (s. ati 2010;41(2):24).
Rimonabant: Wurde vom Hersteller ebenfalls
aufgrund negativer Nutzenbewertung (erhöhtes
Suizidrisiko) im Oktober 2008 vom Markt genommen.
Chirurgische Therapie [67, 241, 187, 91, 32,
49,162]
Einer chirurgischen Therapie müssen erfolglose
konservative Therapieversuche und eine umfassende Aufklärung vorausgegangen sein.
Adipositas-Chirurgie: Gemäß internationalen
Empfehlungen und Leitlinien besteht die Indikation
zur Durchführung einer bariatrischen Operation bei
einem BMI 35 kg/m² mit gleichzeitigem Vorliegen
einer Adipositas–assoziierten Komorbidität sowie
bei einem BMI >40kg/m² auch ohne Komorbiditäten.
Metabolische Chirurgie: Bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 2 kann bereits bei einem
BMI zwischen 30 und 35 kg/m² eine bariatrische
Operation erwogen werden (schwache Evidenzstärke). [67] Auch bei höherem Lebensalter (>65
Jahre) kann bei gutem Allgemeinzustand eine bariatrische Operation durchgeführt werden. Ziel des
Eingriffs ist oft die Verhinderung von Immobilität
und Pflegebedürftigkeit [67]. Kinderwunsch stellt
keine Kontraindikation zur bariatrischen Chirurgie
dar [67].
Eine chirurgische Maßnahme kann als ultima ratio
bei extrem adipösen Jugendlichen mit erheblicher
Komorbidität erwogen werden (schwache Evidenzstärke) [67].
Ausführliche Details zu den operativen Verfahren
und deren Nachsorge finden sich in der kompletten
Leitlinie.
Arzneitherapie
der Raucherentwöhnung:
Ein Ansatz besteht in der Gabe von Nikotinersatz
als Pflaster, Kaugummi, Lutschbonbon, Sublingualtablette oder Nasenspray (reizt Nasenschleimhaut).
Warnhinweis: Pflaster und Lutschbon-
Seite 42
KVH • aktuell
bons können für Kleinkinder tödlich sein.
Weitere Medikamente (z. B. Bupropion, Vareniclin). Einem Cochrane-Review zufolge erhöht
Vareniclin im Vergleich zu einem pharmakologisch nicht unterstützten Rauchstopp-Versuch die
Chance ab Beginn der Intervention mindestens
sechs Monate mit dem Rauchen aufzuhören, auf
das 2,3-fache. Auch Buproprion und Nortriptylin
erhöhten die Anzahl erfolgreicher Nikotinabstinenz ([47, 131], Ia). SSRI zeigten keine signifikanten Ergebnisse. Im Cochrane Review wird
der Effekt mit der einer Nikotinersatztherapie als
vergleichbar beschrieben [47]. Die Anwendungsdauer ist unbedingt zu begrenzen. Es gibt jedoch
Berichte über neuropsychiatrische Symptome
wie Schlafstörungen, Depressionen, Suizidgedanken sowie Krampfanfälle und Todesfälle (ati
2002;33:47-48). Eine aktuelle Metanalyse zu
Vareniclin (2011) zeigte im Vergleich zu Placebo
ein signifikant erhöhtes Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse [239].
Kontraindikationen:
Vareniclin: Schwangerschaft, Stillzeit
Bupropion: Schwangerschaft, Stillzeit, Alter
unter 18 Jahren, Patienten mit Krampfanfällen,
manisch-depressiven Erkrankungen, schweren
Leberfunktionsstörungen, Bulimie/Anorexia
nervosa, Alkoholentzug, bei gleichzeitiger
Therapie mit MAO-Hemmern CYP2B6 Induktoren (wie Metamizol, Rifampicin, Glitazon),
Sibutramin, Dapoxetin (siehe zusätzlich Fachinformation)
Wichtig sind eine therapeutische Betreuung und
Nr. 1 / 2012
Nachsorge (hohe Rückfallquote) [79, 80]. Es gibt
Hinweise, dass eine Kombination von Maßnahmen
die Erfolgsquote weiter erhöhen kann [215].
Bei der Bewertung der medikamentösen Strategien
ist zu bedenken, dass es deutlich mehr Studien zur
pharmakologisch unterstützten Raucherentwöhnung gibt als zu anderen nicht medikamentös unterstützenden Verfahren und somit möglicherweise
letztere in ihrem Nutzen unterschätzt werden.
Wahrscheinlich schafft es die Mehrheit der Raucher
bei ausreichender Motivation und entsprechender
Betreuung auch ohne pharmakologische Hilfe mit
dem Rauchen aufzuhören. [52].
Evidenzbasierte Leitlinien [13, 233, 282] empfehlen
Nikotinersatztherapie als Arzneimittel erster Wahl
für motivierte Raucher, denen ein Rauchstopp
bislang ohne pharmakologische Unterstützung
nicht gelungen ist ([233] {A} bzw. [282] {B}) Einige
Leitlinien empfehlen auch Bupropion [233, 282].
Die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stufen es jedoch
zusammen mit Vareniclin aufgrund der zahlreichen
unerwünschten Wirkungen als Arzneimittel 2. Wahl
ein [13].
Aus Sicht der Leitliniengruppe ist die psychologische Unterstützung durch wiederholtes Nachfragen zu den Rauchgewohnheiten
wichtig (s. Hinweise zu den nichtmedikamentösen
Maßnahmen). Außerdem empfehlen die Leitlinienautoren, die ersten Versuche eines Rauchstopps nicht mit Arzneimitteln zur Raucherentwöhnung durchzuführen.
Zwei Seiten, die Ihnen
die präventive Arbeit erleichtern
Gerade bei der Prävention gilt es, den Patienten vom Nutzen der Maßnahmen zu überzeugen. Doch
jeder Kollege weiß, wie schwierig es ist, die Menschen selbst bei gutem Willen zu einer Änderung
beim Ess- oder Bewegungsverhalten zu bringen oder sie zum Verzicht auf Zigaretten oder Alkohol
zu bewegen. Die beiden folgenden Seiten bieten einige Hilfen für die Gesprächsführung mit solchen
Patienten an.
 Zeitschiene für die Beratung und Begleitung des
Mai 2005 Nr.als
1 Hilfestellung zur Veränderung
KVH • aktuell
Patienten (Vordruck für Patientenakte)
5A-Strategie
der Ernährungsgewohnheiten
Seite 3
(© S. Ludt, mod. nach Lifescript Practice Manual. Australian Government, Department of Health and Ageing
(Weitere Informationen hierzu im Heft auf Seite 32)
Patient: ………………………………
Beratungsbeginn am: ……………..
Ergebnis: arriba©
Empfehlungen:
5 A-Strategie als Hilfestellung zur Veränderung des Bewegungsverhaltens
(© S. Ludt, mod. nach Lifescript Practice Manual. Australian Government, Department of Health and Ageing) MET = metabolisches Äquivalent.
1 MET entspricht einen Kalorienverbrauch von je 1 kcal je Kilogramm Körpergewicht pro Stunde (Walking mit 5km/h = 4 MET, d.h. pro kg
Körpergewicht verbraucht man 4 kcal/h = ein 100kg schwerer Mann verbraucht 400kcal/h)
(Weitere Informationen hierzu im Heft auf Seite 34)
78
Hausärztliche Leitlinie
»Kardiovaskuläre Risikoprävention«
Version 1.00
I 01. Aug. 2011
XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden
PVSt Deutsche Post AG,
Entgelt bezahlt,
68689
Gründe
dasdas
gesundheitsschädigende
Gründe
gesundheitsschädigende
Verhalten
beizubehalten
Verhalten
beizubehalten
5A-Strategie als
Hilfestellung zum
1. Welche
Vorteile
hat hat
diedie
Beibehaltung
1. Welche
Vorteile
Beibehaltungdes
des
Rauchstopp
gesundheitsschädigenden
Verhaltens
für
Sie?
gesundheitsschädigenden
Verhaltens
für
Sie?
© S. Ludt, mod. nach
Lifescript Practice Manual.
PH863453V
Gründe
für eine
Verhaltensänderung
Gründe
für eine
Verhaltensänderung
Welche
Bedenken
haben
Sie gegen
die
2.2.
Welche
Bedenken
haben
Sie gegen
die
Beibehaltung
gesundheitsschädigenden
Beibehaltung
IhresIhres
gesundheitsschädigenden
Verhaltens?
Verhaltens?
Australian Government,
Department of Health and
Ageing
(Weitere Informationen
hierzu im Heft auf Seite 35)
3. Welche
Bedenken
haben
Sie
dagegen,
3. Welche
Bedenken
haben
Sie
dagegen, Ihr
Ihr
gesundheitsschädigendes
Verhalten
zu
gesundheitsschädigendes Verhalten zu
verändern?
verändern?
Welche
Vorteile
sehen
in der Änderung
Ihres
4.4.
Welche
Vorteile
sehen
Sie in Sie
der Änderung
Ihres
gesundheitsschädigenden
Verhaltens?
gesundheitsschädigenden
Verhaltens?
5A-Strategie als
Hilfestellung zum
Alkoholverzicht.
© S. Ludt, mod. nach
Mod.
nach
[193]
Lifescript
Manual.
Mod.Practice
nach
[193]
Australian Government,
Department of Health and
Ageing
(Weitere Informationen
hierzu im Heft auf Seite 3)
Hausärztliche
Leitlinie
»Kardiovaskuläre
Risikoprävention«
Hausärztliche
Leitlinie
»Kardiovaskuläre
Risikoprävention«
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