KVH • aktuell Pharmakotherapie Jhrg. 17, Nr. 1 – März 2012 Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Gestaltet von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen Magenulkus: Nicht nur an H. pylori, auch an ASS und NSAR denken! Es war eine kleine Revolution, als man vor vielen Jahren erkannte, dass Magenund Duodenalulzera nicht einfach auf einem Säureüberschuss, sondern auf einer Infektion beruhen. Trotzdem darf man bei der Ulkusbehandlung keineswegs nur an die Eradikation von H. pylori denken. Denn zum einen ist nach wie vor die Säuresuppression die Basis der Therapie und zum anderen tragen oft auch ASS oder NSAR zum Ulkus bei oder sind sogar die einzige Ursache. Mehr zum aktuellen Stand der rationalen Ulkusbehandlung finden Sie ab Seite 4 Alte und neue Antidepressiva Gibt es überhaupt Unterschiede? Ja die gibt es: Die neuen Substanzen, gerne bedeutungsschwer als Antidepressiva der zweiten Generation bezeichnet, sind wesentlich teurer als die älteren Medikamente. Aber was Wirksamkeit und Nutzen betrifft, unterscheiden sie sich kaum von den alten und bewährten Substanzen, hat nun eine umfangreiche Metaanalyse ergeben. Seite 8 Soll ich meine Patienten auf Dabigatran umstellen? Der neue Thrombinhemmer Dabigatran verspricht zwar eine deutlich unkompliziertere Behandlung als die bisher übliche Antikoagulation mit Cumarinen, bleibt aber dennoch in der Diskussion. Eine eindeutige Empfehlung ist derzeit kaum möglich, hier muss jede Kollegin und jeder Kollege selbst entscheiden. Damit dies auf einer möglichst soliden Basis geschehen kann, haben wir das Thema auch in diesem Heft wieder aufgegriffen: Zwei Autoren stellen jeweils die Argumente pro und contra Dabigatran zusammen und verschweigen auch nicht, wie sie selbst in der Praxis damit umgehen. Seite 16 Niedermolekulares Heparin für internistische Patienten Nutzen mehr als fraglich Immer wieder kommen Patienten – beispielsweise nach einem Apoplex oder mit einem schweren M. Parkinson – aus dem Krankenhaus zurück, und auf ihrem Therapieplan steht niedermolekulares Heparin. Fasst man die derzeitigen Erkenntnisse zu dieser Behandlung zusammen, ergibt sich allerdings: Der Nutzen ist gering, das Schadpotenzial etwa ebenso hoch, dafür sind organisatorischer Aufwand und Therapiekosten umso höher. Unterm Strich spricht also vieles dafür, das niedermolekulare Heparin bei diesen Patienten umgehend wieder abzusetzen. Seite 21 KVH • aktuell Seite 2 Editorial Nr. 1 / 2012 Arzneimittelinformationen sind wichtig, aber unabhängig müssen sie sein! Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, täglich erhalten wir eine Vielzahl an Informationen zu neuen Arzneimitteln. Auch zu Arzneimitteln, die seit Jahren zur Verfügung stehen, gibt es gelegentlich Neues zu berichten, z.B. wenn eine Zulassungserweiterung erfolgt ist, eine bisher nicht bekannte Nebenwirkung gehäuft beobachtet wurde oder neue Studienergebnisse zur Wirksamkeit im Vergleich zu einem anderen Arzneimittel vorliegen. Neu sind die Informationen in der Regel immer, aber sind sie auch für unsere ärztliche Tätigkeit relevant und vor allem sind sie unabhängig von den Interessen des Herstellers oder anderer Akteure im Gesundheitswesen? Inzwischen gibt es zahlreiche Publikationen, die anerkannntermaßen als unabhängig gelten. Dazu gehören beispielsweise das arznei-telegramm der Arzneimittelbrief die Zeitschrift für Allgemeinmedizin (DEGAM) die Fortbildungsmodule des Institutes für hausärztliche Fortbildung (IhF) die Arztbibliothek des Ärztlichen Zentrums für Qualitätssicherung (ÄZQ) die Arzneiverordnungen in der Praxis und die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) Während das arznei-telegramm, der Arzneimittelbrief und die Zeitschrift für Allgemeinmedizin nur von deren Abonnenten umfassend genutzt werden können, stehen die Fortbildungsangebote des IhF, der ÄZQ und der AkdÄ auf den jeweiligen Webseiten allen Interessierten zur Verfügung. Bitte nutzen Sie diese Angebote und informieren Sie sich über aktuelle Entwicklungen im Bereich der evidenzbasierten Pharmakotherapie. Abschließend bitte ich Sie, die neuen Richtgrößen 2012 für die Verordnung von Arznei-, Verbandmittel und Sprechstundenbedarf zu beachten. Diese konnten im Vergleich zum Vorjahr auch in diesem Jahr erneut gesteigert werden. Die Richtgrößen für das Jahr 2012 wurden in der Zeitschrift PRO 1/2012 veröffentlicht. Die entsprechende Arzneimittelvereinbarung mit den Wirtschaftlichkeitszielen und den vereinbarten Praxisbesonderheiten (Anlage 5 und 6 zur Prüfvereinbarung) finden Sie auf unserer Homepage unter www.kvsa.de >> praxis >> verordnungsmanagement >> arzneimittel. Ihr Burkhard John Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Seite 3 Editorial 2 Ulkuskrankheit – eine aktuelle Übersicht Dr. med. Klaus Ehrenthal 4 Gibt es Qualitätsunterschiede moderner Antidepressiva? Dr. med. Klaus Ehrenthal 8 Inhaltsverzeichnis Sicherheitsbedenken und Dosissenkungen für Cipramil® und Cipralex®11 Dr. med. Wolfgang LangHeinrich IQWiG findet keine eindeutige Aussage Normnahe Blutzuckersenkung für alle Diabetiker: Nutzen bleibt unklar 12 ADDITION-Europe Normnahe BZ-Senkung für„frische Diabetiker“: Nutzen weiterhin nicht belegt 13 Dr. med. Uwe Popert Rote Hand für Aliskiren-haltige Arzneimittel Dr. med. Wolfgang LangHeinrich 14 Beliebte Vitaminpillen Sicher kein Allheilmittel, sondern sogar gefährlich15 Pro und Contra Antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran umstellen? Dr. med. Günther Egidi und Dr. med. Armin Mainz 16 Niedermolekulares Heparin für internistische Patienten: Wirklich nötig? Dr. med. Joachim Fessler 21 Thromboembolieprophylaxe bei internistischen Patienten 21 IQWiG zu Ticagrelor: Zusatznutzen für bestimmte Patienten 22 Strattera : Tachykardie und RR-Anstieg bei Kindern Dr. med. Wolfgang LangHeinrich 24 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Paracetamol bei Risikogruppen: Maximale Tagesdosis halbieren! Metformin: Laktazidose Tod nach fehlender Masernimpfung Dabigatran: tödliche Blutungen Pelargoniumextrakt (Umckaloabo®): Lebertoxizität Bisphosphonate: Update unerwünschter Wirkungen (UAW) ACE-Hemmer: Wechselwirkung mit Selbstmedikation Misteltherapie: Klarstellung 25 Terminhinweis: Personalisierte Medizin 28 Briefe an die Redaktion Wechselwirkung Hyperkaliämie: Nur bei Cotrimoxazol oder auch bei Trimethoprim alleine? Otitis media: Mut und Vertrauen sparen so manches Antibiotika-Rezept Otitis media: Luftballon sorgt für Druckausgleich und lindert Schmerzen 29 Hausärztliche Leitlinie Kardiovaskuläre Prävention Allgemeine Präventionsmaßnahmen Medikamentöse Präventionsmaßnahmen 31 32 38 ® 25 25 26 26 26 27 28 28 29 29 30 Impressum Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt (www.kvhessen.de) Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Cornelia Kur, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Fax Redaktion: 069 / 79502 501 Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Seite 4 Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Ulkuskrankheit – eine aktuelle Übersicht Dr. med. Klaus Ehrenthal Im November 2011 erschien zum Thema der Ulkuskrankheit in der Schweiz eine lesenswerte Übersichtsarbeit von E. Burri und R. Meier [1], aus der hier einige wichtige Erkenntnisse referiert werden sollen, die auch gerade für den hausärztlich tätigen Arzt Bedeutung haben. ASS und NSAR sind häufiger Ursache als gedacht Nachdem sich die pathophysiologischen Vorstellungen zur Ulkusentstehung in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert haben, und die Bedeutung des 1982 entdeckten Campylobacter pylori (jetzt Helicobacter pylori) [2,3] erkannt wurde, verließen Gastroenterologen und Chirurgen die Vorstellung der Ulkusgenese als Folge eines primären Magensäureüberschusses (früher: „Ohne Säure kein Ulkus“) und verstanden sie neu als Infektionskrankheit. Das wurde inzwischen weltweit bestätigt. Die Entdecker des Helicobacter pylori, Marshall und Warren, erhielten 2005 hierfür den Nobelpreis. Derzeit werden zwei Hauptrisiken für die Ulkusentstehung gesehen: die Infektion mit Helicobacter pylori und die medikamentöse Therapie mit ASS oder NSAR. Seltener treten Magenkarzinom, Lymphom, Zollinger-Ellison-Syndrom, Zustand nach Billroth-II-Operationen, M. Crohn, eosinophile Gastroduodenitis oder radiologische Schleimhautschäden als ulkugene Faktoren auf. Ulzera bei Helicobacter-pylori-Infektionen Infektionen mit H. pylori sind in 90 bis 95% der Fälle beim Ulkus duodenale und in 60 bis 90% beim Ulkus ventrikuli nachweisbar [4]. Ungefähr geschätzte 50% der Weltbevölkerung ist mit H. pylori infiziert (in Westeuropa und USA ca 30 bis 40%, in der Schweiz ca 12%) je nach sozioökonomischer Exposition [1]. Die Durchseuchung wurde in Südosteuropa, der Türkei und in Dritte-Welt-Ländern deutlich höher gefunden. Insgesamt nimmt die Prävalenz von H. pylori in westlichen Ländern ab [1]. Allerdings entwickelten nur 10 bis 15% aller Infizierten ein Ulkus, wofür neben genetischen Unterschieden noch weitere Faktoren diskutiert werden. Die Wirkung einer H-pylori-Infektion auf Magen und Duodenum kann unterschiedlich ausfallen, dabei kommt es auf den Schwerpunkt der Infektion und den Effekt des vom Erreger produzierten Ammoniaks auf die Bildung von säureförderndem Gastrin an [5]. Am Magen wird durch die Infektion besonders die lokale Immunantwort gesteigert [6]. Ulzera bei negativem Helicobacter-pylori-Befund (ASS-NSAR-Ulzera) ASS und NSAR schädigen dosisabhängig die Schleimhaut, indem die Unterdrückung der Zyklooxygenase eine Prostaglandin-Synthese-Hemmung bewirkt. Dadurch leidet der Schleimhautschutz (Verminderung von Mukusproduktion, Bikarbonatsekretion, epthelialer Zellproliferation und Durchblutung der Mukosa). Freie Radikale und Proteasen werden freigesetzt und führen zu Obstruktion der Kapillaren, was Wundheilungen beeinträchtigt. Bei gleichzeitigem Befall mit H. pylori ist das Ulkusrisiko um das 3,5-fache erhöht, weswegen die prophylaktische Eradikation vor einer längeren NSAR-Behandlung sinnvoll sein kann. Idiopathische Ulzera Ulzera bei negativem Helicobacter-pylori-Befund und negativer ASS- oder NSARGabe werden als idiopathische Ulzera bezeichnet. Da die Inzidenz der Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Helicobacter-pylori-Infektion in der Bevölkerung deutlich rückläufig ist, scheinen H.-pylori-negative Ulzera zuzunehmen [7]. Dabei muss jedoch eine sehr genaue Medikamenten-Anamnese erhoben werden, auch von Mitbehandlungen und Selbstbehandlungen mit rezeptfreien Präparaten. Außerdem sind die verwendeten Helicobacter-Testverfahren auf ihre Validität hin zu hinterfragen. Erst wenn andere Noxen und seltene Krankheitsbilder ausgeschlossen werden können (z.B. Rauchen, Zollinger-Ellison-Syndrom), kann von einem seltenen idiopathischen Ulkus gesprochen werden. Krankheitsbild Nüchternschmerzen sind bekanntermaßen typisch für Duodenalulzera, wobei Nahrungsaufnahmen sie lindern, wohingegen epigastrische Schmerzen, die sich bei Nahrungsaufnahme verschlimmern, typisch sind für ein Magenulkus. Allerdings haben ältere Patienten häufig keine solchen typischen Beschwerden. Bei einem Drittel der Patienten sind Schmerzen und Verlauf völlig asymptomatisch. Dann ist die Anamnese wichtig. Alarmsymptome können sein: Gewichtsabnahme, Mattigkeit, Müdigkeit, Leistungsschwäche, Obstruktion, gastroentestinale Blutungen, anamnestische Ulzera, Einnahme von ASS und/oder NSAR, Thrombozyten-Aggregationshemmern, Steroiden, Antikoagulation. Im Alter steigt das Blutungsrisiko, welches häufiger durch asymptomatische Ulzera verursacht wird. Deswegen wurden Vorschläge zur Minimierung NSAR-bedingter Ulkuskomplikationen gemacht [11, 12]. Die Bevorzugung von Naproxen oder Misoprostol sowie eine Kombinationsbehandlung mit PPI können die Ulkusgefahren mildern, wenn gerade bei Älteren länger dauernde antientzündliche Maßnahmen erforderlich werden. Diagnostik Bei epigastrischen Beschwerden liegt nur bei 1 bis 3% der Fälle eine maligne Erkrankung vor, nur bei 5 bis 15% ein Ulkus. Sehr viel häufiger liegt – besonders bei jüngeren Patienten – eine funktionelle Erkrankung vor [1], weswegen eine endoskopische Abklärung möglichst nur für die Patienten vorgesehen werden sollte, die Warnsignale einer organischen Erkrankung (z. B. Karzinom, Ulkus) aufweisen. Das gilt besonders für ältere Patienten über 55 Jahre [1]. Die Karzinomprävalenz ist in Westeuropa niedrig, in Japan allerdings höher, dort sind deswegen vermehrte gastroskopische Abklärungen notwendig. Die individuellen und lokalen Verhältnisse sollten immer besonders fallbezogen betrachtet werden und deswegen die Durchführung einer Gastroskopie nicht von einer starren Altersgrenze und von Kostenüberlegungen abhängig gemacht werden [1]. Es kann sein, dass einerseits durch eine sofortige gastroskopische Diagnostik Krankheitsbilder wie Refluxösophagitis und Ulzera frühzeitig erkannt und behandelt werden, andererseits bei negativem endoskopischen Befund „Krebsängste“ und andere psychosomatisch ausgelöste Beschwerden und Ängste beruhigt werden können, die sonst fortlaufend unbestimmte und unnötige Untersuchungen, Beratungen und auch Behandlungen nach sich ziehen könnten. Vorgehen zur Helicobacter-Diagnostik Die Validität der verschiedenen Testverfahren auf Helicobacter pylori ist unterschiedlich [1]. Neben nicht-invasiven Nachweisverfahren (Serologie, C13-Atemtest, Stuhlantigen) werden invasive Verfahren (Urease-Schnelltest, Histologie, Kultur, PCR-Analyse) angewendet. Serologie: Drei Wochen nach einer Infektion sind Antikörper gegen H. pylori und danach über Jahre im Serum oder Urin nachweisbar (Sensivität 85%, Spezifität 79%). Nachteil: für eine Therapiekontrolle ungeeignet. Seite 5 KVH • aktuell Seite 6 Nr. 1 / 2012 C13- Harnstoff-Atemtest: Die Harnstoffbildung durch die Urease-Produktivität von H. pylori wird gemessen, indem untersucht wird, ob sich oral eingenommener C13-markierter Kohlenstoff im Harnstoff wiederfindet und so den Nachweis durch einen Radioaktivitätstest der Ausatemluft erbringt (Sensivität und Spezifität >95%, allerdings reduziert eine gleichzeitige Säuresuppression die Sensivität). Vorteil: zur Therapiekontrolle gut geeignet, Nachteil: erhöhte Kosten. Nachweis von H.-pylori-Antigen im Stuhl Durch Nachweis monoklonaler Antikörper im Stuhl können neuerdings Infektionen mit H. pylori nachgewiesen werden (Sensitivität und Spezifität ähnlich dem C13-Atemtest), Nachteil: aufwendig und teuer. Kultureller Nachweis von H. pylori Selten angewendet und sinnvoll nur zur Resistenzbestimmung nach erfolglosen Eradikationsbehandlungen. PCR-Analysen aus Magenbiopsien, Histologie der Magenbiopsien Der Nachweis bakterieller DNA weist eine höhere Sensivität auf als die Histologie und kann ebenfalls zur Resistenzprüfung bei Eradikationsversagern verwendet werden. Medikamentöse Ulkusbehandlung Immer noch Standard bei der Eradikation: PPI, Clarithromycin und Amoxicillin Eine wirksame Säuresuppression ist der Grundpfeiler der Therapie der Ulkuskrankheit. In der Behandlung haben die verschiedenen PPI die H2-Blocker weitgehend verdrängt. Nach acht Wochen sind 90% der Ulzera abgeheilt. NSAR-induzierte, H.-pylori-negative Duodenalulzera heilen dabei etwas schneller ab als Magen­ ulzera. Eine notwendige langdauernde Komedikation mit ASS, NSAR, Steroiden ist zu überdenken und kann ggf. einen länger dauernden PPI-Schutz erforderlich machen [11, 12, 13]. Bei der Behandlung H.-pylori-positiver Ulzera steht die Eradikationsbehandlung im Mittelpunkt. Während H.-positive unkomplizierte Duodenalulzera alleine durch eine Eradikation ausheilen können, sollte bei Magenulzera eine anschließende 8-wöchige Säureblockade folgen [8,9]. Eradikationstherapien Die Therapievorschläge folgen je nach lokaler Antibiotika-Resistenzlage verschiedenen Schemata. Sie alle sollten entsprechend den sogenannten Maastricht-IIIKonsensus-Empfehlungen eine Eradikationsrate von >80% erreichen [10]. Hierbei wird primär die Triple-Behandlung mit PPI, Clarithromycin und Amoxicillin, alternativ Metronidazol empfohlen. Bei Clarithromycin-Resistenz wird die Vierfach-Therapie empfohlen: mit PPI, Metronidazol, Tetracyclinen, Wismut. Die empfohlene Therapiedauer liegt in Europa meist bei 7 Tagen, in den USA werden10 bis 14 Tage empfohlen. Die beiden Schweizer Autoren raten bei uns zu einer 10-tägigen Behandlung [1]. Nachkontrollen Da 5 bis 11% aller Magenulzera maligne sind, sollten Magenulzera immer biopsiert und üblicherweise nach 8 bis 12 Wochen nachkontrolliert werden. Die Re-Endoskopie wird bei jüngeren Patienten mit unverdächtigem Magenulkus und typischem Ulkusrisiko (H.-pylori-positiv, ASS/NSAR-Einnahme) nicht strikt gefordert [1], hingegen müssen atypische Magenulzera immer endoskopisch auf Karzinomentwicklungen nachkontrolliert werden, auch wenn zunächst die Biopsien negativ waren. Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Seite 7 Intestinale Metaplasien Die in unterschiedlichen Formen selten vorkommende intestinale Metaplasie bildet eine Übergangsstufe hin zum Magenkarzinom. Sie sollte bei Hochrisikopatienten (Immigranten aus Risikogebieten, familiäre Belastung) endoskopisch kontrolliert werden [1]. Bei Ulkuskrankheit immer auch an ASS und NSAR denken Trotz abnehmender Prävalenz der Helicobacter-pylori-Infektionen sind es gerade die Komedikationen mit ASS/NSAR, die immer wieder Ulzera entstehen lassen, auch ohne H.-pylori-positive Befunde. Eine primäre diagnostische Endoskopie bei Oberbauchbeschwerden sollte nur bei über 55-jährigen Patienten, oder, wenn Alarmzeichen vorliegen (wie z. B. Karzinomverdacht, ASS/NSAR-Einnahme), durchgeführt werden. Für Diagnose und Nachkontrolle einer H.-pylori-Infektion sollten der C13Atemtest oder die Stuhlantigenbestimmung verwendet werden. Eradikationsbehandlungen sollten durch PPI, Clarithromycin und Amoxicillin oder Metronidazol, bei Clarithromycin-Resistenz oder -Unverträglichkeit als 4-fach-Therapie (PPI, Metronidazol, Tetracycline, Wismut) erfolgen. Magenulzera sollten immer biopsiert und nach 8 bis 12 Wochen nachkontrolliert werden. Indikationen zu einer Langzeitbehandlung mit einem NSAR sollten stets besonders streng gestellt werden unter Berücksichtigung des kardiovaskulären und gastrointestinalen Risikoprofils [11, 12, 13]. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Burri E, Meier R: Ulkuskrankheit – Update 2011. Schweiz Med Forum 2011;11(49): 897-906 2 Warren JR, Marshall BJ: Unidentified curved bacilli on gastric epithelium in active chronic gastritis. Lancet 1983;1(8336):1273-1275 3 Marshall, BJ, Warren JR: Unidentified curved bacilli in the stomach of patients with gastritis and peptic ulceration. Lancet 1984;1(8390):1311-1315 4 Kuipers EJ, Thijs JC, Festen HP: The prevalence of Helicobacter pylory in peptic ulcer disease. Aliment Pharmacol Ther 1995;9 Suppl 2:59-69 5 Khulusi S, Badve S, Patel P, Lloyd R, Marrero JM, Finlayson C, et al.: Pathogenesis of gastric metaplasia of the human duodenum: role of Helicobacter pylori, gastric acid, and ulceration. Gastroenterology 1996;110(2):452-458 6 Mauch F, Bode G, Ditschuneit H, Malfertheimer P: Demonstration of a phospholipid-rich zone in the human gastric epithelium damaged by Helicobacter pylori. Gastroenterology 1993;105(6):1698-1704 7 Bytzer P, Teglbjaerg PS: Helicobacter pylori-negative duodenal ulcers: prevalence, clinical characteristics, and prognosis – results from a randomized trial with 2-year follow-up. Am J Gstroenterol 2001;96(5):1409-1416 8 Harris AW, Misiewicz JJ, Bardhan KD, Levi S, O`Morain C, Cooper BT, et al.: Incidence of duodenal ulcer healing after 1 week of proton pump inhibitor triple therapy for eradication of Helicobacter pylori. The Lanzoprazole Helicobacter Study Group. Aliment Pharmacol Ther 1998;12(8):741-745 9 Colin R: Duodenal ulcer healing with 1-week eradication triple therapy followed, or not, by anti-secretory treatment: a multicentre double-blind placebo-controlled trial. Aliment Pharmacol Ther 2002;16(6):1157-1162 10 Malfertheimer P, Megraud F, O`Morain C, Bazzoli F, El-Omar E, Graham D, et al.: Current concepts in the management of Helicobacter pylori infection: the Maastricht III Consensus Report. Gut 2007;56(6):772-781 11 Lanza FL, Chan FK, Quigly EM: Guidelines for prevention of NSAID-related ulcer complications Am J Gastroenterol 2009;104(3):728-738 12 Burmester G, Lanas A, Biasucci L, Hermann M, Lohmander S, Olivieri I, et al.: The appropriate use of non-steroidal anti-inflammatory drugs in rheumatic disease: opinions of a multidisciplinary European expert panel. Ann Rheum Dis 2011;70(5):818-822 13 Fischbach W, Malfertheimer P, Hoffmann JC, Bolten W, Bornschein J, Gotze O, et al.: S3-guideline „Helicobacter pylori and gastroduodenal ulcer disease“. Z Gastroenterol 2009;47(1):68-102 Bedeutung für unsere Praxis Seite 8 Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Gibt es Qualitätsunterschiede moderner Antidepressiva ? Dr. med. Klaus Ehrenthal Selektive Wiederaufnahmehemmer und einige andere neuere Antidepressiva (AD) werden gegenüber den älteren „klassischen“ trizyklischen Antidepressiva (nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren, NSMRI, wie z.B. Amitriptilin) häufig als „moderne Antidepressiva“ der „zweiten Generation“ dargestellt und für etliche Spezial-Indikationen hoch gelobt. Dass spezielle Vorteile einzelner neuerer AD nicht immer für die ärztlichen Verordnung so entscheidend sein müssen, hat zu mehreren Untersuchungen [1,2] geführt, bei denen es weniger um Vor- und Nachteile der moderneren „second-generation“-Antidepressiva gegenüber den klassischen Trizyklika (TZA) geht, als vielmehr darum, zu klären, ob wesentliche Unterschiede der einzelnen neueren AD in Wirksamkeit, Nebenwirkungsspektrum und Interaktionsgefahr überhaupt zu beobachten sind und wie bedeutsam diese Unterschiede sind. Bisher werden seitens der Hersteller bei der Vermarktung besonders die Unterschiede der einzelnen neueren AD hervorgehoben, was auch in den hohen Marktpreisen für viele selektive Reuptake-Hemmer begründet liegen mag. In den USA werden jährlich etwa 400 Millionen US-Dollar von den Herstellern alleine für die Vermarktung der second-generation-AD ausgegeben, wie Gartlehner et al. anlässlich ihrer aktuellen Metaanalyse berichten [1]. Auch der psychiatrische Fachmann kann bei den zahllosen „Neuerungen“ des Marktes leicht die Übersicht verlieren. (Siehe dazu auch unsere Bewertung der Nebenwirkungshäufigkeit bei der Behandlung mit SSRI im Gegensatz zu Trizyklika bei Depressionen im KVH aktuell Nr 4/2011 vom letzten November [3].) Angesichts der immensen Kosten, die in den USA die pharmakologische Behandlung von Majordepression (sowie Dysthymie und Minordepression) mit selektiven Monoaminoxidase-Hemmern, den neueren AD, verschlingt, untersuchte Gartlehner mit seiner Arbeitsgruppe für die US Agency for Healthcare Research and Quality in einer ersten großen Metaanalyse im Jahr 2007 [2] die Wirksamkeit der neueren AD. Bereits damals fanden sie, dass die Wirksamkeit der TZA und der neueren AD sehr ähnlich war, und dass sie sich nur in ihrem Nebenwirkungsprofil teilweise unterschieden. In einer großen Update-Metaanalyse hat das gleiche Autorenteam jetzt 2011 die gesamte Literatur der letzten 30 Jahre inklusive neuerer Studien zur Wirkungsweise und Effektivität der second-generation-AD (SSRI, SSNRI, SNRI, Bupropion und Trazodon) untersucht. Im Einzelnen nahmen sie Studien und Berichte zu folgenden neueren AD unter die Lupe: SSRI (selective Serotonin-Wiederaufnahmehemmer): Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin. SSNRI (selective Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer): Duloxetin. SNRI (selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer): Mirtazapin, Venlafaxin. Andere: Bupropion, Trazodon. Vorgehensweise bei der Metaanalyse: Die Autoren untersuchten jetzt in 2011 erneut nach Recherchen in PubMed, Embase, Cochrane Library, PsycInfo und International Pharmaceutical Abstracts von 1980 bis August 2011 unter den Stichworten „major depressive disorder, dysthymia, minor depression, subsyndromal depressive disorder“ 1457 geeignete Berichte, Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Seite 9 von denen aktuell 228 Studien für die Re-Metaanalyse ausgewählt werden konnten. Es handelte sich um randomisierte Studien (RCT’s), die mindestens sechs Wochen dauerten oder um Beobachtungsstudien mit jeweils mindestens 1000 erwachsenen Patienten. Davon konnten 96 Studien mit ausreichender statistischer Qualität verwendet werden. Es wurden analog zu der Vorläuferuntersuchung in 2007 [2] mittels in 5 Gruppen sortierter Schlüsselfragen die gefundenen Studienergebnisse aufgearbeitet und die Ergebnisse zusammenfassend bewertet (Evidenzstärke, Studiendesign, Ausführlichkeit der Ergebnisse, Relevanz der Ergebnisse für die Alltagspraxis u.a.). Es handelte sich um die Ergebnisse zu folgenden Krankheitsbildern: Majordepression, Dysthymie, subsyndromale Depression, begleitende Symptomen-Cluster wie Angst, Insomnia, Antriebslosigkeit, Melancholie, Schmerz, Somatisation. Es wurden auch die gefundenen Risiken dargestellt: Allgemeine Verträglichkeit der AD (unerwünschte Nebenwirkungen allgemein, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsabnahme, unerwünschte gastrointestinale Nebenwirkungen, Somnolenz, Desorientiertheit, aktive Verwirrtheit, Lebensqualität). Ernsthafte Störwirkungen (Suizidalität in Gedanken und Verhalten, sexuelle Dysfunktion, Krampfanfälle, kardiovaskuläre Ereignisse, Entwicklung einer Hyponatriämie, Entwicklung eines Serotonin-Syndroms). Außerdem wurden folgende Beobachtungen aus den Studien aufgelistet. Sie flossen in das Gesamtergebnis ein: die Therapietreue, das Geschlecht, die ethnische oder rassische Zugehörigkeit, andere Komorbiditäten. Ergebnisse Gartlehner et al. kamen auch bei ihrer neuen Metaanalyse 2011 [1] zu dem gleichen Ergebnis wie 2007 [2], nämlich, dass (bei 78 gefundenen paarweisen Wirkungsvergleichen) die Wirksamkeit und der Nutzen der neuen, sogenannten secondgeneration-Antidepressiva sich trotz großer Preisunterschiede nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die Verabreichung eines speziellen AD kann somit nicht durch seine generelle Wirksamkeit begründet werden, im Prinzip sind die pharmakologischen Wirkungen der verschiedenen second-generation-AD alle gleichartig. Wichtige weitere Ergebnisse der erneuten Metaanalyse waren die schlechte Ansprechrate und die schlechte Wirkungsrate bei Behandlungen mit den neueren Antidepressiva: 37% der Patienten reagierten nicht auf second-generation-AD, 53% der Patienten erreichten keine Remission durch diese AD. Allerdings gibt es Unterschiede bei den Nebenwirkungen und Interaktionen, die im Einzelfall von Bedeutung sein können. Ebenso ist die Zeit bis zum Beginn einer Wirksamkeit bei einzelnen Wirkstoffen unterschiedlich. Da manche der Studien an hochselektierten Patientengruppen durchgeführt worden waren, die nicht unbedingt der Gruppe der hausärztlichen Patienten gleichen, und da die Evidenzen mitunter wegen eines unterschiedlichen Studiendesigns Viele Patienten sprechen auf die neuen Antidepressiva gar nicht an KVH • aktuell Seite 10 Nr. 1 / 2012 nicht immer dem optimalen Standard entsprachen, können, so Gartlehner et al., die Wirksamkeit und der allgemeine Nutzen einer Therapie mit second-generationAntidepressiva überschätzt worden sein [1]. Bedeutung für unsere Praxis Vorsicht besonders bei älteren Patienten! Keine grundlegenden Unterschiede zwischen alten und neuen Antidepressiva Die neueren second-generation-Antidepressiva (SSRI, SSNRI, SNRI sowie Bupropion, Trazodon) wirken beim Vergleich untereinander nicht wesentlich und grundsätzlich unterschiedlich. Besondere Eigenschaften einzelner Substanzen dieser Gruppe konnten 2011 in dieser großen Re-Metaanalyse [1], wie auch schon bei der ersten Metaanalyse 2007 [2], nicht aufgespürt werden. Unterschiede bestehen allerdings beim Zeitpunkt des Wirkungsbeginns, bei einzelnen Nebenwirkungen und bei möglichen Interaktionen. Das Ergebnis zeigte, dass 37% der Patienten nicht ausreichend auf die secondgeneration-Antidepressiva ansprachen und 53% keine Remission erreichten. Die erhoffte antidepressive Wirksamkeit der neueren Antidepressiva ist also eher schwach und wird möglicherweise überschätzt, was ihre Vorzugsbewertung gegenüber den klassischen Trizyklika infrage stellen kann. Eine Behandlung mit AD sollte stets auf einer möglichst gesicherten Diagnose fußen, die Wirkung ausreichend überwacht und, wenn ein Effekt gesehen werden kann, ausreichend lange durchgeführt werden. Dabei ist eine gesicherte Einnahmetreue erforderlich. Nach wie vor sind auch ältere Antidepressiva (TZA) unter Berücksichtigung der individuellen Komorbiditäten und des Gesamtrisikos bei Depressionen sinnvolle Medikamente, wenn nichtmedikamentöse Maßnahmen nicht ausreichen. Besonders im Alter und bei komorbiden Patienten haben auch die neueren Antidepressiva besondere Risiken: kardiovaskuläre Gefahren, Apoplexien, Stürze mit Frakturen, Suizidalität, Serotonin-Syndrom, Epilepsieanfälle, Hypo­ natriämie [3, 4] Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Gartlehner G, Hansen RA, Morgan LC, Thaler K, Lux L, Van Noord M, Mager U, Thieda P, Gaynes BN, Wilkins T, Strobelberger M, Lloyd S, Reichenpfader U, Lohr KN: Comparative Benefits and Harms of Second-Generation Antidepressants for Treating Major Depressive Disorder. An Updated Meta-Analysis of the 2007 Comparative Effectiveness Review No.46.Ann Intern Med 2011;155(11):772-785 www.effectivehealthcare.ahrq.gov/reports/final.cfm. 2 Gartlehner G, Hansen RA, Thieda P, De Veaugh-Geiss AM, Gaynes BN, Krebs EE, Lux LJ, Morgan LC, Shumate JA, Monroe LG; Lohr KN: Comparative Effectiveness of Second-Generation Antidepressants in the Pharmacologic Treatment of Adult Depression. Comparative Effectiveness Review No.7. Agency for Healthcare Research and Quality January 2007. www.effectivehealthcare.ahrq.gov/reports/final.cfm. 3 Ehrenthal K: Risiken bei der Behandlung mit SSRI. KVH aktuell Pharmakotherapie 2011;16(4):29-30 4 Coupland C, Dhiman P, Morriss R, Arthur A, Barton G, Hippisley-Cox J: Antidepressant use and risk of adverse outcomes in older people: a population based cohort study. BMJ 2011;434:d4551, doi: 10.1136/bmj.d4551 Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Sicherheitsbedenken und Dosissenkungen für Cipramil® und Cipralex® Seite 11 Kritische Analyse Dr. med. Wolfgang LangHeinrich Citalopram (Cipramil® und weitere Citalopram®-Generika) sowie Escitalopram (Cipralex®) sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Behandlung von Episoden einer Majordepression, Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie, sozialer Angststörung (sozialer Phobie), generalisierter Angststörung und Zwangsstörung. Eine Studie an gesunden Erwachsenen in Amerika zeigte im EKG eine dosisabhängige Verlängerung des QT-Intervalls für das Razemat Citalopram (Cipramil®) und das linksdrehende Isomer des Razemats Escitalopram (Cipralex®). Eine Verlängerung des QT-Intervalls im EKG ist auch von anderen Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bekannt. Das QT-Intervall im EKG zeigt die ventrikuläre Repolarisation an. Eine Verlängerung kann zu Herzrhythmusstörungen wie der ventrikulären Tachyarrhythmie „Torsade de pointes“ führen. Die Patienten erleiden Krampfanfälle, Schwindelgefühle oder Synkopen. Jederzeit kann diese Tachyarythmie in ein Kammerflimmern übergehen und einen plötzlichen Herztod verursachen. Neben der Dosis von Citalopram und Escitalopram sind weitere Risikofaktoren für Herz-Rhythmusstörungen: das weibliche Geschlecht, Hypokaliämie und/oder Hypomagnesiämie sowie ein bereits bestehendes verlängertes QT-Intervall und andere Herzerkrankungen. Aus diesem Grund wird bei bestimmten Patienten zum vorsichtigen Einsatz von Cipramil® und Cipralex® geraten. Dazu gehören: Patienten mit Herzinsuffizienz, Zustand nach kürzlich aufgetretenem Myokardinfarkt, Bradyarrhythmien oder einer Neigung zu Hypokaliämie oder Hypomagnesieämie (aufgrund von Begleiterkrankungen oder zusätzlicher Medikamente) sowie generell auch Patienten mit einem Alter über 65 Jahren Eine bekannte QT-Verlängerung im EKG bzw. ein angeborenes Long-QTSyndrom ist eine Kontraindikation für Citalopram (Cipramil®) und Escitalopram (Cipralex®). Achtung; QT-Verlängerung ist Kontraindikation! Um das Risiko dieser Behandlung zu reduzieren wird für das Razemat Citalopram (Cipramil®) die Tagesdosis auf 40 mg und für Patienten im Alter von über 65 Jahren auf 20 mg gesenkt. Bei Patienten mit verminderter Leberfunktion wird die empfohlene Maximaldosis ebenfalls auf 20 mg gesenkt. Für das linksdrehende Isomer des Razemats Citalopram, das Escitalopram (Cipralex®) wird die Tagesdosis auf 20 mg und die Dosis bei Patienten im Alter von über 65 Jahren auf 10 mg reduziert. Praxis-Tipp Patienten mit verminderter Leberfunktion sollten pro Tag nicht mehr als 20 mg Citalopram bzw. 10 mg Escitalopram erhalten. Unsicher, ob ein bestimmtes Patienten sind darüber zu informieren, dass sie bei Feststellung Medikament die QT-Zeit verlängert? Hier finden Sie einer Herz-Rhythmusstörung unter Einnahme von Citalopram bzw. die Antwort: Escitalopram sofort einen Arzt aufsuchen müssen. http://www.qtdrugs.org/ Interessenkonflikte: keine Quelle: Rote-Hand-Brief und weiterführende Informationen der Firma Lundbeck vom 31.10.2011 Rote-Hand-Brief und weiterführende Informationen der Firma Lundbeck vom 5.11.2011 Seite 12 Kritische Analyse KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 IQWiG findet keine eindeutige Aussage Normnahe BZ-Senkung für alle Diabetiker: Nutzen bleibt unklar Hinweise auf Vorteile aber auch auf Nachteile – Weniger nichttödliche Herzinfarkte stehen häufigeren Unterzuckerungen gegenüber Ob Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 davon profitieren, wenn man versucht, ihren Blutzucker durch eine Therapie auf normnahe Werte abzusenken, bleibt eine ungeklärte Frage. Die derzeit verfügbaren Studien liefern Hinweise auf einen Nutzen aber auch Hinweise auf einen möglichen Schaden. Zu diesem Ergebnis kommt ein am 5. Juli 2011 veröffentlichter Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass bei Menschen mit Typ-2-Diabetes das Risiko für gefäßbedingte Erkrankungen oder Todesfälle mit der Höhe der Blutzuckerwerte steigt. Um diabetesbedingte Folgeschäden zu vermeiden, empfehlen Leitlinien deshalb die Senkung der Blutzuckerwerte auf Werte im „normnahen“ Bereich. Darunter versteht man Werte, die denen von Menschen ohne Diabetes nahekommen. In dem jetzt vorgelegten Bericht, einem sogenannten Rapid Report, hat das IQWiG untersucht, ob diese Therapiestrategie, also das Anstreben von (nahezu) normalen Blutzuckerwerten tatsächlich auch das Risiko für DiabetesFolgekomplikationen vermindert [1]. Vergleich von zwei Therapiestrategien Das IQWiG hat dazu randomisierte kontrollierte Studien gesucht, die zwei Therapiestrategien bei Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes miteinander verglichen: In einer Gruppe sollten die Maßnahmen darauf zielen, den Blutzucker langfristig auf normnahe Werte zu bringen. In der Vergleichsgruppe sollte es diese Absicht nicht oder nicht in gleichem Maße gegeben haben. Maßgebliche Kriterien für die Bewertung des Nutzens oder Schadens waren dabei die Sterblichkeit (Gesamtsterblichkeit), Diabetes-Folgekomplikationen (Herzinfarkte, Schlaganfälle, Nieren- oder Augenschädigungen u.a.) sowie die Lebensqualität. Drei Studien nach 2000 durchgeführt Insgesamt konnte das IQWiG sieben Studien in die Bewertung einbeziehen, an denen insgesamt 28.000 Patientinnen und Patienten teilgenommen hatten. Die Studien waren recht unterschiedlich: Vier Studien waren bereits zwischen den 1960er und 1990er Jahren entstanden, die übrigen nach dem Jahr 2000. Teils handelte es sich um Patienten einer bestimmten Ethnie (Japan) und in einigen Studien wurden Medikamente breit eingesetzt, die heute nicht mehr auf dem Markt sind (Rosiglitazon). IQWiG findet bei wichtigen Therapiezielen keine Unterschiede Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden bei der Auswertung dieser Studien bei maßgeblichen Aspekten der Therapie keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Weder zur Gesamtsterblichkeit noch zu tödlichen Herzinfarkten, (tödlichen und nichttödlichen) Schlaganfällen, zu Niereninsuffizienz (und ihren Vorstufen), Amputationen oder Vorstufen der Erblindung gibt es Belege oder Hinweise darauf, dass eine der beiden Therapiestrategien mehr Vor- oder Nachteile bietet. Was die Zielgrößen Lebensqualität und Erblindung betrifft, gibt es nicht genügend Daten. Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Seite 13 Lediglich beim Therapieziel der nichttödlichen Herzinfarkte fand das Kölner Institut in den Studien Hinweise, dass Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes von einer normnahen Blutzuckersenkung einen Vorteil hatten. Gleichzeitig gibt es aber auch Hinweise, dass schwere Unterzuckerungen sowie andere schwerwiegende Ereignisse zum Teil deutlich häufiger auftraten als bei einer weniger intensiven Blutzuckersenkung. In der Gesamtschau decken sich die Ergebnisse des aktuellen IQWiG-Berichts mit denen von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen, die andere Wissenschaftler in jüngerer Zeit durchgeführt und vorgelegt haben. Frage nach der besseren Therapiestrategie bleibt weiter unbeantwortet „Es ist schon erstaunlich: Einzelne Interventionen, vor allem Medikamente, sind zum Teil gut in Studien untersucht. Über Vor- und Nachteile von Therapiestrategien wissen wir aber relativ wenig“, kommentiert IQWiG-Leiter Jürgen Windeler den aktuellen Bericht. „Wenn Ärzte also vor der Frage stehen, was sie ihren DiabetesPatienten konkret anbieten können, ob sie den Blutzucker möglichst weit absenken sollen und bei welchen Patienten dies vielversprechend ist und bei welchen weniger, bekommen sie noch immer keine befriedigenden Antworten.“ Obwohl dies eine zentrale Fragestellung bei der Versorgung von Menschen mit Typ-2-Diabetes sei, ließen die wenigen Studien keine zuverlässigen Aussagen zu. Quelle: Mitteilung des IQWiG [1]Der komplette Report des IQWiG ist im Internet zu finden: www.iqwig.de/download/A05-07_Rapid-Report_NormnaheBlutzuckersenkung-bei-Diabetes-mellitus-Typ-2.pdf ADDITION-Europe-Studie Normnahe BZ-Senkung für „frische Diabetiker“: Nutzen weiterhin nicht belegt Dr. med. Uwe Popert Methode: In einer multizentrischen (Dänemark, Niederlande, England) pragmatischen Kohorten-Studie wurde die Effektivität einer frühen multifaktoriellen Intervention bei Diabetes Typ 2 untersucht [1]. Nach einem Screening-Programm wurden 3.057 Patienten (Alter 40 bis 69 Jahre) mit erstmaliger Diabetes-Diagnose (WHO-Kriterien) innerhalb der 343 hausärztlichen Praxen Cluster-randomisiert und verblindet behandelt. Die eine Gruppe wurde wie üblich therapiert, die andere entsprechend der derzeit strengsten Empfehlungen (Intervention bei HbA1c > 6,5%; RR > 120/80 mm Hg; Gesamtcholesterin > 3,5 mmol/l; routinemäßige Verordnung von ASS 100 mg/d). Vorab festgelegter primärer Endpunkt: erstes kardiovaskuläres Ereignis (Morbidität, Mortalität, Revaskularisation) und nicht-traumatische Amputation innerhalb von fünf Jahren. Sekundäre Endpunkte: Gesamtmortalität und einzelne Items des primären Endpunktes. Resultate Die Intention-to-treat-Auswertung nach mittlerem Follow-up von 5,3 Jahren erfolgte für 3.055 (99,9%) der Patienten. Die intensiv behandelten Patienten schnitten Beiträge der Redaktion KVH • aktuell Seite 14 Nr. 1 / 2012 etwas, aber nicht signifikant besser ab: 7,2% gegenüber 8,5% kardiovaskuläre Ereignisse und 6,2% versus 6,7% Gesamtsterblichkeit. (Die kardiovaskulären Ereignisse betrafen im Wesentlichen Morbidität und Interventionen; die Sterblichkeit beruhte im Wesentlichen auf nicht-kardiovaskulären Ursachen.) Diskussion Fragestellung, Klientel und Setting muten wie eine Neuauflage der berühmten UKPDS an. Wäre ein signifikantes Ergebnis herausgekommen, wäre der ADDITIONEurope-Studie wohl auch wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden. So fragt man sich eigentlich nur im Vorübergehen, warum wohl nichts daraus werden konnte. Im begleitenden Editorial werden im Wesentlichen zwei Gründe genannt: einmal wurden während der Laufzeit die Leitlinien-Zielwerte für die Kontrollgruppe ebenfalls niedriger angesetzt, zum anderen war die Ereignisrate insgesamt nur halb so hoch wie in der Power-Kalkulation angenommen. In der Tat sind die im Follow-up erreichten Durchschnittswerte sehr ähnlich: HbA1c 6,7 vs. 6,6%; RR syst 138,1 vs. 134,8 mmHg, RR diast 80,7 vs. 79,9 mmHg; Gesamtcholesterin 4,4 vs. 4,2 mmol/l. Auffällig ist lediglich die in der Intensivgruppe erhöhte Verschreibungsrate von ASS: 41,7% vs. 70,7% (Standard vs. Intensivtherapie). Nachdem die Ergebnisse von ACCORD-, ADVANCE-, VADT- und CurrieStudie zu einer wesentlich weniger strengen Behandlung von Diabetikern mit längerem und/oder komplizierterem Verlauf mahnen (und die meisten Leitlinien auch angepasst wurden) fehlt damit weiterhin ein Studienbeleg für eine Intensivbehandlung von frisch diagnostizierten Diabetikern. Die ADDITION-Europe-Studie konnte diesen Beweis jedenfalls nicht erbringen. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Simon J Griffin, Knut Borch-Johnsen, Melanie J Davies, et al., Effect of early intensive multifactorial therapy on 5-year cardiovascular outcomes in individuals with type 2 diabetes detected by screening (ADDITION-Europe): a cluster-randomised trial. www.thelancet.com Published online June 25, 2011 DOI:10.1016/S0140-6736(11)60698-3 Beiträge der Redaktion Rote Hand für Aliskiren-haltige Arzneimittel Sicherheitsbedenken bezüglich der Behandlung bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und Nierenfunktionsstörungen und/oder kardiovaskulären Erkrankungen Dr. med. Wolfgang LangHeinrich In der ALTITUDE-Studie wurde Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die ein hohes Risiko für tödliche oder nichttödliche kardiovaskuläre Erkrankungen und renale Ereignisse hatten und deren arterieller Blutdruck bei Studienbeginn in der Regel ausreichend eingestellt war, zusätzlich zur Standardtherapie, die einen ACE-Hemmer oder ein Angiotensinrezeptorblocker beinhaltete, Aliskiren 300 mg gegeben. Ziel dieser vierjährigen multinationalen, randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studie war die Untersuchung des potentiellen Nutzens der Zusatztherapie mit Aliskiren hinsichtlich der Reduktion des Risikos für kardiovaskuläre und renale Ereignisse. Zwischenauswertungen zeigten, dass die Studienpatienten nicht von der Behandlung mit Aliskiren profitierten. Weiterhin wurde bei diesen Hochrisikopatienten eine höhere Inzidenz unerwünschter Ereignisse im Bezug auf nichttödlichen KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Seite 15 Schlaganfall, renale Komplikationen, Hyperkaliämie und Hypotonie beobachtet. Dies führte dazu, dass nach Absprache mit der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Firma Novartis in einem Rote-Hand-Brief über folgendes informierte: Bei Patienten, die Aliskiren-haltige Arzneimittel – Rasilez®, Rasilez HCT®, Rasilamlo® – erhalten, wird eine Routineüberprüfung empfohlen. Aliskiren oder Aliskiren-haltige Kombinationspräparate sollen bei Diabetikern nicht zusammen mit ACE-Hemmern oder Angiotensinrezeptorblockern angewendet werden. Ärztinnen und Ärzte sollen bei Diabetikern, die gleichzeitig einen ACEHemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker einnehmen, Aliskirenhaltige Arzneimittel absetzen. Gegebenenfalls muss eine alternative blutdrucksenkende Behandlung in Betracht gezogen werden. Bei Diabetikern, die einen ACE-Hemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker einnehmen, soll keine Therapie mit Aliskiren-haltigen Arzneimitteln begonnen werden. Patienten sollen die Einnahme nicht selbstständig beenden, sondern dies mit ihrer Ärztin/ihrem Arzt besprechen. Es wurden leider nur Diabetiker untersucht. Ob dies auch für Nicht-Diabetiker gilt, bleibt offen. Interessenkonflikte: keine Quelle: Rote-Hand-Brief und Informationen der Firma Novartis vom 05.01.2012 Beliebte Vitaminpillen Ganz sicher kein Allheilmittel, sondern sogar gefährlich Sofern es nicht mit Anstrengungen verbunden oder sonstwie mühsam ist, geben sich die Deutschen gesundheitsbewusst. Sie nehmen beispielsweise gerne frei käufliche Präparate mit Vitaminen und Spurenelementen ein, denn das muss ja einfach gesund sein. Es geht zudem schnell und aus der Puste kommt man dabei auch nicht. Dass die beliebten Präparate – sofern nicht gerade ein dokumentierter Mangel damit beseitigt wird – zweifelhaft sind, hatten wir auch in KVH aktuell schon mehrfach aufgezeigt (Hefte 1/2007, 2/2007, 3/2007, 1/2011). Schlimmer noch, wie man neuerdings auch in seriösen Publikumsmedien lesen konnte: solche Präparate können sogar Schaden anrichten. Die Berichte fußen vor allem auf zwei in letzter Zeit veröffentlichten Studien. Eine davon beruht auf den Daten der IOWA Women‘s Health Study und schließt die Daten von 38.722 älteren Frauen ein, die 18 Jahre lang beobachtet wurden [1]. Das Ergebnis: Die Einnahme von Multivitaminpräparaten, Vitamin B6, Folsäure, Magnesium, Zink, Kupfer und vor allem Eisen war mit einer erhöhten Gesamtmortalität korreliert. Eine zuvor veröffentlichte Studie [2], in der 182.099 Probanden in Hawaii und Kalifornien (allerdings nur 11 Jahre lang) beobachtet worden waren, hatte die Zusammenhänge zwischen Vitaminpräparaten einerseits und Gesamtmortalität, kardiovaskulärer Erkrankungen sowie Krebs andererseits untersucht. Hier fand sich schlicht gar kein Zusammhang, also weder eine positive noch eine negative Wirkung – ob die Leute Vitaminpillen schluckten oder nicht, blieb ohne Wirkung. BW Literatur: 1 Mursu, J. et al.: Arch Inten Med. 2011; 171 (18): 1625-1633. DOI: 10.1001/archinternmed.2011.445 2 Park, S.-Y. et al.: Am. J. Epidemiol. (2011) 173 (8): 906-914. DOI: 10.1093/aje/kwq447 Kurze Meldung Mortalität war erhöht KVH • aktuell Seite 16 Der Gastbeitrag Nachdruck aus ZFA (Z Allg Med 2012; 88 (1) S.43) mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion der ZFA. Nr. 1 / 2012 Soll ich meine antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran umstellen? Dr. med. Günther Egidi und Dr. med. Armin MainzI Hintergrund Am 4.8.2011 hat die europäische Zulassungsbehörde EMA die Vermarktung von Dabigatran (Pradaxa®) auch bei Patienten mit Vorhofflimmern erlaubt. Die mit Boehringer-Ingelheim (Hersteller von Dabigatran) konkurrierenden Produzenten der Thrombininhibitoren Apixaban [1] und Rivaroxaban [2] haben ebenfalls Zulassungsanträge gestellt. Bereits 2008 hatte Dabigatran eine Zulassung zur perioperativen Thrombose-Prophylaxe erhalten – und fällt damit nicht unter die Festbetragsregelung des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG). Dabigatran wirkt als direkter Thrombininhibitor. Die Pradaxa®-Hartkapseln enthalten 110 bzw. 150 mg Dabigatran-Etexilat. Die Kapseln sollen zweimal täglich unzerkaut geschluckt werden. Eine vorherige Öffnung der Kapseln ist mit einem erhöhten Blutungsrisiko Zusammenfassung: Am 4.8.2011 hat die assoziiert. Eine Labor-Überwachung der Therapie ist EMA Dabigatran für Patienten mit Vorhofweder erforderlich noch möglich, ein Antidot ist nicht flimmern zugelassen. Im Pro- und Contrabekannt. Die renale Ausscheidung der Substanz beFormat werden Argumente aus einer Listdingt als Kontraindikation eine auf unter 30 ml/min server-Diskussion zusammengefasst. Soll ich gesunkene eGFR. Im Fall einer schweren Überdosierung meine antikoagulierten Patienten (Warfarin bliebe die Dialyse als Behandlungsoption. Entsprechenbzw. Phenprocoumon) auf Dabigatran umde Erfahrungen sind begrenzt. stellen? Pro: Die Verordnung von DabigaWechselwirkungen bestehen mit anderen blutungstran kann bei leichtem Vorteil gegenüber aktiven Substanzen sowie mit Ketoconazol, AmiodarWarfarin Kosten minimieren. Dabigatran on, Verapamil, Clarithromycin sowie Chinidin [3]. ist eine echte Innovation und zumindest für Die Tagestherapie-Kosten liegen für beide Dabigadie Hausarztpraxen komfortabler. Letztlich tran-Dosierungen bei 3,55 Euro [4]. müssten die Krankenkassen entscheiden, ob sie für diesen Komfort ihrer Versicherten Eine am 12.11.2011 durchgeführte Pubmed-Suche bezahlen wollen. Contra: Die Datenlage unter den Suchbegriffen „dabigatran etexilate“ AND spricht gegen einen unkontrollierten Ein„Atrial Fibrillation“ mit der Beschränkung auf Metaanasatz von Dabigatran. Verzerrungen in der lysen und RCTs sowie in Deutsch oder Englisch veröfRE-LY-Studie und die erheblichen Nachfentlichte Untersuchungen am Menschen ergab zehn teile bei der praktischen Anwendung sind Treffer. Acht davon beziehen sich auf die RE-LY-Studie die Hauptgründe, um an der bisherigen (s.u.), einer ist eine Dosisfindungs- und Toxizitäts-Studie Praxis der Antikoagulation mit Cumarinen [5] und einer ein indirekter Vergleich mit Placebo und festzuhalten. Die vorhandenen Ressourcen Thrombozytenaggregationshemmern [6]. sollten eher für ein besseres INR-Monitoring In der 2009 veröffentlichten RE-LY-Studie [7] wureingesetzt werden. de der direkte Thrombininhibitor Dabigatran in zwei verschiedenen Dosierungen mit dem im angelsächsischen Raum verbreiteten Vitamin-K-Antagonisten Warfarin verglichen (ob das vergleichsweise kürzer wirkende Warfarin mit dem in Deutschland gebräuchlichen Phenprocoumon hinsichlich erwünschter und unerwünschter Wirkungen gleich gesetzt werden kann, ist nicht völlig unumstritten). In der RE-LY-Studie traten bei den insgesamt 18.113 untersuchten Patienten mit Vorhofflimmern Insulte oder systemische Embolien pro Jahr auf: bei 1,69% unter Warfarin, I Günther Egidi ist Hausarzt in Bremen, Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin Universitätsmedizin Göttingen, Vorsitzender der Akademie für hausärztliche Fortbildung Bremen Armin Mainz ist Facharzt für Innere Medizin, Korbach Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell bei 1,53% unter 110 mg Dabigatran (RR Dabigatran 0.91; 95%-CI: 0.74–1.11; P<0.001 für Nichtunterlegenheit) und bei 1,11% unter 150 mg Dabigatran (RR 0.66; 95%-CI: 0.53–0.82; P<0.001 für Überlegenheit). Größere Blutungen traten bei 3,36% unter den mit Warfarin Behandelten jährlich auf, unter 110 mg Dabigatran bei 2,71% (P = 0.003) und in der 150-mg-Dosierung mit 3,11% (P = 0.31). Die jährliche Gesamtmortalität lag bei 4.13% unter Warfarin, 3.75% unter 110 mg Dabigatran, 3.64% unter 150 mg Dabigatran. Der Nutzen der höheren Dabigatran-Dosis zur Verhinderung des primären Endpunktes war somit signifikant bei gleichem Blutungsrisiko. Die niedrigere DabigatranDosis war hinsichtlich von Blutungen signifikant überlegen, unterschied sich aber hinsichtlich des primären Endpunktes nicht signifikant von Warfarin. In der höheren Dosis verfehlte Dabigatran mit p 0,051 knapp das Signifikanz-Niveau hinsichtlich der Gesamtmortalität. Aktuelle Diskussion im allgemeinmedizinischen Listserver Die möglichen Konsequenzen einer Marktzulassung sind im allgemeinmedizinischen Listserver der DEGAM [8] breit diskutiert worden. Die am 07.09.2011 gestellte Ausgangsfrage war: „In unserem QZ möchten wir heute u.a. die aktuelle Lage zu Dabigatran diskutieren. Dabigatran hat ja vor einigen Tagen auch in […] Europa die Zulassungserweiterung für Vorhofflimmern erhalten. Wie sieht es nun mit der rationalen und wirtschaftlichen Verordnung der Substanz aus? In einer Info der KV Nordrhein wird vorgerechnet, dass die Tagestherapiekosten sich verachtzehnfachen […]. Gibt es noch weitere Meinungen/Einschätzungen zur Indikation und Verordnung von Dabigatran?“ Dieser Artikel fasst Vor- und Nachteile einer Umstellung der präventiven Behandlung antikoagulierter Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran aus dieser Diskussion zusammen und stellt die Argumente in einem Pro- und Contra-Format zusammen. Soll ich meine antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran umstellen? – PRO (Günther Egidi) Phenprocoumon, das neben der Insult-Prävention bei Vorhofflimmern zur Behandlung von Thrombosen, einer Thrombophilie oder zur Embolie-Prophylaxe bei künstlichen Herzklappen oder bei bestimmten Gefäß-Prothesen eingesetzt wird, liegt unter den Substanzen, die durch unerwünschte Wirkungen zu einer stationären Krankenhausaufnahme führen, auf einem der vorderen Plätze [9–11]. In der RE-LY-Studie [7] war Dabigatran gegenüber Warfarin zumindest gleichwertig, wenn nicht übelegen. Die Betreuung antikoagulierter Patienten bindet erhebliche personelle Valenzen in den Hausarztpraxen. Je nach Verfahren der Befundmitteilung sind manchmal mehrere Arzt-Patient-Kontakte pro Tag erforderlich. Die Bestimmung der Thromboplastinzeit für Systeme mit trägergebundenen Reagenzien ist über die EBM-Ziffer 32026 als Akutparameter im ärztlichen Präsenzlabor mit 4,70 Euro seit 01.10.2008 abrechnungsfähig [12]. Die Kosten für die Reagenzien werden durch die Abrechnung der Ziffer erstattet. Für die Arztpraxis ergibt sich in etwa eine Nullsumme von Kosten und Einnahmen. Die Kosten im beauftragten Labor sind ähnlich, diejenigen für Blutabnahmesysteme zu vernachlässigen. Seite 17 KVH • aktuell Seite 18 Nr. 1 / 2012 Hinzu kommt aber bei durchschnittlich geschätzten täglichen 3 bis 4 INR-Kon­ trollen pro Hausarztpraxis eine halbe bis eine ganze Arbeitsstunde für medizinische Fachangestellte von geschätzt 10 bis 20 Euro für die Blutentnahme und eine viertel Arztstunde für die Festlegung der Phenprocoumon-Dosierung à 25 Euro. Die Gesamtkosten für die Arztpraxis für personellen Aufwand liegen also bei geschätzten 35 bis 45 Euro/Tag. Unter Dabigatran wären diese Kontrollen nicht erforderlich – hierdurch können die genannten Kosten minimiert werden. Auch für die Patienten entfielen die meist mindestens vierwöchentlich erforderlich werdenden Arztbesuche. Für Berufstätige bedeutet das weniger Kosten durch Arbeitsausfälle. Die Anwendung des neuen Medikamentes wäre also auch für die Patienten erheblich komfortabler. Was die in Frage gestellte Sicherheit bei Überdosierung angeht, gibt es erste Hinweise [13] darauf, dass Dabigatran im Fall einer Überdosierung antagonisiert werden könnte. Wir haben also in der Summe in der entscheidenden Zulassungsstudie eine tendenziell dem Warfarin leicht überlegene Substanz. Jetzt haben wir HausärztInnen eine besondere Situation: Wir haben betriebswirtschaftlich ein direktes Interesse daran, eine mühsame und gelegentlich lästige sowie zeitaufwendige Tätigkeit wie die INRKontrolle loszuwerden, Hinzu kommen eher günstige Daten aus der der Zulassung zugrunde liegenden Studie. Wir würden aber unser Verordnungsbudget durch eine massive Verteuerung der Tagestherapiekosten von durchschnittlich 20 Cent (3 mg Phenprocoumon) auf 3,55 Euro belasten. Wobei diese Verteuerung diejenigen, die mit ihrem Budget keine Probleme haben, angesichts der in der RE-LYStudie belegten Vorteile der Substanz nicht stören dürfte. Zusammenfassung Dabigatran ist eine echte Innovation und zumindest für die Hausarztpraxen einfach komfortabler. Letztlich müssten die Krankenkassen entscheiden, ob sie für diesen Komfort ihrer Versicherten bezahlen wollen (und wir müssten eine Umstellung aus dem Budget herausgerechnet bekommen). Der Autor hat die Pro-Argumente aus didaktischen Gründen in dieser Form zusammengestellt. Real wird er selbst in der nächsten Zeit seinen Patienten zunächst nicht die Umstellung auf Dabigatran empfehlen, solange die Datenlage nicht besser ist. Soll ich meine antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern auf Dabigatran umstellen? – Contra (Armin Mainz) Sicher ist die Perspektive verlockend, die bislang übliche Phenprocoumon-Antikoagulation von Patienten mit Vorhofflimmern durch die Umstellung auf den Thrombinhemmer Dabigatran abzulösen, denn das derzeitige Vorgehen ist nicht nur zeit- und personalintensiv, sondern birgt auch entsprechende Risiken. Beim derzeitigen Stand des Wissens spricht jedoch eine ganze Reihe von Argumenten gegen eine Änderung des bestehenden Standards: Die multinationale RE-LY-Studie wurde allein durch den Produzenten finanziert. Die Autoren weisen vermeidbare Interessenkonflikte auf (Verflechtungen mit dem Hersteller des Medikaments). Im Studienverlauf kam es im Interventionsarm zu einer höheren Abbruchrate, deren Gründe zunächst sorgfältig analysiert werden sollten. Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Die in der RE-LY-Studie angegebene Gleichwertigkeit bzw. Überlegenheit von Dabigatran gegenüber Warfarin beruht möglicherweise auf weiteren Verzerrungen. So fehlen Angaben über die Intensität der INR-Schwankungsbreiten in der Kontrollgruppe. Stärkere Schwankungen bei den INR-Werten sind jedoch mit einer höheren Komplikationsrate assoziiert [14]. Durch ein besseres Drug monitoring wären sie prinzipiell vermeidbar [15, 16]. Außerdem hängen Ergebnisse bzw. Ereignisse unter einer Antikoagulation von der Güte der INR-Einstellung ab. In der Subgruppenanalyse der Studie gibt es starke Hinweise darauf, dass das Gesamtergebnis der multinationalen Studie von den Ergebnissen aus Ländern wie Indien, Mexiko, Peru oder Rumänien bestimmt wird, deren INR-Einstellungsgüte deutlich unter dem mitteleuropäischen Standard liegt. Ein daraus folgender konstruktiver Ansatz wäre es zum Beispiel, in diesen Ländern die INR-Einstellungsgüte durch public-health-Maßnahmen zu verbessern. Denn angesichts der hohen Kosten für das neue Medikament darf bezweifelt werden, ob gerade diese Länder mit einer hohen Armutsrate genügend Ressourcen für die Finanzierung der neuen Substanz aufbringen könnten. Der beobachtete Trend zu einer Zunahme von Herzinfarkten unter dem Thrombinhemmer sollte zumindest Anlass sein, eine Verordnung nur unter kontrollierten Bedingungen zuzulassen. Dabigatran muss anders als Phenprocoumon zweimal täglich eingenommen werden. Die kürzere Halbwertszeit macht sich bei Verschiebungen des Einnahmezeitpunktes in stärkeren Schwankungen des Wirkspiegels bemerkbar, als dies beim lang wirksamen Phenprocoumon der Fall ist. Der Mindestabstand zwischen der Einnahme der beiden Kapseln beträgt sechs Stunden. Eine Überdosierung führt zu einem erhöhten Blutungsrisiko. Dadurch, dass kein Drug monitoring erfolgen kann, wird dieses Risiko nicht erkannt. Aufgrund der Einnahmebedingungen sind Patienten mit einer problematischen Adherence nicht für die Umstellung geeignet: Das Mittel muss bis zur Einnahme in der Originalverpackung aufbewahrt werden und sollte keinesfalls in Tagesoder Wochendispenser umgefüllt werden. Unter dem Einfluss von Feuchtigkeit zerfällt der Wirkstoff, und es droht ein Wirksamkeitsverlust. Man sollte die Tabletten erst kurz vor der Einnahme aus dem Blister holen. Die Kapseln sollen nicht durchgedrückt werden, sondern es muss die Alufolie abgezogen werden. Die Pellets dürfen nicht ohne die Kapsel geschluckt werden; anderenfalls erhöht sich das Blutungsrisiko, da sich die Bioverfügbarkeit um 75% erhöhen kann. Bei Überdosierung und/oder der Notwendigkeit, die Wirkung schnell zu beenden, ergeben sich Probleme, da es kein Antidot gibt. Notfalls muss dialysiert werden; allerdings muss der Nutzen einer Dialyse noch geprüft und die entsprechenden logistischen Voraussetzungen müssen geschaffen werden. Eine geschätzte Kreatinin-Clearance von unter 30 ml/min war ein Ausschlusskriterium für die Studienteilnahme. Nicht wenige unserer älteren antikoagulierten Patienten haben aber eine eingeschränkte Nierenfunktion. Das arznei-telegramm [17] empfiehlt in Anlehnung an einen britischen HTA-Report [18, 19] den Einsatz von Dabigatran bei Patienten, bei denen es sich als schwierig herausstellt, eine Antikoagulation im INR-Zielbereich zu erzielen. Aber auch diese pragmatische Empfehlung kann aufgrund der vorgestellten Argumente nicht ohne Widerspruch bleiben. Sie dient allerdings als Argument, dass eine Entscheidung von dieser Tragweite nur getroffen werden kann, wenn dabei die hausärztliche Kompetenz mit der Kenntnis des ganzen Menschen angemessen berücksichtigt wird. Eine über Kliniken oder Spezialpraxen herbeigeführte Einführung des neuen Medikaments wäre kontraproduktiv. Medikamentöse Innovationen zur Vereinfachung der Patientenversorgung sind uneingeschränkt wünschenswert. Sie dürfen jedoch nicht zu Lasten der Patientensicherheit gehen. Bemerkenswert, dass bereits zwei Kasuistiken [20] von Komplikationen unter Dabigatran erschienen sind. In einem Fall handelt es sich um eine Seite 19 KVH • aktuell Seite 20 Nr. 1 / 2012 letale Blutung bei einer 84-Jährigen mit einer Kreatinin-Clearance von 32 ml/min. Weltweit sind bis zum 06.11.2011 mittlerweile 256 tödliche Blutungskomplikationen unter Dabigatran bekannt geworden [21]. Einer NNT von 125/Jahr für den zusammengesetzten Endpunkt [7] ist der Ansatz gegenüberzustellen, den Benefit der bisherigen Antikoagulation vorrangig durch eine weitere Optimierung des Drug monitoring zu erhöhen. Spezifisch geschulte Praxismitarbeiterinnen könnten die Hausärzte bei dieser Aufgabe unterstützen. In Schweden [22] und den Niederlanden ist es üblich, dass geschulte Fachkräfte die Phenprocoumon-Dosen adjustieren – in diesen Ländern wurden die besten INRZielerreichungsgrade verzeichnet. Zusammenfassung Hinsichtlich des Nutzens und der Sicherheit von Dabigatran bestehen erhebliche Zweifel. Vor einer unkontrollierten Anwendung sind zunächst weitere Überprüfungen und ggf. Studien erforderlich. In der Zwischenzeit sollte in den Arztpraxen das Verfahren zur Antikoagulation optimiert werden. Interessenkonflikte: Als Kleinunternehmer hat G. Egidi ein Interesse an Einsparungen im Personalbereich. Armin Mainz ist niedergelassener Hausarzt. Literatur: 1 Granger C, Alexander J, Mc Murray J, et al. Apixaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2011; 365: 981–92 2 Patel M, Mahaffey K, Garg J et al. Rivaroxaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2011; 365: 883–891 3 Fachinformation Pradaxa® 110 mg Hartkapseln vom August 2011 4 IfAp-Liste vom 15.9.2011 5 Ezekowitz M, Reilly P, Nehmitz G et al. Dabigatran With or Without Concomitant Aspirin Compared With Warfarin Alone in Patients With Nonvalvular Atrial Fibrillation (PETRO Study). Am J Cardiol 2007; 100: 1419–1426 6 Roskell NS, Lip GY, Noack H, Clemens A, Plumb JM. Treatment for stroke prevention in atrial fibrillation: a network metaanalysis and indirect comparisons versus dabigatran etexilate. Thromb Haemost 2010; 104: 1106–15 7 Connolly S, Ezekowitz M, Yusuf S, et al. Dabigatran versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2009; 361: 1139–51 8 http://degam.de/alt/cme/index_cm. htm 9 Pirmohamed M, James S, Meakin S, et al. Adverse drug reactions as cause of admission to hospital: prospective analysis of 18 820 patients. BMJ 2004; 329: 15–19 10 Moore T, Cohen M, Furberg C. Serious Adverse Drug Events Reported to the Food and Drug Administration, 1998–2005. Arch Intern Med. 2007; 167: 1752–1759 11http://www.jeder-fehler-zaehlt.de/ 12 Bekanntgabe im Deutschen Ärzteblatt vom 22.12.2008 13 Eerenberg E, Kamphuisen P, Sjipkens M, et al. Reversal of Rivaroxaban and Dabigatran by Prothrombin Complex Concentrate. A Randomized, Placebo-Controlled, Crossover Study in Healthy Subjects. Circulation 2011; 124: 1573–79 14 Wan Y, Heneghan C, Perera R, et al. Anticoagulation control and prediction of adverse events in patients with atrial fibrillation: a systematic review. Circ Cardiovasc Qual Outcomes 2008; 1: 84–91 15 Horstkotte D, Bergmann R. European Heart Journal Supplements, Volume 3 suppl Q; December 1, 2001 16 Dumont Z, Bunka D. in RxFiles Trial Summary, Nov, 2010 (http://www.rxfiles.ca/rxfiles/uploads/ documents/RELY-Trial-Dabigatran.pdf) 17 NN. Dabigatran (Pradaxa) bei nichtvalvulärem Vorhofflimmern. arznei-telegramm 2011; 42: 74–77 18 Spackman E, Burch J, Faria R, et al. Dabigatran etexilate for the prevention of stroke and systemic embolism in atrial fibrillation: Evidence Review Group Report. http://www.hta.ac.uk/erg/reports/ 2359.pdf 19 Pink J, Lane S, Pirmohamed M, Hughes DA. Dabigatran etexilate versus warfarin in management of non-valvular atrial fibrillation in UK context: quantitative benefit-harm and economic analyses. BMJ 2011; 343: d6333 doi: 10.1136/bmj.d6333 20 Legrand M, Mateo J, Aribaud A, et al. The Use of Dabigatran in Elderly Patients Arch Int Med 2011; 111: 1185–86 21 Homepage der europäischen Zulassungsbehörde EMA zuletzt besucht am 20.11.2011. http://www. ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/news_and_events/news/2011/11/news_detail_001390. jsp&mid=WC0b01ac058004d5c1 22 Wieloch M, Själander A, Frykman V, et al. Anticoagulation control in Sweden: reports of time in therapeutic range, major bleeding, and thromboembolic complications from the national quality registry AuriculA. Eur Heart J 2011; 32: 2282–89 Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Niedermolekulares Heparin für internistische Patienten: Wirklich nötig? Dr. med. Joachim Fessler Seite 21 Beiträge der Redaktion Wer hat sie nicht, die Patienten, die nach Apoplex oder mit einem schweren M. Parkinson aus dem Krankenhaus kommen und in deren Entlassungsplan täglich niedermolekulares Heparin angesetzt wurde? Oft sind auch die Angehörigen informiert worden, dass diese Verordnung unbedingt fortgesetzt werden soll, sonst drohe eine Lungenembolie. Es geht um die Thromboembolieprophylaxe bei internistischen Patienten, nicht um die perioperative. Diese Indikation ist offensichtlich lebenslang gegeben. Nun ist Heparin in der Dauertherapie nicht unproblematisch, es müssen auch regemäßige Blutbildkontrollen erfolgen, auf Grund der Grunderkrankung ist die Blutentnahme im Allgemeinen mit einem Hausbesuch verbunden, kurzum, das ist in der Praxis ein immenser Aufwand. Doch ist er wirklich indiziert? Wie stellt sich die Indikation in der Studienlage dar? Hierzu ist eine aktuelle und kompakte Zusammenfassung im arznei-telegramm erschienen, die wir mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Verlag des arznei-telgramms im Anschluss an diesen Text abdrucken. Aus dieser Zusammenfassung ziehen wir unser Fazit für die Praxis: Einem sehr geringen Nutzen steht ein genauso geringes Schädigungspotential gegenüber. Der organisatorische Aufwand ist erheblich. Die Therapiekosten sind erheblich. Die meisten der in Frage kommenden Patienten dürften multimorbide sein und einer Polypharmazie unterliegen, so dass hier ein zusätzlicher Arzneistoff in die Behandlung eingeführt wird. Auch unter dem Aspekt der Vermeidung von Polypharmazie ist dieser Arzneistoff absetzbar bzw. vermeidbar. Da diese Verordnungen im Allgemeinen von Krankenhausärzten initiiert werden, empfiehlt sich eine Rücksprache mit diesen Ärzten, ggf. die Durchführung gemeinsamer Qualitätszirkel. Bedeutung für unsere Praxis Interessenkonflikte: keine Da dieses Problem immer wieder in hausärztlichen Praxen auftaucht, ist es für uns interessant, zu erfahren, wie Sie damit umgehen. Bitte schreiben Sie uns Ihre Praxistipps! Kurz und bündig Thromboembolieprophylaxe bei internistischen Patienten Die Datenlage zur Thromboembolieprophylaxe bei stationären Patienten mit internistischen Erkrankungen ist verglichen mit der bei chirurgischen Patienten dürftig. Eine 2007 durchgeführte systematische Übersicht fand bei gepoolter Auswertung von neun randomisierten Studien lediglich eine absolute Reduktion des Lungenembolierisikos durch Antikoagulanzien um 0,3% (a-t 2008; 39: 47-8). Im Rahmen der Aktualisierung einer US-amerikanischen Leitlinie erscheint jetzt eine neue systematische Übersicht zum Nutzen von Heparinen und mechanischen Der Gastbeitrag Nachdruck aus arznei-telegramm 1/2012 (a-t 2012; 43: 14) mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Verlages des arznei-telegramm. Seite 22 KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Verfahren zur Thromboembolieprophylaxe bei hospitalisierten nicht-chirurgischen Patienten. 18 Studien mit etwa 36.000 Patienten, darunter auch Schlaganfall-, nicht aber Infarktpatienten, vergleichen Heparine mit Plazebo oder Nichtbehandlung. Lungenembolien werden relativ um 30% reduziert (p = 0,001). Es sind seltene Ereignisse, sodass pro 1.000 Patienten nur drei verhindert werden. Die relative Reduktion der Mortalität um 7% erreicht fast die Signifikanzgrenze (p = 0,056). Pro 1.000 Patienten könnten sechs Todesfälle weniger auftreten. Symptomatische tiefe Venenthrombosen werden nicht vermindert. Blutungen nehmen signifikant zu, insgesamt um 28% (9 pro 1.000 Patienten), schwere um 61% (4 pro 1.000 Patienten). In den acht Studien mit Schlaganfallpatienten findet sich kein signifikanter Einfluss auf symptomatische Venenthrombosen und Mortalität, und im Gegensatz zu einem Cochrane Review ist auch die Minderung von Lungenembolien um 3 pro 1.000 Patienten nicht signifikant. Schwere Blutungen sind dagegen um 66% häufiger (p = 0,002; 9 pro 1.000 Patienten). In den Studien ohne Schlaganfallpatienten wird nur die Lungenembolierate um 31% gesenkt (p = 0,006; 4 pro 1.000 Patienten), Blutungen insgesamt nehmen signifikant um 34% zu (9 pro 1.000 Patienten). Mechanische Maßnahmen wie Kompressionsstrümpfe bleiben in drei Studien ohne Effekt (vgl. a t 2009; 40: 65-6; LEDERLE, F.A. et al.: Ann. Intern. Med. 2011; 155: 602-15/ati-d). Eine aktuelle randomisierte Doppelblindstudie mit 8.307 überwiegend asiatischen Patienten vergleicht täglich 40 mg Enoxaparin (CLEXANE) subkutan über im Mittel zehn Tage erneut mit Plazebo. Die stationären Patienten leiden vorwiegend an akuter Herzinsuffizienz (31%) oder schweren Infektionen (57%). Alle sind mit angepassten Kompressionsstrümpfen versorgt. Enoxaparin hat keinen Einfluss auf die Mortalität nach 30 Tagen (4,9% versus 4,8%, p = 0,83) oder 90 Tagen (8,4% vs. 8,6%; p = 0,71). Für symptomatische tiefe Venenthrombosen (0,2% vs. 0,1%) und schwere Blutungen (0,4% vs. 0,3%) finden sich ebenfalls keine Unterschiede. Leichte Blutungen sind unter Enoxaparin geringfügig häufiger als unter Plazebo (1,8% vs. 1,1%; p = 0,02; KAKKAR, A.K. et al.: N. Engl. J. Med. 2011; 365: 2463-72). Beide Untersuchungen belegen nochmals, dass eine Thromboembolieprophylaxe mit Heparinen bei internistischen Patienten keinen sicheren Einfluss auf die Mortalität hat und nur von geringem klinischen Nutzen ist, die Rate auch schwerer Blutungen aber erhöhen kann, –Red. (Weitere Informationen und die Möglichkeit des Abonnements unter www.arznei-telegramm.de) Kritische Analyse IQWiG zu Ticagrelor: Zusatznutzen für bestimmte Patienten Weniger Todesfälle und Herzinfarkte bei instabiler Angina Pectoris und NSTEMI Um Blutgerinnseln vorzubeugen, steht bei einer akuten Durchblutungsstörung des Herzmuskels zusätzlich zu Acetylsalicylsäure (ASS) seit Anfang 2011 auch der Wirkstoff Ticagrelor (Brilique®) zur Verfügung. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat nun untersucht, ob Ticagrelor Patientinnen und Patienten mit einem akuten Koronarsyndrom (AKS) gegenüber herkömmlichen Medikamenten Vorteile bietet [1]. Dies ist die erste sogenannte frühe Nutzenbewertung, die das IQWiG gemäß den neuen gesetzlichen Vorgaben auf Basis eines Dossiers des Herstellers durchgeführt hat. Das Institut kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Ticagrelor für Patientinnen und Patienten mit einem „leichteren“ Herzinfarkt ohne typische EKG-Veränderungen (NSTEMI) oder mit einer instabilen Angina pectoris (IA) einen beträchtlichen Zusatznutzen hat, da Ticagrelor das Risiko für Todesfälle und Herzinfarkte senkt. Für Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Seite 23 „schwerere“ Herzinfarkte (STEMI), bei denen das EKG meist in charakteristischer Weise verändert ist, fehlen entsprechende Belege jedoch. Vorteil bei Sterblichkeit und Herzinfarkt Für die Indikation IA oder NSTEMI, für die der G-BA Clopidogrel als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt hatte, konnte der Hersteller anhand von Daten der PLATO-Studie belegen, dass Ticagrelor Patientinnen und Patienten Vorteile bietet: Bei Ticagrelor kommt es seltener zu Todesfällen als bei Clopidogrel. Auch Herzinfarkte traten unter Ticagrelor seltener auf, allerdings blieb dabei unklar, wie häufig es sich um relevante, also spürbare Herzinfarkte handelte. Keine Belege, dass schwere Blutungen häufiger auftreten Medikamente, die Teile des Gerinnungssystems im Blut hemmen, erhöhen in der Regel auch das Risiko für Blutungen. Schwere Blutungen traten bei der Behandlung mit Ticagrelor aber nicht häufiger auf als bei der Behandlung mit Clopidogrel. Einen Beleg für einen höheren Schaden von Ticagrelor fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler indes in Hinblick auf Studienabbrüche wegen unerwünschter Ereignisse und Atemnot (Dyspnoe). Zusatznutzen mittlerer Kategorie bei IA und NSTEMI Die Einzelergebnisse abwägend, stuft das IQWiG den Zusatznutzen von Ticagrelor gegenüber Clopidogrel bei Patientinnen und Patienten mit IA oder NSTEMI insgesamt als „beträchtlich“ ein. Um das Ausmaß des Zusatznutzens festzustellen, hat der Gesetzgeber drei Stufen vorgegeben: „gering“, „beträchtlich“ und „erheblich“. Dabei soll nach den vom Gesetzgeber formulierten Anforderungen die höchste Kategorie allerdings Medikamenten vorbehalten sein, die als „nachhaltige ... bisher nicht erreichte große Verbesserung“, also als Durchbruch für die Behandlung einer Erkrankung angesehen werden können. Kein Beleg für Zusatznutzen bei Patienten mit STEMI Was Patientinnen und Patienten mit STEMI betrifft, lieferte das Dossier keine Belege für einen Zusatznutzen von Ticagrelor. Für Patienten, bei denen nach einem STEMI die Herzkranzgefäße mittels eines Ballonkatheters geweitet wurden (PCI), zeigte der Vergleich mit Prasugrel, einem anderen Gerinnungshemmer, keine Vorteile. Für Patienten, die nach einem STEMI nur medikamentös behandelt werden oder eine Bypass-Operation bekommen, legte der Hersteller keine aussagekräftigen Daten vor. Dies lag auch daran, dass AstraZeneca von der vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie für die Indikation STEMI abwich. Diese Abweichung hat AstraZeneca aus Sicht des IQWiG nicht ausreichend begründet, da sie zum Teil sogar dem Zulassungsstatus der Gerinnungshemmer widerspricht. Gesetz verlangt Abwägung von Nutzen und Schaden „Bei Ticagrelor sind Herzinfarkte und Todesfälle seltener als bei Clopidogrel. Allerdings gibt es auch Belege für einen höheren Schaden, etwa in Form von häufiger auftretender Atemnot. Diese Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, ist schwierig“, erklärt Institutsleiter Jürgen Windeler. „Hier fließen Werturteile ein und eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Methodik, wie man solche Abwägungen treffen kann, gibt es bislang nicht.“ Dennoch muss das IQWiG eine solche Abwägung treffen, denn der Gesetzgeber verlangt bei der Nutzenbewertung gemäß AMNOG ausdrücklich eine Gesamtaussage auch zum Ausmaß des Zusatznutzens. „Wir haben erläutert, wie wir zu unserer Bewertung einzelner Endpunkte gelangt sind und wie wir die Gesamtaussage abgeleitet haben. Wir möchten dies ausdrücklich als Vorschlag verstanden Fazit: Zusatznutzen fand das IQWiG bei: 1: instabiler Angina pectoris 2: NSTEMI KVH • aktuell Seite 24 Nr. 1 / 2012 wissen“, so Windeler. Nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Methodik könne im Stellungnahmeverfahren beim G-BA thematisiert werden. Quelle: Mitteilung des IQWiG [1] Die komplette Nutzenbewertung des IQWiG ist im Internet zu finden: www.g-ba.de/downloads/92-975-5/2011-01-01-D-001_Ticagrelor_IQWiGNutzenbewertung.pdf Beiträge der Redaktion Strattera® bei ADHS: Tachykardie und RR-Anstieg bei Kindern Sicherheitsbedenken bei Atomoxetin (Strattera®) zur Behandlung des ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) Dr. med. Wolfgang LangHeinrich Der Hersteller von Strattera® – die Firma Lilly Deutschland GmbH – hat kürzlich mitgeteilt, dass bei bis zu 12% der mit Strattera® behandelten Kinder und Erwachsenen klinisch relevante Veränderungen der Herzfrequenz und des Blutdrucks beobachtet wurden. Die Herzfrequenz stieg um 20 Schläge oder mehr pro Minute und der systolische Blutdruck um 15 bis 29 mm Hg oder mehr an. Bei einem Drittel dieser Patienten, die klinisch relevante Herzfrequenz- und Blutdruckveränderungen während der Strattera®-Behandlung zeigten, kommt es zu einem anhaltenden oder weiterem, sich verstärkendem Anstieg. Dies führt zu nachfolgenden Empfehlungen bzw. zu einer geänderten Fachinformation: Strattera® darf nicht bei Patienten mit schwerwiegenden kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen angewendet werden, wenn das Auftreten eines klinisch bedeutsamen Herzfrequenz- und Blutdruckanstieges (Erhöhung der Herzfrequenz um 20 Schläge oder mehr pro Minute oder einen Blutdruckanstieg von 15 bis 20 mm Hg oder mehr) eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lässt. Kardiovaskuläre Erkrankungen, die eine Behandlung mit Strattera® nicht zulassen, können u. a. schwerwiegende Hypertonie, Herzinsuffizienz, arterielle Verschlusskrankheiten, Angina pectoris, hämodynamisch relevanter angeborener Herzfehler, Kardiomyopathie, Myokardinfarkt, möglicherweise lebensbedrohliche Arrhythmien und Ionenkanalerkrankungen, schwerwiegende zerebrovaskuläre Erkrankungen wie Aneurysma oder Schlaganfall sein. Bevor Patienten mit Strattera® behandelt werden können, muss durch eine sorgfältige Anamnese sowie eine körperliche Untersuchung das Vorliegen einer kardiovaskulären Erkrankung abgeklärt bzw. ausgeschlossen werden. Finden sich Hinweise auf eine kardiovaskuläre Erkrankung oder eine entsprechende Erkrankung in der Vorgeschichte, muss eine weitergehende Beurteilung durch einen Spezialisten erfolgen. Der kardiovaskuläre Befund, Herzfrequenz und Blutdruck sind bei allen Patienten, die mit Strattera® behandelt werden, bei jeder Dosisanpassung und mindestens alle 6 Monate zu kontrollieren und die Herzfrequenz, sowie der Blutdruck in einer grafischen Darstellung zu dokumentieren. Interessenkonflikte: keine Literatur: Rote Hand Brief vom 07.12.2011 Geänderte Fachinformation von Strattera® vom November 2011 Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Paracetamol bei Risikogruppen: Maximale Tagesdosis halbieren! Die Berücksichtigung niedriger Kinderdosierungen von Paracetamol-haltigen Arzneimitteln – abhängig vom Lebensalter oder vom Körpergewicht – ist gut bekannt. Weniger bekannt ist, dass auch bei Erwachsenen die allgemein empfohlene maximale Tagesdosis von 4 g zu hoch sein kann: Ein 43-jähriger Patient mit Morbus Crohn und einem Körpergewicht von 30 kg erhielt über 4 Tage 4g/d Paracetamol. Das sich entwickelnde Leberversagen konnte mit ärztlichen Maßnahmen nicht mehr gestoppt werden. Eine 32-jährige Patientin mit chronischem Alkokolabusus und einem Körpergewicht von 44 kg erhielt zur Therapie von Entzugserscheinungen und GastritisSchmerzen u.a. auch 4 g/d Paracetamol. Nach 3 Tagen trat ein akutes Leberversagen auf, die Patientin erholte sich nach 15 Tagen. Seite 25 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Paracetamol wird verstärkt zu dem lebertoxischen Metaboliten N-acetyl-p-benzoquinonimin (NAPQ) verstoffwechselt bei Glutathionmangel, Cytochrom P450 –Enzyminduktion, Überdosis. Patienten sind insbesondere bei Glutathionmangel gefährdet. Dieser Mangel kann eintreten, wenn Patienten untergewichtig (< 50 kg KG) oder alkoholabhängig sind oder die Glutathionsynthese anderweitig gestört ist. Die Autoren empfehlen, bei diesen Patienten eine Dosis von 2g/d Paracetamol nicht zu überschreiten. Quelle: Brit. Med. J. 2010; 341: 1269 Metformin: Laktazidose Metformin (viele Generika) ist aufgrund von Endpunktstudien eindeutig Mittel der ersten Wahl beim Diabetes Typ 2. Parallel zu steigenden Verordnungszahlen nahm auch die Anzahl berichteter Laktazidosefälle zu (circa 16 pro Jahr). Dies wird von unserer Überwachungsbehörde als Zeichen zu wenig beachteter Kontraindikationen und Warnhinweise gedeutet. Nachdem circa ein Drittel der Fälle letal verliefen, nachfolgend eine Auflistung der Kontraindikationen: diabetische Ketoazidose, diabetisches Präkoma Störungen der Nierenfunktion und entsprechende akute Krankheitszustände wie Dehydratation, schwere Infektionen, Schock, jodhaltige Kontrastmittel, kardiale oder respiratorische Insuffizienz, frischer Myokardinfarkt, Leberinsuffizenz, akute Alkoholintoxikation. Metformin ist zwar im Allgemeinen gut verträglich, hat jedoch wie alle wirksamen Arzneistoffe UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkungen), die beachtet werden müssen. Wie bei allen zum ersten Mal verordneten Arzneimitteln ist ein Blick in die Fachinformationen zu empfehlen, ein Exemplar dieser Informationen sollte zum eventuellen späteren Überprüfen vorrätig gehalten werden. Quelle: Bull. AM-Sicherheit 2011, Nr. 2, 6 – 9 Bitte auch an die Warnung in der Fachinformation denken: Metformin sollte 48 Stunden vor elektiven chirurgischen Eingriffen unter Voll­narkose abgesetzt werden. Die Fortsetzung der Therapie sollte nicht früher als 48 Stunden nach dem Eingriff erfolgen. Seite 26 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Tod nach fehlender Masernimpfung Eltern würden ihren Kindern kaum empfehlen, ohne Rücksicht auf die Gefahr durch den Straßenverkehr in der Straßenmitte zu gehen, um möglicherweise herunterfallenden Dachziegeln aus dem Weg zu gehen. Impfgegner haben jedoch genau diese falsche Risikoeinschätzung: schwere UAW durch die Masernimpfung sind nicht bekannt, erst kürzlich erlag jedoch in NRW eine ungeimpfte 13-Jährige einer unheilbaren subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE), 11 Jahre nach der Infektion. Damals wurden noch 6 weitere Kinder angesteckt, bei zweien wurde ebenfalls SSPE diagnostiziert – der jahrzehntelange Verlauf dieser Erkrankung lässt auf kein gutes Ende schließen. Nach einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hält jeder dritte Elternteil Masern für nicht gefährlich, 90% hoffen jedoch auf fundierte und sachliche Informationen vom Arzt. In einer neuen Publikation wird zusammengefasst, wie 2010 in Essen und Berlin sowie 2011 in Freiburg und Offenburg Masernausbrüche in anthroposophisch geführten Waldorf-Schulen auftraten. Der Autor weist mit Recht darauf hin, dass es keinen Beleg dafür gibt, dass Kinder durch eine Maserninfektion „physische und mentale Stärke gewinnen“. Wäre es nicht an der Zeit, gegen diese Impfgegner mit ihrer „missionarischen Blindheit gegen Fakten“ zumindest berufsrechtlich vorzugehen? Quellen: Ärztezeitung 2011, Nr. 189 S.1; Nr. 192 S.1; Dt.Med.Wschr. 2011; 136: 2271-2 Dabigatran: tödliche Blutungen Mehrere letale Blutungen unter der Einnahme des Thrombinhemmers Dabigatran (Pradaxa®) – hauptsächlich bei älteren Patienten mit schwerer Einschränkung der Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance unter 30 ml/min, das ist grundsätzlich eine Kontraindikation!) – führten zu der Erkenntnis, dass vor der Einnahme dieses neuen direkten Thrombinhemmers unbedingt die Nierenfunktion überprüft werden muss, ebenso wie eine regelmäßige Kontrolle der Kreatinin-Clearance (Serumkreatininwert reicht nicht aus). Dies ist insbesondere bei älteren Patienten sowie bei Verdacht auf eine akute Abnahme der Nierenfunktion (u.a. bei Hypovolämie, Dehydratation) notwendig. Nach einer klinischen Studie soll jedoch die Rate schwerer Blutungen unter Dabigatran im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten signifikant niedriger sein. Wie bei jedem neu eingeführten Arzneistoff muss die Zeit zeigen, ob durch Dabigatran ein neues Kapitel bei der Gerinnungshemmung in der Praxis aufgeschlagen wurde. Quellen: AkdÄ Drug Safety Mail 2011-178, Ärztezeitung 2011; Nr. 198 S. 3 Bitte beachten Sie zum Thema Dabigatran auch unseren Beitrag auf Seite 16 Pelargoniumextrakt (Umckaloabo®): Lebertoxizität Die AkdÄ informierte über das Auftreten einer medikamentös-toxischen Hepatitis unter der Einnahme von Umckaloabo®, einem Pflanzenextrakt zur Behandlung von akuter Bronchitis und Erkältung. Zusätzlich wies sie noch auf mehrere Verdachtsberichte über Transaminasenerhöhungen und weitere Hepatitiden hin. Die klinische Relevanz der geltend gemachten Symptomverbesserungen sei unklar. Jedes Auftreten einer schweren unerwünschten Wirkung muss deshalb kritisch gesehen werden. Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Der Hersteller erklärte, dass es keinen gesicherten oder wahrscheinlichen Fall erhöhter Leberwerte gäbe. Vorsorglich will er jetzt jedoch in der Gebrauchs- und Fachinformation auf entzündungsbedingte Leberveränderungen im Einzelfall hinweisen. In der Vergangenheit wurden bei der Einnahme verschiedener Pflanzenextrakte lebertoxische Reaktionen beobachtet. Eine Auswahl: 2006 Cimicifuga, 2002 Kava Kava, 1999 Schöllkraut, 1998 pyrrolizidinhaltige Pflanzen wie Huflattich, 1996 chinesische Heilkräuter. Teils waren überhöhte Dosierungen verantwortlich, in der Mehrzahl der Fälle könnten jedoch idiosynkratische Reaktionen aufgrund genetisch unterschiedlicher Enzymmuster in der Leber ursächlich für die Lebertoxizität gewesen sein. Pflanzenextrakte werden nur auf ihre Hauptinhaltsstoffe standardisiert. In Anbetracht unzähliger weiterer Inhaltsstoffe, je nach Charge auch in unterschiedlichen Konzentrationen, ist es nicht verwunderlich, dass Patienten in Einzelfällen empfindlich reagieren können. Quellen: Dt. Ärztebl. 2011; A 1651-52; Dt. Apo Ztg. 2011; 151: 3589-91 Bisphosphonate: Update unerwünschter Wirkungen (UAW) Ohne Zweifel gehören Bisphosphonate z.B. in der Therapie der manifesten Osteoporose zum Standard. UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkungen) gehören jedoch grundsätzlich zu einer Therapie mit wirksamen Arzneistoffen. Nachfolgend einige aktuelle Anmerkungen zu UAW dieser Stoffklasse. Ösophaguskarzinom: nach oraler Einnahme über mehr als 5 Jahre (oder nach mindestens 10 Verordnungen) verdoppelte sich das Risiko in einer Studie, in einer anderen mit der gleichen Datenbasis konnte nach 4,5 Jahren nur ein minimal erhöhtes Risiko von 1,07 gefunden werden. Die amerikanische Überwachungsbehörde FDA hat eine Induktion von Ösophaguskarzinomen durch Bisphosphonate derzeit nicht bestätigt. Ösophagitis: Eine chronische Ösophagitis unter 2-jähriger Risedronsäuretherapie exazerbierte nach der 3-tägigen Gabe von Clindamycin. Eine medikamenteninduzierte Ösophagitis sollte als Differentialdiagnose zu einer Refluxösophagitis beachtet werden Atypische Frakturen: bei Bisphosphonaten zur Osteoporosetherapie können z.B. bei älteren Patienten nach Bagatelltraumen Arzneigruppen-spezifische subtrochantäre oder diaphysäre Femurfrakturen auftreten. Die Notwendigkeit einer Weiterbehandlung sollte individuell beurteilt werden, wenn entsprechende Symptome auftreten. Knochen-, Gelenk- und Muskelschmerzen: Insbesondere in der Osteoporosetherapie können bei 2 bis 5% der Patienten heftige Knochen- Gelenk- oder Muskelschmerzen auftreten, erstmals auch noch lange Zeit nach Einnahmebeginn. Osteonekrosen des Kiefers: Insbesondere bei immunsupprimierten Patienten können vor allem bei iv.-Gabe eines Bisphosphonates Kiefernekrosen auftreten. In der Osteoporosetherapie mit sehr viel niedriger Dosierung als in der Therapie von Knochenmetastasen beträgt das Risiko circa 1:13.500, bei kieferchirurgischen Eingriffen sollte sicherheitshalber jedoch für drei Monate die Therapie unterbrochen werden. Eine generelle Therapiepause nach mehrjähriger Einnahme wird derzeit diskutiert. Quellen: Dtsch Med.Wschr 2010; 135: 2224-5; Dtsch.Med.Wschr. 2009; 134:1517-9; Pharm.Ztg. 2011; 156:87-8; Prescr. Internat. 2009; 18: 23; Dtsch Med. Wschr. 2011; 136: 2109-10 Seite 27 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Seite 28 Nr. 1 / 2012 ACE-Hemmer: Wechselwirkung mit Selbstmedikation Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Wenn einem Hochdruckpatient ein ACE-Hemmer oder Sartan verschrieben werden, eventuell auch in Kombination mit einem Diuretikum, so sollte der verordnende Arzt auf jeden Fall darauf hinweisen, dass die zusätzliche Einnahme vieler freiverkäuflicher nichtsteroidaler Antiphlogistika (ASS, Diclofenac, Ibuprofen) z.B. bei Alltagsbeschwerden oder grippalen Infekten die Nierenfunktion erheblich schädigen kann (bis hin zum akuten Nierenversagen). Besonders betroffen sind Patienten über 65 Jahre, Diabetiker, Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion. Quelle: Pharm. Ztg. 2011; 156; 3842 Misteltherapie: Klarstellung Das Bundessozialgericht hat klargestellt, dass die Erstattung einer palliativen Misteltherapie mit homöopathischen oder anthroposophischen Arzneimitteln zu Lasten der GKV möglich ist, nicht jedoch für eine kurative Therapie. Nach einer Zusammenfassung ist in der Tat die Wirksamkeit einer kurativen Misteltherapie nicht eindeutig belegt. Palliativ jedoch scheint die Studienlage besser: in 14 von 16 Studien wurde ein Nutzen in Bezug auf Lebensqualität, psychologische Parameter, Symptome oder UAW einer Chemotherapie festgestellt – wenn auch nur zwei Studien von hoher methodischer Qualität waren. Auf Mistellektin standardisierte Präparate sollten vorgezogen werden – sie liefern am ehesten reproduzierbare Ergebnisse und lassen möglicherweise auftretende UAW besser erkennen. Insgesamt ist die Datenlage so uneinheitlich, dass auf dem schwierigen Gebiet der Tumortherapie Einzelfallentscheidungen (z.B. auch auf Wunsch des Patienten) gefällt werden sollten. Die Hoffnung auf klinische Studien hoher Qualität scheint sowohl bei homöopathischen als auch anthroposophischen Arzneimitteln eher unerfüllt zu bleiben. Nur eines wurde klargestellt: die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA können vom Bundesgesundheitsministerium in Zukunft nicht einfach beanstandet werden, der G-BA unterliegt nur der Rechtsaufsicht des Ministeriums. Quellen: Dt.med. Wschr. 2011:136: S13-15; Dtsch. Apo. Ztg. 2011; 151: 2384 Personalisierte Medizin Über personalisierte Medizin wird viel geredet und geschrieben. Natürlich muss ein Patient als Individuum betrachtet und behandelt werden, man hat aber gelegentlich den Eindruck, als würde das Schlagwort der „personalisierten Medizin“ vom Pharmamarketing benutzt, um die evidenzbasierten Erkenntnisse zugunsten einer großzügigeren Verordnung aufzuweichen. Ein Symposium der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zu diesem Thema während des nächsten Internistenkongresses wird nun ohne interessengeleitetes Sponsoring Gelegenheit bieten, mit efahrenen Experten über das Thema zu diskutieren. Termin: Samstag, 14.04.2012, 14.00–15.30 Uhr Ort: Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185 Wiesbaden (gegenüber Rhein-Main-Hallen) Infos: Karoline Luzar, Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft E-Mail: [email protected], Telefon: 030-400456-500, Fax: 030-400456-555 oder unter www.akdae.de KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Riskante Wechselwirkung Hyperkaliämie Nur bei Cotrimoxazol oder auch bei Trimethoprim alleine? Zum Beitrag „Spironolacton und Cotrimoxazol nicht gleichzeitig geben“ in Heft 4/2011 Man sollte ja schon länger nicht mehr Cotrim verordnen, sondern nur Trim, wegen der häufigen Allergien des Sulfonamidanteils. Auf Grund unserer ländlichen Resistenzsituation ist Trim immer noch erste Wahl für mich bei Harnwegsinfekten. Beruht die Nebenwirkung Hyperkaliämie eventuell auch auf dem Sulfonamidanteil? Dr. med. Wolfgang Stenner, Facharzt für Allgemeinmedizin Anmerkung der Redaktion: Die Studie bezog sich auf Cotrimoxazol, das auch heute noch oft genug verschrieben wird, so dass die Aussage zur Wechselwirkung streng genommen nur hierfür gilt. Aus theoretischen Erwägungen dürfte aber der Trimethoprim-Anteil wesentlich an der Verstärkung der Hyperkaliämie beteiligt sein. Denn Trimethoprim ähnelt strukturell und pharmakologisch dem kaliumsparenden Amilorid, so dass es wahrscheinlich ganz wesentlich zur Kaliumretention beiträgt; darauf weisen auch die Autoren der Studie hin. Für den Sulfonamid­anteil ist derartiges nicht bekannt. Auch wenn die Wechselwirkung zwischen Spironolacton und Trimethoprim alleine nicht geprüft wurde, ist es daher sicher sehr sinnvoll, auch bei der alleinigen Gabe von Trimethoprim die Wechselwirkung in Betracht zu ziehen und an eine Verstärkung der Kaliumretention zu denken. BW Otitis media Wie gehen Sie in der Praxis damit um? Akute Otitis media: Antibiotika – ja oder nein? Diese Frage hatten wir in Heft 4/2011 gestellt und sie letztlich offen lassen müssen: Zwei neue Studien hatten ergeben, dass Antibiotika möglicherweise doch nützlich sein könnten, doch bevor man die antibiotische Zurückhaltung bei diesem Krankheitsbild aufgibt, sollten erst weitere Untersuchungen zu diesem Thema abgewartet werden. Nichtsdestotrotz hat sich der Niedergelassene nicht nur mit Studienergebnissen, sondern mit den Verhältnissen in der Praxis und dabei unter anderem auch mit den Vorstellungen seiner Patienten bzw. deren Eltern und Angehörigen auseinanderzusetzen. Zwei Leser haben uns mitgeteilt, wie sie mit der Otitis media umgehen. Mut und Vertrauen sparen so manches Antibiotika-Rezept Die Frage einer antibiotischen Therapie der Otitis media im Kindesalter wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Ich arbeitete als General practitioner in Schottland für ein Jahr und vorher 17 Jahre in Deutschland in eigener Praxis und habe reichlich Kinder mit Ohrenschmerzen betreut. Gedanken hierzu: 1 Oft sind die Trommelfelle überhaupt nicht beurteilbar – ein vor Schmerzen oder Angst schreiendes Kind hat auch „rote“ Trommelfelle, die allein für die Seite 29 Briefe an die Redaktion KVH • aktuell Seite 30 Briefe an die Redaktion 2 3 4 5 6 Nr. 1 / 2012 Diagnose der Otitis media nicht ausreichen. Es entscheidet das „Bauchgefühl“ des Arztes. Die Blickdiagnose „ist ein Kind wirklich krank“ = beeinträchtigt, ist eine Herausforderung für jeden Arzt. Als Hausarzt kennt man das Kind gut, die Eltern kennen es besser und man sollte hier zusammen mit den Eltern entscheiden und therapieren (ohne sie geht es sowieso nicht). Manche Eltern oder Pflegebeauftragte sind kognitiv nicht in der Lage, mit uns zusammenzuarbeiten; sie würden bei Verschlechterung des Zustandes nicht unbedingt sofort wieder die Sprechstunde aufsuchen, sodass „careful watching“ unmöglich und somit gefährlich sein kann. Bei vorgewölbten, gerötetem Trommelfell und schwer beeinträchtigtem Kind würde ich auf jeden Fall ein Antibiotikum geben (Amoxicillin, bei „Penicillin­ allergie“ ein Makrolid). Ich halte nach wie vor abschwellende Nasentropfen für essentiell in der Behandlung der Otitis media. Es ist nur beschränkt möglich, eine „verzögerte“ Rezeptierung ( = man gibt den Eltern ein Antibiotika-Rezept mit; es soll bei Verschlechterung eingelöst werden) vorzunehmen: Zuverlässigkeit und Urteilsvermögen der Eltern müssten sichergestellt sein. Ein guter Weg: ich arbeitete eine Zeitlang in einer anthroposophischen Praxis: dort setzten wir sehr sehr selten Antibiotika ein, und die Eltern brachten die Kinder oft vormittags und nachmittags und täglich. Dies ist sicher in unserer heutigen hektischen Zeit, in der beide Ehepartner berufstätig sind, nicht immer realisierbar, sollte aber dort versucht werden, wo es sowohl sozial wie auch kognitiv machbar ist. Generell gilt aber: schwer beeinträchtigte, „sick children“, noch dazu mit allen Zeichen einer floriden Otitis media (Rötung, Immobilität, Vorwölbung Trommelfell) sollten auf jeden Fall abschwellende Nasentropfen, eine gescheite Schmerzmedikation (Ibuprofen = abschwellend und entzündungshemmend) und ein Antibiotikum, am besten Amoxicillin, erhalten. Sätze, wie „Antibiotika sind keine Fiebersenker“ und „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ nutzen nichts in einer Zeit, in der wir uns ständig in irgendeiner Haftung befinden, und Antibiotika für manche von uns Allheilmittel gegen die immer mögliche Verschlechterung einer Zustandsbildes zu sein scheinen. Mut und Verantwortung, gepaart mit Vertrauen in uns selbst und in unsere Patienten (einschließlich Eltern) ersparen so manches Antibiotika-Rezept. Wenn dazu noch eine gute Beratung kommt, wird daraus eine richtige gute Behandlung, auch ohne Studien aus Amerika oder UK! Was nutzen mir im Einzelfall alle Studienergebnisse? Dr. med. Heike Braun, Fachärztin f. Allgemeinmedizin Luftballon sorgt für Druckausgleich und lindert Schmerzen Bei Otitis media lasse ich mich vom allgemeinen Krankheitsbild des Kindes und dem Trommelfellbefund leiten. Solange keine deutliche Rötung des Trommelfells und Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens vorliegt, gebe ich kein Antibiotikum. Zur Schmerzlinderung durch Druckausgleich empfehle ich einen Luftballon auf ein Röhrchen zu stecken, dann können auch kleinere Kinder mal versuchen den Ballon aufzupusen, natürlich neben Nasentropfen (im Liegen zu applizieren) und Ibu-Saft. Dr. med. Wolfgang Stenner, Facharzt für Allgemeinmedizin Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Seite 31 Hausärztliche Leitlinie Kardiovaskuläre Prävention Version 1.00 vom 02.08.2011 Hausärztliche Revision bis spätestens August 2014 Leitlinie Kardiovaskuläre Prävention Anmerkung: Die Leitlinie umfasst insgesamt 107 Seiten. Wir veröfVersion 1.00 vom 02.08.2011 fentlichen angesichts des Umfangs nur die wichtigsten Aspekte. In diesem Heft finden Sie den zweiten Teil der Leitlinie. Revision bis spätestens Die gesamte Leitlinie einschließlich der im Text erwähnAugust 2014 ten Anhänge und Literaturstellen (Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt sind, finden Sie im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de. Auf dieser Webseite bitte den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken. Dann können Sie die gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDF-Datei auf Ihren Computer herunterladen. Eine weitere Bezugsquelle finden Sie unter www.leitlinien.de. Dort oben auf „Leitlinie finden“ klicken, dann links Anbieter auswählen, anschließend führt unter L die „Leitliniengruppe Hessen“ zu den hausärztlichen Leitlinien. Darüber hinaus gibt es die Hausärztlichen Leitlinien inzwischen auch als Buch aus dem Deutschen Ärzteverlag: „Hausärztliche Leitlinien“, 851 Seiten mit 115 Abbildungen und 210 Tabellen, mit CD-ROM. ISBN 978-3-7691-0604-6 F. W. Bergert M. Braun H. Clarius K. Ehrenthal J. Feßler J. Gross J. Hintze U. Hüttner B. Kluthe A. Liesenfeld E. Luther J. Seffrin W. Bergert G. F. Vetter M. Braun U. Popert (DEGAM) H. Clarius S. Ludt (DEGAM) K. Ehrenthal I. Schubert (PMV) J. Feßler J. Gross J. Hintze U. Hüttner B. Kluthe A. Liesenfeld E. Luther J. Seffrin G. Vetter U. Popert (DEGAM) S. Ludt (DEGAM) I. Schubert (PMV) Seite 32 KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Allgemeine Präventionsmaßnahmen Lifestyle und Auswirkungen Unter den vorliegenden Studien sind besonders fünf beeinflussbare Faktoren des Lebensstils von Bedeutung, die das gesundheitliche Risiko bestimmen: 1. Raucherstatus 2. Ernährung 3. Bewegung 4. Alkoholkonsum 5. (Psychosozialer) Stress Die vorliegenden Studien (INTERHEART [226, 287, 288] , EPIC-Norfolk [150] HALS [156], HALEProjekt [155]) untersuchten die einzelnen Risikofaktoren sowie die Frage, wie sich das Risiko bei der Kombination dieser Einzelfaktoren entwickelt. Als Endpunkte wurden das Herzinfarktrisiko (INTERHEART [226]), die Gesamtmortalität sowie die ursachenspezifische Mortalität für verschiedene Altersgruppen betrachtet. Einer der wichtigsten Faktoren für die Prognose ist das Rauchen. Im Vergleich der einzelnen Risikofaktoren wirkte sich das Rauchen am stärksten auf die Mortalität aus [150, 287]. Bereits bei der geringen Menge von 1 bis 5 Zigaretten pro Tag erhöht sich das Risiko um 38% im Vergleich zu Nichtrauchern [287]. Das erhöhte Risiko gilt auch für Pfeifenraucher oder andere Formen des Tabakkonsums (Kautabak, Wasserpfeife). »Schlechte Ernährung« (definiert als weniger als drei Portionen Obst und/oder Gemüse pro Tag) zeigte ein um 31% erhöhtes Mortalitätsrisiko (HR von 1,31 nach Tab. 2) [156]. Regelmäßiger Konsum von Obst und Gemüse kann das relative Risiko für einen Myokardinfarkt um 30% senken (INTERHEART [287]. Bewegungsmangel: In allen Studien konnte für körperlich inaktive Personen ein erhöhtes Mortalitätsrisiko nachgewiesen werden (HR: 1,56 nach Tab. 2 [156]). Als »inaktiv« wurden Personen bezeichnet, die pro Woche <2 Std. sportlich aktiv waren (z. B. Joggen, Schwimmen, Tanzen) bzw. <30 Min. täglich (EPIC [150], HALE-Projekt [155]). Alkohol hat in geringen Mengen einen protektiven Effekt auf das Herz-Kreislauf-System. In der Epic-Norfolk Studie, einer prospektiven Kohortenstudie an 20.000 Männern und Frauen im Alter zwischen 45 bis 79 Jahren, wurde dies für Mengen bis zu 14 Units pro Woche (1 Unit = 8g reiner Alkohol oder 100 ml 10%iger Wein) gezeigt. Erhöhter Alkoholkonsum (>14 Units/ Woche für Frauen, >21 Units/Woche für Männer) erhöhte jedoch das Mortalitätsrisiko um 26% (HR 1,26 aus Tabelle 2) [156]. Der Einfluss von psychosozialen Faktoren wie z. B. Stress, Depression, Mangel an Selbstbestimmung/Selbstwirksamkeit oder besondere Lebensumstände wird häufig unterschätzt. In der INTERHEART-Studie [226] konnte gezeigt werden, dass das Risiko, durch Stress einen Myokardinfarkt zu erleiden, durchaus vergleichbar ist mit dem Risiko, das durch Hypertonie oder Übergewicht entsteht. Ein positives Selbstbild bei älteren Menschen erhöht die Lebenserwartung. Der Effekt ist größer als der Einfluss einer Blutdruck- oder Cholesterinsenkung [170]. Kombinierte Effekte Übereinstimmend wurde in allen Studien gezeigt, dass alle der genannten potenziell beeinflussbaren Lifestylefaktoren mit einer erhöhten Mortalität verbunden sind. Der kombinierte Effekt mehrerer schlechter Lebensgewohnheiten ist mit einer signifikant höheren Gesamtmortalität assoziiert. In der HALS-Studie [156] waren von allen Personen, die vier Risikoverhaltensweisen aufwiesen (ohne psychosoziale Risikofaktoren), nach 20 Jahren 29% verstorben, von den Menschen mit gesunder Lebensweise 7%. Lifestyle und Todesursachen: Betrachtet man die unterschiedlichen Risikofaktoren bezüglich der Todesursachen, so erhöht Rauchen vor allem die Krebsmortalität und „andere“ Todesursachen (HR 1,72). Bewegungsmangel erhöht die kardiovaskuläre Mortalität (HR 1,64). Übermäßiger Alkoholkonsum ist mit einem erhöhten Risiko über alle Endpunkte assoziiert (HR 1,15-1,28 [156]. Neuere Ergebnisse zur Ernährung Studien zur Auswirkung der Ernährung werden seit 50 Jahren durchgeführt. Zahlreiche ältere Studien sind schwer zu interpretieren, da sie oft methodische Mängel haben. In einem neueren Review [189] konnte ein kausaler Zusammenhang zwischen protektiven Ernährungsfaktoren und KHK nur für folgende Nahrungsbestandteile festge- Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell stellt werden: Gemüse, Nüsse, einfach ungesättigte Fettsäuren und am stärksten für die mediterane Ernährungsweise (RR=0,67) mit einem höheren Anteil an Gemüse, Hülsenfrüchten, Früchten, Nüssen, Vollkornprodukten, Käse oder Joghurt, Fisch und einfach ungesättigten Fettsäuren (im Verhältnis zu gesättigten Fettsäuren). Die für die mediterrane Ernährungsweise beschriebenen Effekte konnten auch durch eine randomisiert kontrollierte Studie bestätigt werden. Die Zusammensetzung der Nahrungsfette spielt eine wichtigere Rolle als der Gesamtfettgehalt: Der Ersatz von gesättigten Fettsäuren durch einfachund mehrfach ungesättigte Fettsäuren ist effektiver bezüglich der Reduktion des kardiovaskulären Risikos als eine Fettreduktion per se [126]. Aus randomisierten kontrollierten Studien ließ sich eine gepoolte relative Risikoreduktion von 19% durch den Ersatz von gesättigten durch ungesättigte Fettsäuren ableiten. Fette und Fettsäuren Auf Grund der unklaren Evidenz hinsichtlich des Stellenwertes bestimmter Nahrungsmittel oder Ernährungsweisen für die kardiovaskuläre Risikoprävention sprechen die Autoren der Leitlinie hierzu keine Empfehlung aus (s. oben, siehe als Überblick arznei-telegramm 2010;41:19-23). Gemieden werden sollten Transfettsäuren, deren schädigende Wirkung belegt ist. Sie entstehen bei der Härtung von Pflanzenölen und kommen vor allem in Margarine, in gebackenen und frittierten Lebensmitteln und Fertigprodukten vor. Sie erhöhen Triglyceride [145] und LDL-Cholesterin und senken HDL-Cholesterin-Konzentrationen im Blut, wodurch sie die schädigende Wirkung gesättigter Fettsäuren auf das kardiovaskuläre Risiko noch übertreffen [17, 18, 255]. In großen epidemiologischen Kohortenstudien (Evidenzgrad IIa) konnte einvernehmlich ein höheres kardiovaskuläres Risiko bei steigender Zufuhr an Trans-Fettsäuren belegt werden [129, 214, 18, 195, 209]. Salzkonsum Bei den meisten Erwachsenen liegt der Salzkonsum mit über 8 g pro Tag über dem empfohlenen Maximalwert von 5 bis 6 g. Dabei ist das Nachsalzen von selbst zubereiteten Speisen das kleinere Problem. Der größte Anteil des Salzes wird über industriell gefertigte Lebensmittel wie Brot, Wurst, Schinken, Käse und Fastfood aufgenommen [36]. Auch viele Lebensmittel, bei denen der Verbraucher es nicht erwartet wie z. B. Scho- Seite 33 kolade, Konservengemüse oder Softdrinks [88], weisen einen relativ hohen Salzgehalt auf. Generell sollte der Salzkonsum niedrig gehalten werden [88]. Angaben über den Salzgehalt pro 100g eines Lebensmittels sagen jedoch nichts darüber aus, ob die Menge für den Menschen von Bedeutung ist. Entscheidend sind die Ernährungsgewohnheiten und die individuell verzehrte Menge der Lebensmittel. Im Allgemeinen haben Brot/Brötchen mit 22-27% den größten Anteil an der tägl. Natriumbzw. Salzzufuhr [43]. Folgen eines hohen Salzkonsums Eine erhöhte Kochsalzaufnahme (>6g pro Tag) ist mit einer Erhöhung des Blutdrucks, des kardiovaskulären Risikos und der Gesamtmortalität assoziiert. Unabhängig von der Blutdrucksteigerung ist auch eine erhöhte Schlaganfallmortalität zu beobachten [55, 62, 152, 229, 254, 276]. Kochsalzverbrauch pro Tag Durchschnittliche NaCl-Menge im durchschnittlichen Tagesverbrauch (mod. nach [152]) 1g unverarbeitete Grundlebensmittel (Gemüse, Getreide, Milch, Fleisch) 2 bis 3 g alle Brotsorten 3 bis 5 g Wurst, Schinken, Pökelware, Käse, Fischmarinaden 4 bis 5 g Industriell bearbeitete Lebensmittel (z. B. Tütensuppen, Fertiggerichte, Tiefkühlkost), Konserven, Fischgerichte, selbst zubereitete Speisen 1 bis 2 g Nachsalzen und Würzen mit salzhaltigen Gewürzen Kochsalzrestriktion Generell ist eine Reduzierung der Kochsalzaufnahme auf unter 6 g pro Tag anzustreben [88, 281]. Nachteilige Effekte sind, auch für Schwangere, daraus nicht zu erwarten. Sowohl für normotone Patienten und insbesondere bei Hypertonikern zeigte sich bei Reduktion der täglichen Kochsalzaufnahme ein positiver Effekt auf den Blutdruck. [33, 36] In mehreren Studien konnte auch eine Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität gezeigt werden [28, 152]. Eine wirksame Salzrestriktion ist nur durch die Reduktion des Kochsalzgehaltes industriell bearbeiteter Lebensmittel möglich. Kaliumreiche Ernährung: Kaliumreiche und ballaststoffhaltige Nahrungsmittel (Obst, Gemüse, Kartoffeln in der Schale gekocht) wirken sich günstig auf die Senkung der Blutdruckwerte aus Seite 34 KVH • aktuell [142]. Bei gleichzeitiger antihypertensiver Therapie und bei Patienten mit Niereninsuffizienz sind regelmäßig Kaliumkontrollen durchzuführen. Antioxidantien (z.B. Vitamin E) und Vitamine/-Nahrungsergänzungsmittel Ausreichende Belege für die Wirksamkeit der Präparate zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen liegen bisher nicht vor. Im Gegenteil können sogar Schäden auftreten. Beim derzeitigen Kenntnisstand muss von der Einnahme von Antioxidanzien zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen abgeraten werden. Ernährung: Fazit für die Praxis Aufgrund der dargestellten Evidenzlage können Empfehlungen mit Mengenangaben bestimmter Nahrungsmittel i. S. eines Diätplans für die Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen nicht gegeben werden. Es geht vielmehr um die Vermittlung eines Ernährungskonzeptes (z.B. der Stellenwert der ungesättigten Fettsäuren, Vermeidung ungünstiger Ernährungsweisen wie Fastfood-Konsum). Zu empfehlen ist, dass der Patient über zwei Tage alles protokolliert, was er isst und trinkt. Bei der Besprechung dieses Protokolls können dann Ansatzpunkte für Veränderungen gefunden werden. Übergewicht und Adipositas Einem systematischen Review zufolge [196] ist die Gesamtmortalität von Personen mit Übergewicht (BMI 25-29.9 kg/m2) im Vergleich zu normalgewichtigen Personen nicht erhöht. Die erkrankungsspezifische Mortalität zeigt keinen einheitlichen Trend. Adipositas (BMI ≥30kg/m2) ist jedoch für einige Erkrankungen – auch KHK – mit einem höheren Morbiditätsrisiko assoziiert [107, 196; 198]. In einem neuen umfassenden Review konnte außerdem gezeigt werden, dass sowohl der BMI, der Bauchumfang als auch die „waste-to-hip-ratio“ keine nennenswerte Modifikation der Risikokonstellation liefern, wenn weitere Risikofaktoren (wie im Framingham-Modell bekannt) berücksichtigt bzw. herausgerechnet werden [259]. Da sich Blutdruck-, Blutzucker- und Lipidwerte verbessern, wird übergewichtigen Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko eine Gewichtsabnahme empfohlen [233] {B}. Trotz vielfältiger Auswirkungen der Gewichtsreduktion auf kardiovaskuläre Risikofaktoren, konnte bisher noch nicht klar belegt werden, dass Nr. 1 / 2012 eine Gewichtsabnahme bei übergewichtigen oder adipösen Patienten zu einer Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität führt [216, 151, 202]. Es konnte immerhin gezeigt werden, dass Gewichtsreduktion zur Blutdrucksenkung führt [10, 202, 197]. In einer schwedischen Studie konnte lediglich für eine Patientengruppe mit einem BMI >40 nach bariatrischer Chirurgie eine dauerhafte Gewichtsreduktion und eine Reduktion der Gesamtmortalität gezeigt werden [241]. Bei der Beratung ist immer darauf zu achten, den Patienten nicht zu belehren, sondern zunächst seine Bereitschaft und Fähigkeit zur Veränderung seines Lebensstils zu erkunden. Die Grundhaltung sollte sein, den Patienten dort abzuholen, wo er steht, und zu ermitteln, was er versteht. Erst dann sind weitere Schritte gemeinsam zu erwägen. Zur Verstärkung des Gesundheitsverhaltens sollten Folgetermine vereinbart werden. Es darf nie vergessen werden, den Patienten für seine Erfolge zu loben und negative Wertungen bei Misserfolgen zu unterlassen. Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten am Ende des Heftes finden Sie Beispiele aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß der jeweiligen Interventionsphase zum Thema Ernährungsumstellung ansprechen und unterstützen können (5 A-Strategie). Bewegung als Prophylaxe Die Bedeutung von Bewegungsmangel als Risikofaktor für die kardiovaskuläre Mortalität wurde schon dargestellt. Weiterhin gibt es gute Belege, dass durch körperliches Training die Mortalität und Morbidität, auch bei Älteren, gesenkt werden können [169, 171, 176, 201, 207, 212, 274]. Auch körperlich Behinderte haben Möglichkeiten zu Aktivitäten, die an ihre Behinderung angepasst sind (Aquatraining, Stepper, Handkurbelgeräte). Die Intensität des körperlichen Trainings sollte sich nach dem individuellen Therapieziel richten und Wünsche und Möglichkeiten des Patienten berücksichtigen. Bei Patienten, die mit Sport beginnen wollen, wird die Durchführung einer Vorsorgeuntersuchung sowie eines Ruhe-EKGs empfohlen [177, 247]. Bei den Trainingsempfehlungen ist zu unterscheiden, ob es sich um allgemeinen Gesundheitssport handelt oder ob bereits eine Erkrankung vorliegt Empfehlungen zum Erhalt der Gesundheit und zur Behandlung von Erkrankungen [112] Der Hausarzt ist meist nicht in der Lage, dem Patienten einen kompletten Trainingsplan zu Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell erstellen. Er sollte allerdings den Anstoß geben und auch Vorgaben machen. Für die weitere Betreuung des Patienten sollte sich der Hausarzt vor Ort mit anderen Anbietern von Bewegungsangeboten, z.B. Sportvereinen, Fitnessstudios vernetzen und entsprechende Informationen vorhalten. Allgemeiner Gesundheitssport zur Reduktion kardiovaskulärer Risiken (Adipositas, Hypertonie, Diabetes mellitus etc.) Optimal sind 30 Minuten tägliche moderate Bewegung, mindestens jedoch an 5 Tagen/ Woche [110, 204, 203]. Die Belastungsintensität sollte dabei nur langsam gesteigert werden. Eine Steuerung durch die Herzfrequenz ist im Allgemeinen nicht notwendig, es reicht meist der Hinweis, sich nur so zu belasten, dass man sich noch unterhalten kann: „Laufen ohne zu schnaufen“. Dies entspricht dem aeroben Schwellenbereich unterhalb der Laktatgrenze von 2 mmol/l. Ggf. Training nach Herzfrequenz: Trainingsfrequenz = 180 – Lebensalter (dies entspricht in etwa 75-80% der max. Herzfrequenz). Dies gilt nicht unter Betablockerbehandlung. Es können auch moderate und anstrengende Tätigkeiten miteinander kombiniert werden. Aktivitäten von mindestens 10 Minuten Dauer können aufsummiert werden, um auf die angegebene Zeitdauer zu kommen. Studien zufolge hat sich regelmäßiges Walking, auch als Nordic Walking mit Stöcken (dann 20% mehr Kalorienverbrauch) bewährt: In der Nurses Health Study hatten Frauen, die regelmäßig mindestens 3 Std./Woche Walking betrieben, ein um 35% reduziertes Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden [184, 108]. Motivationssteigernd wirkt sich häufig ein Laufen in einer Gruppe aus. Ggf. ist auch ein Schrittzähler unterstützend. Zusätzlich ist ein Krafttraining sinnvoll, v.a. bei älteren Menschen > 65 J., um dem Muskelschwund entgegenzuwirken und das Sturzrisiko so zu reduzieren. Empfehlungen für Erwachsene älter als 65 Jahre [201] Für ältere Erwachsene gelten nach entsprechenden Voruntersuchungen (s.o) prinzipiell dieselben Emp­ fehlungen, jedoch richtet sich die Intensität nach der bestehenden Fitness, so dass die subjektiv empfundene Intensität von der tatsächlich gemessenen Intensität abweichen kann. Ferner kommen mus- Seite 35 kelaufbauenden Aktivitäten, Übungen zur besseren Beweglichkeit, sowie Gleichgewichtstraining bei sturzgefährdeten Älteren eine größere Bedeutung zu. Körperliches Bewegungstraining zur Veränderung bereits vorhandener kardiovaskulärer Risikofaktoren (Adipositas, Diabetes mell., Hyperlipidämie, Hypertonie etc.) Tägliches Spazierengehen von 4 km zeigte bei Senioren nach 12 Jahren eine Halbierung der Mortalität [109]. Meist ermöglicht erst ein Krafttraining den Beginn eines Ausdauertrainings, das sonst wegen Muskelschwäche nicht aufgenommen wird. Außerdem erhöht ein Krafttraining die Insulinsensitivität über die Zunahme der Muskelmasse. Die Glukoseaufnahmekapazität wird hierdurch gesteigert. Durch die Zunahme der Muskelmasse und der Muskelarbeit kommt es zur Senkung des HbA1c-Wertes. Relevant ist die Veränderung der Körperkomposition, nicht die Gewichtsabnahme. Diese Veränderung wird durch den BMI nicht erfasst. Möglicherweise spielt auch die kardiorespiratorische Fitness eine Rolle. Es hat sich gezeigt, dass Personen mit guter Fitness ein signifikant niedrigeres Mortalitätsrisiko haben als Normalgewichtige mit schlechter Fitness. „Lieber fett und fit als schlank und schlapp“ [42]. Allen Patienten soll zumindest moderates körperliches Training empfohlen werden. [233, 287] {B} [282] {A} Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten am Ende des Heftes finden Sie Beispiele aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß der jeweiligen Interventionsphase zum Thema Bewegung ansprechen und unterstützen können (5 A-Strategie). Rauchen Wichtigste ärztliche Maßnahme: Patienten auf Rauchen ansprechen, auf die Vorteile des Rauchstopps und auf Verfahren zur Raucherentwöhnung hinweisen. Rauchstopp lohnt sich zu jedem Zeitpunkt, für alle Zielgruppen! [56, 71, 146, 225]. Diese Minimalintervention ist wirksam [13, 14, 102, 158] {A}. Rauchen stellt nicht nur einen Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität dar, sondern ist die wichtigste durch Verhaltensänderung vermeidbare Ursache von Krankheit und Tod: Seite 36 KVH • aktuell Rauchen verstärkt Asthma, ist eine zentrale Noxe für die Entwicklung einer COPD, führt zu erhöhter Infektanfälligkeit, Impotenz und Unfruchtbarkeit, verursacht verschiedene Krebserkrankungen sowie zahlreiche weitere Erkrankungen (z. B. Durchblutungsstörungen der Beine, Thrombosen, Gefahr von Frühgeburten, kindliche Entwicklungsstörungen bei schwangeren Raucherinnen, Sterilität, vorzeitige Hautalterung, mangelndes Einwachsen bzw. verkürzte Lebensdauer von Zahnimplantaten) [71]. Die positive Wirkung eines Rauchstopps auf den Rückgang kardiovaskulärer Erkrankungen, sowie von Asthma, Pneumonie und Bronchitis ist durch eine Studie aus Kanada, wo in einigen Regionen ein sehr umfassendes Rauchverbot in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz besteht, dargelegt worden [199]. Die Leitlinienautoren weisen darauf hin, dass die Empfehlung eines Rauchstopps nicht durch andere präventive Maßnahmen zur Senkung des kardiovaskulären Risikos (z. B. Bewegung, Statintherapie) ersetzt werden soll (siehe hierzu die entsprechenden Abschnitte). Außerdem sind hinreichende gesetzliche Maßnahmen zum Nichtraucherschutz notwendig. Argumentationshilfen Informieren Sie die Raucher über den Nutzen des Nichtrauchens. Dies kann emotionale wie kognitive Aspekte umfassen (Ästhetik, verbesserter Geruchsund Geschmackssinn, Gesundheit, Geld). Was haben Raucher für ihre Gesundheit zu erwarten, wenn sie mit dem Rauchen aufhören? 20 Minuten nach der letzten Zigarette gleichen sich die Herzschlagfrequenz und die Körpertemperatur derjenigen des Nichtrauchers an. Schon 8 Stunden nach der letzten Zigarette hat sich das Kohlenmonoxid in den Blutbahnen verflüchtigt und dem Sauerstoff Platz gemacht. Schon einen Tag nach dem Rauchstopp wird das Herzinfarktrisiko kleiner. Zwei Tage nach dem Rauchstopp verfeinert sich der Geruchs- und Geschmackssinn, drei Tage nach der letzten Zigarette verbessert sich die Atmung merklich. Die Lungenkapazität kann sich nach 3 Monaten um bis zu 30% erhöhen. Ein Jahr nach dem Rauchstop ist das Risiko von Erkrankungen der Herzkranzgefäße nur noch halb so groß. Zwei Jahre nach Rauchstopp ist das Herzinfarktrisiko auf fast normale Werte abgesunken. 10 Jahre nach dem Rauchstopp ist das Lungen- Nr. 1 / 2012 krebsrisiko fast gleich groß wie bei echten Nichtrauchern. 15 Jahre nach dem Rauchstopp ist das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen so, als hätte man nie geraucht. (Quelle: American Cancer Society; zit. nach [279]). Für die Raucherberatung ist eine gute Beratungsund Kommunikationsstrategie notwendig. Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten hinten in diesem Heft finden Sie Beispiele aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß der jeweiligen Interventionsphase zum Thema Rauchstopp ansprechen und unterstützen können (5 A Strategie). Rückfall-Vorbeugung und Beratung bei kürzlichem Rückfall Erkunden, welche persönlichen Umstände zum Rückfall führten bzw. Abstinenz erschweren wie Stress, Alkohol, fehlende Unterstützung, Depression, Gewichtszunahme Neuen Stichtag festlegen Professionelle Unterstützung anbieten (Kostenfrage klären) Neuen Termin als Follow-up vereinbaren (modifiziert nach [113]) Beratung bei problematischem Alkoholkonsum Bei Verdacht auf Alkoholgebrauch in einem schädlichen Ausmaß ist es sinnvoll, den Patienten zu seinem Alkoholkonsum – am besten strukturiert – zu befragen. Mit vier Fragen ist beispielsweise der CAGETest [86] einfach durchzuführen: Hatten Sie schon das Gefühl, dass Sie Ihren Alkoholkonsum reduzieren sollten? (Cut down drinking) Hat es Sie schon aufgeregt, wenn andere Leute Ihr Trinkverhalten kritisieren? (Annoyance) Hatten Sie wegen Ihres Alkoholkonsums Gewissensbisse? (Guilty) Haben Sie morgens nach dem Erwachen schon als erstes Alkohol getrunken, um Ihre Nerven zu beruhigen oder den Kater loszuwerden? (Eye opener) Interpretation: Wahrscheinlichkeit für Alkoholmissbrauch ist 62% bei einer positiven Antwort, 89% bei 2 positive Antworten, 99% bei 3 und 4 positiven Antworten. Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell Wichtig Problem offen ansprechen, der Betroffene muss sich zu seinem schädlichen Alkoholgebrauch bekennen. Nach einer stationären Entgiftung konsequent ambulant weiterbehandeln mit psychosozialer Betreuung (z. B. regelmäßige ärztliche Weiterbetreuung, regelmäßiger Kontakt zu psychosozialen Diensten, zu Abstinenzler-Gruppen). Das meist durch den Alkoholgebrauch beschädigte soziale Netz (Arbeitsplatzprobleme, Fami-lien-, Partnerprobleme) mit Hilfe eines sucht-therapeutischen und verhaltenstherapeutischen Ansatzes tragfähig machen. Bei Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit ist der Hausarzt als alleiniger Ansprechpartner oft überfordert. Er sollte nach Offenlegung einer Alkoholabhängigkeit sehr konsequent ein abstinenzorientiertes Verhalten des Patienten anstreben. Cave: Der Arzt darf sich nicht zum Komplizen des Suchtkranken machen lassen! Leichtere Formen schädlichen Alkoholkonsums können durchaus im ärztlichen Gespräch anlässlich geklagter Beschwerden mit Erfolg bearbeitet werden. Anm. der Redaktion: Auf den farbigen Umschlagseiten hinten in diesem Heft finden Sie Beispiele aus der Leitlinie, wie Sie einen Patienten gemäß der jeweiligen Interventionsphase zum Thema Alkoholverzicht ansprechen und unterstützen können (5 A Strategie). Reduktion von psychosozialem Stress Psychosoziale Faktoren gehören zu den beeinflussbaren Risikofaktoren einer KHK Psychosozialer Stress ... [4, 5] ist ein signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung einer KHK, kann akute kardiale Ereignisse auslösen, ist mit spezifischen pathophysiologischen Prozessen und riskantem Verhalten verknüpft, führt zu Barrieren in der Verhaltensumstellung, ist bei kardiologischen Patienten häufig, ist häufig durch kardiale Symptome maskiert. Es sollte geklärt werden, ob der Patient der unteren Sozialschicht angehört, ob Anzeichen für ein unzureichendes soziales Netzwerk bestehen, ob der Patient Hinweise auf psychosozialen Stress am Arbeitsplatz oder Familie zu erkennen gibt und ob Angst und depressive Verstimmung vorliegen (zit nach [157], s. auch [86]). Seite 37 Dem „Positionspapier zur Bedeutung von psychosozialen Faktoren in der Kardiologie“ [157] zufolge wird eine routinemäßige Behandlung psychosozialer Belastungsfaktoren mit dem Ziel einer kardiovaskulären Prävention dann als indiziert angesehen, wenn gleichzeitig mindestens ein weiterer somatischer oder verhaltensbezogener Risikofaktor vorliegt oder das Risikomerkmal Krankheitswert aufweist wie z.B. bei einer Depression. Geduldiges Zuhören, Akzeptanz von Beschwerden und Ängsten und Eingehen auf Beschwerdeschilderungen sowie verständliche Erläuterung von Befunden sind sehr oft ausreichende Gesprächstechniken, die den Patienten deutliche Entlastung bringen [157]), ggf. Empfehlung von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen wie Sport, Diätberatung, Entspannungsverfahren, Vereine. Orientierende Fragen auf Depressivität [6, 30, 105] Was sind Sie von Beruf? Was haben Sie für eine Position? Haben Sie Probleme an Ihrem Arbeitsplatz? Haben Sie Personen, auf deren Unterstützung Sie zählen können? Fühlen Sie sich den Anforderungen ihrer Arbeit gewachsen? Haben Sie ernsthafte Probleme mit Ihrem Partner oder in der Familie? Fühlen Sie sich häufig ärgerlich und angespannt? Einfache Fragen sind gut geeignet und sollten routinemäßig eingesetzt werden: Fühlen Sie sich häufiger niedergeschlagen und hoffnungslos? Haben Sie Interesse und Freude am Leben verloren? Für ein Erkennen der Depression hat sich der kurze Selbstbeurteilungsfragebogen (WHO 5 oder WHO 10) bewährt [23, 117]. Liegen Anzeichen für eine Depression vor, so ist immer die Suizidgefährdung des Patienten aktiv anzusprechen. Konsil und Mitbehandlung durch Spezialisten ist sinnvoll (http:// www.problemkreis-sad.de/downloads/ WHO5. pdf). Offensichtlich hat ein positives Selbst- und Fremdbild zum Altern einen positiven Effekt auf die Mortalität. Menschen mit positiver Einstellung zum Alterungsprozess leben deutlich länger als Menschen mit negativer Einstellung zum Altern, wie eine über 22 Jahre angelegte Studie eindrucksvoll zeigen konnte [170]. Seite 38 KVH • aktuell Nr. 1 / 2012 Medikamentöse Präventionsmaßnahmen Blutdrucksenkung Die Indikation zur Arzneimitteltherapie mit Antihypertensiva, Antidiabetika, Thrombozytenaggregationshemmern und Lipidsenkern richtet sich nach dem Gesamtrisiko des Patienten. Die Ausgestaltung der Therapie orientiert sich an Möglichkeiten, Präferenzen und Begleiterkrankungen der Patienten und bedient sich individuell abgestimmter Präventions- bzw. Therapieschemata. Mittels arriba© können dem Patienten der Zusammenhang zwischen hohem Blutdruck und kardiovaskulärem Risiko dargestellt und die Maßnahmen zur Beeinflussung des Risikos erläutert werden. Nichtmedikamentöse Maßnahmen sind auch bei medikamentöser Behandlung ein zentraler Baustein der Therapie. Welche Zielwerte? Je höher der Blutdruck desto größer sind einerseits das Gefäßrisiko und andererseits der erreichbare therapeutische Benefit. Ein Cochrane-Review von 2009 stellt fest, dass es keine Evidenz dafür gibt, einen Wert unterhalb des Zielwertes von 140/90 mm Hg anzustreben [12]. Der Zielwert gilt auch für Diabetiker [2,245] und für ältere Patienten [24]. Für über 80-jährige Patienten kann nach Ergebnissen der HYVET-Studie ein Zielwert von bis zu 150/90 mm Hg toleriert werden. [24] Neuere Studien zeigten eine erhöhte Sterblichkeit von KHK-Patienten bei einer RR-Senkung unter 120/85 mm Hg. [190]. Bei Gesunden gibt es ebenfalls einen vergleichbar optimalen Blutdruckbereich: Eine Langzeituntersuchung von 18-jährigen Wehrpflichtigen zeigte, dass ein Blutdruck von 120-140/90 mm Hg über einen Zeitraum von 24 Jahren mit der geringsten Sterblichkeit verbunden war. [256] Blutdruck: Welche Medikamente? Es sollten prioritär Antihypertensiva zum Einsatz kommen, deren Wirksamkeit zur Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse belegt ist: Diuretika (für Chlortalidon belegt), Betarezeptorenblocker, ACEHemmer, langwirksame Kalziumantagonisten, (Cave Herzinsuffizienz), Angiotensin-1-Blocker (bei ACE-Hemmer-Intoleranz). Es empfiehlt sich, Wirkstoffe auszuwählen, die jeweils möglichst nur einmal täglich gegeben werden müssen, um den Verordnungsplan übersichtlich zu halten und die Therapietreue/Adhärenz zu steigern. Grundsätzlich gilt, dass bei Dosissteigerung die Nebenwirkungen überproportional zur Wirkung steigen. Deshalb sollte nicht bis zur Höchstdosierung eines Wirkstoffes gesteigert werden, sondern eher ein weiteres Antihypertensivum verordnet werden. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied in der Risikoreduktion durch Blutdrucksenkung bei den einzelnen Antihypertensiva [160]. So ist die Auswahl der betreffenden Arzneistoffe der ersten Wahl vorrangig in Anbetracht von Begleiterkrankungen (z.B. Betablocker bei KHK) und Unverträglichkeiten zu treffen. Der Therapiebeginn kann auch mit einem Kombinationspräparat erfolgen. Bei nicht ausreichender Blutdrucksenkung sind alle Klassen von Antihypertensiva grundsätzlich miteinander kombinierbar mit der Einschränkung, dass Kalziumantagonisten vom Diltiazem- und vom Verapamiltyp nicht mit Betablockern kombiniert werden dürfen. Sollte ein Absetzen erforderlich werden, so sollte dies bei Betablockern, Clonidin und AlphaMethyldopa ausschleichend erfolgen. Es sollten nur langwirksame Kalziumantagonisten eingesetzt werden, die unretardierten Nifedipinpräparate sind obsolet. (siehe auch hausärztliche Leitlinie Hypertonie [164]). Diabetes mellitus: Welche HbA1c-Zielwerte? Neu entdeckter Diabetes bei Patienten unter 60 Jahren: Für Patienten, die diätetisch oder zusätzlich mit einer Metformin-Monotherapie behandelt werden, empfehlen die Leitlinienautoren einen Ziel-wert für HbA1c von <7.0%. Allerdings gibt es hierzu kaum gute Studien mit relevanten Endpunkten. (In der UKPDS 33 wurde der Ausgangs-HbA1c-Wert von 7,9% mit Insulin auf 7,1%, mit Glibenclamid auf 7,2% gesenkt [265]. In einer Substudie (UKPDS 34) bei Übergewichtigen wurde mit Metformin oder Insulin das HbA1c von 8,0 auf 7,4% gesenkt [266]. Trotz gleicher HbA1cSenkung konnte dabei zunächst nur durch Metformin die Gesamtsterblichkeit signifikant gesenkt werden. Ein vergleichsweise deutlich schwächerer Effekt durch Sulfonylharnstoffe bzw. Insulin lässt sich nur aus der Auswertung der UKPDS als Kohortenstudie nach weiteren 10 Jahren ableiten [123]). Bei einer Diabetesdauer über 10 Jahren oder einem Alter von > 60 Jahren, bei zusätzlichem Antidiabetika-Bedarf oder bei vorhandenen Folgeerkrankungen/Kom- Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell plikationen (KHK, AVK und Apoplex) ist – im Gegensatz zu Aussagen älterer Leitlinien – eine vorsichtige Diabetes-Einstellung wichtig. Als Zielwert ist 7,5% (Bereich 7,0 bis 8,0%) anzustreben, sofern keine Hypoglykämien unter der Therapie auftreten [2]. Bei Auftreten von Hypoglykämien ist der Zielwert nach oben anzupassen. In aktuellen großen Studien ACCORD [2], ADVANCE [3] und VADT [74] zeigte eine HbA1cSenkung unter 7% bei multimorbiden Diabetikern keine Vorteile, sondern sogar eine erhöhte Sterblichkeit. In der Auswertung von über 40.000 Patienten in englischen Praxen (GPRD) zeigte sich bei fortgeschrittenen Diabetikern die geringste Sterblichkeit bei HbA1c von 7,5%; die Sterblichkeit bei 6,5% entsprach etwa der bei 9,5% HbA1c [61]. Dass Unterzuckerungen die Erklärung für die erhöhte Gesamtsterblichkeit bei zu ehrgeiziger Diabetestherapie sind, ist nur eine von mehreren Theorien. Möglicherweise hat Metformin neben der Blutzuckersenkung auch pleiotrope Effekte – vergleichbar dem der Statine. Bei Patienten mit Mikroangiopathie (z.B. Retinopathie, Polyneuropathie, Nephropathie) zeigt die ADVANCE-Studie [3] für einen Zielbereich von HbA1c 7% eine geringfügige Verbesserung der Endpunkte. Diabetes: Welche Medikamente? Die Auswahl der Arzneistoffe sollte berücksichtigen, dass insbesondere für Metformin (in geringerem Ausmaß auch für Sulfonylharnstoffe und Insulin) Endpunktstudien vorliegen, die eine Mortalitätssenkung zeigen. Die Kombination von Metformin und Sulfonylharnstoffen zeigt eine geringe Übersterblichkeit (UKPDS 34) [266]. Für andere orale bzw. subkutan anzuwendende Antidiabetika liegen derzeit keine positiven Endpunktstudien vor. Für Insulin ist der Nutzen belegt [123]. Wichtig: Der Diabetiker kann sein kardiovaskuläres Risiko deutlicher durch Nikotinstopp, regelmäßige Bewegung, Statintherapie oder eine Blutdrucksenkung als durch eine Senkung des HbA1c reduzieren [122, 123]. (siehe auch hausärztliche Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 [165]). Lipidsenkung Zur Therapieentscheidung wird die Durchführung von arriba© empfohlen. I I Wir haben arriba® bereits in KVH aktuell Nr. 3/2008, Seite 16 vorgestellt. Details und natürlich auch die Kalkulations- und Beratungsbögen sowie eine Software-Lösung dazu erhalten Sie auch im Web unter www.arriba-hausarzt.de. Seite 39 Aktuelle Meta-Analysen und Reviews [221, 258] zeigen nur einen begrenzten Nutzen der Statintherapie in der Primärprävention, jedoch fehlen noch Daten zur Langzeitwirkung. Bei Patienten mit isolierter Cholesterinerhöhung muss anhand des kardiovaskulären Risikos individuell über eine Statintherapie entschieden werden {C} (in den Arzneimittel-Richtlinien vom 1.4.2009 wird eine GKV-Rezeptierung nur ab einem kardiovaskulären Risiko >20% in 10 Jahren gestattet). Fixdosis oder Titrieren? Es ist wichtig, keine „Laborkosmetik“ durchzuführen, sondern auf evidenzbasierte Maßnahmen zu achten, die zu besserer Gesundheit und längerer Überlebenszeit des Patienten führen. In früheren Studien wurden als Ergebnisvariablen häufig Surrogatparameter wie z. B. LDL-Cholesterinsenkung verwendet. Diese gehen jedoch nicht unbedingt mit einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse oder der Mortalität als primäre Endpunkte einher. Entscheidend ist, inwieweit Herzinfarkte, Schlaganfälle und dadurch bedingte Todesfälle reduziert werden. Der schützende Effekt von Statinen war in der Heart Protection Study [115] unabhängig von der Höhe der Blutwerte für Cholesterin bzw. LDL-Cholesterin, so dass in Abhängigkeit von Leber- bzw. Nierenfunktion des Patienten einer der beiden Wirkstoffe Simvastatin oder Pravastatin in einer Fixdosis von 20 bis 40mg („fire and forget“-Methode) gegeben werden soll [159]. Diese Empfehlung entspricht der Position der Allgemeinmedizin in der NVL KHK und dem DMP KHK. Die Leitlinienautoren empfehlen diese „Fixdosistherapie“, dadurch entfallen auch engmaschige Cholesterinwertbestimmungen. Eine Statin-Hochdosis-Therapie zeigte in einer großen Metaanalyse [51] keine Vorteile bezüglich der Gesamtsterblichkeit. Bei der Auswahl der Substanz sind Interaktionen zu beachten. Lipidsenkung: Welche Medikamente? Bei einer Therapie mit 20 mg und 40 mg Simvastatin sowie für 20 m g Pravastatin (IQWIG [133]) konnte eine Reduktion der Endpunkte in der Sekundär-prävention gezeigt werden. Simvastatin und Pravastatin unterscheiden sich in ihrer Pharmakokinetik und damit in ihrem Interaktionspotential. Simvastatin ist ein Substrat von Cytochrom P450 3A4, deshalb erhöhen alle Inhibitoren dieses Cytochroms das Risiko für eine Myopathie und Rhabdomyolyse (z. B. Itraconazol, Ketoconazol, Erythromycin, Clarithromycin, Telithromycin, HIV-Proteasehemmer). Diese Substanzen können jedoch gleichzeitig mit Pravastatin einge- Seite 40 KVH • aktuell nommen werden, da Pravastatin nur in geringem Umfang durch Cytochrom P450 verstoffwechselt wird. (Zu den weiteren Interaktionspartnern s. pharmakologische Literatur bzw. Fachinformation). Die Leitliniengruppe Hessen und die DEGAM empfehlen, während einer Therapie mit den oben genannten Arzneimitteln sicherheitshalber eine CSE-Hemmer-Behandlung zu unterbrechen. {C} Für Ionenaustauscher und Omega-Liponsäure liegen keine relevanten Endpunktstudien vor, die ihren Einsatz begründen. Studien und Metaanalysen zu Fibraten (Helsinki Heart; ACCORD-Lipid-Studie) zeigten ebenso wie solche zu Nikotinsäure allenfalls eine Verminderung der Insultrate, nicht aber eine Verminderung der kardiovaskulären oder Gesamtmortalität [40, 194]. (Unabhängig davon können Fibrate – insbesondere Gemfibrozil – bei stark erhöhten Hypertriglyceriden zur Vermeidung einer Pankreatitis eingesetzt werden. Für den Cholesterinresorptionshemmer Ezetimib konnte gegen Placebo bei einer Basistherapie von 80 mg Simvastatin lediglich eine Senkung des LDLCholesterins gezeigt werden. Endpunkte oder der (nicht aussagekräftige) Surrogatparameter IntimaMedia-Dicke der Halsschlagader wurden nicht verändert [144]. Es bestehen außerdem noch Sicherheitsbedenken (SEAS-Studie; s. ati 2008;38:8-9) Somit sehen die Leitliniengruppe Hessen und die DEGAM keine Indikation für einen Einsatz. Der GBA hat trotz der oben genannten Stellungnahme im November 2009 die GKV-Rezeptierung für Ezetimib u.a. auf folgende Indikationen beschränkt: Monotherapie bei primärer Hypercholesterin­ ämie und Unverträglichkeit von Statinen Kombinationstherapie bei hohem Risiko und unzureichender Wirksamkeit bei alleiniger Statinbehandlung. Omega-3-Fettsäuren konnten in einem Review keinen Vorteil in der Prävention und der Behandlung der KHK gegenüber Placebo zeigen [125]. Gerinnungshemmung: ASS und Clopidogrel In einer Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass mit dem Thrombozytenaggregationshemmer ASS 100mg/d eine relative Risikoreduktion von nicht-tödlichen Herzinfarkten und Schlaganfällen zwischen 12% (Primärprävention) und 19% (Se- Nr. 1 / 2012 kundärprävention) erwartet werden kann [11]. Für die Sekundärprävention wurde auch eine Verringerung der Sterblichkeit gezeigt [11]. Angesichts des erhöhten Blutungsrisikos muss der Einsatz von ASS insbesondere in der Primärprävention auch bei Hochrisikopatienten sorgfältig abgewogen werden. Die Leitliniengruppe empfiehlt ASS (100mg) bei Patienten mit einem kardiovaskulären Risiko von >20% in 10 Jahren. Inwieweit eine ASS Resistenz vorliegt, ist schwer zu bestimmen. Studien weisen auf einen Anteil von etwa 25% [116] (9% bis 40%) der mit ASS Behandelten hin; allerdings sind die Tests nicht ausreichend evaluiert bzw. standardisiert. Zudem findet sich bei der Hälfte der Betroffenen eine Doppelresistenz auch gegenüber Clopidogrel. Es gibt bisher keinen Studienbeweis, dass eine Clopidogrel-Behandlung bei ASS-Non-Respondern ein Rezidiv verhindern kann. Jedes Gefäß-Ereignis (Myokardinfarkt, Apoplex) unter ASS Therapie als ASS-Resistenz zu interpretieren, geht außerdem von der falschen Vorstellung aus, dass eine Therapie/Prävention eine 100% Wirkung haben könnte, also die NNT = 1 sei. Ein Wechsel von ASS auf Clopidogrel nach Apoplex kann deswegen nicht generell empfohlen werden. Für Clopidogrel konnte in der CAPRIE-Studie bei symptomatischen pAVK-Patienten ab Stadium IIb eine geringfügig bessere Wirkung gegenüber ASS bei der Prävention von Apoplexien gezeigt werden, so dass Clopidogrel in der Monotherapie zur Prävention von kardiovaskulären Endpunkten lediglich für Patienten mit pAVK ab Stadium IIb und für Patienten mit ASS-Unverträglichkeit zu empfehlen ist. Clopidogrel ist als primäre Monotherapie nur bei AVK zugelassen. (Eine Kombination mit PPI, hier wurde eine Verdoppelung der Herzinfarktrate beobachtet [253], wird kontrovers diskutiert. Von den amerikanischen Fachgesellschaften wird derzeit empfohlen, auch bei Therapie mit Clopidogrel PPI weiterzugeben, wenn sie indiziert sind. Nach Einschätzung des arznei-telegramms gilt dies auch für Omeprazol. Es sollte jedoch geprüft werden, ob PPI im Einzelfall durch H2-Blocker ersetzt werden können [16].) Die Kombination von ASS und Clopidogrel zeigt eine erhöhte Blutungsrate ohne signifikant bessere Prävention. Der duale Ansatz wird nach Stentimplantation (BM = bare Metall = unbeschichtet: 4 Wochen, DES = drug eluting = beschichteter Stent: 1 Jahr) empfohlen und ist somit – auch wenn formal off-label use – zulässig (s. Hausärztliche Leitlinie stabile Angina pectoris [166], DEGAM Leitlinie Schlaganfall [65]). Dipyridamol: Laut IQWiG-Abschlussbericht Nr. 1 / 2012 KVH • aktuell gibt es zwar einen Hinweis auf einen Nutzen der Kombinationsbehandlung Dipyridamol+ASS bezüglich der Verhinderung nicht-tödlicher Schlaganfälle und TIAs in der Langzeittherapie (mind. 12 Monate), jedoch keinen Zusatznutzen gegenüber einer Monotherapie mit ASS. Es gibt aber keinen Beleg für eine Reduktion der Mortalität. Es gibt andererseits Hinweise auf Schaden durch Blutungen, Studienabbrüche wegen unerwünschter Ereignisse und UEs insgesamt [136]. Deshalb empfiehlt die Leitliniengruppe Hessen und die DEGAM eine Monotherapie mit ASS nach Apoplex und TIA. Vitamine Da Beobachtungsstudien (z. B. [205]) eine Assoziation zwischen erhöhten Homocysteinwerten und einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen zeigten, wurde postuliert, dass eine Senkung mit Folsäure, Vitamin B6 und Vitamin B12 eine Risikoreduktion erzielt werden kann. Dies wurde durch die NORVIT-Studie und die WENBIT Studie widerlegt [37, 76]. Ein Übermaß an B-Vitaminen beschleunigt das Fortschreiten von Nierenerkrankungen bei Diabetikern. Zu diesem Schluss ist ein kanadisches Forscherteam gekommen und warnt Patienten mit diabetischer Nephropathie ausdrücklich vor einer Vitamin-B-Therapie [128] Die Leitliniengruppe spricht keine Empfehlung für die Vitamingabe (Vit B6, Vit B12, Folsäure) aus [282] {C} (s. hierzu auch den Abschnitt Ernährung). Arzneitherapie der Adipositas Hier stehen folgende Wirkstoffe zur Verfügung: Orlistat (apothekenpflichtig) führt zu einer Gewichtsreduktion durch die Resorptionshemmung von Fetten. Hierdurch erklärt sich auch das häufige Nebenwirkungsspektrum mit Blähungen, Durchfällen und übelriechenden Fettstühlen. Zwischen 5% und 15% der Patienten zeigten eine verminderte Absorption fettlöslicher Vitamine, deren klinische Bedeutung ungeklärt ist. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit dem Auftreten schwerer Leberschäden (FDA-Sicherheitshinweis vom 26.05.2010). Die Gewichtsreduktion geht nach Absetzen des Medikamentes verloren [15, 240]. Eine Senkung der kardiovaskulären Morbidität bzw. Mortalität ist für Anti-Adipositas-Medikamente nicht nachgewiesen. Eine Therapie hiermit wird von der Leitliniengruppe nicht empfohlen. Sibutramin: Die EMA beurteilte im Januar 2010 die Nutzen-Schaden-Bilanz als negativ und emp- Seite 41 fahl europaweit das Ruhen der Zulassung. Sibutraminanwender (übergewichtige Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, Typ-2-Diabetiker mit weiterem Risikofaktor) erlitten signifikant häufiger eine schwere kardiovaskuläre Komplikation im Vergleich zu Placeboanwendern [141]. Die Gewichtsabnahme wird als gering eingestuft. Der Hersteller hat das Arzneimittel aus Apotheken zurückgerufen; allerdings ist davon auszugehen, dass diese Medikamente noch über Internetbestellung verfügbar sind (s. ati 2010;41(2):24). Rimonabant: Wurde vom Hersteller ebenfalls aufgrund negativer Nutzenbewertung (erhöhtes Suizidrisiko) im Oktober 2008 vom Markt genommen. Chirurgische Therapie [67, 241, 187, 91, 32, 49,162] Einer chirurgischen Therapie müssen erfolglose konservative Therapieversuche und eine umfassende Aufklärung vorausgegangen sein. Adipositas-Chirurgie: Gemäß internationalen Empfehlungen und Leitlinien besteht die Indikation zur Durchführung einer bariatrischen Operation bei einem BMI 35 kg/m² mit gleichzeitigem Vorliegen einer Adipositas–assoziierten Komorbidität sowie bei einem BMI >40kg/m² auch ohne Komorbiditäten. Metabolische Chirurgie: Bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 2 kann bereits bei einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m² eine bariatrische Operation erwogen werden (schwache Evidenzstärke). [67] Auch bei höherem Lebensalter (>65 Jahre) kann bei gutem Allgemeinzustand eine bariatrische Operation durchgeführt werden. Ziel des Eingriffs ist oft die Verhinderung von Immobilität und Pflegebedürftigkeit [67]. Kinderwunsch stellt keine Kontraindikation zur bariatrischen Chirurgie dar [67]. Eine chirurgische Maßnahme kann als ultima ratio bei extrem adipösen Jugendlichen mit erheblicher Komorbidität erwogen werden (schwache Evidenzstärke) [67]. Ausführliche Details zu den operativen Verfahren und deren Nachsorge finden sich in der kompletten Leitlinie. Arzneitherapie der Raucherentwöhnung: Ein Ansatz besteht in der Gabe von Nikotinersatz als Pflaster, Kaugummi, Lutschbonbon, Sublingualtablette oder Nasenspray (reizt Nasenschleimhaut). Warnhinweis: Pflaster und Lutschbon- Seite 42 KVH • aktuell bons können für Kleinkinder tödlich sein. Weitere Medikamente (z. B. Bupropion, Vareniclin). Einem Cochrane-Review zufolge erhöht Vareniclin im Vergleich zu einem pharmakologisch nicht unterstützten Rauchstopp-Versuch die Chance ab Beginn der Intervention mindestens sechs Monate mit dem Rauchen aufzuhören, auf das 2,3-fache. Auch Buproprion und Nortriptylin erhöhten die Anzahl erfolgreicher Nikotinabstinenz ([47, 131], Ia). SSRI zeigten keine signifikanten Ergebnisse. Im Cochrane Review wird der Effekt mit der einer Nikotinersatztherapie als vergleichbar beschrieben [47]. Die Anwendungsdauer ist unbedingt zu begrenzen. Es gibt jedoch Berichte über neuropsychiatrische Symptome wie Schlafstörungen, Depressionen, Suizidgedanken sowie Krampfanfälle und Todesfälle (ati 2002;33:47-48). Eine aktuelle Metanalyse zu Vareniclin (2011) zeigte im Vergleich zu Placebo ein signifikant erhöhtes Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse [239]. Kontraindikationen: Vareniclin: Schwangerschaft, Stillzeit Bupropion: Schwangerschaft, Stillzeit, Alter unter 18 Jahren, Patienten mit Krampfanfällen, manisch-depressiven Erkrankungen, schweren Leberfunktionsstörungen, Bulimie/Anorexia nervosa, Alkoholentzug, bei gleichzeitiger Therapie mit MAO-Hemmern CYP2B6 Induktoren (wie Metamizol, Rifampicin, Glitazon), Sibutramin, Dapoxetin (siehe zusätzlich Fachinformation) Wichtig sind eine therapeutische Betreuung und Nr. 1 / 2012 Nachsorge (hohe Rückfallquote) [79, 80]. Es gibt Hinweise, dass eine Kombination von Maßnahmen die Erfolgsquote weiter erhöhen kann [215]. Bei der Bewertung der medikamentösen Strategien ist zu bedenken, dass es deutlich mehr Studien zur pharmakologisch unterstützten Raucherentwöhnung gibt als zu anderen nicht medikamentös unterstützenden Verfahren und somit möglicherweise letztere in ihrem Nutzen unterschätzt werden. Wahrscheinlich schafft es die Mehrheit der Raucher bei ausreichender Motivation und entsprechender Betreuung auch ohne pharmakologische Hilfe mit dem Rauchen aufzuhören. [52]. Evidenzbasierte Leitlinien [13, 233, 282] empfehlen Nikotinersatztherapie als Arzneimittel erster Wahl für motivierte Raucher, denen ein Rauchstopp bislang ohne pharmakologische Unterstützung nicht gelungen ist ([233] {A} bzw. [282] {B}) Einige Leitlinien empfehlen auch Bupropion [233, 282]. Die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stufen es jedoch zusammen mit Vareniclin aufgrund der zahlreichen unerwünschten Wirkungen als Arzneimittel 2. Wahl ein [13]. Aus Sicht der Leitliniengruppe ist die psychologische Unterstützung durch wiederholtes Nachfragen zu den Rauchgewohnheiten wichtig (s. Hinweise zu den nichtmedikamentösen Maßnahmen). Außerdem empfehlen die Leitlinienautoren, die ersten Versuche eines Rauchstopps nicht mit Arzneimitteln zur Raucherentwöhnung durchzuführen. Zwei Seiten, die Ihnen die präventive Arbeit erleichtern Gerade bei der Prävention gilt es, den Patienten vom Nutzen der Maßnahmen zu überzeugen. Doch jeder Kollege weiß, wie schwierig es ist, die Menschen selbst bei gutem Willen zu einer Änderung beim Ess- oder Bewegungsverhalten zu bringen oder sie zum Verzicht auf Zigaretten oder Alkohol zu bewegen. Die beiden folgenden Seiten bieten einige Hilfen für die Gesprächsführung mit solchen Patienten an. Zeitschiene für die Beratung und Begleitung des Mai 2005 Nr.als 1 Hilfestellung zur Veränderung KVH • aktuell Patienten (Vordruck für Patientenakte) 5A-Strategie der Ernährungsgewohnheiten Seite 3 (© S. Ludt, mod. nach Lifescript Practice Manual. Australian Government, Department of Health and Ageing (Weitere Informationen hierzu im Heft auf Seite 32) Patient: ……………………………… Beratungsbeginn am: …………….. Ergebnis: arriba© Empfehlungen: 5 A-Strategie als Hilfestellung zur Veränderung des Bewegungsverhaltens (© S. Ludt, mod. nach Lifescript Practice Manual. Australian Government, Department of Health and Ageing) MET = metabolisches Äquivalent. 1 MET entspricht einen Kalorienverbrauch von je 1 kcal je Kilogramm Körpergewicht pro Stunde (Walking mit 5km/h = 4 MET, d.h. pro kg Körpergewicht verbraucht man 4 kcal/h = ein 100kg schwerer Mann verbraucht 400kcal/h) (Weitere Informationen hierzu im Heft auf Seite 34) 78 Hausärztliche Leitlinie »Kardiovaskuläre Risikoprävention« Version 1.00 I 01. Aug. 2011 XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689 Gründe dasdas gesundheitsschädigende Gründe gesundheitsschädigende Verhalten beizubehalten Verhalten beizubehalten 5A-Strategie als Hilfestellung zum 1. Welche Vorteile hat hat diedie Beibehaltung 1. Welche Vorteile Beibehaltungdes des Rauchstopp gesundheitsschädigenden Verhaltens für Sie? gesundheitsschädigenden Verhaltens für Sie? © S. Ludt, mod. nach Lifescript Practice Manual. PH863453V Gründe für eine Verhaltensänderung Gründe für eine Verhaltensänderung Welche Bedenken haben Sie gegen die 2.2. Welche Bedenken haben Sie gegen die Beibehaltung gesundheitsschädigenden Beibehaltung IhresIhres gesundheitsschädigenden Verhaltens? Verhaltens? Australian Government, Department of Health and Ageing (Weitere Informationen hierzu im Heft auf Seite 35) 3. Welche Bedenken haben Sie dagegen, 3. Welche Bedenken haben Sie dagegen, Ihr Ihr gesundheitsschädigendes Verhalten zu gesundheitsschädigendes Verhalten zu verändern? verändern? Welche Vorteile sehen in der Änderung Ihres 4.4. Welche Vorteile sehen Sie in Sie der Änderung Ihres gesundheitsschädigenden Verhaltens? gesundheitsschädigenden Verhaltens? 5A-Strategie als Hilfestellung zum Alkoholverzicht. © S. Ludt, mod. nach Mod. nach [193] Lifescript Manual. Mod.Practice nach [193] Australian Government, Department of Health and Ageing (Weitere Informationen hierzu im Heft auf Seite 3) Hausärztliche Leitlinie »Kardiovaskuläre Risikoprävention« Hausärztliche Leitlinie »Kardiovaskuläre Risikoprävention« 79 79 01. Aug. 2011 VersionVersion 1.00 I 1.00 01. Aug.I 2011