Globalisierung, Gerechtigkeit und Solidarität

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Landesverband Hessen
Globalisierung, Gerechtigkeit
und Solidarität:
Bausteine einer Sozialpolitik
im 21. Jahrhundert
Verfasser: Dr. Matthias Zimmer
Beschluss des Landesausschusses der CDA Hessen
am 17. April 2004
CDA-Landesverband Hessen • Postfach 19 40 • 65009 Wiesbaden
Tel. (06 11) 16 65-5 22 • Fax (06 11) 16 65-4 40
eMail: [email protected] • http://www.cda-bund.de
Globalisierung, Gerechtigkeit und Solidarität:
Bausteine einer Sozialpolitik im 21. Jahrhundert
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der Begriff der Globalisierung zu einem
populären Schlagwort geworden. Die Popularität des Begriffes erklärt sich aus
seiner unmittelbaren Eingängigkeit: Globalisierung ist eine Alltagserfahrung,
unmittelbar verständlich. Gleichzeitig ist der Begriff der Globalisierung seltsam
unscharf und schillernd, weil sich in ihm beschreibende und normative Elemente
mischen. Dies zeigt sich schon an der inhaltlichen Spannbreite der Themen, die
unter dem Begriff der Globalisierung abgehandelt werden: grenzüberschreitende
Finanz- und Transaktionsströme, die Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit, die
zunehmende kulturelle Homogenisierung und Überlagerung lokaler Kulturen und
Traditionen durch globale Marken und globale Kulturstandards, die zunehmende
wechselseitige Durchdringung von Kulturen durch Migration, temporäre Mobilität
und Kommunikation, die Revolutionen im Informations-, Kommunikations- und
Transportwesen, die Fragen schließlich nach den gesellschaftlichen, sozialen und
kulturellen Folgen einer Kompression von Raum und Zeit.
Diese keineswegs vollständige Aufzählung zeigt, welche technologischen,
ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Umwälzungen mit dem Begriff der
Globalisierung zusammengefasst werden. Doch im Kern geht es nicht um eine
Analyse und Bestandsaufnahme dieser Prozesse, sondern um eine politische
Bewertung. Die normative Dimension der Globalisierung ist die Frage nach den
Bedingungen und Möglichkeiten nationaler und internationaler Gerechtigkeit.
Globalisierung aktualisiert die Frage nach dem Leitbild des Zusammenlebens
jenseits der Marktmechanismen. Die Frage, wie wir leben wollen, wird heute
sowohl im kategorialen Rahmen des Nationalstaates als auch darüber hinaus zu
beantworten sein.
Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hat die soziale Frage zu einem
brennenden Problem werden lassen. Sowohl die Arbeiterbewegung als auch die
christliche Soziallehre haben darauf je eigene Antworten gegeben. Zu Beginn des
21. Jahrhunderts wird die Globalisierung zu einem sozialen Problem, auf das es
noch keine befriedigenden Antworten gibt. Dies gilt umso mehr, als viele Autoren
behaupten, die Globalisierung unterlaufe auch das herkömmliche Verständnis von
Staatlichkeit; sie sprechen von einem Abschied vom Nationalstaat, von einem
Verlust an Steuerungskapazität, von einem Wegsickern staatlicher Autorität in
regionale, internationale und transnationale Strukturen, Institutionen
und
Netzwerke. Wer aber wenn nicht der Staat kann überhaupt Bedingungen sozialer
Gerechtigkeit gesellschaftlich verbindlich setzen? Wer wenn nicht der Staat kann
Märkte ordnungspolitisch gestalten und einhegen? Und wer, wenn nicht der Staat,
kann die Grundbedingungen funktionierender Märkte garantieren: den Schutz des
Eigentums, Rechts- und Vertragssicherheit, soziale Stabilität?
Die Globalisierung stellt uns vor viele Fragen. Gleichzeitig wird die Beantwortung
der Fragen durch unterschiedliche Sichtweisen und Zugänge erschwert. Einige
stehen der Globalisierung grundsätzlich positiv gegenüber. So wird argumentiert,
Globalisierung – verstanden als eine Öffnung der Märkte, Abbau von
Handelshemmnissen und wachsender weltweiter Arbeitsteilung – führe zu
Wachstum und Wohlstand. Gleichzeitig sei damit die Hoffnung auf eine
2
nachhaltige Entwicklung in der so genannten „Dritten Welt“ gegeben, weil
Globalisierung der Königsweg aus dem Teufelskreis von Armut und
Unterentwicklung sei. Andere sind grundsätzlich skeptisch und argumentieren, die
Globalisierung unterlaufe sozialstaatliche Standards, führe zur Erosion sozialer
Solidarität und sei, gerade im Verhältnis zur „Dritten Welt“, eine Fortsetzung
diskriminierender wirtschaftlicher Strukturen. Diese in ihren Annahmen und
Folgerungen unterschiedlichen Ansätze wurden in der Vergangenheit wiederholt
medienwirksam deutlich: während sich die Weltwirtschaftsgipfel der acht
führenden Industriestaaten als grundsätzliche Befürworter der Globalisierung
sehen, machten die Gegendemonstranten in Seattle und Genua, aber auch auf den
Weltsozialforen in Porto Allegre und Bombay, die negative Bilanz der
Globalisierung auf.
Gegenüber einer vereinfachten und der tatsächlichen Komplexität nicht gerecht
werdenden Sichtweise gehen wir von folgenden Annahmen aus:
a. Globalisierung ist kein Schicksal. Auch wenn Globalisierung als Ganzes
nicht gesteuert werden kann ist es am Staat, eigenständig oder in
Kooperation mit anderen Staaten oder Institutionen Globalisierung von
innen zu gestalten. Globalisierung war politisch gewollt. Die politische
Initialzündung der Globalisierung waren die Deregulierungsmaßnahmen
seit den 1970er Jahren und die Aufhebung von Zöllen und Kapitalverkehrsbeschränkungen. Deshalb kann Globalisierung auch politisch gestaltet
werden.
b. Globalisierung hat positive und negative Seiten. Weder eine bloß
ablehnende oder eine rein affirmative Einstellung zur Globalisierung
hilfreich noch realistisch. Wichtig ist es, Handlungsspielräume in der
Globalisierung zu erkennen und konsequent zu nutzen. Dies betrifft sowohl
Handlungsspielräume des Staates als auch derjenigen internationalen
Organisationen, die (wie etwa die Weltbank oder der Internationale
Währungsfond) Globalisierung als ihr „Tagesgeschäft“ betreiben. Weder ein
Abschied aus der Globalisierung noch ein radikaler Systemwechsel sind
brauchbare Alternativen. Die Kritiker der Globalisierung sitzen, wie es Claus
Leggewie ausgedrückt hat, „mit im Fiaker“. 1 Deshalb kann es nur darum
gehen, Wege in der Globalisierung zu finden.
c. Globalisierung ist ein Übergang; Übergänge aber können krisenhaft
verlaufen. Deshalb ist es notwendig, mögliche Krisenszenarien vorzudenken
und politische Antworten langfristig zu formulieren. Langfristig formulieren
können wir nur dann, wenn wir ein gesellschaftspolitisches Leitbild haben.
Gerade die christlich-soziale Idee ist als gesellschaftspolitisches Leitbild
aktuell wie nie, gleichzeitig aber auch gefährdet durch eine Ideologie, die
im Markt allein die Zukunft sieht.
d. Das christlich-soziale Leitbild ist mit einem Primat des Marktes nicht
vereinbar. Es betont im Gegenteil die Unverfügbarkeit der menschlichen
Würde und formuliert Anforderungen an eine soziale, gerechte und mit
menschlicher Würde vereinbare Form des Zusammenlebens und des
Wirtschaftens. Der Mensch ist kein reiner homo oeconomicus. Dies bedeutet,
dass nicht alles, was der Mensch tut, den Gesetzen von Angebot und
1
Claus Leggewie, Die Globalisierung und ihre Gegner. München: Beck 2003, S. 15.
3
Nachfrage
unterworfen
werden
darf.
In
der
Aussage
der
Globalisierungskritiker, die Welt sei keine Ware, kann sich christlichsoziales Denken deshalb wieder finden.
Globalisierung und Wirtschaft
Durch die Globalisierung stehen nicht nur Firmen untereinander, sondern auch
nationale Standorte insgesamt in einem Wettbewerb. Deutschland ist als Standort
in die Diskussion gekommen. Ein Übermaß an Bürokratie, zu hohe Steuern und zu
hohe Lohnnebenkosten, so wird argumentiert, führten zu einer strukturellen
Schwächung des Standortes im internationalen Wettbewerb. Die Folge sei eine
hohe Anzahl von Konkursen und die Abwanderung von Investivkapital ins Ausland.
Damit einher gehe ein Verlust an Arbeitsplätzen, weil der Produktionsfaktor
Arbeit in Deutschland insgesamt zu teuer geworden sei. In dieser, stark
vereinfachten Darstellung mischen sich Momentaufnahmen verschiedener
wirtschaftlicher Ebenen mit einer Deregulierungsideologie, die lediglich im Abbau
von Regelungsdichte, dem Rückbau sozialer Sicherungssysteme und dem
Abschmelzen von Lohnnebenkosten einen Königsweg zu internationaler
Wettbewerbsfähigkeit sieht. Gleichwohl ist diese Sichtweise verkürzt, denn sie
übersieht
-
-
dass Deutschland nach wie vor einen Spitzenplatz in den internationalen
Exporten einnimmt;
das die Arbeitsproduktivität in Deutschland nach wie vor sehr hoch ist;
das das bisherige System sozialer Sicherung zu einer beispiellosen sozialen
Stabilität geführt hat, die selbst ein zentraler Standortfaktor ist;
das die Arbeitsmotivation, die sich aus dem Wissen um gesicherte
Arbeitsplätze
und
soziale
Sicherheit
speist,
einen
nicht
zu
unterschätzenden Anreiz darstellt, sich mit einem Unternehmen und der
Arbeit zu identifizieren;
das hohe Bildungs- und Ausbildungsniveau in der Bundesrepublik
Deutschland, das attraktiv ist für die Investition in
qualifizierte
Beschäftigung.
Allerdings lässt sich die wirtschaftliche Position Deutschlands in der
Globalisierung nur dann halten und ausbauen, wenn die für das Wirtschaften
bestimmenden Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik verändert werden.
Globalisierung führt nicht an sich zu ökonomischen Verwerfungen, sie macht aber
Strukturdefizite deutlich. In der notwendigen Strukturdebatte kann es aber nicht
darum gehen, das weithin liberalisierte angloamerikanische Modell umstandslos
nach Deutschland zu importieren. Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik hat
eine eigene Struktur, eine eigene Tradition, und innerhalb des geistigen
Horizontes dieser Tradition muss eine Antwort auf die Herausforderungen der
Globalisierung gefunden werden, ohne die eigene Identität preiszugeben.
Politik kann die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland durch
ordnungspolitische Maßnahmen, den Umbau des Sozialstaats und den Abbau von
Regelungsdichte befördern. Die materiellen Voraussetzungen für einen
funktionierenden Sozialstaat aber schafft die Wirtschaft. Geld, dass in soziale
4
Systeme fließt, muss erarbeitet werden. Wirtschaften im klassischen Sinn
bedeutete aber nie, dass die Mittel den Zweck heiligten. Auch und gerade in der
globalisierten Welt gibt es eine gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft.
Diese gesellschaftliche Verantwortung schließt ein
-
sich nicht nur am shareholder value zu orientieren, sondern die
gesellschaftlichen und sozialen Kontexte mit zu bedenken;
sich den Fragen sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit des Wirtschaftens
zu stellen;
die Pflicht zur Mitfinanzierung von Infrastruktur und Sozialsystemen
anzuerkennen.
Gerade im letztgenannten Bereich muss konstatiert werden, dass Unternehmen
zunehmend sich der Mitfinanzierung von öffentlichen Aufgaben entziehen. Die
Folge ist ein Nachlassen des Steueraufkommens und eine Einschränkung der
staatlichen Steuerautonomie. Corporate Sponsoring ist kein Ersatz für die
Mitfinanzierung öffentlicher Aufgaben durch Steuern. Dass sich große Konzerne
durch interne Verrechnungen von der Steuerpflicht befreien können, wie der
katastrophale Einbruch der Gewerbesteuer nach der letzten Steuerreform deutlich
gezeigt hat, ist sowohl Zeichen für schlechte politische Gestaltung wie für ein
fragwürdiges Verständnis von corporate citizenship. Die CDA tritt deshalb dafür ein
dass
-
-
-
das
bundesdeutsche
Steuersystem
vereinfacht
wird
und
Ausnahmeregelungen
und
Abschreibungsmöglichkeiten
weitgehend
beseitigt werden;
das eine Besteuerung von Wirtschaftseinheiten vereinfacht und für die
Unternehmen wie die öffentliche Hand verlässlich erfolgt;
dass die Möglichkeiten zur Verlagerung von Unternehmenssitzen in
Niedrigststeuerländer
oder
offshore-Zentren
durch
international
verbindliche Absprachen erschwert wird;
dass internationale Vereinbarungen geschlossen werden, um vor allem im
Verhältnis
der
OECD-Länder
untereinander
einen
ruinösen
Steuerwettbewerb zu unterbinden.
Globalisierung und Finanzmärkte
Die internationalen Finanzmärkte sind der am weitesten fortgeschrittene Bereich
der Globalisierung. Die Geschwindigkeit der Transaktionen hat sich in den letzten
Jahren ebenso vervielfacht wie das Volumen und die Instrumente. Gleichzeitig hat
die häufig ungeregelte Dynamik der Finanzmärkte auch ihre hohe
Krisenanfälligkeit demonstriert. In den Schulden- und Währungskrisen der
vergangenen Jahre sind ganze Regionen in eine ökonomische Schieflage geraten.
Menschen mussten erleben, wie ihr ökonomisches Schicksal nicht durch eigene
Arbeit, sondern durch Spekulationen und Transaktionen in den Finanzmärkten
bestimmt wurde. Die Größenordnung der Kapitalbewegungen an den
Finanzmärkten ist längst entkoppelt von realen Produktions- und
Investitionswerten. Spekulations- und Abitragegeschäfte bestimmen die
internationalen Finanzbewegungen. Spekulationen gegen eine Währung zum
Nachteil der Volkswirtschaft eines Landes sind ebenso Realität wie irrationale
5
Dominoeffekte auf den Finanzmärkten, in denen nach Vorgaben von Marktführern
wie bspw. privaten Rating-Agenturen oder führenden Markthändlern entschieden
wird.
Nicht
wirtschaftliche
Fundamentaldaten
bestimmen
dann
die
Marktentwicklung, sondern sich selbst verstärkende Erwartungen, die nichts mehr
mit einem Marktgleichgewicht zu tun haben.
Deshalb stimmt die CDA dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken zu, das in
einer Erklärung vom 9. Mai 2003 gefordert hat, für die internationalen
Finanzmärkte
„schrittweise und
beharrlich Rahmenbedingungen einer
internationalen sozialen Marktwirtschaft aufzubauen.“ 2 Nur eine funktionierende
„global governance“ kann aus den ungeregelten Märkten mit ihrer hohen
Volatilität eine stabile, nachhaltige und die Anforderungen sozialer Stabilität nicht
vernachlässigende globale Wirtschaftsordnung schaffen. Dabei bedeutet „global
governance“ nicht eine „Weltregierung“, sondern die Stärkung internationaler
Institutionen und Organisationen sowie die Einführung verbindlicher Regelungen,
an die die Staaten in ihrer eigenen Wirtschaftspolitik gebunden sind. Dazu
gehören vor allem
-
-
-
die Einführung eines Insolvenzrechts für arme und hoch verschuldete
Länder unter Federführung des IWF oder der Weltbank;
die Verpflichtung offizieller Kreditgeber (vor allem IWF und Weltbank) auf
Kriterien der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit anstatt
ausschließlich auf eine Strukturanpassung durch Deregulierung;
die Stärkung der nationalen Banken- und Börsenaufsicht;
die Zusammenschließung von Währungsräumen zur Stabilisierung von
Währungs- und Finanzbeziehungen;
die Einführung einer Devisentransaktionssteuer (Tobin-Steuer);
die Sicherung der Kreditversorgung vor allem kleiner und mittlerer
Unternehmer auch nach der Standardisierung der Regeln und Verfahren zur
Risikoeinschätzung im Kreditgeschäft (Basel II);
die Diskriminierung von Fonds, die ihre Geschäfte aus Steueroasen heraus
abwickeln;
Förderung
langfristiger
Investitionen
durch
Zulassung
von
Kapitalverkehrskontrollen in Entwicklungsländern;
Schaffung regelgebundener Strukturen zur Einbeziehung von Kreditgebern
in die Lösung von Finanzkrisen („bail in“) zur Vermeidung von „moral
hazard“ Verhalten von Kreditgebern.
Die Situation auf den internationalen Finanzmärkten erinnert historisch an die
Frühphase des Liberalismus und der Industrialisierung, in der die These vertreten
wurde, Freihandel befördere automatisch den allgemeinen Wohlstand. Aber schon
das deutsche Beispiel hat gezeigt, dass eine Volkswirtschaft erst für den
Freihandel bereit sein muss, wenn sie durch diesen nicht Schaden nehmen soll. Ob
eine vollständige Liberalisierung der Kapitalmärkte ebenfalls langfristig zu
Wachstum und Wohlstand führt, mag dahingestellt bleiben. Kurz- und mittelfristig
führt eine solche Liberalisierung zu schweren sozialen Verwerfungen, Krisen und
politischer Instabilität. Man mag dies als zu erbringende Anpassungskosten
marginalisieren. Doch wer zu einseitig auf den Markt setzt, übersieht die
2
„Internationale Finanzmärkte – Gerechtigkeit braucht Regeln“, Erklärung des Zentralkomitees der
deutschen Katholiken, Bonn 9. Mai 2003, S. 9.
6
Konsequenzen von Marktversagen. Überdies entspricht es nicht unserer
Auffassung von Gemeinwohl, alles zu Gunsten freier Kapitalverkehrsströme zu
deregulieren. Politik hat den Auftrag, zu gestalten, nicht, sich aus der Gestaltung
unter Verweis auf Deregulierung zurückzuziehen. Deshalb brauchen auch die
internationalen Finanzmärkte einen regulatorischen Rahmen, der eine
ordnungspolitische Grundeinsicht widerspiegelt: Das alles Wirtschaften nämlich
nicht seine Zielsetzung in sich selbst trägt, sondern nur auf Grundwerte bezogen
sein kann. Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass internationale
Organisationen, Institutionen und Regelungen nur so stark sein können wie der
Wille der beteiligten Staaten, diese auch zu tragen. In der jetzigen, von den OECDLändern dominierten Weltwirtschaftsstruktur kommt diesen Staaten deshalb eine
besondere Vorreiter- und Vorbildfunktion zu. Das Aufkündigen eines
internationalen Konsenses zugunsten unilateraler Lösungen, fehlende
innerstaatliche Umsetzungen von internationalen Verträgen und die
Instrumentalisierung internationaler Organisationen schädigen das Vertrauen in
die Berechenbarkeit und Wirksamkeit des Schutzes öffentlicher globaler Güter.
Globalisierung und öffentliche Güter
Öffentliche Güter sind solche, die durch den Markt nur unzureichend oder gar
nicht bereit gestellt werden können, deren Gewährleistung jedoch im öffentlichen
Interesse liegt. So ist beispielsweise eine funktionierende, regelgebundene
Marktwirtschaft selbst ein öffentliches Gut, das von den Marktteilnehmern selbst
nicht produziert werden kann. Die Schaffung eines organisatorischen Rahmens
und die sanktionsbewehrte Durchsetzung verbindlicher Normen ist eine
öffentliche, d.h. staatliche Aufgabe. Auch im eigenen Interesse brauchen Märkte
eine Ordnung, die diese Märkte verfasst, ihre Grenzen aufzeigt und öffentliche
Güter verbindlich schützt. Das Gemeinwesen kann, wie George Soros es formuliert
hat, nicht durch Profitdenken erhalten werden; eine offene Weltgesellschaft muss
sich des Schutzes gemeinsamer Interessen jenseits des Marktes vergewissern. 3
Die Globalisierung hat dazu geführt, dass es eine breitere Aufmerksamkeit für den
Schutz globaler öffentlicher Güter gibt. Frieden, Recht und Ordnung, Ökologie
und Soziales sind zunehmend Aufgaben der Staatenwelt insgesamt. Dies ist nicht
nur in der UN-Charta, den Menschenrechtserklärungen und einer Vielzahl von
internationalen Übereinkommen dokumentiert. Deshalb ist die Einsicht
entscheidend, dass im Konflikt zwischen globalen öffentlichen Gütern und den
Imperativen des wirtschaftlichen Wachstums der Kernbestand globaler
öffentlicher Güter nicht zur Disposition gestellt werden darf. Längst ist es
Gemeingut, dass nur eine Reduktion von Schadstoffen und eine nachhaltige
Entwicklung das globale Ökosystem auf Dauer schützen kann. Und ebenso ist es
heute ein „globaler Konsens“, dass bestimmte Formen ausbeuterischer
Arbeitsbeziehungen (wie etwa Zwangs- und Kinderarbeit) zu Recht ebenso
verboten sind wie die Einschränkung der Vereinigungsfreiheit oder
3
George Soros, Die offene Gesellschaft. Für eine Reform des globalen Kapitalismus. Berlin:
Alexander-Fest-Verlag 2001
7
Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf. 4 Darüber hinaus fordert die CDA aber
die politischen Entscheidungsträger auf, sich international dafür einzusetzen
-
-
-
das im Rahmen der ILO und der Vereinten Nationen die Einhaltung
internationaler Sozialstandards verstärkt durchgesetzt wird;
das die Einhaltung sozialer Mindeststandards ein Kriterium der
Kreditvergabe von Weltbank und IMF wird;
dass im Rahmen der WTO fortgesetzte, massive Verstöße gegen die
internationalen Sozialstandards durch die Androhung und Umsetzung
handelspolitischer Nachteile geahndet werden können;
das multinationale Unternehmen die von UN-Generalsekretär Kofi Annan
im Rahmen der „Global Compact-Initiative“ vorgestellten neun
Grundprinzipien als verbindlich anerkennen und über die Einhaltung der
Prinzipien regelmäßig berichtet wird;
dass der Verbraucher durch „social labelling“ über den sozialen und
ökologischen Entstehungskontext eines Produkts informiert wird;
das internationale Zertifikate für solche Produkte eingeführt werden, die in
vorbildlicher Weise unter sozial fairen und ökologisch nachhaltigen
Bedingungen hergestellt worden sind.
In der Bundesrepublik fallen auch Maßnahmen der Daseinsvorsorge unter den weit
gefassten Begriff der öffentlichen Güter. In den letzten Jahren hat es einen
Paradigmenwechsel gegeben, bedingt auch durch eine Denkphilosophie, die sich
von der Privatisierung öffentlicher Aufgaben nicht nur eine Entlastung der
öffentlichen Kassen, sondern auch eine Effizienzsteigerung bei gleichzeitiger
Kostensenkung versprach. Tatsächlich haben die Privatisierungen der Post, der
Telekommunikation und die Liberalisierung auf dem Strommarkt durchaus solche
Effekte mit sich gebracht. Gleichwohl sind wir der Überzeugung, dass es in
öffentlichem Interesse ist, bestimmte Bereiche der Daseinsvorsorge nicht den
Regeln von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen. Dazu gehören
-
das Gesundheitssystem
Kultur
Bildung
der öffentliche Raum.
Das Gesundheitssystem in Deutschland steht vor einem grundlegenden Umbau.
Dabei muss die Philosophie des Umbaus aber sich daran richten, Gesundheit nicht
zu einem Gut zu machen, das ausschließlich den Marktgesetzen unterworfen ist.
Die Steigerung der Effizienz im Gesundheitswesen ist nicht mit einer
Privatisierung gleichzusetzen. Das Gesundheitssystem bleibt eine öffentliche
Aufgabe und ein Kernbestandteil gesellschaftlicher Solidarität.
Kultur ist, gerade in Deutschland, immer eng an staatliche Förderung gebunden
gewesen; dies macht den kulturellen Reichtum und die Vielfalt in Deutschland aus.
4
So der Exekutivdirektor der ILO, Kari Tapiola, in seiner Erklärung “Normen und grundlegende
Prinzipien und Rechte bei der Arbeit“ vor der Enquete-Kommission „Globalisierung der
Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“, Berlin, 12. Februar 2001
(http://www.bundestag.de/gremien/welt/weltto/weltto116_stell002.pdf).
8
Kultur schafft Freiräume, und sie spiegelt Identität. Eine Unterwerfung des
kulturellen Sektors unter die Marktgesetze würde zu einer Verflachung des
kulturellen Angebots und einer Ausrichtung kultureller Inhalte auf kommerzielle
Verwertung führen.
Bildung ist in Deutschland ein öffentliches Gut. In einer Wissensgesellschaft, in
der die Erarbeitung, Aneignung und Anwendung von Wissen ein zentraler
Produktionsfaktor ist, kann dies auch nicht anders sein. Bildung muss deshalb für
alle offen stehen. Die CDA steht Studiengebühren nicht ablehnend gegenüber,
sofern sie den Bildungseinrichtungen unmittelbar zugute kommen und
ausreichend Vorkehrungen
getroffen werden, über Stipendien und
Kreditfinanzierung auch einkommensschwachen Schichten den Zugang zu
weiterführender Bildung zu ermöglichen. Die CDA befürwortet einen stärkeren
Wettbewerb gerade der Hochschulen untereinander. Ein solcher Wettbewerb darf
aber nicht mit einer Marktöffnung, also dem unbegrenzten Zugang privater
Anbieter im Bildungsbereich, verwechselt werden.
Der öffentliche Raum ist ein kollektives Gut, dass vor allem in den Städten die
urbane Qualität definiert. Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen
Raumes führen zu einer Verödung der Städte. Der Politik muss deshalb die
Möglichkeit langfristiger Stadtplanung im öffentlichen Interesse erhalten bleiben.
Darüber hinaus ist öffentliche Sicherheit keine Aufgabe, die sich zur Privatisierung
eignet.
Deshalb tritt die CDA dafür ein dass
-
-
-
in den Verhandlungen über ein Weltdienstleistungsabkommen (General
Agreement on Trade in Services = GATS) die Basisdienstleistungen im
Gesundheitswesen und in der Bildung ausgeklammert werden;
das im Zuge der Handelsliberalisierungen entweder über das GATS oder ein
neues
Multilaterales
Investitionsabkommen
die
europäischen
Meistbegünstigungsausnahmen für die Filmförderung und das System
öffentlich-rechtlichen Fernsehens bestehen bleiben;
die Instrumentarien zur Gestaltung des öffentlichen Raums geschützt
bleiben; dies betrifft bau- und planungsrechtliche Vorschriften, aber auch
die Praxis, über Quersubvention den öffentlichen Personennahverkehr
besonders zu fördern.
Die Aussage, dass in der Liberalisierung der Dienstleistungen sich ein großer
Wachstumsmarkt öffne, ist an sich noch keine Bewertung, ob eine solche
Entwicklung auch im öffentlichen Interesse ist. Die Bürger haben einen Anspruch
darauf, eine bestimmte Grundversorgung durch den Staat bereit gestellt zu
bekommen. Darüber hinaus ist es Aufgabe von Politik, den Markt im Interesse des
Gemeinwohls einzuhegen. Deshalb ist die Setzung regulatorischer Standards im
Arbeitsschutz, in der Gesundheit, in der Lebensmittelsicherheit, in der
Bausicherheit, oder im Marktzugang, um nur einige Bereiche zu nennen, kein
Handelshemmnis,
sondern
Ausdruck
des
Gemeinwohlorientierten
Gestaltungswillens von Politik. So verstanden sind öffentliche Güter „Ausdruck
9
einer Demokratie, in der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, Solidarität und
Kooperation einen hohen Stellenwert haben.“ 5
Globalisierung, Arbeitsmarkt und Gesellschaft
Die für viele Menschen unmittelbar erfahrbaren Auswirkungen von Globalisierung
finden auf dem Arbeitsmarkt statt, obwohl dieser gegenüber dem Finanzmarkt
oder dem Dienstleistungsmarkt wenig liberalisiert worden ist. Diese Erfahrungen
haben zwei Wurzeln: Zum einen die zunehmende Verlagerung von
Produktionsstätten in Billiglohnländer, zum anderen die legale und illegale
Arbeitsmigration nach Deutschland. Deshalb ist Globalisierung für viele Menschen
mit existenzieller Angst verbunden: Mit der Angst den Arbeitsplatz zu verlieren;
mit der Angst, einen neuen Arbeitsplatz nur weit entfernt zu finden und dafür
soziale Bindungen aufgeben zu müssen; mit der Angst vor der Konkurrenz
zugewanderter Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt; mit der Angst vor Lohn- und
Sozialdumping. Zusätzlich beflügeln die in der öffentlichen Diskussion
vorgetragenen Rezepte diese vorhandenen Ängste. Deutschland, so heißt es, habe
zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten; die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit spiegele
strukturelle Schwächen der deutschen Wirtschaft wider; die Menschen müssten
flexibler werden, sich den Erfordernissen des Arbeitsmarktes anpassen; die
Zukunft gehöre den beruflich mehrfach gebrochenen Biographien; Arbeitslose
müssten auch Arbeit annehmen, die weit unter ihrem Qualifizierungsniveau liegt.
Vielfach spiegelt sich in solchen Aussagen eine Weltsicht, in der Arbeit nicht mehr
als Bestandteil menschlicher Existenz und Würde, sondern ausschließlich als
Produktionsfaktor unter Profitgesichtspunkten verstanden wird. 6 Eine solche
Sichtweise wird immer wieder dann virulent, wenn ein Abbau von Beschäftigung
nicht mit nachlassender Nachfrage, sondern mit Steigerung des shareholder values
begründet wird; wenn gewinnbringende Unternehmen geschlossen werden, weil
durch die Schließung noch mehr Gewinn ausgewiesen werden kann; und wenn
schließlich Manager zu solchen Strategien dadurch ermuntert werden, weil ihr
Gehalt nicht an die Anzahl der Arbeitsplätze gekoppelt ist, die in einem
Unternehmen bestehen oder geschaffen wurden, sondern lediglich am
erwirtschafteten Profit. Die gerade in den letzten Jahren vor allem in den USA
(von Arthur Anderson bis Xerox) deutlich gewordene Verwischung des Übergangs
vom Unmoralischen zum Ungesetzlichen im Namen des Profits zeigt darüber
hinaus, dass die Mentalität des „Kasinokapitalismus“ (Susan Strange) auch vor
Rechtsbrüchen nicht zurückschreckt. Angesichts solcher Entwicklungen auf die
Selbstheilungskräfte des Marktes zu vertrauen und dem Staat Zurückhaltung zu
empfehlen erscheint zynisch. Arbeitsbeziehungen sind immer auch soziale
Beziehungen und damit normativ aufgeladen. Eine Reduzierung von
Arbeitsbeziehungen auf die Profitmehrung reduziert den Menschen auf ein Mittel
zum Zweck und legt eine moralische Deformation zu Tage, der durch bloße
Appelle nicht beizukommen sein wird.
5
Julian Nida-Rümelin, „Der ineffiziente Markt. Kollektive Güter müssen vor Staatsabbau geschützt
werden“, Frankfurter Rundschau 16. Oktober 2003.
6
Zur Kritik vgl. Viviane Forrester, Die Diktatur des Profits. München: dtv 2002
10
Gleichwohl gilt es, den alarmistischen Stimmen über die Zukunftsfähigkeit von
Arbeit in Deutschland eine besonnene Analyse entgegen zu setzen. Wenn lediglich
der Preis der Arbeit über Produktionsstandorte entscheiden würde, gäbe es eine
massive Abwanderung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer. Die Kosten von
Arbeit sind immer nur ein Faktor in der Standortentscheidung. Weitere wichtige
Faktoren sind die soziale und politische Stabilität, die Qualität und Flexibilität der
Arbeitskräfte, die Standards von Bildung und Ausbildung, die Verfügbarkeit von
Forschungseinrichtungen, die öffentliche Infrastruktur, die Verkehrsbeziehungen,
die Nähe von Zulieferbetrieben. Eine Verkürzung der Diskussion auf die hohen
Lohnkosten
in
Deutschland
blendet
damit
bewusst
die
für
Standortentscheidungen ebenfalls wichtigen Kontextfaktoren aus. Diese
Kontextfaktoren aber werden zu großen Teilen mit öffentlichen Geldern bereit
gestellt. Auch deshalb ist ein verlässliches und verstetigtes Steueraufkommen der
öffentlichen Hand der entscheidende Standortfaktor in Deutschland.
Die Zukunft der Arbeit in Deutschland ist eng mit der Zukunft von Bildung und
Ausbildung verknüpft. Hohe Standards und hohe Qualität in den
Bildungssystemen sowie innovative Forschungseinrichtungen sind in der heutigen
Wissensgesellschaft die Voraussetzung schlechthin für Innovation und Wachstum,
damit auch für ein hohes Beschäftigungsniveau. In Deutschland hat sich, bei
tendenziell rückläufiger Bevölkerungszahl, die Anzahl der Studenten in den letzten
zwanzig Jahren verdoppelt. Allerdings haben die Ausgaben für Bildung und
Ausbildung mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten. Die qualitätsorientierte
Förderung von Bildung und Ausbildung muss wieder eine politische Priorität
werden. Mit ihr ist die Zukunft der Arbeit in Deutschland eng verknüpft.
Mit den Vorschlägen der Herzog-Kommission hat die CDU ihre Vorschläge
unterbreitet, wie die Belastung des Faktors Arbeit durch Lohnnebenkosten
zurückgeführt werden kann. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass in den
letzten Jahren sich ein Ungleichgewicht herausgebildet hat: Arbeit wird stärker zur
Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen als Kapital. In diesem
Ungleichgewicht steckt eine Gerechtigkeitslücke, die die Legitimität der
Umbaubemühungen im Sozialstaat untergräbt. Deshalb ist es eine Frage der
Verteilungsgerechtigkeit, wenn bei den kollektiven Bemühungen um eine Reform
der Sozialsysteme Arbeit und Kapital gleichermaßen ihren Beitrag leisten.
Schließlich gilt es auch, durch eine kluge Zuwanderungspolitik den Arbeitsmarkt
in Deutschland zu stärken. Schon jetzt ist der Arbeitsmarkt gerade im Bereich der
unteren
Lohnsegmente
durch
illegale
Beschäftigungsverhältnisse
mit
ausländischen Arbeitnehmern gekennzeichnet. Dies betrifft Wirtschaftsbetriebe
ebenso wie private Arbeitgeber, die sich über solche Beschäftigungsverhältnisse
beispielsweise eine Hilfe im Haushalt oder bei der Pflege von Angehörigen
sichern. Dies zeigt, dass auch in den unteren Lohnsegmenten durchaus eine
Nachfrage nach Arbeit besteht, sich aber mangels effektiver Rechtsdurchsetzung
oder als ungenügend empfundener Rahmenstrukturen in anderen als den
offiziellen Arbeitsmärkten konkretisiert. Eine vernünftige Zuwanderungspolitik
muss dies in Rechnung stellen und darauf achten, dass die Zuwanderung in den
Arbeitsmarkt und nicht in die Sozialsysteme erfolgt.
11
Zu einer vernünftigen Zuwanderungspolitik gehört auch eine zukunftsweisende
Integrationsstrategie. Die Integration kann sich nicht am Leitbild einer
multikulturellen Parallelgesellschaft orientieren, sondern muss, bei aller Achtung
vor der Unterschiedlichkeit kultureller Prägungen, die Notwendigkeit einer
gemeinsamen Basis für das Zusammenleben in einer Gesellschaft betonen. Dazu
gehört die Aneignung der deutschen Sprache als Grundvoraussetzung
gesellschaftlicher Kommunikation. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, die nicht lediglich als Annex der Sozialpolitik verstanden werden kann.
Globalisierung, Staat und Demokratie
Aus den bisherigen Überlegungen wird deutlich dass der Rückzug des Staates
nicht die Lösung, sondern das Problem in der globalisierten Welt ist. Die Antwort
auf die Probleme der Globalisierung kann nicht der Markt, sondern nur der Staat
geben. Historisch hat sich der Staat als Schutzinstanz für die Gewährung von
Sicherheit und die Durchsetzung des Rechts entwickelt. Später sind die soziale
Ausgleichsfunktion und die Schaffung eines Rahmens für gesellschaftliche
Partizipation in politischen Entscheidungen hinzu gekommen. Es spricht nichts
dafür dass diese vier Funktionen des Staates durch die Globalisierung obsolet
geworden sind. Es spricht aber alles dafür, diese Funktionen des Staates in der
Globalisierung zu stärken.
Sozialpolitik im 21. Jahrhundert braucht den kategorialen Rahmen des Staates, sie
geht aber auch darüber hinaus. Sozialpolitische Standards können nicht mehr
ausschließlich national begründet werden, sondern müssen sich in der
Kooperation von Staaten, aber auch in internationalen Institutionen und
Organisationen als Hilfsmittel staatlicher Politik niederschlagen. Dies erfordert
aber auch eine über die exekutive Ebene hinausgehende Stärkung demokratischer
Strukturen von Zurechenbarkeit und Partizipation. Nicht der Weltstaat ist Leitbild
dieser Entwicklung, denn diesem Weltstaat entspricht keine Gesellschaft. Wohl
aber eine Staatenwelt, die offen ist für zivilgesellschaftliche Partizipation, sich
orientiert an den Prinzipien der Menschenrechte, der Nachhaltigkeit, der
Solidarität und Gerechtigkeit und durch eine Globalisierung der normativen
Fundamente menschlichen Zusammenlebens die Globalisierung der Märkte einholt
und einhegt. Gradmesser einer solchen Politik im globalen Maßstab ist die
Zunahme der substantiellen Freiheiten der Menschen. 7 Dies bedeutet nicht nur die
Beseitigung der Hauptursachen von Unfreiheit wie etwa Armut, Despotie,
Intoleranz, fehlende öffentliche Infrastruktur
und Verweigerung von
Marktzugängen, sondern die Zunahme politischer, ökonomischer, sozialer und
partizipativer Verwirklichungschancen. In diesem Sinn verstanden kann
Globalisierung die Chance bedeuten, mehr Freiheit und Gerechtigkeit
verwirklichen zu können – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit.
Dazu bedarf es aber des Mutes, politisch zu gestalten und den Zumutungen einer
Ideologie, die sich jenseits des Staates glaubt, entschlossen entgegen zu treten.
7
Vgl. Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der
Marktswirtschaft. München: dtv 2002.
12
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