Freiheit und Zweck

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Freiheit und Zweck
Kants Grundlegung der Ethik in zwei phasen
Dissertation der Universität Wien 1996
Daisuke Shimizu
Neue, verbesserte Ausgabe: Version 0.1
Kobe 2014
Vorbemerkung.
1. Danksagung.
Ich danke Herrn Dr. Cornelius Zehetner herzlichst für seine gewissenhafte sprachliche Korrektur dieser Arbeit. Mein Dank gilt auch meiner Frau Michiko Shimizu,
die aus meiner Sammlung das Literaturverzeichnis für die vorliegende Arbeit hergestellt hat. Am meisten bin ich Herrn Prof. Dr. Michael Benedikt zu Dank verpflichtet für seine langjährige freundliche Betreuung meines Studienaufenthaltes
in Wien.
2. Zitierungsweise.
Ich zitiere nach der Akademie-Ausgabe. Dabei bezeichnen die römischen Ziffern
die Band-, die arabischen die Seitenzahl der betreffenden Stelle. Wenn es nötig ist,
wird auch die Zeilenzahl hinzugefügt. Bei den Hauptwerken wird zusätzlich auch
die Originalpaginierung angegeben.
3. Abkürzungen.
Optim. Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus. (1759)
Beweisgrund Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. (abgefaßt: 1762)
Deutlichkeit Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. (abgefaßt: 1762)
Beobachtungen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.
(1764)
Bemerkungen Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. (1764/65)
Träume Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. (1766)
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Inaugural-Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. (1770)
Ethik Menzer Menzer, P. [Hrsg.], Eine Vorlesung Kants über Ethik. (1775–80?)
Met.L/1 Metaphysik L(1) (Pölitz), Vorl., in: AA Bd. 28. (1775–80?)
KrV Kritik der reinen Vernunft. (1 1781, 2 1787)
Prol. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. (1783)
Religionslehre Pölitz Philosophische Religionslehre nach Pölitz, Vorl., in: AA
Bd. 28. (WS 1783/84?)
GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. (1785)
MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. (1786)
Was heißt: S.i.D.or.? Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786)
KpV Kritik der praktischen Vernunft. (1788)
EE Erste Einleitung in die KU. (abgefaßt: 1788/89?)
KU Kritik der Urteilskraft. (1790)
Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. (1793)
Gemeinspruch Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis. (1793)
MS Vigilantius Metaphysik der Sitten Vigilantius, Vorl., in: AA Bd. 27. (WS
1793/94)
Fortschritte Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik. (abgefaßt: 1793–
97??)
Ende a.D. Das Ende aller Dinge. (1794)
V.e.vorn.Ton Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. (1796)
Fried. i.d.Ph. Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen
Frieden in der Philosophie. (1796)
MS Die Metaphysik der Sitten. (1797)
Str.d.Fak. Der Streit der Fakultäten. (1798)
Anthr. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. (1798)
Log. Logik, hrsg. v. G. B. Jäsche.
ii
Die sonstigen Schriften Kants werden unter ausreichender Nennung des Titels
angegeben.
AA Akademie-Ausgabe Kants.
A 1. Auflage.
B 2. Auflage.
H Handschrift.
Z Zeile.
ND Nachdruck.
[ ] hinzugefügt v. Verf.
iii
iv
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung.
1. Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Zitierungsweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung.
1
(a) Exposition des Themas und allgemeine Bemerkungen zu dieser Arbeit. 1
(b) Analytisch-regressives und synthetisch-progressives Verfahren in der
Grundlegung der Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
(c) Abgrenzung von der Interpretation M. Laupichlers. . . . . . . . . . 13
1. Die kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik als Exposition des
Gesetzes und als Deduktion der Freiheit im Grundsätze-Kapitel der
KpV.
23
1.1 Die propositionale kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik in
den §§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels der KpV. . . . . . . . . . . . 23
1.1.1 Der Spielraum der propositionalen kognitiv-formalistischen
Grundlegung der Ethik: Maximen. . . . . . . . . . . . . . 23
1.1.2 Die Struktur der kognitiv-formalistischen Argumentation in
den §§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels der KpV. . . . . . . . 25
1.2 Die psychologische, mithin subjektive kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik in den §§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels der KpV.
30
1.2.0 Vorwort zur psychologischen kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
1.2.1 Die negative Untersuchungsbasis, von der die subjektive kognitivformalistische Grundlegung der Ethik ausgeht: Es ist apriorisch nicht bestimmbar, in welchem Ausmaß die pathologischpraktische Lust durch Gegenstandsvorstellungen ausgelöst
wird. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
1.2.2 Abhängigkeit von Gegenständen. . . . . . . . . . . . . . . . 37
v
1.2.3 Die Distanzierung von der Abhängigkeit der Lust von Gegenstandsvorstellungen (vor allem der Vollkommenheit einer
Objektvorstellung) und die Einräumung der gesetzgebenden reinen für sich praktischen Vernunft in Anmerkung I
zu §§ 2 und 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.4 Die Untauglichkeit des Prinzips der Glückseligkeit und dessen pragmatischer Imperative zur praktisch-objektiven unbedingten Gesetzgebung der Moralität in Anmerkung II zu
§§ 2 und 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Die kognitive formalistische Grundlegung der Ethik als Exposition
des Gesetzes und als Deduktion der Freiheit im Grundsätze-Kapitel
der KpV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Die kognitive Deduktion der Freiheit aus dem Gesetz im § 5 und
die essentielle Deduktion des Gesetzes aus der Freiheit im § 6 des
Grundsätze-Kapitels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.5 Kants positive Verwendung des Begriffs der Vollkommenheit: der
Übergang zur essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘ Phase der
Grundlegung der Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die innere Bewegung und Struktur der moralphilosophischen Reflexionen in den siebziger und achtziger Jahren.
2.1 Einleitung zur Untersuchung der moralphilosophischen Reflexionen
in den siebziger und achtziger Jahren. . . . . . . . . . . . . . . .
A. Der Gedanke der Zusammenstimmung und das Moralprinzip. . . . .
2.2 Die Zusammenstimmung mit sich selbst, mit den Gesetzen und mit
den Zwecken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Allgemeine Erläuterung zum Begriff der Zusammenstimmung.
2.2.2 In den siebziger und achtziger Jahren werden Gesetz und Willensfreiheit aus der Perspektive der moralischen Zwecksetzung her weiter in Betracht gezogen. . . . . . . . . . . . .
2.2.3 Das Konzept der Zusammenstimmung des Willens mit sich
selbst in den Jahren 1769–70. . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst und die Moralität.
2.3.1 Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst als Rückgang zum Fundament der Ethik (kognitiv-formalistische
Grundlegung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2 Die Zusammenstimmung mit sich selbst und das principium
diiudicationis moralis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Glückseligkeit als Zielvorstellung der Moralität aus Freiheit. . . . . .
2.4 Drei Arten der Glückseligkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.1 Zusammenstimmung und Selbstzufriedenheit. . . . . . . . .
2.4.2 Die zweifache Glückseligkeit (Refl. 6907). . . . . . . . . . .
2.4.3 Zwei Gründe des Wohlgefallens (Refl. 7049). . . . . . . . .
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2.4.4 Die Autokratie der Freiheit in Ansehung der Glückseligkeit
bzw. die Epigenesis der Glückseligkeit nach allgemeinen
Gesetzen der Freiheit (Refl. 6867). . . . . . . . . . . . . . 96
2.5 Selbstzufriedenheit, intellektuelle Lust und geistiges Leben. . . . . . 99
2.5.1 Die Selbstzufriedenheit ist eine intellektuelle Lust. . . . . . 99
2.5.2 Beständigkeit und Sicherheit zum Wohlgefallen im Gefühl
eines endlichen Vernunftwesens. . . . . . . . . . . . . . . 101
2.5.3 Exkurs: Geistiges Leben und intellektuelle Lust. . . . . . . . 103
C. Die relative Gewichtsverlagerung bei der moralischen Triebfeder. . . 106
2.6 Ist die Selbstzufriedenheit als moralische Triebfeder tauglich? . . . 106
2.6.1 Selbstzufriedenheit erhebt die Seele (Refl. 6892). . . . . . . 106
2.6.2 Die Selbstzufriedenheit als Hauptstuhl für Glückseligkeit (Refl. 7202). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
2.6.3 Die Selbstzufriedenheit ist zur moralischen Triebfeder nicht
fähig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
2.6.4 Die Unterscheidung der moralischen Triebfeder vom moralischen Gefühl (Refl. 6864). . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
2.7 Die relative Verlagerung der moralischen Triebfeder ins Gesetz. . . 121
2.7.1 Moralisches Gefühl als contradictio und seine bewegende Kraft.121
2.7.2 Die relative Gewichtsverlagerung beim Begriff der Triebfeder in der intellektuellen Ausdehnung vom freien Willen
zum Reich Gottes: Die ,moralisch-teleologische‘ Grundrichtung, vom freien Willen auszugehen, setzt sich durch. . 125
2.7.3 Die Verlagerung der moralischen Triebfeder und die motiva
moralia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
2.7.4 Der Sinn der Verlagerung der moralischen Triebfeder im System der Kantischen Grundlegung der Ethik. . . . . . . . 135
D. Die intelligible Welt als bloßer Standpunkt außer der Sinnenwelt. . . 136
2.8 Der Explikationsversuch des Prinzips der Exekution für die Verpflichtung der Gesetze aus der transzendental-subjektiv verinnerlichten intelligiblen Welt im 3. Abschnitt der GMS. . . . . . . . . 136
3. Der Übergang von der Theorie des ,Gegenstands der reinen praktischen
Vernunft‘ zur Lehre vom höchsten Gut.
143
3.1 Vorbegriffe zur ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung
der Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
3.1.1 Die Relevanz der moralisch-praktischen Zwecksetzung des
freien Willens gegenüber dem bloß logischen Vernunftprinzip der Moralität: Moralische Gesetze entspringen nicht
der Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
3.1.2 Die intelligible Welt in der essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘
Phase der Grundlegung der Ethik. . . . . . . . . . . . . . 151
vii
3.2 Die Theorie vom Gegenstand der reinen praktischen Vernunft verknüpft das Fundament der Moral (Gesetz und Freiheit) mit der
Lehre vom höchsten Gut; dadurch wird eine Struktur der moralischpraktischen Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase
der Grundlegung der Ethik gebildet. . . . . . . . . . . . . . . . . 156
3.2.0 Vorwort zur dreistufigen Struktur der Theorie der moralischpraktischen Zwecksetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
3.2.1 Die Distanzierung von der Zwecksetzung der Willkür. . . . . 158
3.2.2 Die Genese des Guten als Gegenstand der reinen praktischen
Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
3.2.3 Die theoretische Schwierigkeit der obigen Lehre von der Genese des Guten: die Genese des Guten bei den vollkommenen, engeren, unnachlaßlichen Pflichten und bei den unvollkommenen, weiteren, verdienstlichen Pflichten. . . . . 168
3.2.4 Der Begriff des Guten als Zweck. . . . . . . . . . . . . . . . 176
3.3 Die Hauptstufe der Theorie der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der
Ethik: Die reine praktische Vernunft macht sich das höchste Gut
zum Gegenstand; oder: Der reine Wille strebt den Endzweck an. . 180
3.3.1 Über die Notwendigkeit der Annahme des höchsten Guts
bzw. des Endzwecks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.3.2 Über die Notwendigkeit der Annahme der Tugend und Glückseligkeit als Momente des höchsten Guts. . . . . . . . . . 188
3.3.3 Die ethische Geisteslage als die intellektuelle intentionale
Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens zum Endzweck:
Zur Lösung des Problems des höchsten Guts als des Bestimmungsgrunds des Willens. . . . . . . . . . . . . . . . 191
3.3.4 Das höchste Gut als das Reich Gottes. . . . . . . . . . . . . 198
3.4 Die Postulatenlehre ergänzt die Lehre vom höchsten Gut in der Theorie der moralisch-praktischen Zwecksetzung. . . . . . . . . . . . 199
3.4.0 Die Erweiterung der reinen intellektuellen Aktualität des moralischen Gesetzes auf das höchste Gut und dessen Postulate.199
3.4.1 Der kontinuierliche unendliche Progressus zur Realisierbarkeit der Idee der moralischen Vollkommenheit als des Elements des höchsten Guts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
3.4.2 Die Realisierbarkeit des vollendeten höchsten Guts durch das
Streben nach der moralischen Vollkommenheit im unendlichen Progressus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
3.5 Die moralische Glückseligkeit beim kontinuierlichen Progressus zur
moralischen Vollkommenheit und die physische Glückseligkeit im
Begriff des höchsten Guts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Literaturverzeichnis.
219
I. Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
viii
II. Hilfsmittel (Lexika, Konkordanz und Übersetzungen). . . . . . . . . 219
III. Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
ix
x
Einleitung.
(a) Exposition des Themas und allgemeine Bemerkungen
zu dieser Arbeit.
1. Über die ethischen Grundbegriffe, die hinsichtlich ihrer Begründbarkeit und
Wirksamkeit expliziert werden sollen, scheint Kant auf den ersten Blick immer
wieder widersprüchliche Aussagen zu machen. (1) Während einerseits zur Herausstellung des moralischen Gesetzes die Abhängigkeit von Gegenstandsvorstellungen als Bestimmungsgründen des Willens abgelegt werden soll (cf. 1.2.2, 1.2.3),
wird auf der anderen Seite ein Gegenstand als derjenige der reinen praktischen
Vernunft wieder eingeräumt (cf. 3.2.2). Es scheint, daß jene Negierung der Gegenstände mit dieser Wiedereinräumung eines Gegenstandes nicht vereint werden
kann. (2) Ebenso werden einerseits zur Exposition des Gesetzes materiale Zwecke
abgelehnt (cf. 3.2.1), andererseits aber werden moralische Zwecke wieder eingeführt (cf. 3.2.4). (3) Auf der Ebene des Gefühls werden empirische Triebfedern von
der moralischen Willensbestimmung entfernt, während eine moralische Triebfeder
zu derselben wieder nötig wird (cf. 2.6, 2.7). (4) Auch Gesetze werden in physische
und moralische eingeteilt; die ersteren werden als zur moralischen Bestimmung des
Willens untauglich abgewiesen, obgleich sie auch Gesetze sind, und nur den letzteren wird diese Tauglichkeit zuerkannt (cf. 1.2.4). (5) Kants Ethik ist angeblich
Tugend- und nicht Glückseligkeitsethik. Denn die Willensbestimmung durch das
moralische Gesetz muß vom Moment der Glückseligkeit freigehalten werden (cf.
1.2.4). Andererseits aber wird von Kant die Glückseligkeit in seiner Ethik nicht
nur konzediert (cf. 2.2, 2.4, 2.6.2, 3.5), sondern er scheint sogar manchmal aus
ihr die Moralprinzipien zu deduzieren (cf. 3.1.1.b). (6) Die Existenz Gottes wird
als primärer moralischer Bestimmungsgrund des Willens abgelehnt (cf. 1.2.3.a),
weil erstens ihr Begriff keine theoretisch-objektive Realität hat und weil zweitens,
wenn er solche hätte, er als theonomischer Bestimmungsgrund bloß Heteronomie
des Willens verursachen würde. Zur Verwirklichung des höchsten Guts wird sie jedoch positiv postuliert (cf. 3.4). (7) Auch die Freiheit wird in negative und positive
differenziert (cf. 1.3).
Für jeden der aufgezählten ethischen Grundbegriffe Kants gilt also sowohl Negation als auch Affirmation. Man spürt, daß sich in Kants Grundlegung der Ethik
notwendigerweise zwei gegensätzliche Gedanken bewegen. Auf der einen Seite
1
werden empirische Gegenstände, materiale Zwecke, empirische Triebfedern, physische Gesetze und Glückseligkeit vom moralischen Bestimmungsgrund des Willens ausgeschaltet, d. h. es wird von der Materie der Willensbestimmung überhaupt abstrahiert, um das moralische Gesetz als solches zu exponieren; bei dieser
Ausschaltung bzw. Abstrahierung handelt es sich um nichts anderes als um die
Rückführung auf die negative Freiheit als Unabhängigkeit von materialen Bestimmungsgründen der Willkür. Von dieser negativen Freiheit ausgehend entfalten sich
nun aber auf der anderen Seite durch positive Freiheit (Freiheitskausalität) hindurch moralische Gesetze, der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, moralische Zwecke, die moralische Triebfeder, Glückseligkeit (sowohl moralische wie
physische) und die Postulierung der Existenz Gottes; die affirmative Bildung dieser
Begriffe wird in der Aussicht auf die moralische, intelligible Welt (das Reich Gottes) vollzogen. Es lassen sich also in der Kantischen Grundlegung der Ethik zwei
Phasen feststellen. Die erstere Phase umfaßt den Rückgang vom Materialen der
Sinnenwelt zur Freiheit, die zugleich die intelligible Welt eröffnet; die letztere das
Wiederaufsteigen aus dieser Freiheit zur Sinnenwelt, das aber nur indirekt durch
den Aufbau jenes intellektuellen Begriffsinhalts der moralischen, intelligiblen Welt
erfolgt, dessen Komponenten die obengenannten intellektuellen Begriffe in der affirmativen Bildung sind, mit Ausnahme der moralischen Triebfeder, die zur Sinnenwelt gehört; bei diesem Aufbau wird das Materiale wieder eingeräumt.
2. Diese zunächst einander unvereinbar gegenüberstehenden zwei Phasen, die
in der Kantischen Grundlegung der Ethik vergleichsweise mühelos entdeckt werden können, lassen sich jedoch nur schwer benennen. Unterdessen sind sie in der
Interpretationsgeschichte der Kantischen Philosophie als Gegensatz zwischen ethischem Formalismus und materialen Moralprinzipien bekannt.1
Der Formalismus der Kantischen Ethik besteht aus zwei Momenten. (1) Er
gründet alle Einzelpflichten und sittlichen Handlungen auf ein einziges apriorisches Prinzip und macht sich anheischig, jene aus diesem monistisch abzuleiten.
1
Zum Thema des Gegensatzes zwischen ethischem Formalismus und materialen Moralprinzipien
können folgende Arbeiten genannt werden: Anderson, G., Die „Materie“ in Kants Tugendlehre und
der Formalismus der kritischen Ethik, in: Kant-Studien, Bd.26, 1921; ders., Kants Metaphysik der
Sitten - ihre Idee und ihr Verhältnis zur Ethik der Wolffschen Schule, in: Kant-Studien, Bd.28, 1923;
Laupichler, M., Die Grundzüge der materialen Ethik Kants, Berlin 1931; Diemer, A., Zum Problem
des Materialen in der Ethik Kants, in: Kant-Studien, Bd.45, 1953/54; Schmucker, J., Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants, in: Lotz, J. B. [Hrsg.], Kant und die
Scholastik heute, Pullach b. München 1955; Klein, H.-D., Formale und materiale Prinzipien in Kants
Ethik, in: Kant-Studien, Bd.60, 1969. G. Andersons Interpretation, die Tugendlehre der MS als eine
nachträgliche Ergänzung der Grundlegungsschriften in der weiteren Entwicklung des ethischen Systemsgedankens Kants aufzufassen, ist aus heutiger Sicht - seit der Publikation der „Ethik Menzer“
im Jahre 1924 - ziemlich überholt. Das zeigt auch der 2. Teil der vorliegenden Arbeit, der sich mit
den moralphilosophischen Reflexionen Kants befaßt. M. Laupichlers Interpretation wird unten in extenso untersucht. Die Arbeit von J. Schmucker korrigiert teilweise Laupichlers Fehler. Dem Aufsatz
von A. Diemer fehlt sachliche Textanalyse; er scheint bloß einen Plan darbieten zu wollen. H.-D.
Klein meint mit seinen ,materialen Prinzipien‘ die empirischen Bedingungen, die durch das formale
Sittengesetz bestimmt werden. Seine Arbeit betrifft daher die Problematik der Typik und geht, ohne
auf die intellektuellen Zweckprinzipien einzugehen, sogleich zur geschichtlichen Weiterentwickling
im Deutschen Idealismus über.
2
(2) Dieses einzige Prinzip soll formal sein, d. h. es muß von allem Inhalt bzw. aller Materie abstrahieren.2 Obwohl das erste Moment zum Formalismus zu zählen
ist, betrifft es doch die oben umrissene zweite Phase der Grundlegung der Ethik,
die auch materiale Bedingungen berücksichtigt; das zweite Moment hingegen geht
die erste Phase an. Das erste Moment der monistischen Ableitung enthält in sich
nicht nur das formalistische, sondern auch das moralisch-teleologische Element der
,materialen‘ Ethik. Denn (1) in der Ableitung der Einzelpflichten aus dem einzigen
apriorischen Prinzip, dem Formalgesetz, ist bereits vorausgesetzt, daß dieses in der
intelligiblen, zweckmäßigen Seinsordnung eingebettet ist, die auch materiale bzw.
gegenständliche Elemente aufweist; (2) eine Gruppe der Pflichten, die unvollkommenen Pflichten, können sicher nicht allein von diesem formalen Prinzip abgeleitet
werden (cf. 3.2.3.b). Daraus erhellt, daß nur das zweite Moment des Formalismus,
die Abstrahierung von der Materie bzw. Rückführung auf die Freiheit als Unabhängigkeit von materialen Bestimmungsgründen der Willkür, rein formalistisch ist.
Dies auch deshalb, weil in diesem Verfahren des Formalismus jene teleologische
Weltordnung noch nicht antizipiert werden muß, die in sich Gegenständliches und
Materiales enthält.
An und für sich besteht der Gedanke des ethischen Formalismus darin, daß
in der Moral die gesetzgebende Form den Willen bestimmt und daß die Materie
(Gegenstandsvorstellungen) als moralischer Bestimmungsgrund des Willens ausscheidet. Der Formalismus beruht von daher in nuce auf der Abstrahierung des
Bestimmungsgrunds des Willens von sämtlichem Materialen und Empirischen und
ist sonach in der negativen Freiheit verankert.
Erwägt man also diese Konstellation des ethischen Formalismus im ganzen, so
resultiert daraus, daß allein die erste Phase der Grundlegung, Exposition des Formalgesetzes und Deduktion der Freiheit, sich als formalistisch auszeichnen läßt,
während die zweite Phase, in die auch die Ableitung der Pflichten gehört, schwerlich so zu bezeichnen ist. Da jedoch mit dem ethischen Formalismus nicht allein die
Ausscheidung der Materie gemeint ist, ließe sich die erste Phase der Grundlegung,
in Nachahmung der Kantischen Dichotomie von ratio cognoscendi und essendi,
kognitiv-formalistisch nennen, während die zweite, wenn das Wort formalistisch
noch verwendet werden soll, als essentiell-formalistisch bezeichnet werden kann.
Denn die Exposition des Gesetzes und die Deduktion der Freiheit in der ersten
Phase weisen kognitiven Charakter auf, während die zweite Phase sich in bezug
auf die intelligible Seinsordnung entwickelt und demnach in essentiellen Zusammenhängen steht. Da wir aber für die zweite Phase eine andere Bezeichnung haben können (siehe unten), so benutzen wir den Ausdruck ,essentiell-formalistiche
Phase‘ nur selten und nennen die erste Phase der Grundlegung öfters auch bloß
,formalistisch‘.
3. Die Grundlegung der Ethik, die durch die Negation der empirischen Gegenständlichkeit zur Freiheit als Ursprung des Gesetzes vorgedrungen ist - wobei zu
beachten ist, daß bereits der Begriff der Freiheit die intelligible Welt als bloßen
2
Vgl. dazu etwa Laupichler, M., op. cit., S.9.
3
Standpunkt außer der empirischen Gegenständlichkeit eröffnet, ohne sie jedoch
innerlich und gegenständlich zu bestimmen, und daß der menschliche Wille dadurch schon in der intellektuellen Geisteslage steht -, wendet sich um und steigt
von dieser wieder zur intellektuellen Gegenständlichkeit auf. M. a. W.: Das reine
sitt- liche Denken aus Freiheit muß sich wieder auf irgendeine Gegenständlichkeit und etwas Materiales beziehen; es muß zur Welt zurückkehren. Diese zweite
Phase der Grundlegung entfaltet sich architektonisch in der Linie: Freiheit - moralisches Gesetz - Gegenstand der reinen praktischen Vernunft (das Gute) - Endzweck
(das höchste Gut; die intelligible Welt). Sie könnte daher vielleicht die Phase des
Aufbaus genannt werden; die erste Phase würde dementsprechend die der Läuterung heißen. Der Aufbau oder der Aufstieg zur intellektuellen Gegenständlichkeit nach der ebengenannten Linie vollzieht sich durch die moralisch-praktische
Zwecksetzung der reinen praktischen Vernunft. Denn ebenso wie beim höchsten
Gut vom praktischen Endzweck die Rede ist, ebenso hat man es beim Gegenstand der reinen praktischen Venunft (dem moralisch-Guten) mit einem Zweckbegriff zu tun (cf. 3.2.4); die Grundlegung ist also in dieser Phase mit den materialen, intellektuellen Zweckprinzipien beschäftigt. Die zweite Phase kann daher auch moralisch-teleologisch im erweiterten Sinn genannt werden. Das Wort
,moralische Teleologie‘ kann auf die Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung überhaupt angewendet werden durch die Erweiterung seines ursprünglichen
Gebrauchs bei Kant, in dem es von diesem nur im Zusammenhang mit der physischen Teleologie verwendet wird (cf. 3.3.1.c). Kants Ethik besteht nicht bloß in
der kognitiv-formalistischen Phase der ethischen Grundlegung, sondern auch darin,
daß der Mensch als endliches Vernunftwesen von der Freiheit seines Willens ausgehend moralisch-teleologisch nach dem höchsten Gut als Endzweck (dem Reich
Gottes) trachtet, nämlich in der moralisch-teleologischen Phase derselben.
In der systematischen Entfaltung der moralisch-praktischen Zwecksetzung von
der Freiheit bis zum Endzweck kann nun das moralische Gesetz entweder von der
Freiheit her als Formalgesetz (cf. 1.3) oder vom Endzweck (Reich Gottes) her als
Gottes Gebot (cf. 3.1.1.d) expliziert werden. Ebenso kann in dieser Phase an die
Stelle der moralischen Triebfeder entweder das moralische Gesetz aus Freiheit oder
die Idee vom Reich Gottes treten (cf. 2.7). In der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung zeigen sich also wiederum zwei Gedankenbewegungen, eine
unter dem Aspekt des Fundaments der Ethik als Freiheit und Gesetz, die andere
unter dem der intelligiblen Seinsordnung, welche auch in Unterscheidung von der
,moralisch-teleologischen‘ Phase als eine dritte betrachtet werden kann.
4. Die vorliegende Arbeit versucht also, die genannten zwei Phasen und den
Übergang von der ersten zur zweiten Phase in der Grundlegung der Ethik bei Kant
herauszuarbeiten und dadurch auch auf die Wichtigkeit sowohl des Begriffs der
Freiheit als Wohin der ersten Phase und als Wendepunkt von der ersten zur zweiten
Phase wie auch der Idee der intelligiblen Welt (Reich Gottes) als latenter Hintergrund der ganzen Gedankenbewegungen der Grundlegung und als Endzweck der
zweiten Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der praktischen Philosophie Kants hinzuweisen. Jener Begriff der Freiheit und diese Idee vom Reich
4
Gottes gehören zwar beide zur intelligiblen Dimension, stehen aber in ge- gensätzlichem Verhältnis. Der Mensch, dessen Wesen in Freiheit besteht, und Gott,
der in der intelligiblen Welt waltet, sind zwei gegensätzliche Pole, die Kants ethische und religionsphilosophische Gedanken ständig sowohl explizit wie implizit
bis zum „Opus postumum“ bewegen. In der zweiten Phase der Grundlegung könnte ohne Freiheit das höchste Gut nicht angesetzt, mithin auch das Dasein Gottes
nicht postuliert werden.
Außer den beiden Phasen der Grundlegung der Ethik läßt sich noch eine synthetisch-progressive Phase, die Begründung der Moral aus der ontotheologischen,
intelligiblen Weltordnung oder die Fundierung der ethischen Bedingungen in der
Transzendentalphilosophie, annehmen, wie sie etwa von M. Laupichler versucht
worden ist (cf. Einl., c). Die Richtung dieser deduktiven Begründung der Ethik
aus der intelligiblen Seinsordnung setzt sich gerade der Richtung der zweiten Phase der Grundlegung der Ethik entgegen, welche sich von der Freiheitskausalität
aus auf die intelligible Seinsordnung hin - und dies im zweifachen Sinn: vor dem
Hintergrund derselben und im Ausblick auf sie - vollzieht, obwohl jene deduktive
Begründung und diese zweite Phase sich dieselbe Sache zum Gegenstand machen.
Die mögliche synthetische Phase der deduktiven Begründung aber gehört nicht unmittelbar zur Grundlegung der Ethik, weil die Ethik bzw. Moral den menschlichen
Willen mit seinen empirischen Bedingungen wie Gefühl der Lust und Unlust, Begierden, Neigungen usw. behandelt und von diesem Willen Bestimmungsgründe
ausschalten muß, die bloß gegenständlich und material sind, während die Transzendentalphilosophie lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat und
eine Weltweisheit der reinen, bloß spekulativen Vernunft ist, die sich auch auf Gegenständlichkeit bezieht. Darüber hinaus wird selbst die transzendentale Theologie
im „Opus postumum“ hauptsächlich gemäß der zweiten Phase der Grundlegung
der Ethik von moralischem Gesetz und reiner praktischer Vernunft, d. h. vom Fundament der Ethik her begründet. Allerdings ließe sich bei Kant annehmen, daß
die zweite Phase der Grundlegung (von Freiheit her auf Gott hin) schon latent die
dritte, synthetische Phase (von Gott her auf Freiheit hin) antizipiert.
5. Die Durchführung des Themas läßt sich entsprechend der Zwei-PhasenStruktur der Grundlegung der Ethik und den Gedankenentwicklungen Kants in ihr
in drei Teile gliedern.
(α) Der 1. Teil erörtert die kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik, d.
h. die Exposition des Formalgesetzes (der allgemeinen Formel des kategorischen
Imperativs) und der reinen praktischen Vernunft sowie die Deduktion der Freiheit
aus diesem Gesetz. Diese drei ethischen Grundbegriffe werden der Moralität zugrundegelegt. Sie wären daher Fundament der Ethik zu nennen. Dabei ist das Augenmerk darauf zu richten, daß Gegenstandsvorstellungen, seien sie von den Sinnen, seien sie von Vernunft, nicht als moralischer Bestimmungsgrund des Willens
taugen. Infolgedessen kann auch die Wolffsche Idee der Vollkommenheit, die in
der Gegenständlichkeit von Gegenständen besteht, nicht zur moralischen Bestimmung des Willens tauglich ist (cf. 1.2.3). Aufgrund dieser Untauglichkeit von Gegenstandsvorstellungen überhaupt zur moralischen Willensbestimmung wird die
5
Rückführung von der Gegenständlichkeit auf die Freiheit von derselben (d. h. die
Abstrahierung von der ganzen Materie) erfordert.
(β) Der 2. Teil der vorliegenden Arbeit befaßt sich mit den moralphilosophischen Reflexionen Kants in den siebziger und achtziger Jahren, in denen er unterschiedliche Denkversuche für die ,moralisch-teleologischen‘ Grundlegung der
Ethik angestellt hat. Vielleicht könnte die Analyse dieser Reflexionen in diesem
Teil der Interpretationsgeschichte der praktischen Philosophie Kants etwas Neues
bringen und dazu beitragen, ein richtiges Gesamtbild der Kantischen Morallehre zu
gestalten. Die Versuche Kants in ihnen, die Moral unter teleologischem Gesichtspunkt zu explizieren, gehen stets von dem Fundament der Ethik, nämlich Gesetz,
reine praktische Vernunft und Freiheit, aus und richten sich von ihm her auf die
intelligible Welt (Reich Gottes) als Endzweck; dabei reflektiert er über das erstere zugleich auch von der letzteren her. Kants Analyse und Erörterung der Moral
vollzieht sich demnach in der Spannung zwischen der Freiheit und der Idee vom
Reich Gottes. Von früh an hat Kant eine teleologische Ordnung im Ausblick und
versucht, die Moral auch in dieser Bezogenheit zu theoretisieren (cf. 2.2.3). (1)
Dabei wird ein Begriff der Harmonie, die Zusammenstimmung bzw. Übereinstimmung, die in der theoretischen Philosophie als Reflexionsbegriff nur zweitrangige
Bedeutung hat, zum Kriterium der Moralität gemacht (cf. 2.3). Das Konsistenzprinzip als Beurteilungsprinzip der Pflichten (principium diiudicationis moralis)
beruht nämlich auf der formalen Einheit des freien Willens, die im Prinzip der Zusammenstimmung des freien Willens mit sich selbst verankert ist. Diese ist aber als
Zusammenstimmung mit den Gesetzen und mit den Zwecken letzten Endes in der
teleologischen Seinsordnung, der Einheit der Zwecke, eingebettet. Die „Reflexionen“ zeigen also, daß Kants Beurteilungsprinzip der Moralität mit dem Begriff der
teleologischen Weltordnung eng zusammenhängt. Im moralphilosophischen Gedanken der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst, mit den Gesetzen
und mit den Zwecken ist aber zu beachten, daß der Ausgangspunkt doch Freiheit
ist. (2) Die Gedankenentwicklungen über Glückseligkeit in den „Reflexionen“ tragen zur Gestaltung der Lehre vom höchsten Gut als Teil der gesamten Phase der
moralisch-praktischen Zwecksetzung durch Freiheit wesentlich bei. Das Prinzip
der Autokratie der Freiheit nämlich, das mit demjenigen der Autonomie verwandt
ist, wird in bezug auf Glückseligkeit entwickelt (cf. 2.4.4), die sich auf die intelligible Welt als Reich Gottes bezieht. Dabei ist wiederum zu beachten, daß die
Autokratie der Freiheit Glückseligkeit hervorbringt und nicht diese jene primär bestimmt. (3) Darüber hinaus sucht Kant nicht nur dem moralischen Gesetz, sondern
auch der Idee vom Reich Gottes die Rolle der moralischen Triebfeder einzuräumen
(cf. 2.7). Dieser Versuch aber mündet nach langen Überlegungen darin, daß sie nominell ausschließlich dem ersteren, nämlich dem Gesetz, zugeschrieben wird. Daraus läßt sich auch ersehen, daß das Prinzip des Ausgangs vom Fundament der Ethik
für die Grundlegung der Ethik auch in den moralphilosophischen Reflexionen der
siebziger und der achtziger Jahre aufrechterhalten ist.
(γ) Die Denkversuche dieser moralphilosophischen Reflexionen werden in der
,kritischen‘ bzw. ,klassischen‘ Endfassung zusammengefaßt, die in den ethischen
6
und religionsphilosophischen Druckschriften in den achtziger und neunziger Jahren veröffentlicht wird. Diese wird im letzten, 3. Teil der vorliegenden Arbeit als
die Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung strukturell herausgearbeitet.
Mit der Lehre vom Faktum der Vernunft allein kann nicht expliziert werden, warum
Kant in den „Reflexionen“ das Gesetz und die Freiheit so beharrlich in bezug auf
die Glückseligkeit, den Endzweck und die intelligible Welt zu erörtern versucht hat.
Diese Seite der Überlegungen der Kantischen Grundlegung der Ethik darf nicht außer acht gelassen werden. Sie kann erst mit der Annahme der Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung zur Klarheit gebracht werden. Die Strukturierung nun
dieser ganzen Phase, die von der Freiheit ausgehend über Gesetz zum Endzweck
gelangt, steht und fällt mit einer gelungenen Verbindung der Theorie des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft mit der Lehre vom höchsten Gut (cf. 3.2.0).
Der in der kognitiv-formalistischen Phase abgelehnte Begriff der Vollkommenheit
kann zuletzt in dieser ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung durch den
Selbstentwurf der reinen praktischen Vernunft (bzw. die Selbstobjektivierung des
reinen sittlichen Denkens) als eine vollkommene moralische, intelligible Welt wieder eingeräumt werden; diese wird nämlich durch den guten Willen (cf. 1.5), der
an und für sich vollkommen ist, objektiviert und gebildet.
6. Zuletzt seien einige Beschränkungen der vorliegenden Arbeit erwähnt.
(α) Für die Interpretation der Kantischen Grundlegung der Ethik überhaupt gibt
es außer dem Weg, den diese Arbeit geht, noch mehrere andere. Zwei davon sind
hier zum Vergleich vorzubringen. (1) Die Interpretation kann von der Auflösung
der Dritten Antinomie der KrV zum Bereich des moralisch-Praktischen übergehen.
Eine solche transzendentale Begründung der Ethik geht von der transzendentalen
Freiheit in der theoretischen Philosophie aus.3 Da aber bei Kant die Realität der
Freiheit sowohl sachlich als auch entwicklungsgeschichtlich früher ist als die Idealität von Raum und Zeit, worauf die ganze kritische theoretische Philosophie Kants
basiert, können wir unsere Interpretation ohne Umwege direkt mit moralischem
Gesetz und Freiheit beginnen. (2) Die Interpretation kann sich auf die Analyse der
Imperative und der Vier Beispiele in den ethischen Druckschriften konzentrieren,
was aber bisher ausreichend ausgeführt worden ist. Unsere Interpretation muß nicht
wieder auf eine solche eingehen.
(β) Die vorliegende Arbeit zieht die Schriften in den fünfziger Jahren und das
Alters- und Nachlaßwerk „Opus postumum“ (1796-1803) nicht in Betracht, sondern beschränkt sich auf die Werke (Druckschriften, Reflexionen und Vorlesungen)
von den sechziger bis zu den neunziger Jahren außer dem ebengenannten Nachlaßwerk. Sie kann aber die Grundlage für weitere Forschung sowohl über die früheste
Ethik Kants4 als auch über die spätesten ethischen und religionsphilosophischen
Gedanken Kants im Alters- und Nachlaßwerk5 schaffen.
3
Ein neuliches Beispiel solcher Zugangsart zur Kantischen Grundlegung der Ethik findet man in
der Dissertation von B. Sob, Kants transzendentale Begründung von Ethik, Wien 1985.
4
Zur frühesten Ethik Kants vgl. Henrich, D., Über Kants früheste Ethik, in: Kant-Studien, Bd.54,
1963.
5
Zu Kants ethischen und religionsphilosophischen Gedanken im „Opus postumum“ vgl. Wimmer,
7
(γ) Eine nähere Analyse der Verhältnisse zwischen Freiheit und moralischem
Gesetz, insbesondere der Genese des Gesetzes als des reinen Denkens aus der Freiheit, fehlt der vorliegenden Arbeit. Es wäre aber vielleicht sinnvoller, diese Verhältnisse nicht allein in den zu diesem Problem nur dürftige Ergebnisse einbringenden
ethischen und religionsphilosophischen Gedanken Kants, sondern in weiteren Zusammenhängen und Aussichten zu erörtern. Die christliche Tradition, zu der auch
die Kantische Ethik gehört, bietet einer solchen Problematik etwa die paulinische
Erlösungslehre und die lutherische Rechtfertigungslehre an.
(δ) Ein Ausblick auf die Möglichkeit, die voneinander getrennten zwei Phasen
der ethischen Gundlegung wieder in der ethischen Geisteslage eines Menschen zu
einer höheren, reinen Einheit zu bringen, der Einheit der Geisteslage, in der etwa
nach Heraklit „der Weg hinauf hinab einer und derselbe“6 ist, ist in der vorliegenden Arbeit nicht eröffnet. Es handelt sich dabei um einen tiefen Sinn des Begriffs
der Freiheit als des Wendepunktes von der ersten Läuterungsphase zur zweiten
Aufbauphase.
(b) Analytisch-regressives und synthetisch-progressives Verfahren in der Grundlegung der Ethik.
In Frage käme auch, die Phase der kognitiven formalistischen Grundlegung (Exposition des Gesetzes und Deduktion der Freiheit) und die Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung (die sich aus der Theorie des Gegenstands der reinen
praktischen Vernunft und der Lehre von dem höchsten Gut und dessen Postulaten rekrutiert) gemäß der Kantischen wissenschaftlichen Methode je analytischregressiv und synthetisch-progressiv7 zu nennen.
1. Unter der analytisch-regressiven und der synthetisch-progressiven Methode
versteht man in erster Linie die wissenschaftliche Forschungs- bzw. Darstellungsmethode, wobei die Synthese sich meistens als Komplementärverfahren der Analyse nachvollzieht, die wesentlich wissenschaftliche Untersuchung leitet und trägt.
Analytische Methode wird in der Überlieferung erstmals von Aristoteles als
R., Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin 1990, Dritter Teil, S.219ff.
6
Heraklit, Fragm. 60, in: Kranz, W., Vorsokratische Denker, o. O. 4 1974, S.71.
7
Zu analytischer und synthetischer Methode bei Kant vgl. Prol., § 5 Anm., IV 276: Analytische
Methode bedeutet, „daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben ist, ausgeht und zu
den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich“ ist; „sie könnte besser die regressive
Lehrart zum Unterschiede von der synthetischen oder progressiven heißen“; Log., §117, IX 149:
„Die analytische Methode ist der synthetischen entgegengesetzt. Jene fängt von dem Bedingten und
Begründeten an und geht zu den Prinzipien fort (a principiatis ad principia), diese hingegen geht
von den Prinzipien zu den Folgen oder vom Einfachen zum Zusammengesetzten. Die erstere könnte
man auch die regressive, sowie die letztere die progressive nennen“; XVI 786-9 (Refl.3340-3344 zu
Meiers Kompendium §§422-425); XXIV 291 (Logik Blomberg), 481 (Logik Philippi), 683 (Logik
Busolt), 779 (Logik Dohna-Wundlacken = Kowalewski, A., Die philosophischen Hauptvorlesungen
Immanuel Kants, München 1924, II. Logik, S.499); Inaugural-Dissertation, Sectio I, §1, II 387f;
Refl.3890, XVII 329 Z14, Θ (1766-68); Fortschritte, XX 295; etc.
8
damals schon bekannt vorgestellt.8 Bei der Lösung geometrischer Konstruktionsaufgaben verfährt man ihm zufolge analytisch, d. h. man geht von einer schon
vollständig konstruierten Figur als Zweck aus, überlegt die ihr nächste Voraussetzung (das nächste Mittel) und wiederum deren Voraussetzung, bis man die letzte
Voraussetzung erlangt, mit der man die wirkliche Konstruktion dieser Figur anfangen kann. Das Letzte in dieser regressiven Analyse ist das Erste in der progressiven
Verwirklichung. Mit dieser Lösungsmethode der Konstruktionsaufgabe in der Nikomachischen Ethik ist die Analyse als Rückführung einer gegebenen Sache auf
ihre ersten Bedingungen bzw. Prinzipien exemplifiziert.
In der Neuzeit befaßt sich Descartes mit diesem methodologischen Thema.
In der Antwort auf die zweiten Einwände gegen die „Meditationes“ teilt er die
Beweisarten in Analysis (Auflösung) und Synthesis (Zusammensetzung) ein. Die
erstere „zeigt den wahren Weg, auf dem eine Sache methodisch und gleichsam
a priori gefunden“ wird; die letztere hingegen „geht den entgegengesetzten Weg
und beweist gleichsam a posteriori ... den Schlußsatz“. Während sich die euklidische Geometrie in ihren Schriften allein der Synthesis bedient, geht Descartes
selber in den „Meditationes“ „ausschließlich den Weg der Analysis“.9 Auch für
Leibniz stellen Analysis und Synthesis Grundbegriffe seiner philosophischen Methodologie dar.10 Es ließe sich nun annehmen, daß in G. F. Meiers „Vernunftlehre“
und „Auszug aus der Vernunftlehre“ unter dem Einfluß von Leibniz auch der eben
dargestellte kartesische allgemeine Begriff von Analysis und Synthesis de facto
überliefert ist.11
Da bei der unmittelbaren Quelle des Kantischen Begriffs von analytisch-regressiver und synthetisch-progressiver Methode, der in seinen Druckschriften, Vorlesungen und Reflexionen auftritt, von keinem anderen als G. F. Meier die Rede
ist, so beschränkt sich der tatsächliche Gebrauch dieses Begriffspaars bei Kant
auf die allgemeine wissenschaftliche Methodologie. Im Sinne dieser allgemeinen
wissenschaftlichen Forschungsmethode sagt Kant - auch parallel zu Descartes -:
„Die Methode der Philosophie, aber besonders der reinen Philosophie, ist analytisch.“12 Dementsprechend versucht er auch im Gegensatz zu Rousseau vom gesit8
Vgl. dazu Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 5, 1112b, in der Übersetzung von F. Dirlmeier,
Stuttgart 1990, S.63.
9
Descartes, R., Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden
und Erwiderungen, übersetzt von A. Buchenau, ND Hamburg 1994 (Leipzig 1 1915), S.140f.
10
Diese Begriffe erscheinen an verschiedenen Stellen der Schriften von Leibniz, der auch einen
eigenen Aufsatz zu diesem Thema verfaßte. Vgl. hierzu Die philosophischen Schriften von G. W.
Leibniz, hrsg. von C. J. Gerhardt, ND Hildesheim 1960-61, 1978, VII, 292-98 (dt.: Die Methoden
der universellen Synthesis und Analysis, in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der
Philosophie, Bd.1, übersetzt von A. Buchenau, Hamburg 3 1966 (1 1904), S.39-50; engl.: Of universal
Synthesis and Analysis, in: Leibniz, Philosophical Writings, ed. G. H. R. Parkinson, London 1973,
S.10-17).
11
Vgl. Meier, G. F., Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, §§422-426 (wiederabgedruckt:
Kant, AA, XVI 786-789; auch der §464 der „Vernunftlehre“, in dem die analytische und die synthetische Methode erörtert sind, ist in AA, XVI 786f abgedruckt).
12
Logik Philippi, XXIV 481.
9
teten Menschen als faktisch Gegebenem anzufangen und analytisch zu verfahren.13
Die ganze Grundlegung der Ethik verfährt grundsätzlich analytisch-regressiv im
Sinne der allgemeinen wissenschaftlichen Forschungsmethode, und das synthetischprogressive Verfahren wird nur ab und zu als rückläufige Zusammenfassung von
durch Analyse gewonnenen Ergebnissen komplementär vorgenommen.14 Dabei ist
die Beurteilung dessen, ob ein Teil einer ganzen Ausführung analytisch oder synthetisch ist, nicht a priori zu bestimmen, sondern hängt davon ab, was als das zu
analysierende gesamte Phänomen gewählt wird, und zu welchen ersten Prinzipien
dieses durch die Analyse geführt wird; er kann daher je nach seinen Umständen
als analytisch oder als synthetisch ausgelegt werden. Daß Kant nun die ersten zwei
Abschnitte der GMS analytisch und den letzten, dritten synthetisch nennt,15 rührt
grundsätzlich von dem allgemeinen wissenschaftlich-methodologischen Gebrauch
des Begriffspaars her, obwohl diese Benennung von bestimmten Umständen abhängt. Denn der letzte Abschnitt verwendet für die Erklärung der Verbindlichkeit
des kategorischen Imperativs systematisch und architektonisch die Ergebnisse der
ihm vorangehenden, analytisch geführten zwei Abschnitte, obgleich auch er gemäß
der analytischen Untersuchungsmethode ausgeführt wird. Daß die KrV „durchaus
nach synthetischer Lehrart abgefaßt sein mußte“,16 besagt lediglich, daß, obwohl
die Untersuchtung selbst analytisch durchgeführt worden ist, ihre gesamten Ergebnisse systematisch und architektonisch eingeordnet und dargestellt werden müssen.
Jene Interpretation von M. Laupichler, die Moral und ihre Komponenten überhaupt
aus der teleologischen Seinsordnung zu deduzieren, welche unten in Betracht gezogen wird, läßt sich schließlich dahingehend verstehen, daß sie die von Kant durch
die analytische Methode erworbenen Ergebnisse vom ersten Prinzip einer intelligiblen Welt her erneut synthetisch-progressiv zusammenzufassen versucht. (Sie
kann aber nicht für synthetisch-progressiv im sogleich unten dargelegten, besonderen Sinn genommen werden. Denn in Kants Ethik gilt die unbedingte Gesetzlichkeit aus Freiheit als unmittelbarer moralischer Bestimmungsgrund des Willens
und wird für den primären Grund der Ethik genommen werden, und der Endzweck
und die teleologische Seinsordnung können erst durch die Erweiterung dieser Gesetzlichkeit aus Freiheit ihre sekundäre Gültigkeit erhalten, obwohl sie latent das
ganze ethische Denken Kants geleitet und reguliert haben mögen.) Also lassen sich
unter dem Aspekt der allgemeinen wissenschaftlichen Forschungs- und Darstel13
Vgl. Bemerkungen, XX 14: „Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an.“
14
Die „synthetische Wiederkehr“, in der alle Teile, die vorher analytisch gegeben worden sind, in
ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander aus der Idee des Ganzen architektonisch und durch die
innigste Bekanntschaft mit dem System ins Auge gefaßt werden (KpV, V 10 <A18f>), ließe sich
allgemein-methodologisch als rückläufige Zusammenfassung der analytisch erworbenen Ergebnisse
verstehen.
15
GMS, IV 392 <BXVI>, 445 <B96>.
16
Prol., IV 263. Übrigens handelt es sich in der Formulierung, daß die Analysis die Synthesis
voraussetzt (KrV, III 107 <B130>, 91 <B103>), bei der letzteren nicht um die wissenschaftliche
synthetische Methode, sondern um die Verstandessynthesis, wodurch die Gegenstände allererst gegeben werden, mit welchen die erstere sich beschäftigen kann.
10
lungsmethode sowohl die Phase der kognitiven formalistischen Grundlegung als
auch die Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung als ein Anwendungsfall
der analytisch-regressiven Methode verstehen. Diese analytisch-regressive Grundhaltung Kants zur philosophischen Forschung zeigt sich auch in seinem erkenntniskritischen Motiv überhaupt, welches mit dem Rückgang vom πρότερον πρὸς
ἡμᾶς zum πρότερον τῆͺ ϕύσει17 bei Aristoteles vergleichbar wäre. Die ganze Bewegung der ethischen Untersuchung Kants vom Gesetz zur Freiheit und von dieser
übers Gesetz zur intelligiblen Welt als Endzweck ist durch diesen Geist der analytischen Regression zum der Natur nach Früheren im allgemeinen wissenschaftlichmethodologischen Sinn geleitet.
2. Nun werden in den “‘Meditationes“ von Descartes bekanntlich Gegenstände der cogitatio durch die Methode des Zweifels auf die intuitive Gewißheit des
Seins des cogito zurückgeführt, das wegen seiner Endlichkeit auch das Dasein
Gottes deduzieren läßt. Von der Gewißheit der res cogitans und des Daseins Gottes aus können nun aber wieder die in der Rückführung geleugneten Gegenstände, etwa materiale Dinge, konstitutiv eingeräumt werden. Diesen beiden einander entgegengesetzten Richtungen der Untersuchungen der „Meditationes“ entsprechen die Rückführung der verwickelten und dunklen propositiones auf einfachere, und letzten Endes auf die allereinfachsten, und das stufenweise Hinaufsteigen von der Intuition der letzteren zur Erkenntnis aller anderen in Regel 5
der „Regulae“.18 In den „Meditationes“ also, in denen Descartes ausschließlich
den Weg der Analyse geht, lassen sich wiederum ein analytisch-regressives und
ein synthetisch-progressives Verfahren erkennen. Ebenso sehen Kant-Interpreten
in der sogenannten Kantischen „transzendentalen Methode“ beides Verfahren.19
Nach diesem von Kant selbst nicht ausdrücklich gemachten besonderen Gebrauch
des methodologischen Begriffspaars von ,analytisch‘ und ,synthetisch‘, in dem der
Wendepunkt von der analytischen Rückführung zum synthetischen Wiederaufsteigen als transzendental-subjektives erstes Prinzip gebildet wird, ließe sich die Phase
der kognitiven formalistischen Grundlegung (Exposition des Gesetzes sowie der
reinen praktischen Vernunft und Deduktion der Freiheit; Kritik der praktischen
Vernunft) als analytisch-regressiv, die Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung (Deduktion des Gesetzes aus Freiheit, der Einzelpflichten aus Gesetz und
17
Vgl. dazu Arist., Top., Z, 4; Phys., A, 1; Anal. pr., B, 23; Anal. post., A, 2.
Vgl. Descartes, R., Regulae ad directionem ingenii, Lat.-Dt., kritisch revidiert, übersetzt und
herausgegeben von H. Springmeyer, L. Gäbe und H. G. Zekl, Hamburg 1973, S.28f (in der Ausgabe
von Adam und Tannery, X, 379). Beide Verfahren in Regel5 der „Regulae“ zeigen sich auch in Regel2
und 3 des 2. Kapitels des „Discours“.
19
Vgl. dazu etwa Kaulbach, F., Immanuel Kant, Berlin 2 1982, S.320f: „Man hat von der ,transzendentalen Methode‘ bei Kant gesprochen. Diese kann man grob so charakterisieren: Zunächst
,isoliert‘ Kant die reine Vernunft in verschiedenen Richtungen: als theoretische und als praktische
Vernunft. Er stellt sie auf den Stand ihrer eigenen Spontaneität und reinigt sie von allen empirischen
Beimischungen. Ist dieser Schritt geschehen, welcher etwa der traditionellen ,analytischen Methode‘
entspricht, dann folgt eine Umwendung des philosophischen Gedankens: die reine Vernunft muß ihren Weg wieder zur Unmittelbarkeit der Empfindung des Wahrnehmens und sinnlichen Anschauens
zurückfinden. Das ist dem Verfahren der ,synthetischen Methode‘ analog.“
18
11
Konstitution des höchsten Guts als Endzweck) als synthetisch-progressiv bezeichnen, obgleich beide Phasen im allgemeinen wissenschaftlich-methodologischen
Sinne insgesamt analytisch-regressiv sind. Den Wendepunkt von der analytischregressiven zur synthetisch-progressiven Phase bildet die negative Freiheit, die als
transzendental-subjektives erstes Prinzip eingesetzt ist. J. Schmuckers Verwendung
des methodologischen Begriffspaars auf beide Phasen der Grundlegung der Ethik
hinsichtlich des Zweckbegriffs kann nur in diesem besonderen, transzendentalen
Gebrauch desselben gerechtfertigt werden. Er deutet nämlich zunächst darauf hin,
daß in den Grundlegungsschriften die unvollkommenen Pflichten aus dem Gesetz
auf materiale Zwecke hin abgeleitet oder selber für solche gehalten werden können und daß man in diesem Punkt eine Verbindungslinie zwischen jenen Schriften
und der MS finden kann, und bemerkt dazu, der Gedanke der materialen Zwecke
in unvollkommenen Pflichten scheine doch der These zu widersprechen, daß der
Zweck-an-sich-selbst im kategorischen Imperativ von allen materialen Zwecken
durchaus zu abstrahieren sei.20 Ihm zufolge handelt es sich dabei jedoch „nicht so
sehr um einen Widerspruch als vielmehr um die unvermeidliche Überkreuzungen
zweier notwendiger Gedankenbewegungen“: Bei der ersten Gedankenbewegung
sei von der Ausschaltung der materialen Zwecke von der Begründung des obersten
Prinzip der Moralität die Rede, bei der zweiten von der Ableitung der Pflichten der
spezifisch menschlichen Art sowie der dabei notwendigen Berücksichtigung der
materialen Zwecke. Er nennt jene analytisches, diese synthetisches Verfahren.21
Da aber diese Wortverwendung Schmuckers nicht strikt Kantisch ist - bei Kant
gilt lediglich der allgemeine wissenschaftlich-methodologische Gebrauch -, bezeichnet die vorliegende Arbeit versuchsweise das analytische Verfahren der Grundlegung als die Phase der kognitiven formalistischen Grundlegung und das synthetische als die der moralisch-praktischen Zwecksetzung; diese Bezeichnung, die die
offensichtliche Differenzierung der Kantischen Grundlegung der Ethik nicht sehr
treffend zum Ausdruck bringt, ist auch eine Übergangslösung. Wird die ethische
Eigentümlichkeit berücksichtigt und bedenkt man dabei auch, daß Kants Ethik
Gesinnungsethik ist, so ließen sich vielleicht beide Phasen als Läuterungs- und
Aufbauphase auszeichnen. Im 2. Abschnitt der GMS, der von Kant überhaupt als
analytisch im allgemeinen Sinn bezeichnet ist, liegen nun also wieder - mit den
Worten von Schmucker - ein analytisches und ein synthetisches Verfahren im besonderen Sinn beschlossen, welches letztere die Phase der moralisch-praktischen
Zwecksetzung darstellt.
20
Vgl. Schmucker, J., Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants,
in: Lotz, J. B. [Hrsg.], Kant und die Scholastik heute, Pullach b. München 1955, S.190-192.
21
Vgl. ibid., S.193.
12
(c) Abgrenzung von der Interpretation M. Laupichlers.
M. Laupichlers Arbeit,22 die den Zusammenhang zwischen Formalismus und intelligibel-materialem Teil in der Kantischen Ethik unter dem Primat des letzteren
erörtert, stellt einen Meilenstein in der Interpretationsgeschichte der Kantischen
Moralphilosophie dar, indem sie die bis dahin vorherrschende einseitige formalistische Auffassung der Kantischen Ethik ins Prüfungsstadium gebracht hat; sie
läßt sich deshalb heute als ein Klassiker in diesem Problembereich ansehen. Seine
Argumentation ist kühn und verwegen auf eine einzige Hauptthese hin durchgeführt, jedoch auch systematisch dicht und umfassend, und vor allem konsequent
durchdacht, so daß man heute noch dieser Arbeit aufschlußreiche Hinweise entnehmen kann. Die modernen Interpretationen der Kantischen Philosophie können
mit wenigen Ausnahmen hinsichtlich der Gesamtperspektive sowie hinsichtlich der
Kreativität und Aufrichtigkeit der Interpretation diese Arbeit kaum übertreffen, obwohl sie in Einzelheiten korrekter und ausführlicher, im ganzen aber vorsichtiger
und zurückhaltender ausgearbeitet sind. Auch die vorliegende Arbeit zählt sich zu
solchen Interpretationen. Laupichler hat nun seine Arbeit zwar vor dem Erscheinen
des Bd.XIX der Akademie-Ausgabe veröffentlicht, konnte aber dafür schon Menzers Ethik-Vorlesung („Ethik Menzer“) und Reickes „Lose Blätter“ benutzen und
war dadurch in der Lage, auch von den moralphilosophischen Reflexionen Kants
im Umriß Kenntnis zu nehmen. Da seine Arbeit bereits teilweise zu einem ähnlichen Ergebnis der Untersuchung der moralphilosophischen Reflexionen Kants wie
die vorliegende Arbeit gelangt ist, ist es erforderlich, vorerst die Unterschiede zwischen beiden Arbeiten klar zu machen.23
1. Obwohl Laupichlers Arbeit eine Streitschrift ist, die angesichts der Kritik M.
Schelers am Formalismus der Kantischen Ethik nicht unmittelbar für diesen plädiert, sondern im Gegenteil die materialen Grundzüge derselben hervorhebt, um
damit die Voraussetzung jener Formalismus-Kritik zu Fall zu bringen und diese zu
vereiteln, so gesteht er doch zu, daß in beiden Grundlegungsschriften, der GMS
und der KpV, der Formalismus vorherrscht. Er nimmt aber nicht den gesamten
formalen Teil der Kantischen Ethik in Schutz, sondern nur eine Schicht desselben, d. h. er differenziert ihn in subjektiv-formale und objektiv-formale Schicht.
Die erstere betrifft die Bildung der moralischen Handlung durch die Grundhaltung
des handelnden Subjekts, die in der Unbedingtheit der Gesetze und somit in der
Freiheit des Willens fundiert ist, und umfaßt dementsprechend den guten Willen,
Verbindlichkeit, Pflicht, Nötigung, Freiheit usw. Die letztere Schicht bilden die
dem obersten Formalprinzip (der allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs) gewidmeten Partien. Nach Laupichler ist jene subjektiv-formale Schicht der
Grundlegung bei weitem wichtiger als diese objektiv-formale; formalistische Inter22
Laupichler, M., Die Grundzüge der materialen Ethik Kants, Berlin 1931.
Auf die Unterschiede zwischen beiden Arbeiten in bezug auf die „Fundamentalprinzipien der
materialen Ethik Kants“ wie Glückseligkeit, Vervollkommnung, Zweck-an-sich-selbst und systematische Ordnung (ibid., S.36-86) können wir uns nicht einlassen, weil die Ausführung ihrer Analyse
in allen Details diese Einleitung zu lange machen würde.
23
13
pretationen, die die erstere, wichtigere subjektive Schicht dem Formalprinzip der
objektiv-formalen Schicht unterordnen, seien daher falsch. Denn Kants Lehre von
der Moralität beziehe sich primär nicht auf das Moment einer allgemeinen Gesetzgebung im Formalprinzip, sondern basiere unmittelbar auf den subjektiv-formalen
Prinzipien: Unbedingtheit der Gesetze und Freiheit des Willens.24 Aus dieser Position Laupichlers aber folgt u. E. auch, daß Moralität, die im subjektiv-formalen
Teil der Ethik zu fundieren ist, nicht auf den empirisch dargestellten ,materialen‘
Gesetzen, sondern auf der Befreiung vom Empirischen (Freiheit) durch die Unbedingtheit der Gesetze beruht; diesen mag andererseits freilich die Möglichkeit
nicht zu nehmen sein, als Gesetze des Seins in der intelligiblen Seinsordung zu
gelten. Bei Laupichlers Betonung des subjektiv-formalen Teils handelt es sich also
darum, hervorzuheben, daß Moralität auf der Freiheit basiert, zu deren Sicherung
die Materialität überhaupt einmal auszuschalten ist.
Diese Differenzierung nun des formalen Teils der Kantischen Ethik und die
Betonung der subjektiv-formalen Schicht werden auch in der vorliegenden Arbeit
vorgenommen: Die propositional-objektive kognitiv-formalistische Grundlegung
beruht auf der psychologisch-subjektiven Grundlegung, und die letztere ist bei weitem wichtiger (cf. 1.1 und 1.2). Denn Moralität muß sich primär auf die Unbedingtheit des reinen sittlichen Denkens und die Freiheit des Willens, mit einem Wort auf
die Realität der Freiheitskausalität, gründen. Jedoch beschränkt Laupichler bei der
Gewichtlegung auf den subjektiv-formalen Teil die Geltungskompetenz des Formalprinzips auf dessen wörtlichen, oberflächlichen Sinn: Das im Formalprinzip
zum Ausdruck gebrachte Moment der Allgemeinheit bzw. allgemeinen Gesetzgebung scheide nur die legalen (pflichtmäßigen) Handlungen von den illegalen; erst
der freie, aus dem innersten Kern der Person quellende Akt der willentlichen Stellungnahme für das Gesetz bloß aus Achtung, der im subjektiv-formalen Teil thematisiert wird, mache aus der legalen Handlung eine moralische.25 Diese Beschränkung der Funktion des kategorischen Imperativs durch Laupichler kann aber nicht
gerechtfertigt werden. Der kategorische Imperativ liefert in der Tat das Kriterium
der Moralität und nicht der Legalität. Denn er ist keine logizistische Formel der Allgemeinheit, sondern impliziert auch schon das von Laupichler betonte Subjektive,
nämlich die Unbedingtheit des moralischen Gesetzes und die Freiheit des Willens,
sofern er, obwohl er im Satz bloß die Allgemeinheit ausdrückt, auf jener Distanzierung von materialen Bestimmungsgründen des Willens, demnach dem Freisein und
Unbedingtsein vom Empirischen, basiert, die in der psychologisch-subjektiven formalistischen Grundlegung nachgewiesen wird. Während Laupichler das Formalprinzip, wie sogleich dargestellt wird, reduktionistisch aus den ,materialen‘ Gesetzen der intelligiblen Seinsordnung zu deduzieren versucht, so daß es seine subjektiven Charakteristiken der Unbedingtheit und Freiheit verliert, verankern wir es zunächst unter erkenntniskritischem Gesichtspunkt fest im anthropologisch-subjektiv
betrachteten Faktum der Vernunft als Sichaufdrängen der moralischen, unbeding24
25
Vgl. ibid., S.98-103.
Vgl. ibid., S.102.
14
ten Gesetzlichkeit aus Freiheit. Unter dem essentiellen, moralisch-teleologischen
Gesichtspunkt aber kann die formale Gesetzlichkeit aus der Zusammenstimmung
der Freiheit mit sich selbst als mit den Zwecken deduziert werden, welche sich auf
die teleologische Seinsordnung beziehen.
Nun grenzt Laupichler die ,materialen‘ Gesetze gegen das Formalprinzip als
Beurteilungsprinzip ab. Jene sind ihm zufolge in der intelligiblen Seinsordnung
beheimatet, und dieses sei nichts als ihr subjektiv-formaler Repräsentant, auf den
sie reduziert werden, um mit der Grundhaltung des handelnden Subjekts verbunden zu werden. Daß das Formalprinzip aus den ,materialen‘ Gesetzen deduziert
werden soll, liege in der Absicht Kants, den subjektiv-formalen und den objektivmaterialen Teil der Ethik miteinander zu verbinden, welcher etwa in der Tugendlehre der MS und der Ethik Menzer (der von P. Menzer edierten Ethik-Vorlesung
Kants) präsentiert ist und ,materiale‘ Gesetze thematisiert. Diese Deduktion stellt
demnach die Begründung der Moralität als des kognitiv Vorgegebenen aus der intelligiblen Seinsordnung als dem essentiellen Grund dar und kann eben als ein Anwendungsfall der synthetisch-progressiven Lehrart verstanden werden. In der reduktionistischen Deduktion des Formalprinzips aus den ,materialen‘ Gesetzen zum
Zwecke der Verbindung des objektiv-materialen mit dem subjektiv-formalen Teil
der Ethik wollte Kant, so Laupichler, jeden Hinblick auf einen objektiven Sinn der
Moral, wie etwa das Weltbeste, ausschalten, um damit die Motivation des Willens
durch Gesetze, wobei es auf die Reinheit desselben ankommt, zu ermöglichen. Die
Subjektivierung der Gesetze führt also deren Formalisierung mit sich. Somit sei der
Bestimmungsgrund des Willens in die formale Allgemeinheitsformel des Formalprinzips verlegt worden.26 Mit dieser Deduktion des Formalgesetzes aus ,materialen‘ Gesetzen aber müßte Laupichler u. E. zugeben, daß zur Einräumung der reinen
Moralität die Abstrahierung von aller Materie, mithin auch von „Materie2 “ (siehe
unten), unabdingbar ist. Ohne diese Abstrahierung nämlich könnten die Reinheit
des Willens und mithin das Formalprinzip nicht zustandegebracht werden. Sie impliziert, daß auch die Materialität der ,materialen‘ Gesetze ausgeschaltet werden
soll.
Die Materialität der ,materialen‘ Gesetze in der intelligiblen Seinsordnung ist
aber für Laupichler die unerläßliche konstitutive Bedingung dieser Gesetze, weil
diese in der Seinsordnung ihre qualitative Vielheit beibehalten müssen. Die Materie
könne nicht ausschließlich der empirischen Sphäre zugerechnet werden. Denn andernfalls könnten die ,materialen‘ Gesetze nicht für alle vernünftigen Wesen überhaupt und mithin auch nicht für Gott gelten. Damit also die Materialität in den
,materialen‘ Gesetzen, die in der teleologischen Seinsordnung beheimatet sind, gesichert werden kann, unterscheidet Laupichler zwischen der Materie, die von der
Moralität ausgeschaltet werden soll, und der Materie, die in den ,materialen‘ Gesetzen aufbewahrt bleiben soll. Die erstere heißt „Materie1 “, die empirische Handlungen, Gegenstände und Absichten (empirisch-subjektive Zwecke) umfaßt, welche
zu erwarten, zu bewirken und zu verwirklichen sind. Das Abzielen auf solche Ma26
Vgl. ibid., S.105.
15
terie läuft auf die eudämonistische Erfolgsethik hinaus. Materie1 müsse demnach
aus der Ethik der ,materialen‘ Gesetze ausgeschaltet werden, und schon hier zeigt
sich u. E. gewissermaßen der formalistische Grundzug in Laupichlers Interpretation. Gegen Materie1 grenzt sich nach Laupichler die letztere Materie, „Materie2 “,
ab, worunter die Handlung an sich selbst, in der die Gesetze sich manifestieren, die
qualitative Bestimmung der Maxime selbst im Gegensatz zu ihrem außerhalb ihrer
liegenden Objekt (Materie1 ) und die objektiven Zwecke entgegen allem zu bewirkenden Zweck (Materie1 ) in der Tugendlehre der MS zu verstehen sind.27 Um
also unter dem Aspekt des erkenntniskritischen Rückführungsmotivs vom pathologisch bedingten Willen zum reinen Willen zurückzugehen, oder damit die ,materialen‘ Gesetze in der intelligiblen Seinsordnung unter dem Aspekt der umgekehrten,
synthetisch-progressiven Richtung sich durch ihre Subjektivierung mit dem reinen
Willen verbinden können, werden das Formalprinzip und die Abstrahierung von
der Materie benötigt. Diese Notwendigkeit wird auch von Laupichler nicht bestritten. Unter dem letzteren Aspekt muß u. E. auch er die gesamte Materie ausschalten.
Unter dem ersten Aspekt aber, nämlich dem der kognitiven Rückführung auf die
Freiheit, erkennt er zunächst lediglich Materie1 als Gegenstand der Ausschaltung
an und weist scharf darauf hin, daß Kant zur Deduktion des Formalprinzips (u.
E. somit auch des reinen Willens) nur Materie1 ausdrücklich ausschaltet und diese dann unvermittelt durch den Inbegriff der Materie, „Materie3 “ („Materie3 =
Materie1 + Materie2 .“), ersetzt.28 Diese Ersetzung ist u. E. bei Kant unvermeidlich, weil sonst weder der reine Wille noch das Formalprinzip eingeräumt werden
könnten. Sie ist aber für Laupichler verdächtig, weil er Materie2 zugunsten seiner
,materialen‘ Gesetze sicherstellen muß.
Nun beruht bei Kant die Unvermeidlichkeit der Ausschaltung der gesamten
Materie in der Deduktion des Formalgesetzes und der Willensfreiheit darauf, daß
der materiale Bestimmungsgrund überhaupt den Willen nicht moralisch, d. h. unbedingt, zu bestimmen vermag, sondern bloß Heteronomie des Willens herbeiführt;29
die moralische Bestimmung des Willens kann nur aus der Freiheit des Willens
(Laupichler nennt sie „metaphysische Freiheit“), d. h. aus der Sphäre, die durch
die Abstrahierung von aller Materie zu eröffnen ist, durch reine praktische Vernunft
getroffen werden; selbst die ,materialen‘ Gesetze der intelligiblen Seinsordnung in
ihrer Einzelheit würden, wenn sie empirisch hypostasiert würden, um den Willen
unmittelbar bestimmen zu können - ohne solche empirische Hypostasierung können sie als materiale Bestimmungsgründe den Willen nicht primär und unmittelbar
bestimmen -, den Willen seiner Autonomie berauben und ihn empirisch und totalitär unterdrücken; dazu aber fehlt ihnen die theoretisch-objektive Realität (sie
erhalten praktische Realität erst durch die Erweiterung des Formelgesetzes aus
Freiheit, das praktische Realität an sich hat); sollten sie ihn moralisch, d. h. aus
seiner Freiheit bestimmen - als Idee bestimmen sie ihn ja tatsächlich -, müssen
27
Vgl. ibid., S.20-23.
Vgl. ibid., S.21.
29
Vgl. dazu zunächst KpV, V 39-41 <A68-71>; GMS, IV 441-444 <B88-95>.
28
16
sie, wie oben nach Laupichler dargetan wurde, zuerst subjektiviert und formalisiert
werden und ihre Materialität in ihrem Repräsentanten, nämlich dem Formalgesetz,
aufheben, das praktische Realität hat, so daß es den freien Willen bestimmen kann;
erst dadurch kann der Wille aus seiner Freiheit autonom einzelne moralische (,materiale‘) Gesetze bilden, die ihn demnach ohne autoritäre Herrschaft bestimmen,
wobei nicht auszuschließen ist, daß die Idee der Gesetze des Seins in der intelligiblen Ordnung als Richtlinie der moralischen Bestimmung des freien Willens
dienen kann, weil die Gesetze des Seins ja der Ordnung der Dinge nach a priori
dem kognitiven Formalgesetz vorgeordnet (dies mag wohl die eigentliche Absicht
von Laupichler sein, materiale Grundzüge der Kantischen Ethik hervorzuheben).
Daher muß die Grundlegung der Ethik einmal formalistisch durch das Verfahren
der Abstrahierung von aller Materie in die negative Freiheit zurückgehen, wozu die
psychologisch-subjektive formalistische Grundlegung der Ethik als Rückführung
auf die Freiheit im „subjektiv-formalen Teil der Kantischen Ethik“ erfordert wird.
Laupichler erachtet diese Bedeutung der „metaphysichen Freiheit“ nicht genug als
für die Kantische Grundlegung der Ethik entscheidend, obschon er sie genau zur
Kenntnis nimmt.30 Daher läßt er auch bei der Darstellung der Differenz zwischen
Willen und Willkür31 den Begriff der ursprünglichen Freiheit der intelligiblen Willkür in der Religionsschrift von 1793, nämlich das moralische Gesetz als das gute
Prinzip anzunehmen, außer acht, der erst in einer tieferen Schicht angetroffen werden könnte als in der von ihm vorgestellten teleologischen Seinsordnung. Daß also
der ethische Formalismus und der Begriff der Freiheit bei Kant als philosophiegeschichtliche Errungenschaft eingeschätzt werden können, ist nicht ohne Grund
allgemein anerkannt, auch wenn sie lediglich eine Phase der Kantischen Grundlegung der Ethik darstellen.
Da für Kant zur Aufstellung des moralischen Bestimmungsgrunds des Willens die Abstrahierung von aller Materie unerläßlich ist, ist es für ihn folgerichtig,
auch in der Deduktion des Formalprinzips im 1. Abschnitt der GMS von der Vorstellung des Gesetzes, das nach Laupichler ,material‘ ist, zur allgemeinen Gesetzmäßigkeit, die formal ist, kontinuierlich überzugehen. Der Übergang stellt daher
weder das ,Herausspringen‘ noch den ,Bruch der Deduktion des Formalprinzips‘
dar, wie Laupichler behauptet.32 Freilich mag der Deduktion des Formalprinzips
als der allgemeinen Gesetzgebung latent die intelligible Seinsordnung zugrundeliegen. Daß aber jene diese voraussetzt, kommt bei Kant nicht im vermeintlichen
,Bruch der Deduktion‘ zwischen Gesetz und Formalprinzip zum Ausdruck, sondern im Sprung über die Kluft zwischen negativer Freiheit (Unabhängigkeit von
allen materialen Bestimmungsgründen des Willens) und Formalprinzip (allgemeiner Gesetzgebung) in der „Willensmetaphysik“ von Laupichler. Dieser Sprung, der
30
Vgl. dazu Laupichler, M., op. cit., S.106: „Nur geringes Gewicht legte er [sc. Kant] auf die
materiale Ethik auch deshalb, weil er keine Möglichkeit sah, von dem je besonderen Gehalt der
praktischen Gesetze aus die Realität der Freiheit, dieses Drehpunktes seiner gesamten Philosophie,
zu sichern.“
31
Vgl. ibid., S.91-93.
32
Vgl. ibid., S.103-105.
17
erst unter der Voraussetzung einer intelligiblen Seinsordnung möglich ist, zeigt sich
schon im ebendemselben Abschnitt der GMS in der Formulierung, daß der freie
Wille irgendwodurch bestimmt werden muß.33 Der Grund, warum Laupichler diese Textstelle nicht ins Auge faßt, sondern nach einer Stelle greift, die in der GMS
um ein paar Seiten später kommt, liegt darin, daß er die Freiheit stets und sofort
von der teleologischen Seinsordnung her ,totalitär‘ (im Sinne von ,die Gesamtheit
umfassend‘) betrachtet und die umgekehrte Richtung, in der moralisch-praktischen
Zwecksetzung von der Freiheit zur Seinsordung konstruktiv überzugehen, nicht
ernst nimmt, d. h. darin, daß er der Bedeutung der Freiheit als Ausgangspunkt der
Kantischen Grundlegung der Ethik kaum Gewicht beimißt.
Nun folgert man vielleicht aus den Ausführungen des 2. Abschnitts der GMS,
daß eine gewisse Materialität doch auch im Formalprinzip als Allgemeinheitsformel impliziert sein kann: das Reich der Zwecke als teleologische Struktur (systematische Verbindung) einer intelligiblen Gemeinschaft der Zwecke an sich selbst,
welche das intelligible Substratum einer solchen Welt konstituieren. Die Formel
des Zwecks an sich selbst und die des Reichs der Zwecke lassen sich in dieser Hinsicht als materiale Prinzipien bezeichnen,34 welche sich auf die Materialität der
intelligiblen Welt beziehen, wenn sie auch von Kant noch formal genannt werden.
Insofern sind sie vom Formalprinzip als Allgemeinheitsformel des kategorischen
Imperativs unterschieden, das in der KpV unmittelbar auf dem Faktum der reinen
praktischen Vernunft als Sichaufdrängen der Einheit und Universalität des reinen
sittlichen Denkens aus Freiheit basieren kann. Kant sagt jedoch, daß diese drei
Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, im Grunde nur soviele Formeln
ebendesselben Gesetzes sind, woraus man folgern kann, daß auch das Formalprinzip als eine Formel desselben Gesetzes jene Materialität der intelligiblen Seinsordnung latent impliziert, die in den anderen zwei Formeln gemeint ist. Unter diesen
beiden Formeln aber ist das Prinzip eines Zwecks an sich selbst (ohne Bezugnahme auf die konkrete Bedingung der Menschheit) wohl noch unmittelbar durch das
formalistische Verfahren (Abstrahierung) und aus dem Faktum der Vernunft anzunehmen. Allerdings kann die Idee eines Reichs der Zwecke als einer moralischen,
intelligiblen Welt (des Reichs Gottes) hingegen erst durch jene Selbstobjektivierung des im Formalprinzip artikulierten, den Begriff von Einheit und Universalität
33
GMS, IV 400 <B14>: „[D]enn der Wille ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf
einem Scheidewege, und da er doch irgendwodurch muß bestimmt werden, so wird er durch das
formelle Prinzip des Wollens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine Handlung aus Pflicht
geschieht, da ihm alles materielle Prinzip entzogen worden.“ Gerade auf diesem „Scheidewege“ verläßt er alle materialen Bestimmungsgründe, nimmt aber noch nicht das Formalprinzip an; er befindet
sich in der negativen Freiheit. Die Annahme des Formalprinzips aber erfolgt erst unter der Voraussetzung jener Notwendigkeit des Bestimmtwerdens des Willens durch irgendetwas, welche ohne
antizipierte apriorische Seinsordnung nicht anzunehmen wäre. Auch Laupichler erkennt diese Notwendigkeit, wenn er sieht, daß der Schluß vom Sollen auf das Können, nämlich die positive Freiheit,
eine zweckmäßige Ordnung voraussetzt und teleologisch vermittelt ist. Vgl. hierzu Laupichler, M.,
op. cit., S.28.
34
Vgl. dazu Schmucker, J., Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik
Kants, in: Lotz, J. B. [Hrsg.], Kant und die Scholastik heute, Pullach b. München 1955, S.176f.
18
darbietenden reinen sittlichen Denkens aus Freiheit konkretisiert werden, durch
welche dieses sich mit Materialität verbinden kann. Daß die drei Formeln die Arten sind, das einzige sittliche Gesetz vorzustellen, und daß „deren die eine die
anderen zwei von selbst in sich vereinigt“,35 kann eigentlich erst nach dieser expliziten Aufstellung der intelligiblen Welt durch die Selbstobjektivierung des reinen
sittlichen Denkens bzw. die moralisch-praktische Zwecksetzung der reinen praktischen Vernunft konstatiert werden. Die Deduktion der moralischen, intelligiblen
Welt ist daher nicht so einfach, wie sie in der GMS als Deduktion des Reichs der
Zwecke erscheint. Das Formalprinzip mag also wohl der Ordnung der Dinge nach
(synthetisch-progressiv) die Materialität der intelligiblen Welt latent implizieren,
darf aber der Ordnung der Erkenntnis nach (analytisch-regressiv) dieselbe in ihrer Konkretheit und Einzelheit nicht enthalten. Ihre konkrete Vorstellung muß erst
durch die moralisch-praktische Zwecksetzung der reinen praktischen Vernunft aus
der praktischen Realität der Freiheitskausalität mittels der Anwendung des Formalgesetzes geschaffen werden.
Das Formalprinzip fungiert nicht nur als Beurteilungsprinzip für Moralität,
sondern auch als Ableitungsprinzip, d. h. als konstitutive Bedingung für die Gestaltung von Einzelpflichten in der Konfrontation des freien Willens mit der empririschen Realität. Mag bei Kant die Idee einer teleologischen, intelligiblen Seinsordnung latent vorausgesetzt sein, die konkreten Einzelpflichten (Typen, objektivnotwendige Zwecke), die in der empirischen Dimension die ,materialen‘ Gesetze
der Seinsordnung widerspiegeln könnten, können doch erst in dieser Konfrontation
durch die Anwendung des Formalprinzips zustandegebracht werden. Wenn Laupichler zwischen das Formalgesetz und die konkreten Handlungen „die Schicht
der allgemeingültigen, objektiv-notwendigen moralischen Gesetze“ legt,36 so lassen sich diese Gesetze nicht sofort als die ,materialen‘ Gesetze in der intelligiblen
Seinsordnung, sondern vielmehr zunächst als die konkreten Einzelpflichten begreifen, die durchs moralische Gesetz bestimmt und eingeleitet werden. Bei „Materie2 “
hat man es demnach nicht ohne weiteres mit den ,materialen‘ Gesetzen in der
Seinsordnung zu tun, sondern zunächst mit den Einzelpflichten, den objektiv-notwendigen, intellektuellen Zwecken und den moralischen Handlungen selbst. Materie2 (die ,materialen‘, moralischen Zwecke als Pflichten), die in der kognitiven
formalistischen Rückführungsphase der Grundlegung auszuklammern ist, wird als
Gegenstand der reinen praktischen Vernunft (das Gute) durch die Selbstobjektivierung bzw. die moralisch-praktische Zwecksetzung des reinen sittlichen Denkens
aus Freiheit konstituiert und somit rehabilitiert. Ebenso mag das Sollen des Formalprinzips der Ordnung der Dinge nach von den Werten als den in der intelligiblen
Welt eingebetteten ,materialen‘ Gesetzen abgeleitet sein;37 Kant selbst aber deduziert die konkreten moralischen Gesetze, die Einzelpflichten (Typen, moralische
Zwecke), aus der Synthese zwischen dem Formalprinzip des kategorischen ImpeGMS, IV 436 <B79>.
Laupichler, M., op. cit., S.17.
37
Vgl. ibid., S.87f.
35
36
19
rativs und der empirischen Objektivität, d. h. er leitet in der Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung doch die Werte vom Sollen ab. Die Betrachtungsweise
gemäß der Ordnung der Dinge, nach der herausgestellt wird, daß etwa Kant bei
der Ableitung der unvollkommenen Pflichten mit der Aussage: „Allein er kann
unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde etc.“ „zu schon
vorausgesetzten materialen Prinzipien [sc. den Gesetzen in der Seinsordnung] Zuflucht genommen“ hat und daß daher das Formalgesetz bei der Ableitung bloß
als heuristisches Prinzip dienen kann,38 ist wohl durchaus annehmbar. Aber selbst
die Pflichten dieser Art können erkenntniskritisch in der Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung als Synthese aus Formalgesetz und empirischer Realität
expliziert werden (cf. 3.2.3.b.α) . Laupichler läßt absichtlich diese Phase überhaupt
in der Kantischen Ethik außer acht; seine Interpretation ist daher in diesem Punkt
sehr einseitig.
2. Laupichlers Orientierung an der „moralischen Teleologie“, d. h. bei ihm der
Fundierung der Ethik in jener teleologischen Seins- bzw. Weltordnung, deren Gedanke u. E. bei Kant als Ontotheologie oder Transzendentalphilosophie vor allem
in den metaphyischen Reflexionen des Bd.XVIII der Akademie-Ausgabe und im
„Opus postumum“ entwickelt ist und sich auch im Kanon-Kapitel der KrV niederschlägt, auf welches Laupichler sich häufig beruft,39 ist zum Zweck der Erklärung
des Hintergrunds der Kantischen Grundlegung der Ethik sicher berechtigt. Kant
selbst aber begründet in seinen tatsächlichen Ausführungen die Ethik nicht unmittelbar von der teleologischen Weltordnung (der moralischen, intelligiblen Welt
bzw. dem Reich Gottes) her, sondern erkenntniskritisch, d. h. gemäß der Ordnung
der Erkenntnis, von Freiheit und Gesetz her. Obgleich diese letzten Endes in der teleologischen Seinsordnung beheimatet sein mögen, beruft sich Kants Grundlegung
zuerst in der kognitiven formalistischen Phase der Grundlegung auf den Begriff der
Freiheit und begründet die Ethik erst von dieser aus durch das Verfahren einer Erweiterung der praktischen Realität der Gesetzlichkeit in der Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung, um zuletzt die moralische, intelligible Welt vor Augen
führen zu können.
Die theoretische Philosophie muß nun bei Kant sowohl hinsichtlich des Bedürfnisses und der Zufriedenheit der theoretischen Vernunft als auch bezüglich des
letzten Interesses des spekulativen Gebrauchs der Vernunft zur praktischen Philosophie übergehen. Laupichler zufolge steht im Hintergrund der Notwendigkeit
dieses systematischen Übergangs zum Praktischen die „Absicht der weislich uns
vorsorgenden Natur“, d. h. eine objektive Zweckordnung der Welt.40 Dabei übersieht er aber, daß bei Kant die Realität des Praktischen, genauer des Moralischen,
a limine gesichert ist (um diese auch theoretisch zu bewahren, ist das Konzept einer Idealität von Raum und Zeit als Voraussetzung der theoretischen Philosophie
38
Vgl. ibid., S.95.
Dabei aber sollte man sein Augenmerk auch darauf richten, daß Kant selber die Ethik gegen die
Transzendentalphilosophie abgrenzt. Vgl. dazu KrV, III 45 <B28f>, 520 Anm. <B829>.
40
Vgl. Laupichler, M., op. cit., S.25-27. Der zitierte Ausdruck stammt aus Kant (KrV, III 520
<B829>).
39
20
eingeführt worden; man erinnere sich auch an das bekannte Wort Kants: „das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“41 ); erst die praktische Realität der Freiheitskausalität steht für die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein
Gottes ein und sichert dadurch die praktische Gültigkeit einer teleologischen Weltordnung. Laupichler hingegen betont beim Beweis der Realität dieser drei Ideen
je die teleologische Begründung aus der verborgenen Zweckordnung.42 Für ihn
ist die Moral nur „auf der Grundlage einer auf sie und ihren Endzweck abgezielten zweckvollen Ordnung der Welt“ möglich.43 Seine teleologische Betrachtungsweise der Grundlegung der Ethik kann freilich der Ordnung der Dinge nach als
synthetisch-progressive Lehrart legitimiert werden. Sie ist aber von Kant nur peripher aufgenommen und ausgeführt. In der überwiegend erkenntniskritischen Betrachtungsweise unseres Philosophen garantiert erst die Moral die praktisch-reale
Gültigkeit der zweckmäßigen Ordnung, und das ist eben der Sinn seiner „moralischen Teleologie“ (cf. 3.3.1.c). Laupichlers Bezeichnung der Kantischen Ethik als
„moralische Teleologie“44 stimmt als solche nominell wohl auch mit der Ansicht
unserer Interpretation voll überein, nur verwendet er dabei dieses Wort nicht im
Kantischen Sinn. Er merkt freilich die „kritischen Beschränkungen“; er irrt sich
aber, wenn er sagt: „In der Urt. [sc. der KU] drückt er [sc. Kant] schließlich auch
die teleologische Betrachtungsweise überhaupt, auf der ja der gemeinsame nervus probandi der moralischen Beweise [jener drei Ideen als Postulate] beruht, zu
einem nur regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft herab.“ Denn der
nervus probandi der moralischen Beweise der Postulate besteht bei Kant vielmehr
primär in der praktischen Realität der Freiheitskausalität, und erst die Moral, die
auf dieser beruht, verleiht der physischen Teleologie, die an sich nur regulativ gilt,
durch den Begriff des praktischen Endzwecks praktisch-reale Gültigkeit und nicht
umgekehrt. Laupichler spricht zwar von der „vom Praktischen her erschlossenen
Weltteleologie“,45 geht aber der Frage nicht nach, wie bei Kant diese Erschließung
der Weltteleologie durch das Praktische ausgeführt wird. Bei dieser Ausführung
hat man es eben mit der moralisch-praktischen Zwecksetzung zu tun, deren Teil
durch die Lehre vom höchsten Gut und dessen Postulaten gebildet wird. Bei ihr
handelt es sich um das erkenntniskritische Verfahren, von der Subjektivität der
Freiheit her in eine zweckmäßige Welt, d. i. eine intelligible Seinsordnung, hineinzudenken; diese nämlich läßt sich der Ordnung der Erkenntnis nach nur von
der Freiheit her praktisch-real konstituieren. Laupichler übersieht nicht nur dieses
Verfahren bzw. die Phase der Zwecksetzung der reinen praktischen Vernunft aus
Freiheit, sondern zugleich auch Kants Ablehnung der Gegenständlichkeit der anschauenden Erkenntnis in der Wolffschen dogmatischen Philosophie als des moralischen Bestimmungsgrunds des freien Willens (weil die intellektuelle Anschauung
der Vollkommenheit eines Gegenstandes bei Kant nicht eingeräumt wird); in dieser
KrV, III 19 <BXXX>.
Vgl. Laupichler, M., op. cit., S.27-31.
43
Vgl. ibid., S.31-35.
44
Vgl. ibid., S.24.
45
Ibid., S.34.
41
42
21
Ablehnung sind der Kantische Begriff der Freiheit und die dadurch zu eröffnende
intelligible Seinsordnung verankert, die transzendental ist; bei unserem Philosophen wird diese streng von der Ebene der empirischen Objektivität unterschieden,
und dazu spielt die praktische Rückführung auf die Freiheit die entscheidende Rolle (cf. 1.2.3). Laupichlers Unterstreichung der teleologischen Seinsordnung geht an
diesem wichtigsten Punkt, nämlich der Differenz zwischen zwei Positionen bzw.
Welten, vorbei; er behandelt die Seinsordnung wie eine empirische Welt.
22
1. Die kognitiv-formalistische
Grundlegung der Ethik als
Exposition des Gesetzes und als
Deduktion der Freiheit im
Grundsätze-Kapitel der KpV.
1.1 Die propositionale kognitiv-formalistische Grundlegung
der Ethik in den §§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels der KpV.
Bei der Kritik der praktischen Vernunft46 handelt es sich um den Übergang von
der empirisch bedingten zur reinen praktischen Vernunft, d.h. um die Grundlegung der Ethik als Annahme des moralischen Gesetzes und als Distanzierung von
der Abhängigkeit von empirischen Bestimmungsgründen der Willkür, kurz um
das Zurückgehen auf Gesetz und Freiheit als Fundament der Grundlegung. Diese kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik, die deren Fundament in Gesetz
und Freiheit setzt, wird im Grundsätze-Kapitel der KpV zunächst im Rahmen der
Maximen als subjektiver Grundsätze ausgeführt, weshalb diese Ausführung sich
als propositional (den Satz betreffend) kennzeichnen ließe.
1.1.1 Der Spielraum der propositionalen kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik: Maximen.
Der Spielraum, in dem die propositionale kognitiv-formalistische Grundlegung der
Ethik in den §§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels47 durchgeführt wird, sind die Maximen, die bereits im Definitionsparagraphen, § 1, und der Anmerkung dazu er46
Vgl. zur „Kritik der praktischen Vernunft“ Refl. 7201, XIX 275, ψ (1780–89): „Die Kritik der
praktischen Vernunft legt die Unterscheidung der empirisch-bedingten praktischen Vernunft von der
reinen und gleichwohl doch praktischen Vernunft zum Grunde und frägt: ob es eine solche, als die
letzte ist, gebe“; KpV, V 3 Z2–13 <A3>; 15 Z18 – 16 Z6 <A30f>; 45 Z15–22 <A78>. Zur empirischbedingten praktischen Vernunft cf. 2.3.1.c.
47
KpV, V 19–57 <A35–100>.
23
läutert sind. Daß „praktische Prinzipien“ in Lehrsatz I des § 2 primär subjektiv
die Maximen betreffen, zumal die kognitiv-formalistische Grundlegung auch hier
auf dem Weg der empirisch-psychologischen, mithin subjektiven, Analyse vorgeht,
das wird auch durch das explizite Auftreten dieses Wortes als des Spielraums der
kognitiv-formalistischen Grundlegung in Lehrsatz III des § 4 bestätigt.
Maximen sind subjektive Geltungsbasis aller praktischen Prinzipien bei einem
endlichen Vernunftwesen, in der die letzteren durch den Willen aktualisiert werden, der in den ersteren manifest ist. Ob ein praktischer Grundsatz (ein praktisches
Prinzip) Maxime oder praktisches Gesetz ist, hängt allein davon ab, ob er subjektiv
oder objektiv ist, wobei es nicht darauf ankommt, ob er bedingt oder unbedingt ist;
unbedingtes Gesetz kann auch subjektiv Maxime sein. Objektive praktische Prinzipien einerseits, seien sie praktische Vorschriften (hypothetische Imperative) oder
Gesetze (kategorische Imperative), können wieder subjektiviert und, indem sie so
subjektiv auf den Willen zurückgeführt werden, sozusagen bloß subjektiv individualisiert werden – sie heißen dann Maximen –, während es andererseits doch noch
Maximen gibt, die zum Status der objektiven praktischen Gesetze nicht taugen.48
Daß der Spielraum der praktisch-objektiven kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik in §§ 2–4 die subjektive Maxime ist, das deutet auf ihren Versuch
hin, in der Subjektivität etwas praktisch-Objektives, etwas Allgemeines, zu erkennen, welcher Versuch zur Annahme einer transzendental-subjektiven Willensbestimmung von Handlungen führt. In der kognitiv-formalistischen Grundlegung der
Ethik geht Kant nicht unmittelbar von der einzelnen Dijudikation zur Handlung
(von dem Partikularen) aus, sondern von den Maximen als subjektiven Prinzipien zur Handlung, welche die Möglichkeit haben, gegebenenfalls auch objektiv mit
praktischen Gesetzen übereinzustimmen, folglich gemeinhin von praktischen Prinzipien überhaupt. „Es kommt bei der Ethik nicht auf die Handlungen, die ich tun
soll, sondern das principium an, woraus ich sie tun soll. Maxime.“49 Dieser strategische Ansatz, nämlich daß die Maxime als Ausdruck des andauernden Habitus
ihnen gegenüber bereits Beharrliches und Formales, ja Allgemeines in sich faßt,
welches man an ,praktischen Regeln‘50 sehen kann, die durch die praktische Vernunft als Vermögen der Prinzipien gebildet werden, gewährleistet einerseits der
Ethik schon den Charakter der Wissenschaft des Ethos. Hier wird sie gegen zufällige Naturverläufe in der Sinnenwelt (das Partikulare), die durch die Verstandessynthesis des sinnlichen Mannigfaltigen entstehen, abgegrenzt. M.a.W., beim
Kantischen Begriff der Praxis hat man es mit dem wissentlich-willentlichen Verhalten des Menschen zu tun, das etwas Vernünftiges voraussetzt.51 Ein solches
48
Vgl. z.B. KpV, V 27 Z15–17 <A49>: „Also kann ein vernünfitges Wesen sich seine subjektivpraktische Prinzipien, d.i. Maximen, ... gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken“.
49
Refl. 7078, XIX 244, ϕ (1776–78).
50
KpV, V 19 Z7f <A35>: „Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung
des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat.“
51
Vgl. dazu Höffe, O., Transzendentale oder vernunftkritische Ethik (Kant)?, in Dialectica, Bd. 35
(1981), S. 202: „Unter ,Praxis‘ verstehen wir nicht jedes Verhalten des Menschen, sondern allein ein
Verhalten, das – im Unterschied zu physiologischen Prozessen, zu Reflexen und zu einem Tun oder
Lassen aus äußerem Zwang – wissentlich-willentlich geschieht, dem Menschen daher zugerechnet
24
Verhalten muß Regelmäßigkeit an sich haben. Daher ist es vorprogrammiert, daß
bei Kant – und dies nicht nur bei ihm, sondern bei jeder Theoretisierung einer rationalen Ethik – sich eine allgemeine Ethik entwickelt, aber eine Philosophie der
einzelnen Handlung des Menschen, in der es unmittelbar und schlechthin auf diese
ankommt und in der sie mit dem einzelnen Geschehen der Welt von Grund aus
zusammenstimmen und harmonieren kann, aufgrund der Voraussetzung der Differenz zwischen dem intellektuell-Allgemeinen und dem empirisch-Besonderen, die
mit der Annahme der Maxime als Prinzip zusammengeht, kaum möglich ist, was
sein Ansatz a limine anzeigt.
Auf der anderen Seite aber zeigt die Strategie, mit den Maximen als subjektiven
Prinzipien den Anfang zu machen, auch entgegen der Universalität der praktischen
Gesetze eine gewisse Partikularität an. Eine subjektiv und individuell von mir gewollte Maxime ist der Handlung als dem Partikularen und Konkreten näher als das
objektive allgemeine Gesetz. Die Maxime, die nicht subjektivierte Vorschrift, sondern subjektiviertes Gesetz ist, kann also als ein vermittelnder Begriff zwischen
realen Handlungen (dem Partikularen) und praktischem Gesetz (dem Universalen)
fungieren. Sie kann diese Rolle der Vermittlung spielen, weil sie auf der allgemeinheitsbezogenen Subjektivität des Willens basiert, die transzendental vom Allgemeinen (dem Unbedingten) aus auf das Einzelne gehen kann.52
1.1.2 Die Struktur der kognitiv-formalistischen Argumentation in den
§§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels der KpV.
Die propositionale (mithin gegenüber der empirisch-psychologischen Analyse verhältnismäßig objektiv erscheinende) kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik
im Spielraum von Maximen, wodurch der Bestimmungsgrund des Willens mit dem
Leitfaden der praktischen Notwendigkeit aus Gegenstandsvorstellungen in ihnen
(Materie derselben) in die ihnen innewohnende allgemeingültige apriorische Strukwerden und das gelingen (gut und richtig) oder aber mißlingen (schlecht, falsch oder böse sein)
kann.“
52
In einem kleinen, aber wegen seiner Klarheit ausgezeichneten Aufsatz (Bittner, R., Maximen,
in: Funke, G. [Hrsg.], Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Teil II Sektionen, Berlin 1974,
S. 485ff) demonstriert R. Bittner 1., daß mit der Subjektivität der Maxime nicht bloß eine Teilmenge
gemeint ist, in die die Menge aller gültigen Prinzipien des Wollens und Handelns für jedes Subjekt
zerlegt wird, sondern daß es sich bei ihr fundamental um eine selbst gewollte Regel je meines Tuns
handelt. 2. zeigt er, daß Maximen allgemeiner sind als bloße Vorsätze, genauer daß die Maxime ein
wesentlich subjektiv vorgestelltes Gesetz ist. 3. ist ihm zufolge Wille eben dies, nach Maximen zu
handeln, wobei Maxime und Handlung die einander zugehörige relative Allgemeinheit und Einzelheit des Wollens bilden. Mit dem Willen als dem Vermögen, von der Allgemeinheit der Maxime
als eines praktischen Prinzips aus auf das Besondere der Handlung zu gehen, habe man es also mit
praktischer Vernunft zu tun. Diese Bestimmungen der Maxime durch Bittner, daß sie zugleich subjektives und relativ allgemeines praktisches Prinzip ist, das als solches wesentlich auf die Funktion
des Willens (als praktischer Vernunft) bezogen ist, unterstützen auch unsere Auffassung, daß sie als
ein vermittelnder Begriff zwischen Partikularität von realen einzelnen Handlungen und Universalität der praktischen Gesetzlichkeit fungieren kann und daß sie, wenn sie subjektiviertes Gesetz ist,
zusammen mit dem Willen den transzendental-subjektiven Grundzug aufweist, nach dem allein das
praktisch-Allgemeine zum praktisch-Besonderen gelangen kann.
25
tur (Form derselben) verlegt wird, wird im Haupttext der §§ 2–4 (im ersten Absatz
jedes Paragraphen) ausgeführt. Demgegenüber wird die ihr zugrundeliegende und
ihr Vorschub leistende subjektive, empirisch-psychologische (d.h. anthropologische) kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik in die dem Haupttext folgenden Erläuterungen und Anmerkungen eingebracht. Sie bildet die Grundlage für jene propositional-objektive kognitiv-formalistische Grundlegung, weil Kants Ethik
Gesinnungsethik ist.
(a) Der Zusammenhang zwischen propositional-objektiver und psychologischsubjektiver kognitiv-formalistischer Grundlegung der Ethik in § 2.
Der Haupttext des § 2 lautet: „Lehrsatz I: Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben.“53 Der Grund, warum Lehrsatz I bestehen kann, d.h. warum die Maximen,
die die Vorstellung eines Gegenstandes (ihre Materie), der immerhin unter der Gesetzlichkeit der sinnlichen Natur steht, zum Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen – was impliziert, daß ihre mögliche formale Struktur, die Unbedingtheit
aufweisen und nichtempirisch sein kann, jetzt nicht in Frage kommt –, nur subjektive Maximen sind und keine objektive praktische unbedingte Gesetzlichkeit zeigen,
somit keine praktischen Gesetze sein können, liegt, wie die dem Haupttext folgende, empirisch-psychologische Erläuterung aufklärt, in der subjektiven Eigentümlichkeit der Willkür, daß das Gefühl der Lust und Unlust als die subjektive Bedingung der Möglichkeit der Willkürbestimmung, wenn es an der Wirklichkeit eines
Gegenstandes haftet,54 demnach durch die Gegenstandsvorstellung als materialen
Bestimmungsgrund geweckt wird, nur empirisch, mithin zufällig ist; dieses Lustgefühl gilt nur für das Subjekt, dem es, als die subjektive Empfänglichkeit einer Lust
oder Unlust, innewohnt – was mit der Definition der Maximen zusammenhängt –,
und kann nicht unbedingt-notwendig, mithin praktisch-gesetzlich sein. Dazu lassen sich zwei Argumente nennen, welche unten vorgebracht werden (cf. 1.2.1.c).
Wie die Argumentation aufweisen wird, liegt den Aussagen der propositionalobjektiven kognitiv-formalistischen Grundlegung im Rahmen der Maximen stets
die empirisch-psychologische, mithin subjektive kognitiv-formalistische Grundlegung zugrunde.
KpV, V 21 <A38>.
Die pathologisch-praktische Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes ließe sich als ein empirischer Anwendungsfall des Gefühls der Lust und Unlust als „Mittelglied zwischen dem Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen“ (KU, V 168 <BV>) begreifen, der auf keinem Prinzip a
priori gründet.
53
54
26
(b) Der Zusammenhang zwischen propositional-objektiver und psychologischsubjektiver kognitiv-formalistischer Grundlegung der Ethik in § 3 und die
Rolle von Lehrsatz II für den ganzen Argumentationsgang.
Mit Lehrsatz I sind also bereits die Richtlinien für die kognitiv-formalistische
Grundlegung der Ethik, d.h. hier die Rückführung zum formalistischen Fundament
der Ethik (moralisches Gesetz, reine praktische Vernunft und negative Freiheit),
festgelegt. Diese gelangen aber dann im § 3 mittels der Einführung des Prinzips
der Selbstliebe, dem alle materialen Bestimmungsgründe (Gegenstandsvorstellungen) und deren subjektive Bedingung der Möglichkeit der Willkürbestimmung (das
pathologisch-praktische Gefühl der Lust und Unlust) einheitlich unterstellt werden,
radikal und rigoros zur Durchsetzung. Sein Haupttext lautet: „Lehrsatz II: Alle materialen praktischen Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben
Art und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.“55
Das Selbst der Selbstliebe, die, „als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist“,56 ist nicht unser ganzes Selbst bzw. das
eigentliche Selbst, wobei es um das intellektuelle Selbst geht, sondern „unser pathologisch bestimmbares Selbst“.57 Dies hat den Hang (Selbstliebe), seine eigene
Glückseligkeit in das pathologisch-praktische Gefühl der Lust und Unlust an Gegenstandsvorstellungen, d.h. die Abhängigkeit von ihnen, zu setzen, und seine Ansprüche darauf „vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen“
(Verkehrtheit des Herzens); somit ist freie Willkür durch Gegenstandsvorstellungen mittels des pathologisch-praktischen Gefühls der Lust und Unlust an ihnen zu
bestimmen, aus dem sich dann Glückseligkeit rekrutiert. Das Prinzip der Selbstliebe beruht also auf der pathologisch-praktischen Lust an Gegenstandsvorstellungen,
der Abhängigkeit von denselben, aus der der Anspruch der eigenen physischen
Glückseligkeit resultiert.
Maximen, die unter dem Prinzip der Selbstliebe als ,pragmatische Anratungen‘
stehen,58 sind daher insofern insgesamt von ein und derselben Art, sie werden denjenigen entgegengestellt, die auf dem moralischen Gesetz als Prinzip des Guten
beruhen. Lehrsatz II will diese Gleichartigkeit der ersteren Maximen feststellen:
Alle praktischen Prinzipien, die das Gefühl der Lust und Unlust als subjektive Bedingung der Möglichkeit der Dijudikation, vermittels dessen die Vorstellung eines
Objekts als Grund der Dijudikation die Willkür bestimmt, und mithin, wie aus dem
Gesagten erhellt, das Prinzip der Selbstliebe voraussetzen, sind als solche „insgeV 22 <A40>.
Rel., VI 45 <B51>. Kant stellt außer dem hier in Betracht gezogenen Sinn der Selbstliebe als
Prinzip des Bösen noch die „vernünftige Selbstliebe“, die das Prinzip der auf andere erweiterten
Glückseligkeit zu sein scheint (KpV, V 73 <A129>), und die „Selbstliebe des unbedingten Wohlgefallens an sich selbst“ vor, die als das innere Prinzip einer moralischen Selbstzufriedenheit verstanden
wird („Vernunftliebe seiner selbst“) (Rel., VI 45f Anm. <B50–52>).
57
KpV, V 74 <A131>. Das Selbst der Selbstliebe als Prinzip des Bösen bei Kant ist pathologisch
und nicht intellektuell; bei ihm ist vom Selbst der Selbsterhaltung der reinen Vernunft keine Rede.
58
Vgl. dazu z.B. KpV, V 36 <A64>: „Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an“.
55
56
27
samt von einer und derselben Art“, ob die Vorstellung in den Sinnen oder dem
Verstande, oder sogar der Vernunft, wo immer, ihren Ursprung habe.59 Denn sie
haben ihren Ursprung in der Einheit des Prinzips der Selbstliebe, welches impliziert, daß seine Einheit fähig ist, möglicherweise auch alle Erscheinungen in der
Sinnenwelt unter seinen Aspekt zu stellen; als solches ist es Prinzip des Bösen.
Erst aufgrund dieser radikalen Erklärung der Totalität aller empirischen Bestimmungsgründe des Willens in Maximen aus der Homogenität derselben unter
dem einheitlichen Prinzip vermag die auf Lehrsatz II folgende kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik (Folgerung, beide Anmerkungen, Lehrsatz III usw.)
dem instrumentell im Gefühl der Lust und Unlust an Gegenstandsvorstellungen als
subjektiver Bedingung der Willkürbestimmung verankerten Prinzip der Selbstliebe
Abbruch zu tun. Damit sind auch alle durch dieses Prinzip als Zwecke eingebrachten Gegenstandsvorstellungen in der Sinnenwelt, die zum Lustgefühl führen, als
Bestimmungsgründe des Willens beiseitezulassen und auszuklammern.60
Die Radikalität dieser kognitiv-formalistischen Ausklammerung als strikter Abstrahierung von objektiven Zielvorstellungen als materialen Bestimmungsgründen
des Willens kann in ihrer Bedeutung gar nicht zuviel beachtet werden, weil sie auf
die Möglichkeit einer totalen Transzendenz über die Sinnenwelt verweist (§ 5 des
Grundsätze-Kapitels; cf. 1.4), wiewohl allerdings davon nur im Gebiet des menschlichen Willens die Rede sein kann.
(c) Die propositionale kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik in § 4.
Im § 4 vollzieht sich die propositionale kognitiv-formalistische Grundlegung der
Ethik im Rahmen der Maxime, die Verlagerung des Bestimmungsgrunds des Willens von Gegenstandsvorstellungen (Materie) in die Form der Maxime zugunsten
der moralisch-praktischen Gesetzlichkeit, und zwar unterstützt durch die beiden
Vgl. KpV, V 23f <A41–44>, aber auch KU, V 206 <B8>: „Eindrücke der Sinne, welche die
Neigung, oder Grundsätze der Vernunft, welche den Willen, oder bloße reflektierte Formen der Anschauung, welche die Urteilskraft bestimmen, [sind,] was die Wirkung auf das Gefühl der Lust betrifft, gänzlich einerlei.“
60
D. Henrich sagt: „[I]n der Kritik der praktischen Vernunft läßt sich der Gang des Gedankens
von Lehrsatz I unmittelbar zu Lehrsatz III führen. Es ist nicht notwendig, die eine Lehre, daß alle
materialen Bestimmungsgründe empirisch sind, durch die andere zu stützen, daß empirische Bestimmungsgründe immer auf dem Glücksverlangen beruhen.“ (Henrich, D., Über Kants früheste Ethik,
in: Kant-Studien, Bd. 54, 1963, S. 423.) Aber näherhin gesehen sagt Lehrsatz I in § 2 nur, daß alle
materialen (folglich empirischen) Bestimmungsgründe in praktischen Prinzipien keine unbedingte
praktische Gesetzlichkeit abgeben können, ohne dabei zu explizieren, warum der wirkliche Geltungsumfang des Satzes auf die Allheit der empirischen praktischen Prinzipien gehen muß. Der § 3
klärt dieses Problem empirisch-psychologisch, d.i. anthropologisch. Durch Lehrsatz II wird nämlich
aus der Einheit des Prinzips der Selbstliebe die Homogenität und Geschlossenheit aller empirischen
Bestimmungsgründe, mithin auch aller empirischen praktischen Prinzipien, logisch erklärt, aus der
allein die Radikalität und Totalität der Ausklammerung der letzteren in der propositionalen kognitivformalistischen Grundlegung der Ethik gesichert werden kann. Lehrsatz II hat also in der Argumentation der §§ 2–4 doch Relevanz, obwohl er propositional-logisch entbehrlich sein mag. Denn auch
hier gründet sich das propositionale Verfahren der kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik
auf anthropologische Erwägungen.
59
28
vorhergehenden Lehrsätze. Sein Haupttext lautet: „Lehrsatz III: Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll, so
kann es sich dieselben nur als solche Prinzipien denken, die nicht der Materie, sondern bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthalten.“61 Denn
die Gegenstandsvorstellungen als materiale Bestimmungsgründe des Willens können gemäß Lehrsatz I keine unbedingte praktische Gesetzlichkeit herbeiführen. Sie
sind alle von ein und derselben Art (Lehrsatz II) und müssen darum gänzlich von
der Maxime, die zum praktischen Gesetz taugt, abgesondert werden,62 von welcher
dann dadurch nichts übrigbleibt als „die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“.63
Dieses Verfahren der Herauskristallisierung einer allgemeinen Form der Maximen unterstellt, daß unter ihnen hier nicht pragmatische Klugheitsregeln, sondern moralisch-praktische allgemeine Gesetze verstanden werden sollen. Die Argumentation beweist demnach nicht, daß es moralisch-praktische allgemeine Gesetze gibt, sondern zeigt lediglich, daß, wenn solche angenommen werden sollen, ihre Artikulation nicht in der Materie der Maximen (Gegenstandsvorstellungen der Willkür), sondern in deren Form allein zu suchen ist. Die ganze kognitivformalistische Grundlegung der §§ 2–4 antizipiert den Begriff und somit auch latent das Dasein der moralisch-praktischen Gesetze, deren Merkmal als unbedingte Notwendigkeit ihr zum Leitfaden dient. Denn das moralische Gesetz selbst läßt
sich ohne irgendeinen Daseinsbeweis nur als Faktum annehmen. Lehrsatz III meint
lediglich, daß ein solches Gesetz, wenn es als Maxime existieren soll, sich nur in
ihrer Form artikulieren kann.64 Es läßt sich erst auf dieses Ergebnis hin als die
KpV, V 27 <A48>.
Vgl. V 27 Z12–14 <A48>.
63
V 27 Z14 <A49>.
64
Wenn R. Bittner im obengenannten Aufsatz den Satz Kants: „Nun bleibt von einem Gesetz,
wenn man alle Materie, d.i. jeden Gegenstand des Willens, (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“ (KpV, V 27 Z12–14 <A48>)
unter Berufung auf H. J. Paton kritisiert und sagt: „Sondern wir von der Maxime alle Materie ab,
so bleibt allerdings eine bloße Form allgemeiner Gesetzlichkeit, die aber nichts als eben die Allgemeinheit der Maxime als solcher ist und trivialerweise jeder Maxime, ob moralisch oder nicht,
zukommt“ (Bittner, R., op.cit., S. 495), so mißversteht er den Zusammenhang der formalistischen
Grundlegung der Ethik von § 4, in dem der Satz Kants steht. Kant nimmt hier die Maxime als zum
moralisch-praktischen Gesetz qualifiziert an; die Universalität des Gesetzes ist in der Maxime bei der
Absonderung aller Materie von derselben schon unterstellt. Die Unterstellung läßt sich erst durch die
Lehre vom Faktum der Vernunft legitimieren. Da erst unter ihr in der Maxime nach der Absonderung
nichts übrigbleibt als die bloße Form allgemeiner Gesetzgebung, so muß nicht erneut ein Übergang
zur moralisch-praktischen Universalität des Gesetzes unternommen werden. Bittners empirische Interpretationstendenz gegenüber der moralischen Gesetzlichkeit der reinen praktischen Vernunft bei
Kant – die auch schon in seinem Satz bemerkbar ist: „... moralische Gründe – aber deren Einfluß
wird erst verständlich, wenn man weiß, was Maximen sind“ (ibid., S. 488) – zeigt sich darin, daß er
die Sittlichkeit des Willens bzw. Autonomie desselben als Selbstbezug desjenigen Willens auf sich
selbst begreift, der das Vermögen einer Allgemeinheit ist, in seiner „natürlichen Autonomie“ (ibid.,
S. 494–496) von der Allgemeinheit der Maxime her auf das Besondere der Handlung hin zu gehen,
d.h. daß er die reine praktische Vernunft als das Vermögen der Moralität aus der empirisch bedingten praktischen Vernunft, die sich auf pragmatische Klugheitsregeln für Glückseligkeit bezieht, zu
deduzieren versucht. Der Versuch selber ist wohl nicht unmöglich; allerdings ist dabei nicht zu ver61
62
29
formale Struktur einer Maxime formulieren, die sich im Grundgesetz65 der reinen
praktischen Vernunft des § 7, d.i. in der allgemeinen Formel des kategorischen
Imperativs ausdrückt.
1.2 Die psychologische, mithin subjektive kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik in den §§ 2–4 des Grundsätze-Kapitels der KpV.
1.2.0 Vorwort zur psychologischen kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik.
(a) Die Untersuchungsbasis für die subjektive kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik: Kants empirisch-psychologische (faktisch-anthropologische)
Betrachtungen.
Der propositional-objektiven kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik liegen, wie oben aufgewiesen, psychologisch-subjektive Erläuterungen zugrunde, in
denen wieder ein kognitiv-formalistisches Verfahren (Abstrahierung von der Materie) in Gang gebracht wird. Sie sind Betrachtungen in bezug auf das Gefühl der
Lust und Unlust und die Willkür (arbitrium), welche die negative Untersuchungsbasis für die psychologisch-subjektive kognitiv-formalistische Grundlegung ausmachen. Kant selber hat es nicht für nötig gehalten, Elemente dieser negativen Basis in den von ihm veröffentlichten ethischen Schriften in extenso darzustellen.66
(b) Allgemeine Charakteristiken des Entwicklungsgangs der ethischen Gedanken bei Kant.
Für unsere diesbezügliche Analyse verwenden wir auch noch Reflexionen aus dem
Nachlaß und Vorlesungsnachschriften, die beide nach den Kompendien des Wolffianers A. Baumgarten entstanden sind, solange sie zur Erläuterung der veröffentlichten Hauptschriften dienen können. Im folgenden sind für die Untersuchung des
Nachlaßwerkes und der Vorlesungen in bezug nicht nur auf die Phase der kognitivformalistischen Grundlegung wie hier, sondern auch auf die architektonische Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung (cf. 2. und 3.) – aus beiden Phasen
zusammen besteht die ganze Grundlegung der Ethik bei Kant – kurz allgemeine
Anmerkungen abzugeben.
gessen, daß die Funktion der empirisch bedingten praktischen Vernunft, die in der Dunkelheit ihrer
Abhängigkeit vom Empirischen tätig ist, sich erst im Lichte der hellen moralischen Gesetzlichkeit
der reinen praktischen Vernunft auch als eine Spontaneität und Allgemeinheit herausstellen kann,
die mit denjenigen der moralischen Gesetzlichkeit gemeinsam ist, und nicht umgekehrt. In diesem
Punkt hat die Hervorhebung der Kantischen Lehre vom Faktum der Vernunft durch D. Henrich mehr
Berechtigung.
65
KpV, V 30 Z37–39 <A54>.
66
Vgl. z.E. KpV V 9 Anm. <A16>: „...weil man diese Erklärung, als in der Psychologie gegeben,
billig sollte voraussetzen können.“
30
Kants Ethik wurde, wenn ihre Entstehungsgeschichte gesichtet wird, nicht nur
bekanntlich durch Hutcheson, Crusius und Rousseau inspiriert, sondern überraschenderweise auch stets und wesentlich durch die Terminologie der Wolffschen
Schulphilosophie beeinflußt und mittels ihrer aufgebaut. Das besagt aber freilich
nicht, daß er das Wolffsche Gedankengut kritiklos und unverändert übernommen
hätte, zumal er von Anfang an oder spätestens bis zur ersten Hälfte der sechziger
Jahre andere Ideen für die Grundlegung der Ethik als die Wolffianischen gehabt hat;
seine Vorlesungen etwa gaben nicht sosehr den Inhalt der Lehrbücher treu wieder,
als sie vielmehr schon eine freie Präsentation seiner eigenen Gedanken mit Hilfe
des Wolffschen Begriffsvorrats waren. Die Wolffsche Schulphilosophie war für ihn
sowohl der Nährboden des Denkens als auch Gegenstand der schärfsten Kritik.67
Die Wolffschen Konzepte und Begriffe Kants in den Reflexionen treten zwar in der
GMS (1785) und der KpV (1788) nicht umfangreich auf, aber zuletzt im Spätwerk,
der MS (1797), wieder in den Vordergrund.68
Der Versuch, wesentliche Umwandlungen in der chronologischen Entwicklung
des Kantischen Denkens über Ethik herauszuarbeiten, ist, wenn es ihm an der Bereitschaft zu einer gewissen Kühnheit und Gewaltsamkeit der Interpretation fehlt,
ein sehr schwieriges Unternehmen. Kant verwirft das, was er einmal durchgedacht
und formuliert hat, nur selten wieder; er pflegt ihm vielmehr in einem späteren System je eine angemessene Stelle zu verschaffen. Das vermochte er zumeist deshalb
zu leisten, weil seine Begriffe prinzipiell fähig sind, auch für ein neu konzipiertes
System wieder verwendet zu werden; denn er hat seine philosophischen Phänomene stets nur sachlich, so wie sie sind, betrachtet und analysiert, ohne sie von
Beginn an in eine vorher ausgedachte Systematik zu integrieren. Vor allem in der
praktischen Philosophie haben sich seine Gedanken grundsätzlich kaum geändert,
weil sie aus seiner bleibenden Persönlichkeit selbst hervorgegangen sind.69
Daß er nun das, was von ihm mit Hilfe des Wolffschen Begriffsvorrats Jahrelang überlegt wurde, aber in der GMS und der KpV doch nur beiläufig und unscheinbar auftritt, wie erwähnt, in der MS nachgeholt hat, kommt von dem ebengenannten allgemeinen Grund her. Es ist aber zugleich auch durch den besonderen
Zweck bedingt, daß er in den beiden Grundlegungsschriften nur Argumente für
die kritische Begründung der Ethik vorzubringen trachtet: Gründe, die so sicher
wie möglich die Probe selbst der hartnäckigsten Empiristen bestehen können. Erst
nach dem Abschluß der Arbeit der Grundlegung wurde dieses Beschränkungsprinzip gelockert, um das doktrinale System der Ethik auszuführen, wie es dann die
MS zeigt.70 Seine Grundgedanken zum Fundament der Ethik (Gesetz und Freiheit) wurden bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre festgelegt; die späteren Reflexionen wurden außer der Präzisierung der Analyse der Grundgedanken
Zur Position Kants gegen Wolffs „philosophia practica universalis“ vgl. GMS, IV 390f <BXIff>.
Vgl. dazu Anderson, G., Kants Metaphysik der Sitten – ihre Idee und ihr Verhältnis zur Ethik
der Wolffschen Schule, in: Kant-Studien, Bd. 28, 1923, S. 41, 55–61.
69
Zu Kants Persönlichkeit vgl. die Arbeiten von E. Adickes, B. Bauch, A. Gehlen, J. Heller und P.
Menzer (cf. das Literaturverzeichnis).
70
Vgl. Anderson, G., op.cit., S. 60.
67
68
31
oder sogar der bloßen Wiederholungen von Erwägungen vorwiegend der Entwicklung der Versuche einer transzendentalen Begründung der Ethik nach dem Jahre
des großen Lichtes (1769) und einer moralischen Teleologie als architektonischer
Entfaltung der ethischen Fundamente gewidmet, deren Entwicklung sich etwa aus
dem Kanon-Kapitel der KrV ersehen läßt.
Der Entwicklungsgang des ethischen Denkens bei Kant wird nicht sosehr durch
das einlineare chronologische Entwicklungsschema von Gelingen und Scheitern
von Denkversuchen, als vielmehr durch die in der intellektuellen Bewußtseinstiefe,
d.i. in Kants Persönlichkeit selbst verwurzelten, konstanten intelligiblen Konzepte
bestimmt; gerade dies wird seine Interpreten, die sich für jenes Schema einsetzen
wollen, in Verlegenheit bringen.
(c) Moralische Gesetzlichkeit: faktische Überzeugung Kants.
Es ist nun wiederum zu betonen, daß für Kant die moralisch-praktische Gesetzlichkeit objektiv Faktum ist und daß seine praktisch-theoretische kognitiv-formalistische
Grundlegung der Ethik – Exposition des moralischen Gesetzes (mithin auch der
reinen praktischen Vernunft) und Deduktion der Freiheit – von dieser festen Überzeugung ausgeht. Dieser zufolge kann die Gesetzlichkeit der sinnlichen Natur der
praktischen Gesetzlichkeit von vornherein keineswegs als moralischer Bestimmungsgrund des Willens gewachsen sein. Das von Kant vorgestellte objektive Gesetz für
menschliche Praxis ist so souverän, daß es weit über Naturgesetze hinausgeht, welche in der Ethik doch lediglich für empirisch subjektive Willkürbestimmungen als
deren materiale Bedingungen Geltung haben können. (Bei näherem Zusehen aber
ergibt sich, daß moralische Gesetze erst in Bezogenheit auf unsere Erfahrungswelt und somit auch auf die sinnliche Natur ihre Bedeutung erhalten.) Bei solcher
unbedingten praktischen Gesetzlichkeit hat man es mit Kants gewissermaßen religiöser Überzeugung zu tun. Er bringt durch seine Ethik etwas Absolutes in den
stets schwankenden Ablauf unseres unsicheren empirischen Lebens ein. Aufgrund
dieser Überzeugung führt er seine praktischen, aber theoretischen formalistischen
Erörterungen zur praktischen Gesetzlichkeit aus, deren sachliches Verfahren uns
aber mehr als bloße Überzeugungen zeigt.
Die faktische Vorgegebenheit des moralischen Gesetzes vor philosophischer
Analyse (das Faktum der Vernunft) schon in der gemeinen Menschenvernunft71
Vgl. dazu KpV, V 155 <A277>: „... in der gemeinen Menschenvernunft ist sie [sc.: die Frage,
was die reine Sittlichkeit ist], zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch
den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand,
längst entschieden.“. Daher erwidert Kant auf den Vorwurf Tittels, daß in der GMS „kein neues
Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden“ sei, mit der Gegenfrage:
„Wer sollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst
erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem
Irrtume gewesen wäre“. Zur „gemeinen Menschenvernunft“ vgl. auch V 27 Z22 („der gemeinste
Verstand“), V 35 Z15 („der gemeinste Mensch“), V 36 Z4f („das gemeinste Auge“), V 36 Z8 („die
gemeine Menschenvernunft“), V 36 Z38 („der gemeinste und ungeübteste Verstand“), V 43 Z36 („die
gemeinste Aufmerksamkeit“), V 70 Z2 („der gemeinste Verstand“), V 91 („der gemeinste praktische
71
32
wird von Kant durch die Metapher eines chemischen Experiments72 expliziert und
zeigt sich darüber hinaus in der pädagogischen Wirksamkeit von reinen Darstellungen bzw. Beispielen73 der Moralität.
In der Entwicklungsgeschichte seiner Ethik hat Kant die grundlegenden Gedanken über die Moral erstmals in der Preisschrift (entstanden im Jahre 1762) präsentiert. Aus ihnen sind zwei positive Hauptmomente für weitere Entwicklungen
zu ersehen: Das eine ist das offensichtlich unter dem Einfluß von Crusius74 entstandene Konzept eines absoluten Sollens („necessitas legalis“75 ), das aber anders
als bei diesem nicht mehr theonomisch, sondern im Zusammenhang eines „an sich
notwendigen Zwecks“ teleologisch erläutert wird; das andere Moment betrifft das
moralische Gefühl, das den britischen Moralisten entstammt und das materialiter,
d.i. im einzelnen Falle, jenes absolute Sollen darbieten kann. Beide werden von
Kant schlechthin als für die Moral grundlegender Tatbestand eingeführt und für
unerweislich76 gehalten. Das absolute Sollen wird hier als die das Wesen aller moralischen Phänomene ausmachende unbedingte Notwendigkeit und somit als unerschütterliche faktische Vorgegebenheit vor der Analyse festgestellt. Es zeigt sich in
der ganzen Entwicklungsgeschichte der Kantischen Ethik stets als selbstverständliche Grundposition der Moral (cf. 2.3.1.i), wird aber erst später in der KpV als
Faktum der reinen praktischen Vernunft ausdrücklich formuliert.
Vernunftgebrauch“) etc...; „... zu ihrem Prinzip [sc.: zum allgemeinen Gesetz], welches sie [sc.: die
gemeine Menschenvernunft] sich zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt,
aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht. Es wäre
hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Kompasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen
sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei,
...“ (GMS, IV 403f <B20>). Eben in diesem Respekt vor der „gemeinen Menschenvernunft“ besteht
die praktisch-philosophische Grunderfahrung Kants: „... und ich verachtete den Pöbel, der von nichts
weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. ... ich lerne die Menschen ehren ...“ („Bemerkungen“, XX
44). Das Erfließen des reinen sittlichen Denkens aus der negativen Freiheit als der Unabhängigkeit
von allen materialen Bestimmungsgründen des Willens findet nach Kants Überzeugung bei jedem
„gemeinen“, d.h. durchschnittlichen Menschen statt.
72
Zum chemischen „Experiment mit jedes Menschen praktischer Vernunft“ vgl. KpV, V 92f
<A165f>.
73
Zur Erforderlichkeit von reinen Darstellungen bzw. Beispielen der moralischen Grundsätze vgl.
GMS, IV 411 Anm. <B33f>; KpV, V 156 Z21–36 <A278f>; Refl. 6898, XIX 200 Z6–14, ϕ (1776–
78); Refl. 6976, XIX 218 Z14–18, υ? (1776–78?).
74
Vgl. dazu Schmucker, J., Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und
Reflexionen, Meisenheim a. G. 1961, S. 85–87; Henrich, D., Über Kants früheste Ethik, in: KantStudien, Bd. 54, 1963, S. 415; Forschner, M., Gesetz und Freiheit, München 1974, S. 69 Anm. 52.
75
Deutlichkeit, II 298.
76
II 299 Z2 u. Z31.
33
1.2.1 Die negative Untersuchungsbasis, von der die subjektive kognitivformalistische Grundlegung der Ethik ausgeht: Es ist apriorisch nicht
bestimmbar, in welchem Ausmaß die pathologisch-praktische Lust durch
Gegenstandsvorstellungen ausgelöst wird.
(a) Die apriorische Unbestimmbarkeit der Einflößung der Lust durch Gegenstandsvorstellungen.
Objektvorstellungen der Sinnenwelt als Bestimmungsgründe der Willkür können,
auch wenn sie durch Naturgesetze gegeben werden, nicht die unbedingte Gesetzlichkeit für Praxis abgeben, schon deshalb, weil das sich auf das Begehrungsvermögen beziehende Gefühl der Lust und Unlust (subjektive Bedingung der Willkür)
durch sie als materiale Bestimmungsgründe der Willkür nur empirisch und keineswegs a priori bestimmt werden kann. „Es kann aber von keiner Vorstellung irgendeines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust
oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde.“77
Die Auswirkung von Objektvorstellungen auf das Begehrungsvermögen erfolgt nun aber nicht durch das Gefühl der Lust und Unlust im allgemeinen, sondern
schon spezifisch durch die pathologisch-praktische Lust, die als Prototyp bzw. Urgestalt für andere Unterarten der Lust erachtet wird. Kant ist klar, daß im formalistischen Verfahren der ethischen Grundlegung lediglich diese Lust, d.h. die „Lust
aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, sofern sie ein Bestimmungsgrund
des Begehrens dieser Sache sein soll“,78 bestritten werden soll, wobei nicht vom
Gefühl der Lust und Unlust die Rede ist, das vom moralischen Gesetz, welches das
Begehren unmittelbar bestimmt, beiläufig hervorgerufen wird.
(b) Lust ist dreifach.
Die Lust im allgemeinen wird nämlich eingeteilt in eine sinnliche und eine intellektuelle, die erstere wiederum in die durch den Sinn (Vergnügen) und die durch die
Einbildungskraft (Geschmack).79 Lust ist also dreifach80 : pathologisch-praktisch,
kontemplativ und intellektuell,81 und nur der kontemplativen Lust fehlt das InKpV, V 21 <A39>. Von der apriorisch nicht bestimmbaren Verknüpfung der Gegenstandserkenntnis mit dem Gefühl der Lust und Unlust, das das Begehrungsvermögen bestimmt, erwähnt
Kant auch hinsichtlich der System-Gedanken, die er sich über die menschlichen Gemütsvermögen in
seiner Philosophie überhaupt macht, folgendes: „Die Verknüpfung zwischen dem Erkenntnis eines
Gegenstandes und dem Gefühl der Lust und Unlust an der Existenz desselben, oder die Bestimmung
des Begehrungsvermögens, ihn hervorzubringen, ist zwar empirisch kennbar genug; aber, da dieser
Zusammenhang auf keinem Prinzip a priori gegründet ist, so machen sofern die Gemütskräfte nur
ein Aggregat und kein System aus“ (EE, XX 206 <H11>). Vgl. auch KU, V 291 <B153>; KpV, V
58 Z14f <A102>, V 63 Z11–18 <A111>.
78
KpV, V 22 Z9f <A40>.
79
Anthr., VII 230; Met.L/1 (Pölitz), XXVIII 252f.
80
In Periode λ (1769–70) ist die „dreierlei Lust“ noch nicht reif zur späteren Dreiteilung (Refl. 697,
XV 310).
81
MS, VI 212. Kant bezeichnet hier die erste Unterart lediglich als praktisch. Da sie aber dadurch
leicht mit der dritten verwechselt werden kann (C. Chr. E. Schmid läßt systematisch pathologische
77
34
teresse an der Wirklichkeit eines Gegenstandes; sie ist nicht praktisch und bestimmt nicht das Begehrungsvermögen, das auf das Sich-Befassen mit Sachen
selbst in empirisch-objektiver Dimension geht. Das Gefühl der Lust und Unlust
nämlich wird (1), wenn es vom moralischen Gesetz eingeflößt wird, moralisches
Gefühl genannt, das auch moralische Lust oder weniger deutlich intellektuelle Lust
heißt; es heißt (2), von der Beurteilung im Geschmacksurteil (d.h. dem freien Spiel
von Einbildungskraft und Verstand) hervorgerufen, kontemplative Lust; (3) wird
es, von der Abhängigkeit von Erscheinungen als materialen Bestimmungsgründen der Willkür ohne den Vorrang des aus Freiheit erfließenden Gesetzes ausgelöst, pathologisch-praktische Lust genannt. Zu der dritten werden Vergnügen und
Schmerz, sofern sie das Begehren bestimmen, gezählt. Selbst ein reines Vergnügen (pura voluptas82 ), wie rein es auch sein mag, würde, solange es Vergnügen ist,
pathologisch-praktisch sein.83 Die Dreiteilung der Lust entspricht dem dreifachen
Wohlgefallen am Angenehmen, Schönen und Guten.84
(c) Lust ist subjektive Empfindung und gibt kein apriorisches Kriterium für
Willensbestimmungen ab.
Pathologisch-praktische Lust und Unlust sind an sich nur subjektive Begleitempfindungen, die die Erkenntnis eines Objekts in einem Subjekt mit hervorbringt,
indem die Vorstellung des ersteren das letztere so affiziert, daß es sich selbst fühlt.
Die Empfindung überhaupt nämlich wird eingeteilt in die objektive, die auf Objekte geht und ein ,Erkenntnisstück‘ wird, und die subjektive, die als Gefühl der Lust
und Unlust aufs Subjekt geht und insofern noch keine Erkenntnis ist.85
und moralische Lust als Unterarten zu einer Oberart, der praktischen Lust, gehören: Vgl. dazu ders.,
Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, 2. Auflage der 4. Ausgabe Jena 1798,
Darmstadt 1980, S. 358. Auch L. W. Beck versteht die „praktische Lust“ in der MS, VI 212 zu
Recht im pathologischen Sinne; vgl. dazu ders., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, Chicago 1960, S. 92f), nennen wir sie enger definiert „pathologisch-praktische Lust“, was zu
seinem Gedanken präziser passen könnte. Ebenso könnte sie nach dem Ausdruck in der EE, XX
231f <H37>auch „ästhetisch-pathologisch oder ästhetisch-praktisch“ genannt werden. Die endgültige Formulierung und Begründung der Differenzierung der praktischen Lust in die pathologische und
die moralische, die der Unterscheidung zwischen pathologisch-praktischer und intellektueller Lust
gleichkommt, findet sich in Refl. 7320 (cf. Fußnote 310 in 2.4.3).
82
Baumgarten, A. G.; Metaphysica, § 661 (in: AA, XV 44); dt: § 487.
83
Gleichwohl hat Kant den Versuch angestellt, auch das Wort Vergnügen mit der intellektuellen
Lust zu verbinden, welcher jedoch in den Druckschriften zur Ethik nicht in systematischen Zusammenhängen auftritt. Vgl. dazu z.B. Refl. 6881, XIX 190f, ϕ? 1776–78? (intellektuelles bzw. freies
Vergnügen); Refl. 7255, XIX 295, ψ 1780–89 („ein reines und unbedingtes Vergnügen“).
84
In der Met.L/1 wird entsprechend dem dreifachen Leben, dem tierischen, dem menschlichen und
dem geistigen, auch die Lust dreigeteilt (XXVIII 248f). Vgl. dazu auch Refl. 567, 823.
85
Z.B.: „Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objektiven Empfindung, als Wahrnehmung eines
Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben [sc. die Lust daran] aber zur subjektiven
Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand
[sc.: die grüne Farbe der Wiesen] als Objekt des Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben
ist) betrachtet wird“ (KU § 3, V 206 <B9>). Eine ausführliche Erläuterung zu dieser Unterscheidung gibt Kant kurz nach der Veröffentlichung der KU, in die auch das obige Zitat gehört, in der
Anthropologie-Vorlesung 1791/92 (Anthropologie Dohna-Wundlacken). Vgl. dazu Kowalewski, A.
35
Das pathologisch-praktische Lustgefühl nun gehört zwar zur Sinnlichkeit, jedoch nicht zum inneren Sinn (sensus internus) als Wahrnehmungsvermögen, obzwar es durch ihn bestimmt wird, sondern zum „inwendigen Sinn (sensus interior)“,86 welcher aber auch manchmal mit dem ersteren identifiziert wird.87 Denkt
man nun dieses Konzept folgerichtig, so muß man zu dem Resultat kommen, daß
nicht nur das pathologisch-praktische Lustgefühl, sondern das Gefühl der Lust und
Unlust im allgemeinen, dessen Prototyp das erstere sein mag, sei es sinnliche Lust,
sei es intellektuelle Lust, als ästhetische Empfänglichkeit des Subjekts überhaupt
– d.h. solange es letzten Endes für sinnlich gehalten werden soll –, seinen Sitz
in diesem inwendigen Sinn hat. Folglich wird das Gefühl der Lust und Unlust
im allgemeinen als das des Lebens, das seinen Sitz im letzteren hat, nur dann
pathologisch-praktisch, wenn ihm weder das moralische Gesetz noch eine Beurteilung im Geschmacksurteil, sondern nur die Abhängigkeit der freien Willkür von
der Wirklichkeit der Gegenstandsvorstellung – d.h. ihr Verhaftetsein mit derselben,
das das Wesen des Prinzips der Selbstliebe ausmacht – vorhergeht; wenn das Gesetz der Abhängigkeit von Gegenstandsvorstellungen (mithin auch dem dadurch
ausgelösten pathologisch-praktischen Gefühl der Lust und Unlust) vorangeht, so
wird das Gefühl der Lust und Unlust moralisch; sein Sitz wird jedenfalls nicht
geändert.
Die pathologisch-praktische Lust ist also gleichsam als Wirkungskanal von Objekten zur Willkür (1) an sich bloße Empfindung (Materie einer Erkenntnis) und
deshalb noch keine Erkenntnis, als welcher ihr möglicherweise objektive Gesetzlichkeit würde zukommen können. Bei diesem Verhältnis von Objekt, Lust und
Willkür wird die Willkür durch die subjektive Begleitempfindung einer Objekterkenntnis bestimmt, und nicht unmittelbar durch diese Erkenntnis selbst. Erkenntnisse, die aus subjektiven Begleitempfindungen einer Erkenntnis – entweder im
Zusammenhang mit sonstigen in den Naturverlauf integrierten Objektsvorstellun[Hrsg.], Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, München 1924, Anthropologie
Dohna-Wundlacken, S. 173f. Diese Erläuterung ist von Kant wohl zum Gefühl der Lust und Unlust im allgemeinen dargeboten worden, gilt jedoch inhaltlich nur für die pathologisch-praktische
Lust, die aber immerhin als Prototyp des ersteren erachtet werden mag. Vgl. außerdem MS, VI 211f
Anm.; Refl. 227, XV 86f, ω (1790–1804); EE, XX 206 Z16 <H10>, 222 <H27>, 224f <H30f>, 232
<H37>.
86
Anthr. § 15, VII 153; Refl. 605, XV 260, ϕ? (1776–78?).
87
Vgl. dazu KpV, V 23 Z9 <A41>, 58 Z19 <A102>; MS, VI 399 Z24 etc. Die Stelle KpV, V 80
Z9 <A142>aber läßt sich so verstehen, daß das pathologisch-praktische Lustgefühl, seinen Sitz wohl
nicht im inneren Sinn hat, jedoch durch ihn bestimmt wird. Der Gedanke, daß das Gefühl der Lust
und Unlust überhaupt, dem die pathologisch-praktische Lust zugehört, im inwendigen Sinne sitzt,
der von jenem inneren Sinne zu unterscheiden ist, dessen Empfindungen primär für die Gegenstandserkenntnis angewendet werden, scheint sich auch in der KpV de facto unscheinbar durchzusetzen,
wenn Kant erklärt, daß Gegenstandsvorstellungen, seien sie vom Sinn oder vom Verstand, wenn
sie als materiale Gründe die Willkür bestimmen sollen, sie unausbleiblich durch die pathologischpraktische Lust und Unlust (Vergnügen und Schmerz) bestimmen. Denn diese sind dem für die Gegenstandserkenntnis (in der bestimmt wird, ob eine Gegenstandsvorstellung ihren Ursprung im Sinne
oder im Verstande hat) nicht konstitutiven ,inneren Sinn‘ zuzuschreiben, der genauer als inwendiger
Sinn bezeichnet werden sollte, und sind deshalb von einerlei Art; d.h. es ist ihnen gleichgültig, ob die
Gegenstandsvorstellungen vom Sinn oder vom Verstand sind. Vgl. dazu KpV, V 22–24 <A41–44>.
36
gen als Gründen der Willensbestimmung oder ohne den Zusammenhang mit denselben88 – aufs neue durch die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe, die ihrereseits immerhin apriorisch sind, konstituiert werden können,89 bilden zwar einen
empirischen Naturmechanismus. Dieser jedoch weist, verglichen mit der fürs Prinzip der moralisch richtigen Praxis erforderlichen absoluten Notwendigkeit (wie sie
aus dem Faktum der Vernunft erhellt), da die Empfindung keineswegs im ganzen
durch die reinen Verstandesbegriffe in perfekte Gesetzlichkeit hineingebracht werden kann, auch noch Zufälligkeit auf.90 Zudem bleibt die pathologisch-praktische
Lust (2) in ihrer Verbindungsrolle zwischen Objekten und Willkür als Empfindung
bloß empirisch-subjektiv. Ihre Objektivierung und Vergegenständlichung ist zwar
möglich, aber wegen ihrer empirischen Subjektivität sehr beschränkt. Daraus ergibt sich, 1. daß diese Lust eben nur solche Privatempfindung ist, daß man daraus
kaum intersubjektive Allgemeingültigkeit und Mitteilbarkeit erwarten kann,91 und
2. daß auch Kant die Möglichkeit einer „empirischen Seelenlehre“ als Wissenschaft eben pessimistisch beurteilt.92 Solange also die Lust, aufgrund deren die
Willkür bestimmt werden soll, doch bloß subjektive Empfindung bleibt, kann sie
kein objektiv-gesetzliches, geschweige denn apriorisches reines Kriterium für die
Willensbestimmung aufstellen.
1.2.2 Abhängigkeit von Gegenständen.
(a) Der Grund der Untauglichkeit der pathologisch-praktischen Lust zur apriorischen Gesetzlichkeit: ihre Abhängigkeit von Gegenständen.
Der zentrale Grund, warum das Gefühl der Lust und Unlust, das hier sinngemäß
pathologisch-praktisch sein muß, der Willkür keine apriorische Gesetzlichkeit abgeben kann, besteht darin, daß es als ,Lust an etwas‘93 ohne ein vorhergehendes
moralisches Gesetz in der Empfänglichkeit des Subjekts und Abhängigkeit vom
Dasein eines Gegenstandes verankert ist, m.a.W., sich an Gegenstände anlehnt
und ihnen anhaftet bzw. mit ihnen verhaftet ist94 : Die pathologisch-praktische Lust
88
Vgl. z.B. Anthr., VII 231 Z5–10.
Das Gefühl der Lust, das als solches keine objektive Erkenntnis ist, kann doch durch eine neue
Vertandessynthesis empirisch erkannt werden. Vgl. z.B. neben derselben Seite aus Anthr. in der
vorigen Fußnote KpV, V 21 Z34 <A39>, 23 Z16 <A42>etc.
90
Zur Zufälligkeit des empirischen Naturmechanismus vgl. KU, V 360 <B268f>, 370 <B284f>,
406 <B346f>; außerdem vgl. Bauer-Drevermann, I., Der Begriff der Zufälligkeit in der Kritik der
Urteilskraft, in: Kant-Studien Bd. 56, 1965, S. 502. Auch unser Grundsätze-Kapitel der KpV bietet
dazu ein Beispiel an: „das Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen“ (V 26 Z18 <A47>).
91
KpV, V 21f <A39>; KU § 39, V 291 <B153>, etc.
92
Vgl. dazu MAN, IV 471. Vgl. auch Kowalewski, A., op.cit., Metaphysik Dohna-Wundlacken,
S. 602.
93
Vgl. KpV, V 21 Z25 <A39>: „die Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“.
94
Der Begriff des ,Haftens‘, der die Abhängigkeit der Lust und mithin der Willkür von Gegenstandsvorstellungen bzw. Gegenständen ausdrückt, wird von Kant in unscheinbarer Weise verwendet.
Vgl. z.B. KU, V 432 Z5ff <B392>: „... Befreiung des Willens von dem Despotismus der Begierden,
wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen“; KpV,
V 137 Z14f <A247>: „... daß sein Wille immer mit einer Abhängigkeit der Zufriedenheit von der
89
37
„gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines
Gegenstandes abhängt“.95 Die Willkür, die durch diese Lust bestimmt wird, wird
wegen der Abhängigkeit der letzteren von Gegenständen, die gegenüber der zur
moralischen Handlung erforderlichen unbedingten praktischen Gesetzlichkeit nur
so angesehen werden, daß sie in ihrer Sukzession eher zufällig und widersprüchlich auftreten, stets nur von ihnen beherrscht und gleichsam ruhelos herumgetrieben. Die Gebundenheit des Lustgefühls an das Empirische läßt keine apriorische
Gesetzlichkeit für den menschlichen freien Willen zu.
(b) Abhängigkeit der Begierde, der Neigung und des Hangs von Gegenständen.
Ist nun das Wesen des Lustgefühls die Abhängigkeit von Gegenständen, so besteht der Wesenszug der Begierde nach etwas sowie der Neigung zu etwas auch in
derselben. Denn Begierde ist die Bestimmung des Begehrungsvermögens, vor welcher das Lustgefühl als Ursache notwendig vorhergehen muß, und die habituelle
Begierde heißt Neigung.96 Ebenso wie die beiden muß das Wesen des Hanges zu
etwas auch diese Abhängigkeit implizieren, weil bei ihm vom „subjektiven Grund
der Möglichkeit einer Neigung“97 die Rede ist. Daher ist der Grundzug des Bösen als Hang nichts anderes als die Abhängigkeit des subjektiven Gefühls der Lust
(Empfindung) von Gegenständen, durch das diese als Vorstellungen die Wilkür bestimmen und aus dem sich die Glückseligkeit rekrutiert.
(c) Die Entscheidung der freien Willkür für oder gegen die Abhängigkeit von
Gegenständen wird auf intelligibler Ebene getroffen.
Bei der Grundtendenz einer Abhängigkeit des Lustgefühls von Gegenständen, die
als Hang zum Bösen anzusehen ist, wird der Ursprung derselben als des Bösen
nicht dem Sosein von einzelnen Gegenständen, aus deren Erkenntnis die subjektive Empfindung der Lust und Unlust entspringt, zugeschrieben, weil das sukzessive Entstehen von Gegenstandserkenntnissen bzw. Gegenständen für sich weder
gut noch böse, sondern bloß neutral ist. Nicht gut ist aber jene Abhängigkeit der
pathologisch-praktischen Lust vom Empirischen selbst, die auf dem Prinzip der
Maximierung der eigenen pathologischen Lust (Vergnügen) gründet, welches das
Prinzip der Selbstliebe bzw. der Glückseligkeit98 genannt wird. Obwohl dieses als
,Ideal der Einbildungskraft‘99 bezeichnet wird, weil die pathologische Lust nicht
intellektuell ist und die Idee ihrer Maximierung durch die Einbildungskraft gebildet
Existenz seines Gegenstandes behaftet ist“ (kursiv v. Verf.).
95
KpV, V 22 <A40>.
96
Vgl. MS, VI 212 Z20–23; Anthr., VII 251. Vgl. auch KpV, V 72f <A128f>: „Denn alle Neigung
... ist auf Gefühl gegründet“. Vgl. auch GMS, IV 413 Anm. <B38>.
97
Rel., VI 28 <B20f>. Auch Selbstliebe ist ein Hang. Vgl. dazu KpV, V 74 <A131>.
98
KpV, V 22 Z6–8, Z21–25. Die hier gemeinte Glückseligkeit ist nicht moralisch, sondern nur
physisch.
99
GMS, IV 418 <B47>.
38
wird, ist es doch als ein ethisches Grundprinzip intelligibel, so daß seine Aufnahme
in die Grundmaxime der Gesinnung als „intelligibele Tat“100 auf der intelligiblen
Ebene erfolgt. Daher hat auch die Abhängigkeit des Lustgefühls vom Empirischen
ihren Grund zuletzt nicht in der empirischen, sondern in der intelligiblen Ebene.
(d) Die Unabdingbarkeit der Distanzierung von der Abhängigkeit von Gegenständen und die Aufgabe der formalistischen Grundlegung der Ethik.
Obgleich nun die Abhängigkeit des Lustgefühls von Gegenständen, worauf Begierde, Neigung und Hang auch gegründet sind, beim Menschen wohl von Natur und in
diesem Sinne etwas Apriorisches ist, so kann sich seine freie Willkür nicht dauernd
darin aufhalten. Denn (1) sie muß sonst, vom Empirischen herumgetrieben, ständig in ruhelosen materialen Bedürfnissen bleiben, die der Mensch immer als „ein
noch größeres Leeres“101 empfindet, – im Leben überwiegen die Schmerzen Kants
pessimistischer Ansicht zufolge letzten Endes die Vergnügen;102 (2) die unter der
Dominanz der pragmatisch-praktischen Vernunft stehende Willkür, die durch die
pathologisch-praktische Lust vom Empirischen abhängig ist, wird in äußerste Widersprüche, Gegensätze und Widerstreite verwickelt, die dem Harmonie-Gedanken
Kants in der Ethik entgegenstehen (cf. 2.3.1). Im Festhalten an der unbedingten Gesetzlichkeit für die Praxis gelingt es der freien Willkür, beide negativen Zustände,
die sie nur belasten, zu überwinden und innere Zufriedenheit des Herzens zu erlangen. Denn mit ihr hält man sich von der Abhängigkeit von Gegenständen fern.103
Dieses reale Fernhalten von Abhängigkeit im Ethos eines Menschen findet auch
in der praktisch-theoretischen formalistischen Grundlegung der Ethik, die es auf
Rel., VI 31 Z32 <B26>, 39 Anm. Z26 <B39>. Wenn diese ursprüngliche Freiheit auf intelligibler Ebene als die praktische Vernunft interpretiert werden kann, so kommt es bei der Prinzipienwahl der freien Willkür auf derselben Ebene auf die Entscheidung der praktischen Vernunft an, die
als intellektuelles Vermögen entweder empirisch bedingt oder rein sein kann.
101
KpV, V 118 <A212>: „Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man
ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es sie gleich nicht
abzulegen vermag, so nötigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein.“ Vgl. dazu auch
Refl. 7202, XIX 277 Z17–27, ψ (1780–89).
102
Vgl. Anthropologie Dohna-Wundlacken, in: Kowalewski, A., op.cit., S. 178; Anthr., VII 231f.
103
Das hier eingeführte Wort ,Fernhalten‘ bzw. ,Distanzierung‘, das im menschlichen Herzen zur
inneren Zufriedenheit unabdingbar ist, will Inbegriff von Wörtern sein wie ,Entledigen‘ (im Zitat V
118 von Fußnote 101), ,Befreien‘, ,Erleichtern‘, ,Losmachen‘ und „Unabhängigkeit von Neigungen“
in folgenden Belegen: „Das Herz wird doch von einer Last, die es jederzeit insgeheim drückt, befreit und erleichtert, wenn an reinen moralischen Entschließungen ... dem Menschen ein inneres ...
Vermögen, die innere Freiheit, aufgedeckt wird, sich von der ungestümen Zudringlichkeit der Neigungen ... loszumachen.“ (KpV, V 161 <A287>); „Freiheit und das Bewußtsein derselben als eines
Vermögens, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Unabhängigkeit
von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenngleich nicht als affizierenden) Bewegursachen
unseres Begehrens, und sofern als ich mir derselben in der Befolgung meiner moralischen Maximen
bewußt bin, der einzige Quell einer notwendig damit verbundenen, auf keinem besonderen Gefühle beruhenden, unveränderlichen Zufriedenheit, und diese kann intellektuell heißen“ (KpV, V 117
<A212>). Es bezieht sich demnach im allgemeinen auf die negative Freiheit.
100
39
die gesetzgebende Form und die Abstrahierung von der Materie (Gegenständen)
absieht, ihren Niederschlag. Es bezieht sich nämlich auf die negative Freiheit.
1.2.3 Die Distanzierung von der Abhängigkeit der Lust von Gegenstandsvorstellungen (vor allem der Vollkommenheit einer Objektvorstellung) und die Einräumung der gesetzgebenden reinen für sich praktischen Vernunft in Anmerkung I zu §§ 2 und 3.
(a) Die Absicht von Anmerkung I zu §§ 2 und 3.
Anmerkung I zu §§ 2 und 3104 stellt zusammen mit dem ihr vorangegangenen
Haupttext der beiden Paragraphen das erste fundamentale Stadium der formalistischen Grundlegung der Ethik dar, in dem die Grundtendenz des Lustgefühls als
Abhängigkeit vom empirischen Seienden, vor allem aber latent von der Vollkommenheit desselben, die auf dem Prinzip des Konsensus in der Gegenständlichkeit
beruht, überwunden wird. Dem Begehrungsvermögen (facultas appetitiva), das nur
durch die Lust an den Gegenstandsvorstellungen von diesen abhängt – sie mögen
Sinnes- oder sogar Vernunftvorstellungen sein –, kann keine unbedingte praktische Gesetzlichkeit zugewiesen werden. Selbst die Vorstellung des moralischen
Gesetzes, wenn sie für empirisch gehalten wird und als materialer Grund über die
pathologisch-praktische Lust den Willen bestimmt, kann diesem gar keine unbedingte praktische Gesetzlichkeit verleihen,105 ebensowenig wie die Vorstellung des
Willens Gottes. Damit wird fundamental im Zusammenhang mit dem Gefühl der
Lust und Unlust die radikale Distanzierung von dem in der Sinnenwelt Seienden
überhaupt – dies gleichwohl nur zum Zweck der Feststellung und Grundlegung der
apriorischen Gesetzlichkeit und Freiheit für die Praxis – vollzogen, die in folgenden Regressionsstadien dem weiteren Versuch der formalistischen Grundlegung
KpV, V 22–25 <A41–45>.
Vgl. dazu KpV, V 25 <A45>: „Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetze unmittelbar den Willen, nicht vermittelst eines dazwischen kommenden Gefühls der Lust und Unlust, selbst
nicht an diesem Gesetze“. Vgl. auch V 64 <A113>: „Nun mochten sie [sc. die Philosophen] diesen
Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der
Vollkommenheit, im moralischen Gesetze [!], oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz
allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen
Gesetze stoßen: weil sie ihren Gegenstand, als unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willens, nur
nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl [der Lust], welches allemal empirisch ist, gut oder
böse nennen konnten.“ Obwohl das Wort „Gesetze“, wie Hartenstein vorschlägt, in Anpassung an
die Tafel in V 40 <A69>durch „Gefühl“ mag ersetzt werden, so kann der Satz doch auch ohne die
Korrektur logisch verstanden werden. Auch H. Cohen korrigiert das Wort nicht (Cohen, H., Kants
Begründung der Ethik, Berlin 2 1910, S. 346). Daß nun in der kognitiven formalistischen Grundlegung der Ethik die Distanzierung des Willens von der Abhängigkeit von Gegenstandsvorstellungen
als materialen Bestimmungsgründen desselben (die negative Freiheit) auch von der für empirisch
gehaltenen Vorstellung von Gesetz und Gottes Willen gilt, ist von großer Bedeutung. Denn sie macht
das Wesen der Autonomie des Willens (der positiven Freiheit) aus, aus der sich in der essentiellen,
architektonischen Phase der Grundlegung der Ethik rein intellektuell – ohne die Abhängigkeit von
allerlei Gegenstandsvorstellungen durch die pathologische Lust – durch das reine Denken die Idee
der intelligiblen Welt als des Reiches Gottes entwickelt.
104
105
40
für Gesetz und Freiheit als Grundkonzept und -kriterium dienen kann.
Anmerkung I zu §§ 2 und 3 selber, die genauer an die „Folgerung“106 aus
§§ 2 und 3 angehängt ist, thematisiert sowohl die Aberkennung der Superiorität
einer absoluten praktischen Gesetzgebung vom Begehrungsvermögen, das auf der
pathologisch-praktischen Lust an Gegenstandsvorstellungen beruht, als auch die
Zuerkennung derselben zur reinen für sich praktischen Vernunft, die für sich selbst
unmittelbar den Willen bestimmt, indem sie sich von der Abhängigkeit von Gegenständen überhaupt distanziert. Denn die Vorstellungen der Gegenstände, seien
sie Sinnes-, Verstandes- oder Vernunftvorstellungen, müssen durchaus bloß empirische Bestimmungsgründe der Willkür sein; das will sagen, daß der moralische
apriorische Bestimmungsgrund des Willens nicht in der Gegenständlichkeit von
Gegenständen liegt, die, wenn sie die Willkür bestimmen sollen, unvermeidlich
durch das pathologische Gefühl der Lust und Unlust als Begleitempfindung der
objektiven Erkenntnis, durch die sie zuwegegebracht werden, vermittelt werden
müssen, sondern in der transzendental-subjektiven Gesetzlichkeit der reinen praktischen Vernunft in uns. Der Grund der Notwendigkeit der Ab- und Zuerkennung
der absoluten Gesetzgebung in Anmerkung I besteht demnach in der Grundeinsicht, daß die pathologisch-praktische Lust an Vernunftvorstellungen, insbesondere an der Vollkommenheit einer Sache, mit derjenigen an Sinnesvorstellungen –
entgegen der Ansicht der „sonst scharfsinnige[n] Männer“,107 d.i. der Wolffianer
– so gleichartig ist, daß sie ebensowenig wie diese die erforderliche unbedingte praktische Gesetzlichkeit herbeiführen kann. Diese Grundeinsicht Kants ist aus
seinen Auseinandersetzungen mit der schulphilosophischen Theorie über appetitus und perfectio in der Phase seiner formalistischen Grundlegung der Moralität
hervorgegangen, deren Ergebnis diese Anmerkung ist. Sie haben aber auch seinen eigenen Begriff einer transzendental-subjektiven Vollkommenheit aktualisiert
und sind demnach von der Bildung der Theorie einer spontanen (d.h. selbsttätigen)
moralischen Subjektivität der Bonität (cf. 1.5) begleitet. Ihnen ist im folgenden
nachzugehen, und zwar in dem Maße, wie Kant die Wolffsche Vollkommenheit
seinerseits verstanden hat.
(b) Das Begehrungsvermögen nach Vollkommenheit hat keine Kompetenz der
absoluten Gesetzgebung.
Kant spricht in dieser Anmerkung dem Begehrungsvermögen, das sich nach der
Vernunftvorstellung eines Objekts richtet, bei der es sich Wolffianisch um die Vollkommenheit der Vorstellung desselben handelt,108 die Superiorität, die Kompetenz
V 22 Z26–31 <A41>.
V 22 Z32 <A41>.
108
Vgl. dazu zunächst Messer, A., Kommentar zu Kants ethischen und religionsphilosophischen
Hauptschriften, Leipzig 1929, S. 59: „eine Vernunftvorstellung (wie z.B. Vollkommenheit)“. Vgl.
auch Beck, L. W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, Chicago 1960, S. 94f:
„In Wolff’s doctrine, desire has as its condition the knowledge of a perfection. If this knowledge
ist obscure or confused, corresponding to the lower faculty of sense, the desire can mislead us into
erroneous or bad conduct; if it is clear and distinct, coming from the higher cognitive faculty of
106
107
41
der absoluten Gesetzgebung für sich, ab, sofern die Lust in ihm, durch welche die
Vernunftvorstellung eines Objekts der Grund der Willkürbestimmung sein kann,
ebenso wie die Lust an Objektvorstellungen überhaupt, von dieser Vorstellung als
Objektvorstellung abhängig, folglich pathologisch-praktisch (Vergnügen, voluptas) ist. Ein oberes Begehrungsvermögen, dem praktische Gesetzgebung beizulegen ist, kann also durch die Differenzierung der objektiven Zielvorstellungen des
Begehrens in Vernunft- und Sinnesvorstellungen nicht eingeräumt werden.
(c) Der Begriff der Vollkommenheit.
Baumgarten gibt dem Begriff der Vollkommenheit im allgemeinen Sinne folgende
Definition: „Wenn viele Sachen zusammengenommen den hinreichenden Grund
von Einem enthalten, so stimmen sie zu diesem Einen zusammen (consentiunt).
Die Zusammenstimmung (consensus) selbst ist die Vollkommenheit (perfectio),
und das Eine, zu welchem sie zusammenstimmen, ist der Bestimmungsgrund der
Vollkommenheit (ratio perfectionis determinans, focus perfectionis).“109 Eine gleichartige Erklärung gibt auch Kant: „Die Vollkommenheit im respektiven Verstande
ist die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einer gewissen Regel, diese
mag sein, welche sie wolle.“110 Die formale Struktur der Implikation des Begriffes
rekrutiert sich demnach aus zwei Strukturelementen: Zusammenstimmung (consensus) und das Eine als Grund derselben (unum, in quod consentitur; ratio perfectionis determinans). Konsens zu Einem, dieses sei, was es wolle, ist Form der
Vollkommenheit,111 während das Eine als Zweck (Gegenstand) Materie derselben
heißt.112 Während einerseits der Consensus als Form der Vollkommenheit in den
„Reflexionen“ als Gefüge für harmonische Zusammenhänge der Freiheit mit Gesetzen, mithin auch für die Zufriedenheit mit sich selbst verwendet (cf. 2.2, 2.3, 2.4)
und zuletzt in der KU als subjektive Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die kontemplative Lust herbeischaffen kann, für die Analyse des Schönen eingesetzt wird,113 so
understanding, the will is rightly guided to choose a real perfection. Hence the work of reason or
understanding in morals, as elswhere in the rationalistic philosophy, is to bring our ideas to clearness
and distinctness, for the difference between a sensuous and a rational concept is a difference only in
clarity and not in kind.“
109
Baumgarten, A. G., Metaphysica, lat., § 94 (AA XVII 46), dt., § 73.
110
Optim., II 30 Anm. Vgl. auch EE, XX 227 <H33f>: „... wenn die Zusammenstimmung des
Mannigfaltigen zu Einem Vollkommenheit heißen soll ...“ Vgl. auch Refl. 403, XV 161f, α? β?
(1753–55?, 1752–59?).
111
Refl. 5245, XVIII 130, υ? 1776–78?: „Die Qualität in dem, was vollkommen ist, ist der consensus zu einem. Das ist aber nur die Form der Vollkommenheit.“
112
Metaphysik Dohna-Wundlacken, in: Kowalewski, A., op.cit., S. 542f: „Unser Autor [sc. Baumgarten] definiert sie [sc. die Vollkommenheit]: consensus (variorum) ad unum. ... In dieser Zusammenstimmung besteht die formale Vollkommenheit, die materiale aber in dem Einen, zu welchem
jenes Mannigfaltige zusammenstimmt. Man nennt dies auch die Absicht.“
113
KU, V 227 <B45f>: „Das Formale in der Vorstellung eines Dinges, d.i. die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt was es sein solle), gibt für sich ganz und gar keine
objektive Zweckmäßigkeit zu erkennen: weil, da von diesem Einen als Zweck (was das Ding sein
solle) abstrahiert wird, nichts als die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des
Anschauenden übrig bleibt, welche wohl eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes
42
muß die Vollkommenheit in materialer Hinsicht auf der anderen Seite (die durch
das unum, in quod consentitur, bestimmt wird), wenn sie praktisch ein Grund der
Willensbestimmung sein soll114 und sofern das Eine als Grund der Zusammenstimmung objektiv ist, im Gegensatz zur Wolffschen Ableitung der Lust aus der
Vollkommenheit das Gefühl der Lust und Unlust am Objekt voraussetzen.115
Hier in unserer praktischen Hinsicht kann von der Vollkommenheit in theoretischer bzw. transzendentalphilosophischer Bedeutung (quantitative Vollkommenheit: transzendentale116 und metaphysische) nicht die Rede sein, sondern nur von
derjenigen in teleologischer (qualitative bzw. formale Vollkommenheit) und hypothetisch-praktischer Bedeutung.117 Sie heißt teleologisch „die Zusammenstimmung
der Beschaffenheiten eines Dinges zu einem Zwecke“.118 Die formale Struktur des
Begriffs der Vollkommenheit im allgemeinen Sinne, die aus consensus und unum,
in quod consentitur, besteht, trägt hier deutlich teleologisches Gepräge, das bereits in ihrer allgemeinen Definition impliziert ist. Bei unserer jetzigen praktischen
Problematik kommt es auf die teleologisch gedeutete Vollkommenheit in materialer Hinsicht, die objektive Zweckmäßigkeit auf empirischer Ebene, die auf die
Willensbestimmung gehen soll, an.119 Diese Vollkommenheit, deren Materie, der
Grund der Zusammenstimmung als Zweck, objektiv und vorher gegeben ist, heißt
in hypothetisch-praktischer Bedeutung „die Tauglichkeit oder Zulänglichkeit eines
Dinges zu allerlei Zwecken“,120 welche als Beschaffenheit des Menschen insbeim Subjekt und in diesem eine Behaglichkeit desselben, eine gegebene Form in die Einbildungskraft
aufzufassen, aber keine Vollkommenheit irgendeines Objekts, das hier durch keinen Begriff eines
Zwecks gedacht wird, angibt.“
114
Die Vollkommenheit in materialer Hinsicht als objektive Zweckmäßigkeit muß nicht immer
praktisch-zweckmäßig sein, sondern kann auch bloß physisch-teleologisch zur realen Technik der
Natur gehören, wobei sie mit dem Gefühl der Lust nichts zu tun hat. Vgl. dazu EE, XX 228 <H35>.
115
Refl. 746, XV 328, ν–ξ? (1771–72?) ρ–τ? (1773–76?): „Es ist zu merken, daß die Lust und
Unlust nicht Vorstellungen der Vollkommenheit sein, sondern diese jene voraussetze; daher, weil
wir an einer Übereinstimmung eine Lust haben, ist sie für uns eine Vollkommenheit; aber nicht
jede Lust bedeutet eine Vollkommenheit, sondern nur die durch den Verstand.“ Refl. 6488, XIX 25f,
δ–η (1762–68): „Suche die Vollkommenheit um des Gefühls der Lust an der Handlung halber. /
Ungewißheit, ohne moralisch Gefühl auszumachen, wo die größeste Vollkommenheit sei“. Oder vgl.
auch Refl. 7229, in der die Vollkommenheit dem Kontext nach doch in materialer Hinsicht vorgestellt
ist.
116
Baumgarten, Metaphysica, lat., § 98.
117
KU, V 227 <B45>; MS, VI 386; Refl. 5245; Refl. 5753.
118
MS, VI 386. Vgl. auch KU, V 311 <B188>: „... da die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen
in einem Dinge zu einer innern Bestimmung desselben als Zweck die Vollkommenheit des Dinges
ist, ...“; KrV, III 456 <B722>: „Vollständige zweckmäßige Einheit ist Vollkommenheit (schlechthin
betrachtet).“
119
Vgl. auch Refl. 7238, XIX 292, ψ (1780–89): „Der Begriff der Vollkommenheit, der vor dem der
Zweckmäßigkeit vorhergeht, ist theoretisch und bedeutet den der Vollständigkeit in der Verbindung
des Mannigfaltigen zu Einem. Allein der Begriff der Vollkommenheit, der praktisch sein soll, muß
den Begriff eines Zwecks voraussetzen, folglich den Begriff eines Guten, weil der Imperativ, daß
etwas getan werden soll, sagt, daß eine durch mich möglich Handlung gut sein würde.“
120
KpV, V 41 <A70>. Diese Vollkommenheit, die wohl zunächst problematisch-praktisch ist, jedoch zugleich auch im Hinblick auf die Glückseligkeit pragmatisch-praktisch sein kann, ist vorsichtig
als ,Vollkommenheit in hypothetisch-praktischer Bedeutung‘ zu bezeichnen.
43
sondere nichts anderes als Talent und Geschicklichkeit ist. Nun läßt sich objektive
Zweckmäßigkeit auch intellektuell vom praktischen Endzweck des freien Willens
her bilden. Dieses Geschäft aber kann erst in der Problematik der ,moralischen
Teleologie‘ begonnen werden (cf. 3.).
(d) Die Wolffianische Ableitung der appetitio aus der cognitio perfectionis.
Der Zusammenhang zwischen Vollkommenheit, Lust, Begierde, Willkür und dem
oberen Begehrungsvermögen läßt sich Wolffianisch aufgrund der Grundpotenz einer vis repraesentativa universi wie folgt darstellen: (1) Die Lust entspringt aus
der anschauenden Erkenntnis einer Vollkommenheit in der ontologischen Struktur der Gegenstände als Harmonie, (2) aus ihr besteht die Begierde (appetitio) und
mithin auch die Willkür (arbitrium), und (3) das Begehrungsvermögen (facultas appetitiva), das vom Begriff der Begierde (appetitio) her gedacht ist und das auf die
Gegenstandsvorstellung der Vollkommenheit geht, die in der Eindimensionalität
von Vorstellungen überhaupt (repraesentatio) klar und deutlich erkannt wird und
deswegen Vernunftvorstellung heißt, rangiert an oberter Stelle (facultas appetitiva
superior, voluntas).121
Kant sagt zu dieser Wolffianischen Ableitung des Begehrungsvermögens: „Wolff
wollte alles aus dem Erkenntnisvermögen ableiten und definierte Lust und Unlust als actus des Erkenntnisvermögens. Auch das Begehrungsvermögen nannte
er ein Spiel der Vorstellungen, also ebenfalls Modifikation des Erkenntnisvermögens. Hier glaubt man nun Einheit des Prinzips zu haben (...). – Diese ist aber hier
unmöglich.“122 Ist das Begehrungsvermögen Modifikation des Erkenntnisvermögens, so heißt das die Ableitung des Begehrungs- aus dem Erkenntnisvermögen, in
welcher zwei Übergangsstufen sich unterscheiden lassen: Übergang (1) von theoretischer Erkenntnis zu Lust und (2) von dieser zu Begierde. Unter ihnen aber fechtet
Kant nur die erste Übergangsstufe an. Die zweite hingegen geht mit seiner Erläuterung zur im Grunde von den Wolffianern übernommenen Willkürtheorie zunächst
ziemlich konform.123
Zu Stufe (1): Wolff erklärt: „Die Lust (voluptas) ist die Anschauung oder anschauliche Erkenntnis irgendeiner Vollkommenheit (cognitio intuitiva perfectionis cuiuscunque), sei es einer wahren oder einer falschen.“124 Unter voluptas, ob121
Wolff selbst aber, der von den Wolffianern zu unterscheiden ist, denkt, daß die Begierde nach
Vollkommenheit nicht sosehr auf der dadurch erworbenen Lust als vielmehr auf der Bonität der
Vollkommenbeit beruht. Vgl. dazu etwa Beck, L. W., op.cit., S. 94 Anm. 15: „But Wolff is not, at
least by his own profession, a hedonist, for the perfection ist desired because it is good and not
because its achievement gives pleasure (...). Many of Wolff’s Followers did not observe this nice
distinction, ..., and were easy targets for Kant’s criticism here.“
122
Metaphysik Dohna-Wundlacken, in: Kowalewski, op.cit., S. 596.
123
Vgl. z.B. MS, VI 399: „Alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust und Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu
nehmen, zur Tat“. Das Wort Willkür kann per definitionem durch die ,tätige Begierde‘ ersetzt werden,
um den Satz in bezug auf die Begierde zu verstehen.
124
Wolff, Chr., Psychologia empirica, § 511, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. J. Ecole u.a., II
Abteilung, Bd. 5, psychologia empirica, Hildesheim 1968, S. 389.
44
wohl sie sich auf eine Vollkommenheit bezieht, ist hier Kantisch die pathologischpraktische Lust zu verstehen, die, da sie keine unbedingte Gesetzlichkeit herbeischaffen kann, keineswegs zum reinen System der Moral gehören kann. Die eigentliche reine Lust, die moralische, hingegen hat einen anderen Ursprung als in rezeptiven Erkenntnissen der Gegenstände, sie entspringt nämlich aus der Zusammenstimmung mit der transzendental-subjektiven Aktualität von Gesetz und Vernunft.
Würde nun der theoretischen Erkenntnis eines vollkommenen Gegenstandes eine
intellektuelle Anschauung eingeräumt, so könnte von der ersteren möglicherweise die voluptas qua pura abgeleitet werden, die sich zur reinen Moralität entfalten
kann. Aber bei Kant sind für die theoretische Erkenntnis nur sinnliche Anschauungen bzw. Empfindungen gegeben, die nicht dazu fähig sind, der Lust zur Handlung
die für Moralität erforderliche unbedingte Gesetzlichkeit zu verleihen.
Zu Stufe (2): Ist unter dem Leben „die Kausalität der Vorstellungskraft in Ansehung der Wirklichkeit ihrer Gegenstände“ (causalitas repraesentativa respectu
obiecti) zu verstehen, so ist im Lustgefühl primär „die Beziehung der Vorstellung
aufs Subjekt als Bestimmung ihrer Kausalität“ zu sehen, während bei der Begierde
eher von der „Beziehung der Lebenskraft aufs Objekt als causatum“ die Rede sein
soll.125 Außer dieser geringen Differenz lassen sich jedoch zwischen dem Wohlgefallen an der Wirklichkeit der Objekte (complacentia actualitatis obiecti), wozu
das Wohlgefallen am Schönen nicht gehört, und der Begierde (appetitio) überhaupt
– letztlich darum, weil beide die Abhängigkeit von Objekten als ihr Grundcharakteristikum aufweisen – sowenig Unterschiede wahrnehmen,126 daß die Lust als
Vermögen der Tätigkeit schon mit der Begierde zusammenfällt.127
Der Wolffianische kontinuierliche Übergang von complacentia zu appetitio wird
auch bei Kant für die sinnliche Willkürbestimmung aus der empirischen, pathologisch-praktischen Lust eingeräumt, welche aber mit der moralischen Willensbestimmung aus absoluter praktischer Gesetzlichkeit nichts zu tun hat, so daß die
Wolffianische Ableitung der Begierde aus der Harmonie von Gegenständen für die
Moralitätsuntersuchung Kants ein uneigentlicher Weg ist, auf dem nur das untere Begehrungsvermögen zugelassen werden kann. Der enge Zusammenhang zwischen complacentia und appetitio wird allerdings auch der intellektuellen moralischen Lust in der architektonischen Phase der Grundlegung der Ethik, in der es
um die Realisierung einer Handlung als guter aus dem Ursprung der Moralität in
der Sinnenwelt geht, eingeräumt; dieser Lust müssen aber moralisches Gesetz und
Refl. 1050, XV 469, ψ3 ? (1785–88?). Vgl. auch Refl. 1034, 1048, 1021.
Refl. 1049, XV 469, ψ3−4 (1785–89): „Complacentia actualitatis obiecti est appetitio.“ Vgl. auch
Refl. 1015, 1019, 1023, 1028.
127
Met.L/1 (Pölitz), XXVIII 253f: „Das Vermögen der Lust und Unlust war das Verhältnis des
Gegenstandes auf unser Gefühl der Tätigkeit, entweder der Beförderung, oder der Behinderung des
Lebens. Inwiefern aber das Vermögen der Lust und Unlust ein Vermögen ist von gewissen Tätigkeiten und Handlungen, die demselben gemäß sind; in so fern ist es eine Begierde.“ Hiermit wird
unterdessen auch der Übergang vom zweiten zum dritten der drei Grundvermögen des Menschen,
Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen (ibid., XXVIII 228;
Anthr., VII 123f; Kowalewski, op.cit., S. 75; EE Abschnitt III, XX 205–208 <H10–12>), vollzogen.
125
126
45
Freiheit vorhergehen.128 Dabei ist jedoch nicht außer acht zu lassen, daß bei Kant
das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimmt.
D. Henrich bezeichnet diese kontinuierliche Ableitung der appetitio aus theoretischer Erkenntnis harmonischer Gegenständlichkeit bei Wolff als Benutzung des
„Doppelsinn[s] im Begriff der Lust“: „Wohlgefallen als ,Lust an etwas‘ ist nicht
dasselbe wie die praktische Lust des ,Begehrens von etwas‘.“129 Dieser Einwurf
einer Äguivokation besteht darin, daß das „Wohlgefallen als Lust an etwas“ aus
der anschauenden Erkenntnis einer gegenständlich gedachten Vollkommenheit als
rezeptiv-theoretischer Erkenntnis entspringt, während „die praktische Lust des Begehrens von etwas“ spontan auf den Gegenstand einer Vorstellung wirkt. Die Kantische Kritik an der Schulphilosophie aber richtet sich nicht sosehr gegen jenen
kontinuierlichen Übergang von Lust zu Begierde (Übergangsstufe 2), wie die Formulierung Henrichs uns zunächst nahelegen mag, als vielmehr gegen die Verbundenheit der anschauenden Erkenntnis mit der Lust und mithin mit der Begierde,
d.i., wie er auch nachher erwähnt, gegen die vis repraesentativa universi als repraesentatio und appetitio in einem,130 m.a.W. gegen die Abhängigkeit des eigentlich
freien menschlichen Willens von der Gegenständlichkeit der Gegenständen.
(e) Kants Widerlegung des Wolffianischen Prinzips der Vollkommenheit für
Praxis.
Die Wolffianische Vollkommenheit als praktisches Prinzip kann, auch wenn sie
theoretisch klar und deutlich erkannt werden mag, in der Kantischen Perspektive,
die keineswegs die intellektuelle Anschauung im theoretischen Bereich131 gestattet, gar nicht als Vernunftprinzip der reinen Sittlichkeit taugen. Sie ist bloß einer
der praktischen materialen Bestimmungsgründe des Willens.132 Denn die Vollkommenheit, die praktisch der Bestimmungsgrund des Willens sein soll, ist, wie oben
erläutert (cf. 1.2.3.c), die Vollkommenheit in materialer Hinsicht und stellt demnach nichts als objektive Zweckmäßigkeit dar, und ihre Materie, der bestimmende
Grund der Zusammenstimmung (ratio perfectionis determinans) müssen Zwecke
sein, die objektiv und vorher gegeben, sonach, weil nur sinnliche Anschauungen erlaubt sind, empirisch sein müssen (dementsprechend muß auch die objektive Zweckmäßigkeit, als welche die Wolffianische Vollkommenheit herausgestellt
Vgl. dazu z.B. Refl. 1044, XV 467, ψ1−2 (1780–84): „... die [appetitiones] simpliciter intellectuales stehen unter moralischen Imperativen vom absoluten Gut. Es ist aber alles bloß relativ gut,
außer die Übereinstimmung der Freiheit mit sich selbst nach allgemeinen Gesetzen; der korrespondiert complacentia intellectualis pura.“ Cf. 2.5.1. Vgl. auch Refl. 1049. Vgl. auch MS, VI 399 (cf.
Fußnote 123 von oben).
129
Henrich, D., Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in:
Prauss, G. [Hrsg.]; Kant, Köln 1973, S. 237.
130
Vgl. ibid., S. 252, Anm. 19.
131
Die intellektuelle Selbstaufdrängung der moralischen Gesetzlichkeit als Faktum wird von Kant
eine gewisse Zeit lang als intellektuale Anschauung bezeichnet (cf. Fußnote 565 in 3.2.0). Er war
nahe daran, im praktischen Bereich diesen Terminus einzuräumen.
132
Vgl. dazu die Tafel in KpV, V 40 <A69>.
128
46
wird, bloß empirisch sein; sie kann nicht so intellektuell sein wie in der ,moralischteleologischen‘ Phase der Grundlegung, weil sie nicht aus dem praktischen Endzweck, den die reine praktische Vernunft von der Freiheit, d.h. Unabhängigkeit
von empirischen Gegenständen her moralisch-praktisch entwirft, sondern aus der
theoretischen, mithin empirischen Erkenntnis zustandekommen soll); bei solchen
vorgegebenen empirischen Objekten als Zwecken indessen gilt behufs der Willkürbestimmung nur die pathologisch-praktische Lust; der Wolffianische Begriff der
Vollkommenheit setzt also in Wahrheit die pathologisch-praktische Lust voraus,133
die wegen ihrer empirischen rezeptiven Bedingtheit (cf. 1.2.1.c) der Willkür keineswegs unbedingte praktische Gesetzlichkeit verleihen kann; folglich kann er als
praktisches Prinzip gar nicht die reine Moralität, die die unbedingte praktische Gesetzlichkeit aufweisen soll, herbeischaffen und taugt also nicht als Vernunftprinzip
der reinen Moralität. Die Lust an der Vollkommenheit als Vernunftvorstellung eines Objekts ist eine Abhängigkeit von Objekten und kann daher kein reines Prinzip
des freien Willens schaffen.
So sagt Kant, daß „uns Zwecke vorher gegeben werden müssen, in Beziehung
auf welche der Begriff der Vollkommenheit (...) allein Bestimmungsgrund des Willens werden kann, ein Zweck aber als Objekt, welches vor der Willensbestimmung
durch eine praktische Regel vorhergehen und den Grund der Möglichkeit einer
solchen enthalten muß, mithin die Materie des Willens, als Bestimmungsgrund
desselben genommen, jederzeit empirisch ist, mithin ... niemals ... zum reinen Vernunftprinzip der Sittenlehre und der Pflicht dienen kann“.134 In der EE formuliert Kant seine Widerlegung des Wolffianischen Prinzips der Vollkommenheit, obzwar hauptsächlich nur im Blick auf kontemplative Lust, doch gültig auch für die
pathologisch-praktische Lust, lapidar: „Vollkommenheit ist eine Bestimmung, die
einen Begriff vom Gegenstande voraussetzt“, und sagt weiter, „daß vom Erkenntnis
zum Gefühl der Lust und Unlust kein Übergang durch Begriffe von Gegenständen
(...) stattfinde“.135
Das Vermögen des Begehrens einer Vernunftvorstellung von einem Gegenstand, vor allem der Vollkommenheit, das sich auf die Begierde beruft, die aus
der pathologisch-praktischen Lust an der Materie der Vollkommenheit folgt, wird
demnach nur als das untere bezeichnet; es fehlt daher eben noch ein oberes Begehrungsvermögen.136 Kurzum, kein Moralprinzip, das irgendwie rezeptiv von der
Existenz der Gegenstände abhängt, sei es empirisch, sei es rational, ist imstande,
die von Kant geforderte Unbedingtheit der reinen Moralität aus Freiheit zu stiften.
Der Begriff der Zusammenstimmung, bei dem es sich um die wesentliche Kom133
Refl. 6624, XIX 116, κ–λ? (1769–70?): „Wolff [hat] den Begriff der Vollkommenheit ... angenommen. Allein der allgemeine Begriff der Vollkommenheit ist nicht durch sich selbst begreiflich,
und von ihm wird keine praktische Beurteilung abgeleitet, sondern er ist vielmehr selbst ein abgeleiteter Begriff, indem das, was in besonderen Fällen gefällt, mit dem allgemeinem Namen vollkommen
belegt wird.“ Vgl. auch Refl. 746.
134
KpV, V 41 <A70>. Um die Argumentation über dieses Zitat zu ergänzen, vgl. noch Lehrsatz I
und die darauf folgende Erläuterung des § 2 des Grundsätze-Kapitels (KpV, V 21f <A38–40>).
135
EE, XX 226 <H33>und 229 <H36>.
136
Vgl. KpV, V 22 <A41>.
47
ponente des Begriffs der Vollkommenheit handelt, dessen Anwendung auf die Gegenständlichkeit der sinnlichen Natur zur moralischen Willensbestimmung, wie
gesehen, bestritten worden ist, wird aber für die Explikation des moralischen Gesetzes als principium diiudicationis moralis, die durchs reine sittliche Denken ohne
Bezug auf die sinnliche Gegenständlichkeit vorgenommen wird, doch mit voller
Geltung verwendet (cf. 2.3.2).
(f) Das arbitrium liberum sensitivum und intellectuale.
Der Gegensatz zwischen dem unteren und dem oberen Begehrungsvermögen (facultas appetitiva inferior und superior) – das erstere beruht auf der pathologischpraktischen Lust an Gegenstandsvorstellungen (stimuli) als Abhängigkeit von ihnen, das letztere auf der reinen praktischen Vernunft – kommt auch paradigmatisch in demjenigen zwischen arbitrium inferius und superius137 zum Ausdruck, ist
aber mit ihm nicht identisch. Beim arbitrium inferius als necessitatio per stimulos handelt es sich um das arbitrium brutum, das von den stimuli nezessitiert bzw.
unmittelbar determiniert und deshalb dem Tier attribuiert wird.138 Von dem letzteren ist das arbitrium liberum sensitivum, das dem Menschen beizulegen ist, nur
darin unterschieden, daß dieses von den stimuli nicht ohne Bewußtsein nezessitiert
bzw. unmittelbar determiniert, sondern – was die Freiheit des Menschen anzeigt139
– nur affiziert bzw. impelliert wird.140 Der Gegensatz zwischen dem unteren und
dem oberen Begehrungsvermögen hat also seinen konzeptionellen Ursprung in der
Unterscheidung zwischen Tierheit und Vernünftigkeit am Menschen,141 entspricht
aber genauer bei diesem selbst demjenigen zwischen arbitrium liberum sensitivum
und intellectuale.142 Dem unteren Begehrungsvermögen, das auf der pathologischpraktischen Lust beruht, entspricht das arbitrium liberum sensitivum. Geht man
demzufolge formalistisch vom unteren zum oberen Begehrungsvermögen als Ursprung der moralischen Handlungen zurück, so findet auch ein Übergang vom arbiVgl. Refl. 1027, XV 459, υ (1776–78): „Necessitatio per stimulos est arbitrium inferius. Independentia a coactione per stimulos libertas. Vis omnes actus arbitrio libero submittendi est arbitrium
superius.“
138
Vgl. dazu z.B. Refl. 1020, XV 456, ρ? σ? υ? (1773–75? 1775–77? 1776–78?): „Das arbitrium
immediate determinatum per stimulos ist brutum.“ Vgl. auch Met.L/1, XXVIII 255.
139
Vgl. dazu Refl. 6938, XIX 210, ϕ (1776–78): „Die pathologische Nezessitation findet nicht statt,
weil der Mensch frei ist“; Met.L/1, XXVIII 256: „Die Tiere können stricte per stimulos nezessitiert
werden, die Menschen aber nur comparative“; ibid., 257: „Diese praktische Freiheit beruht auf der
independentia arbitrii a necessitatione per stimulos“.
140
Zur Unterscheidung zwischen arbitrium liberum sensitivum und arbtrium brutum vgl. Met.L/1,
XXVIII 255: „Das arbitrium sensitivum liberum wird nur von den stimulis affiziert oder impelliert;
aber das brutum wird nezessitiert.“ Refl. 4226, XVII 465, λ? (1769–70?): „Das arbitrium sensitivum
ohne Bewußtsein ist brutum.“ Vgl. auch Refl. 3715, XVII 254, δ? η?.
141
Vgl. z.B. Refl. 3872, XVII 320, η? (1764–68?): „Wir müssen an dem Menschen unterscheiden
das Tier, d.i. ihn nach den Gesetzen der Sinnlichkeit, und den Geist: nach Gesetzen der Vernunft.
Seine Willkür als Tier wird wirklich immer bestimmt durch stimulos; aber sein Wille ist doch frei,
sofern seine Vernunft vermögend ist, diese Bestimmungen der Willkür zu ändern.“
142
Zur Zusammenfassung der drei Arten des arbitrium vgl. Refl. 1026, XV 459, υ (1776–78). Vgl.
auch Refl. 1021, XV 457, σ2 –χ2 , Z21–26.
137
48
trium liberum sensitivum zum intellectuale statt. Bei der ethischen formalistischen
Grundlegung nun, die sich im Übergang von der Abhängigkeit vom Empirischen
auf das Befreitsein von demselben hin artikuliert, sind bei Kant in der dargestellten
Weise stets ihre Zielalternativen – wie etwa oberes Begehrungsvermögen, arbitrium liberum intellectuale, reine praktische Vernunft etc. – vorweggenommen und
vorbereitet, die aus der Wolffianischen Psychologie geschöpft sind. Allerdings ist
das arbitrium liberum intellectuale oder transcendentale, worin auch reine praktische Vernunft sich findet, eigentlich keine empirisch-psychologische Freiheit;143
Kant sieht den Grund und Ursprung dieser freien vernünftigen Willkür und des
oberen Begehrungsvermögens nicht in der empirischen Psychologie, sondern setzt
ihn weit höher – oder tiefer – in einen anderen Standpunkt jenseits der Erfahrungswelt an. Reine praktische Vernunft ist kein psychologisches Vermögen der menschlichen Seele, das wir innerlich empirisch empfinden können, sondern transzendentales Vermögen im Menschen, dessen Kausalität außer der Sinnenwelt zu suchen
ist. Daher besteht zwischen sinnlicher und vernünftiger Willkür (arbitrium liberum
sensitivum und intellectuale), anders als bei der Wolffianischen Seelenlehre, eine
kontinuierlich nicht zu überbrückende Kluft der transzendentalen Differenz.
Nun ist die oben am Anfang von (d) genannte dritte und letzte Stufe jener Ableitungsfolge zu erläutern, welche von der cognitio perfectionis an bis zur facultas
appetitiva fortgesetzt wird. In Kants Verständnis hat der Wolffianische Übergang
von Begierde zu Willkür in der dritten Stufe nur für die sinnliche Willkür (arbitrium liberum sensitivum) Geltung, die von Gegenstandsvorstellungen (stimuli) durch die pathologisch-praktische Lust an ihnen hindurch affiziert wird. Er ist
kontinuierlich und ganz einfach: Begierde wird in die untätige (Wunsch und Sehnsucht) und die tätige eingeteilt, welche letztere einfach Willkür genannt wird.144
„Das Vermögen tätig zu begehren ist die Willkür.“145 Bei der tätigen Begierde,
der Willkür, hat man es damit zu tun, zu begehren, was in unserer Gewalt ist.146
Wenn diese Willkür von einer Vernunftvorstellung wie einer Vollkommenheit determiniert wird, so entspricht sie in der Wolffianischen Ableitung dem oberen Begehrungsvermögen, während sie doch bei Kant auf jeden Fall sinnlich ist. In die
143
Vgl. dazu zunächst Met.L/1, XXVIII 255: „Die freie Willkür, sofern sie nach Motiven des Verstandes handelt,“ d.h. das arbitrium liberum intellectuale, „ist die Freiheit, die in aller Absicht gut
ist. Dieses ist die libertas absoluta, welches die moralische Freiheit ist“; 257: „Diejenige Freiheit, die
aber ganz und gar unabhängig von allen stimulis ist, ist die transszendentale Freiheit, wovon in der
psychologia rationali geredet wird“; 267: „Nun folgt aber der transzendentale Begriff der Freiheit;
dieser bedeutet die absolute Spontaneität, und ist die Selbsttätigkeit aus dem innern Prinzip nach der
freien Willkür“; 269: „Nun bin ich mir aber bewußt, daß ich sagen kann: Ich tue; folglich bin ich mir
keiner Determination bewußt, und also handele ich absolut frei.“ Zur psychologischen Freiheit vgl.
KpV, V 94–97 <A168–174>.
144
Vgl. Met.L/1, XXVIII 254; Refl. 1028. Zu einer gleichartigen Unterscheidung Refl. 1021, XV
457, σ–χ (1775–79): „Alle Begierde ist entweder praktisch, die den Grund der Existenz des Objekts
enthalten kann, oder müßig, die erstere ist Willkür.“ Zur Unterscheidung qzwischen Willkür und
Wunsch vgl. auch MS, VI 213 Z17–19.
145
Refl. 1028, XV 460, υ (1776–78).
146
Refl. 1008, Nachtrag, XV 450, (1780–89): „appetitio eorum, quae sunt in potestate mea, est
arbitrium.“ Vgl. auch Refl. 1021, 1059.
49
dargelegte Systematik der Ableitungsfolge von psychologischen Grundbegriffen:
cognitio perfectionis, complacentia bzw. voluptas, appetitio und arbitrium, die die
Schulphilosophie sowohl für sinnliche als auch für intellektuelle Vermögen gleicherweise eindimensional-kontinuierlich und ohne wesentliche Eigentümlichkeitsunterschiede gelten läßt, greift doch Kants scharfe Differenz zwischen Sinnen- und
Verstandeswelt, m.a.W., die Differenz zwischen empirisch-objektiver rezeptiver
Gegenständlichkeit und transzendental- subjektiver Aktualität des reinen sittlichen
Denkens des menschlichen freien Willens entscheidend ein, welche letztere zuerst
im Sittengesetz als Faktum erkannt wird, mithin anderer Herkunft ist und darum
nicht von der ersteren abgeleitet werden kann. Das „liberum arbitrium intellectuale
oder transcendentale“147 läßt sich nicht aus der Wolffianischen Ableitungslinie von
,theoretische Erkenntnis – Lust – Begierde – Willkür‘ schließen, sondern faktisch
als transzendentales Vernunftvermögen im Menschen schlechterdings anerkennen,
das aus einem anderen Standpunkt außer der theoretisch erkennbaren Sinnenwelt
kommt. Um diese vernünftige Willkür in der begrifflichen Systematik einräumen
zu können, gründet nun Kant den Begriff von Willkür im allgemeinen nicht sosehr
auf den von Lust und Begierde, als vielmehr auf den von Belieben (lubitus).
(g) Der Begriff vom Belieben (lubitus) als Wesen der Willkür.
Daß das Wesen der freien Willkür des Menschen im Belieben (lubitus) liegt, ist bei
Kant von früh an festgehalten: „Aus freier Willkür handelt sie [sc. die Substanz, die
äußerlich nicht determiniert etwas hervorbringt, was vorher nicht war], sofern die
Kausalität der Handlung in dem Belieben steckt, was nicht passiv ist.“148 Durch
die innere Funktion des Beliebens, das ohne alle Notwendigkeit einer wirkenden
Ursache begehrt und das darum, wenn es sich nach der Bonität richtet, als reines
doch notwendig sein kann und von Neigungen frei ist,149 ist auch die Willkür von
empirischen stimuli frei. „Der actus der Freiheit geschieht nach Belieben, der tierischen Willkür nach Instinkt.“150 Die Funktion des Beliebens zeigt sich zunächst
darin, daß das Gegenteil einer Zielvorstellung, auf die meine Willkür es wirklich
absieht, in meinem Belieben steht, sofern ich mir vorstelle, daß es auch in meiner
Gewalt steht; dazu darf das Belieben nicht passiv genötigt werden und der Mensch
muß „transzendental frei“ sein.151 Die intellektuelle Nezessitation, die auf aktive
147
Met.L/1, XXVIII 255.
Refl. 3857, XVII 314, η? (1764–68?). Vgl. zum Begriff des lubitus Baumgarten, Metaphysica,
§ 712 (Kant, AA, XVII 134; dt. § 525): „Lubitus est cognitio, qua substantia pollet, ex qua secundum
leges appetitionis aversationisque cognosci potest, cur sic non aliter se determinet circa actionem
liberam ratione exsecutionis.“ „Multa appeto, multa aversor pro lubito meo. Ergo habeo facultatem
appetendi et aversandi pro lubito meo, i.e. arbitrium.“
149
(Vgl. Refl. 3864, XVII 317, η–κ (1764–1769).
150
Refl. 1028, XV 460, υ (1776–78). Vgl. dazu auch Refl. 1029, XV 461 Z11f.
151
Vgl. Refl. 1035, XV 466, ψ1−2 (1780–84): „Ich handle pro arbitrio, sofern ich mir vorstelle, daß
das Objekt in meiner Gewalt sei; aber dieser actus geschieht pro lubitu, sofern ich mir vorstelle, daß
auch das Gegenteil in meiner Gewalt sei; dieses würde eine bloße Täuschung sein, wäre der Mensch
nicht transszendental frei“; Refl. 4226, XVII 465, λ? (1769–70?).
148
50
Bedingungen gegründet ist, ist nicht der Freiheit entgegen, weil diese ein unabhängiges, selbst gemachtes Belieben ist.152 Aber das freie Belieben kann sich andererseits auch in der Weise verhalten, daß motiva es nicht notwendig antreiben.153
Der Sinn der inneren Funktion des Beliebens als Wesen der menschlichen freien
Willkür besteht also darin, daß es von beiden Nezessitationen, sowohl der pathologischen wie der intellektuellen, die aus Motiven kommt, frei ist. Folglich muß auch
die menschliche Willkür an sich weder per stimulos noch per motiva nezessitiert
werden.154
Aufgrund dieser langjährigen Überlegungen definiert Kant in der MS von 1797
die Willkür als das Begehrungsvermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen, das
zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist (wenn es dazu nicht verbunden ist,
heißt es Wunsch).155 Erst unter dieser Definition der Willkür kann die Vernunft
überhaupt, d.h. nicht nur die empirisch bedingte Vernunft, die sich auf das arbitrium liberum sensitivum bezieht, sondern gerade die reine praktische Vernunft in
der Willkür bzw. im Begehrungsvermögen ihren Platz einnehmen, indem das Belieben sie in seine Funktionsstelle als innerer Bestimmungsgrund der Willkür, der
weder per stimulos noch per motiva nezessitiert wird, aufnehmen kann. Daher versteht Kant unter dem Willen das Begehrungsvermögen, dessen „Belieben in der
Vernunft des Subjekts angetroffen wird“,156 die entweder empirisch-bedingt oder
rein ist. Er kann somit praktische Vernunft selbst sein.157
Also kann mittels der Einführung des Begriffs des Beliebens (lubitus) in den
der Willkür als deren innerer Bestimmungsgrund, und nicht mittels der kontinuierlichen Ableitung derselben von der Begierde, die auf der pathologisch-praktischen
Lust an Gegenstandsvorstellungen beruht, das arbitrium liberum intellectuale eingeräumt werden, in dem sich reine praktische Vernunft als das obere Begehrungsvermögen findet, das die unbedingte moralische Gesetzlichkeit transzendental liefert.
Vgl. Refl. 4224, XVII 463f, λ? (1769?).
Vgl. Refl. 7159, XIX 260 Z6–8, υ (1776–78): „Wir sind frei in Ansehung aller ethischen Verbindlichkeit; nämlich es sind motiva, welche nicht notwendig antreiben. Also tun wir die Handlung
aus freiem Belieben“.
154
Vgl. dazu etwa Met.L/1, XXVIII 255; Refl. 1021, XV 457 Z24–26, 458 Z12–14, σ–χ (1775–79).
155
Vgl. MS, VI 213 Z14–19.
156
Loc.cit. Z20–22. Natürlich erfüllt das Belieben auch beim Übergang vom Wohlgefallen an Gegenständen zur Willkür seine Funktion. Vgl. hierzu Refl. 1059, XV 471, ψ3−4 (1785–89): „Das Belieben ist das Verhältnis des Wohlgefallens zur Willkür.“
157
MS, VI 213 Z22–26. Einer anderen Begründung zufolge ist der Wille deshalb praktische Vernunft selbst, weil er einerseits das Vermögen ist, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln, und
andererseits Vernunft das Vermögen ist, vom Allgemeinen (Gesetze) das Besondere (Handlungen)
abzuleiten. Vgl. hierzu GMS, IV 412 Z26–30 <B36>, Refl. 7204, XIX 283 Z12, ψ? υ? ϕ? (1780–89?
1776–78?).
152
153
51
1.2.4 Die Untauglichkeit des Prinzips der Glückseligkeit und dessen
pragmatischer Imperative zur praktisch-objektiven unbedingten Gesetzgebung der Moralität in Anmerkung II zu §§ 2 und 3.
Anmerkung II158 zu den §§ 2 und 3 des Grundsätze-Kapitels der KpV will sagen:
Das Prinzip der Glückseligkeit, das ja notwendig Verlangen und Aufgabe jedes
endlichen Vernunftwesens und demnach „ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund
seines Begehrungsvermögens“ ist, kann doch nicht als praktisches, d.h. hier moralisches, Gesetz betrachtet werden; denn das Prinzip ist „doch nur der allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe und bestimmt nichts spezifisch, darum [sc.
um die spezifische Bestimmung der Bestimmungsgründe] es doch in dieser praktischen Aufgabe [der Glückseligkeit] allein zu tun ist, und ohne welche Bestimmung
sie [sc. die Aufgabe der Glückseligkeit] gar nicht aufgelöst werden kann“.159 d.h.
beim Prinzip der Glückseligkeit handelt es sich um den bloßen Pauschalzweck
jedes endlichen Vernunftwesens, mit dem es keine Einzelzwecke apriorisch spezifizieren kann, zu denen durch Vernunft jeweils Mittel (Handlungen auf Glückseligkeit hin) bestimmt würden. Einzelzwecke für Glückseligkeit, worauf es bei
diesem Prinzip ankommt, werden vielmehr nur empirisch nach subjektiven Empfindungen des Gefühls der Lust und Unlust des einzelnen empirischen Subjekts an
Gegenstandsvorstellungen bemessen und dadurch unter diesen ausgewählt.
Physische Gesetze können bei der Willkürbestimmung eines Menschen – anders als bei der tierischen Willkür – zwar subjektiv notwendige Gesetze sein, aber
die Willkür nicht unmittelbar und vollständig determinieren, d.h. praktisch-objektiv
zufällige Gesetze sein; denn sie wirken sich nicht auf die Form, sondern lediglich auf die Materie des Begehrungsvermögens aus, auf die es ja beim Prinzip
der Glückseligkeit bzw. der Selbstliebe ankommt,160 die aber ausschließlich durch
das variable pathologisch-praktische Gefühl der Lust und Unlust jedes besonderen
Subjekts empirisch, demnach zufällig bestimmt werden kann. Wenngleich physische Gesetze sowohl Objekte, denen das apriorisch nicht bestimmbare pathologischpraktische Gefühl der Lust und Unlust materiale Werte verleiht und die dann der
Wille sich zum Zweck setzt, als auch Mittel (Handlungen), die durch Vernunft aus
diesen Objekten als Zwecken deduziert werden, um diese zu erreichen, einhellig
zu bestimmen scheinen mögen, so ergibt das Prinzip der Glückseligkeit bzw. der
Selbtliebe, unter dem die physichen Gesetze ihre Funktion der Willkürbestimmung
ausüben, doch kein apriorisches praktisches Gesetz. Denn die menschliche Willkür
ist schließlich a priori in der Verfassung, nicht notwendig durch physische Gesetze,
nämlich nach physischer Notwendigkeit, sondern erst nach der praktischen Notwendigkeit bestimmt zu werden, d.h. aus Gründen a priori, die praktisch sind und
die sich in der Form des Begehrungsvermögens artikulieren. Solche physische Einhelligkeit von Handlungen – aber auch von Zwecken – zur Glückseligkeit stellt sich
gegenüber diesem Erfordernis der Apriorität für die moralische reine Verfassung
KpV, V 25f <A45–48>.
V 25 <A46>.
160
Vgl. V 25 Z29–37 <A46>.
158
159
52
der menschlichen Willkür als zufällig und ebenso nur „unausbleiblich abgenötigt“
heraus, wie „das Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen“.161 Physische Gesetze,
die in der auf der Rezeptivität der Erkenntnis basierenden Gegenständlichkeit von
Gegenständen bestehen, können wohl die Auswahl der Einzelzwecke induktiv regulieren, die durch die Zusammenarbeit des pathologisch-praktischen Gefühls der
Lust und Unlust mit der empirisch bedingten Vernunft getroffen wird, sie können
sie aber nicht apriorisch, d.h. von einem intellektuellen ersten Prinzip her deduktiv,
determinieren. (Cf. 2.6.2.a).
Daher sind pragmatische Imperative zur Glückseligkeit, hier „Prinzipien der
Selbstliebe“162 oder „praktische Vorschriften“163 genannt, der Allgemeinheit eines moralischen Gesetzes bzw. eines kategorischen Imperativs nicht fähig. Problematische Imperative der Geschicklichkeit, die in ihnen enthalten sind und die
zu Einzelzwecken der Glückseligkeit Mittel bestimmen können, beruhen wohl auf
theoretischen Prinzipien, die sich aus physischen Gesetzen rekrutieren, und zeigen
deshalb eine gewisse Gesetzlichkeit; aber jene pragmatischen Imperative der Klugheit können ihre Einzelzwecke, aufgrund deren auch Mittel erst determiniert werden können – d.h. die problematischen Imperative funktionieren können –, nicht
apriorisch spezifizieren, weil die Einzelzwecke als materiale Bestimmungsgründe
des Begehrungsvermögens erst durch die Größe der pathologisch-praktischen Lust
und Unlust, bei deren Taxierung Vernunft fungiert, jeweils empirisch und zufällig determiniert werden müssen.164 Die scheinbare Einhelligkeit um diese Imperative ist, wie aus dem Erwähnten erhellt, so zufällig, daß sie nicht in den Rang
praktischer Gesetze erhoben, sondern lediglich als Anratungen bezeichnet werden
können.165
In Anmerkung II zu §§ 2 und 3 also findet ein formalistischer Übergang vom
pragmatischen Imperativ der Klugheit (der dem Prinzip der Glückseligkeit untersteht und durch die empirisch bedingte praktische Vernunft geformt und vollzogen
wird) zum moralischen Imperativ der Sittlichkeit statt, der durch die reine praktische Vernunft geformt und vollzogen wird. Dabei dienen als Leitfaden und Kriterium des Übergangs praktisch-objektive Notwendigkeit und Allgemeinheit166 (mit
einem Wort, Apriorität), auf denen die Spezifizierbarkeit der Bestimmungsgründe
(Einzelzwecke) des Begehrungsvermögens beruht, und angesichts deren sowohl
das Prinzip der Glückseligkeit als auch die darunter stehenden pragmatischen Imperative der Klugheit als Lieferanten der moralischen unbedingten Gesetzlichkeit
ausscheiden müssen. Die ganze Argumentation dieses formalistischen Übergangs
beruht auf dem fundamentalen Argument, daß das pathologisch-praktische Gefühl
der Lust und Unlust an Gegenstandsvorstellungen, das zur empirischen SpezifiVgl. V 26 Z7–18 <A47>.
V 25 Z37f <A46>.
163
V 26 Z3 <A47>.
164
Vgl. V 25 Z37 – 26 Z6 <A46f>.
165
(Vgl. V 26 Z18–23.
166
Vgl. dazu V 25 Z23 („objektiv in allen Fällen und für alle vernünftige Wesen“), Z33; 26 Z3 u. 5
(„niemals allgemein“), Z14 u. 16 („Notwendigkeit“) <A46f>.
161
162
53
zierung der Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens dient, wegen der Abhängigkeit von den Gegenstandsvorstellungen und mithin auch die empirisch bedingte Vernunft, die auf ihm beruht und daher von denselben abhängig ist, keine
unbedingte Gesetzlichkeit ergeben können (cf. 1.2.1 u. 1.2.2). Der propositionalformalistische Übergang zum kategorischen Imperativ als Form des Gesetzes durch
den psychologischen Aufweis der Untauglichkeit des durch die empirisch bedingte
Vernunft im pathologisch-praktischen Gefühl der Lust und Unlust fundierten pragmatischen Imperativs zur apriorischen Gesetzgebung weist demnach darauf hin,
daß der Wille von Gegenstandsvorstellungen als seinen materialen Bestimmungsgründen, von denen er abhängig ist, befreit werden und somit einen anderen Standpunkt außer der Sinnenwelt als Gesamtheit der Gegenstandsvorstellungen einnehmen soll, damit ein Mensch durch seinen reinen Willen dem moralischen Gesetz
gemäß richtig handeln und leben kann. Zur weiteren Erörterung cf. 2.3.1.
Auch eine systematische Analyse über den formalistischen Übergang von den
hypothetischen Imperativen (den problematischen und den pragmatischen) zum kategorischen Imperativ als Kritik der praktischen Vernunft167 – d.h. der Übergang
der letzteren von der empirischen Bedingtheit zur Reinheit – anhand der moralphilosophischen Reflexionen wird zeigen, daß dieser Übergang auch die Distanzierung von der Abhängigkeit von Gegenstandsvorstellungen mit sich führt.168 Der
Übergang vom hypothetischen zum kategorischen Imperativ bedeutet das Befreitwerden der empirisch bedingten praktischen Vernunft von ihrer Abhängigkeit von
Gegenstandsvorstellungen als materialen Bestimmungsgründen der Willkür bzw.
ihrem Verhaftetsein mit ihnen und nicht etwa bloß die Freiheit von der Sinnlichkeit
oder den sinnlichen Neigungen.169
167
Vgl. dazu Refl. 7201, XIX 275 Z8–24 (cf. Fußnote 46 in 1.1).
Die Forschungen über die drei Imperative – vor allem den kategorischen – ohne eingehende sytematische Analyse des Nachlaßwerkes sind zahlreich; darunter sind die Arbeiten von A. Buchenau, M.
Moritz, H. J. Paton, G. Patzig, K. Cramer, J. Ebbinghaus, M. Fleischer, L. H. Wilde, O. Schwemmer
usw. zu nennen (cf. das Literaturverzeichnis). Die technischen und pragmatischen Imperative, die
in der Phase der formalistischen Grundlegung negiert werden, fungieren in der Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung unter dem kategorischen Imperativ wieder positiv. Vgl. hierzu Refl. 7058,
XIX 237, ϕ (1776–78): „Der allgemeine Zweck der Menschen ist Glückseligkeit; was sie praktisch
dazu vorbereitet, ist Geschicklichkeit; was die Geschicklichkeit dirigiert, ist Klugheit; was endlich
die Klugheit restringiert und dirigiert, ist Sittlichkeit“; Refl. 7200, XIX 274 Z22–28, ψ? (1780–89?);
Refl. 6946, XIX 211, ϕ (1776–78); Refl. 6894, XIX 197, Nachtrag ϕ: „Die Sittlichkeit, die zugleich
Klugheit ist, heißt Weisheit“; etc.
169
Dieser Übergang ließe sich kurz auch wie folgt interpretieren. Pragmatische Imperative können
dadurch zuwegegebracht werden, (1) daß – der Vereinfachung halber seien hier nur zwei Alternativen in Betracht gezogen – die empirisch bedingte praktische Vernunft die pathologische Lust und
Unlust (Vergnügen oder Schmerz; subjektive Empfindung), die eine objektive Erkenntnis begleitet
und demnach empirisch und zufällig ist, mit derjenigen, die eine andere objektive Erkenntnis begleitet, vergleicht und die quantitative Differenz zwischen beiden taxiert (vgl. dazu, daß es bei Vegnügen
und Schmerzen auf ihre Differenzen in der Zeitfolge ankommt, Anthr., § 60, VII 231) und (2) daß
sie aufgrund dieser Taxierung gemäß dem Prinzip der Maximierung der gesamten Glückseligkeit
als Pauschalzweck unter den zwei Alternativen des Einzelzwecks, die auf den von Lust und Unlust
begleiteten objektiven Erkenntnissen basieren, die größere Lust einbringende wählt. Nun entstehen
beide objektiven Erkenntnisse, die von pathologischer Lust und Unlust begleitet werden, durch die
168
54
1.3 Die kognitive formalistische Grundlegung der Ethik als
Exposition des Gesetzes und als Deduktion der Freiheit im
Grundsätze-Kapitel der KpV.
Die propositionale formalistische Grundlegung der Ethik im Grundsätze-Kapitel
der KpV hat gezeigt, daß die Maximen als subjektivierte praktische allgemeine
Gesetze bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthalten (cf.
1.1). Die ihr beigelegte, sie unterstützende anthropologische formalistische Grundlegung im selben Kapitel hat aber aufgewiesen, daß die Setzung der moralischen
Gesetzlichkeit in die Form der Maximen bei der propositionalen formalistischen
Grundlegung zugleich anthropologisch in der menschlichen Willkür die Einräumung der reinen praktischen Vernunft als oberes Begehrungsvermögen und die
Distanzierung von der Abhängigkeit von der Nezessitation der sinnlichen Gegenständlichkeit erfordert (cf. 1.2). Bei jener propositionalen formalistischen Grundlegung handelt es sich um die Exposition des moralischen Gesetzes, bei dieser
anthropologischen hingegen hinsichtlich der Distanzierung von der Abhängigkeit
von gegenständlicher Nezessitation um die Deduktion der Freiheit aus der moralischen Gesetzlichkeit.170 Jene Exposition des Gesetzes hat diese Deduktion der
Freiheit unvermeidlich zur Folge. Da Freiheit an sich unbegreiflich und unerklärbar ist – dazu fehlt dem Menschen eine intellektuelle Anschauung171 –, beweist
Kant ihre notwendige Annahme von der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft her analytisch-regressiv.172 Die deduzierte Freiheit weist darum nur die von
Verstandessynthesis in der Zeitfolge nach der Naturkausalität. Daher sind pragmatische Imperative
und die empirisch bedingte praktische Vernunft wesentlich in den zeitlichen Folgezusammenhängen
von Erscheinungen überhaupt verankert und demnach von denselben abhängig. Der Übergang von
den pragmatischen zu den kategorischen Imperativen, mithin auch von der empirisch bedingten zur
reinen praktischen Vernunft, findet deswegen darin statt, daß der Wille sich zu seiner unbedingten
Bestimmung in eine besondere Lage versetzt, von der jene zeitlichen Folgezusammenhänge abgeschnitten werden; denn bei der Abhängigkeit von Gegenständen bzw. dem Verhaftetsein mit denselben handelt es sich, näherhin betrachtet, um die Abhängigkeit von der Zeitfolge derselben bzw.
das Verhaftetsein mit den zeitlichen Folgezusammenhängen derselben, in denen jene quantitative
Differenz der pathologischen Lust und Unlust taxiert wird. Diese von den zeitlichen Folgezusammenhängen abgeschnittene Lage wäre in nichts anderem möglich als allein in absoluter Gegenwart
(Augenblick), die mit der Intellektualität eng verflochten ist. Der Übergang beruht also darauf, daß
das erste Prinzip der Willensbestimmung in die absolute Gegenwart gesetzt wird. Daraus erhellt, daß
das Wesen der negativen Freiheit (Unabhängigkeit von Gegenstandsvorstellungen als materialen Bestimmungsgründen der Willkür) in der Positionierung des Willens in der absoluten Gegenwart („hier
und jetzt“) bestehen müßte, die zeitlich sowohl vom unmittelbar Früheren als auch vom unmittelbar Späteren abgeschnitten ist und demnach in der Zeitfolge bloß ein Zeitpunkt ist, die aber unter
intellektuellem Aspekt Ausdehnung hat.
170
Vgl. zur Exposition des Gesetzes KpV, V 46 Z16–36 <A80f>, zur Deduktion der Freiheit aus
dem Gesetz KpV, V 47 Z21–37 <A82>, V 4 Anm. <A5>(die Freiheit als ratio essendi des Gesetzes
und das Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit), V 29 Z33 – 30 Z3 <A53>, KU, V 468 Z24–28
<B457>, Rel., VI 49 Anm. Z22–32 <B58>, MS, VI 225 Z25f. Die „Folgerung“ zu § 7 (KpV, V 31
Z35–37 <A56>) ließe sich als ,Exposition der reinen praktischen Vernunft‘ erachten.
171
Vgl. dazu etwa KpV, V 31 Z28–31 <A56>.
172
Vgl. dazu Refl. 6641, XIX 122, κ? (1769?): „Die Methode der Moral muß nicht so geführt werden, daß sie von dem ersten principio der Freiheit anfängt und von den einfachsten Begriffen, auch
55
der Moralität her betrachteten Eigenschaften auf.
Die Form jeder Maxime als subjektivierten praktischen Gesetzes, die moralisch, demnach notwendig und allgemein, den Willen bestimmt, ist in der allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs bzw. des Grundgesetzes der reinen
praktischen Vernunft (dem formalen moralischen Gesetz als Singular) artikuliert:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“173 Bei der aus dem Gesetz deduzierten
Freiheit hat man es zunächst mit der negativen Freiheit zu tun (weil sie aus ihm als
etwas grundsätzlich von ihm Unterschiedenes zu deduzieren ist). Das Bewußtsein
der Aktualität des Gesetzes bzw. das der reinen praktischen Vernunft als des oberen
Begehrungsvermögens aber, dem die negative Freiheit als Unabhängigkeit von der
Nezessitation der sinnlichen Gegenständlichkeit der Gegenstände, die der Willkür
zum materialen Bestimmungsgrund dienen, zugrundeliegt und das mithin das Prinzip der Autonomie des Willens bildet, heißt positive Freiheit.174 Dieses Bewußtsein
der unbedingten praktischen Gesetzlichkeit in uns, das aus den drei Komponenten: Gesetz, reine praktische Vernunft und positive Freiheit besteht,175 bezeichnet
Kant als ,Faktum der reinen praktischen Vernunft‘176 (cf. 1.2.0.c). Bei diesem Faktum des Bewußtseins handelt es sich um die „Form eines reinen Willens“,177 d.h.
nicht von einzelnen Erfahrungen, sondern aus einer gewissen Mitte von den allgemeinen Gesetzen,
die wir in concreto beobachten.“
173
KpV, V 30 <A54>. Vgl. zu den Varianten dieser allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs Schwemmer, O., Philosophie der Praxis, Frankfurt/M. 1980, S. 132–135.
174
Zur negativen und positiven Freiheit vgl. KpV, V 33 <A58f>: „In der Unabhängigkeit nämlich
von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung
der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese
eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven
Verstande“; V 29 Z27 u. 31 <A52f>; GMS, IV 446f <B97ff>, 458 <B119>; MS, VI 213; KrV, III
375 <B581f>; Refl. 3857, XVII 314f, η? (1764–68?): „Die Schwierigkeiten treffen nur die erste Idee
der Freiheit, und sie ist unbegreiflich beim notwendigen Wesen sowohl als zufälligen. ... / Also ist
das Negative eigentlich unbegreiflich, das Positive der Motiven ist begreiflich“; Refl. 6076, XVIII
443, ψ3 (1785–88); MS Vigilantius, XXVII 494; Refl. 1043, XV 467, ψ1−2 (1780–84).
175
Vgl. KpV, V 29 Z25–28 <A52>.
176
Zum „Faktum der Vernunft“ vgl. KpV, V 31f <A55f>; als Ausgangspunkt („erste Data“) zur moralischen Dogmatik, KpV, V 6 <A9>, 42 <A72>, 43 <A74>, 47 <A81>, 55 <A96>, 91 <A163>,
104 <A187>, MS, VI 225, 252; als eine wichtige Stelle, Rel., VI 26 Anm. <B15f>; zur Unerklärlichkeit dieses Faktums, KpV, V 46 <A79f>, 72 <A128>, 86 <A154>, GMS, IV 458f <B120>,
461 <B125>, Rel., VI 59 Anm. <B71>, 62 <B77>, 138 <B209>, 174 <B267>; außerdem KrV,
III 376f <B585>, 524 Z8–17 <B835>; Refl. 6849 u. 6850, XIX 178, υ (1776–78). Zu diesem Thema vgl. Henrich, D., Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft,
in: G. Prauss [Hrsg.], Kant, Köln 1973, S. 223–254; Forschner, M., Gesetz und Freiheit, München
1974, S. 250; Krüger, G., Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 2 1967, S. 68;
Beck, L. W., Das Faktum der Vernunft, in: Kant-Studien Bd. 52, 1960/61, S. 271–282; Kadowaki, T.,
Das Faktum der reinen praktischen Vernunft, in: Kant-Studien Bd. 56, 1965, S. 385–395; Konhardt,
K., Faktum der Vernunft?, in: G. Prauss [Hrsg.], Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie,
Frankfurt/M. 1986, S. 160–184; Schwemmer, O., Das „Faktum der Vernunft“ und die Realität des
Handelns, in: Prauss, G. [Hrsg.], Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, S. 271–302.
177
KpV, V 66 <A116>.
56
die „formale Einheit im Gebrauch unserer Freiheit“,178 die unter dem essentiellen,
,moralisch-teleologischen‘ Gesichtspunkt in der „Einheit aller Zwecke“, nämlich
in der intelligiblen, moralischen Welt verwurzelt ist. Diese formale Einheit des
ethischen Bewußtseins kann nun durch die Zusammenstimmung der Freiheit mit
sich selbst zustandegebracht werden; diese findet aber zugleich mit derjenigen mit
den Zwecken statt, welche jene intelligible Ordnung, nämlich die ontotheologische Einheit aller Zwecke (die intelligible Welt) antizipiert. Aus dem unter dem
essentiellen Aspekt so zustandezubringenden, kognitiven Faktum der Einheit des
ethischen Bewußtseins werden nun der Begriff der Universalität und mithin auch
der Gesetzlichkeit deduziert. Das Wesentliche dieses Bewußtseins der reinen Aktualität des Gesetzes kann auch die reine sittliche Einsicht der reinen praktischen
Vernunft genannt werden, die von Kant zuletzt nicht als intellektuelle Anschauung,
sondern als reines sittliches Denken aufgefaßt wird. Die transzendental-subjektive
Gesetzgebung als Spontaneität der Vernunft, die sich selbst uns unmittelbar als
Faktum aufdrängt,179 artikuliert sich propositional in der gesetzgebenden Form der
Maxime und somit zuletzt in der allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs.
Die gesamte Ausführung der kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik
im Grundsätze-Kapitel der KpV ist in diesem Bewußtsein der unbedingten praktischen Gesetzlichkeit als Faktum der Vernunft eingebettet. Denn der Leitfaden, der
diese Grundlegung, d.i. Exposition des Gesetzes und Deduktion der Freiheit, führt,
ist das Achthaben auf die Notwendigkeit, womit uns die reine praktische Vernunft
Gesetze vorschreibt: „Wie ist aber auch das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich? Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, ..., indem
wir auf die Notwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweist, achthaben.“180 Wir
haben oben gesehen, daß in der gesamten kognitiven formalistischen Grundlegung
der Ethik stets das Kriterium der Notwendigkeit und Allgemeinheit des Gesetzes,
mit einem Wort, der Apriorität desselben, die Exposition des Gesetzes und die Deduktion der Freiheit voranbringt. Im 1. Abschnitt der GMS dient als dieses Kriterium des formalistischen, analytisch-regressiven Verfahrens der Begriff der Pflicht,
im 2. Abschnitt der Begriff der Unbedingtheit (Absolutheit) der Gesetzlichkeit.181
Die Verwendung dieses Kriteriums für die kognitive formalistische Grundlegung
kann durch das Faktum der Vernunft gerechtfertigt werden. Daß man sich nun der
Tatsache der Freiheit bewußt werden kann, indem man auf die Notwendigkeit der
Gesetzgebung achthat, um damit das Gesetz zu exponieren, klingt zunächst einfach
und selbstverständlich, läßt aber, wenn man darüber genau nachdenkt, vermuten,
daß in dieser Sache noch eine schwer zu erörterende Struktur stecken muß (cf.
Einl.a.6.γ).
Mit der Lehre vom Faktum der Vernunft schließt nun Kant die kognitive formaRefl. 7204, XIX 283, ψ? υ? ϕ?. Cf. 2.3.1.g.
Zum Ausdruck ,sich aufdrängen‘ (bei Kant genauer ,sich aufdringen‘) vgl. KpV, V 31 Z27
<A56>; Rel., VI 36 Z3f <B33>.
180
KpV, V 30 <A53>.
181
Vgl. dazu GMS, IV 397 Z6 <B8>, 420 Z9 <B50>, 428 Z4 <B64>, etc.
178
179
57
listische Grundlegung der Ethik, die deren Fundament in Gesetz und Freiheit setzt,
ab, auch wenn sie als Abstrahierung von aller Materie im Gegenstand-Kapitel wiederholt wird (cf. 3.2.1). Die Aufgabe der Grundlegung der Ethik geht sodann zur
essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘ Phase über, in der das Gesetz im Ausblick
auf den Zweck Thema wird und in der das eigentliche Ethos der Kantischen Ethik
besteht.
Kant hat in der formalistischen Rückführung auf die negative Freiheit die Bedeutung der letzteren nicht besonders erörtert, sondern ihren Ort ohne weiteres mit
der intelligiblen, moralischen Welt (dem Reich Gottes, der ontotheologischen, teleologischen Seinsordnung) identifiziert, ohne dabei diese innerlich und konkret
bestimmen zu können. Denn für ihn ist das formalistische Verfahren (Abstrahierung von der Materie) als Rückgang auf die Freiheit a limine bloß zur Eröffnung
der intelligiblen Welt erforderlich gewesen. Er hat aber diese nicht sofort als moralischen Bestimmungsgrund des Willens angeben können – ihre unmittelbare Hypostasierung zur Willensbestimmung würde Heteronomie des Willens verursachen
–, sondern sich anheischig machen müssen, sie erst durch die Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens aus negativer Freiheit (d.h. aber in essentieller
Hinsicht aus ihr selbst, nur verborgen) innerlich und konkret zu determinieren.
Kurz: Sie wird konkretisiert durch die Selbstobjektivierung des Verborgenen, das
sie selbst ist.
Kant hat nun die formalistische Grundlegung, die die kognitive Phase der gesamten Grundlegung der Ethik darstellt, erst spät im ersten Kapitel seiner zweiten
Grundlegungsschrift, nämlich derjenigen über die Kritik der praktischen Vernunft
als Überwindung der empirischen Bedingtheit derselben, als Lehre vom Faktum
der Vernunft ausdrücklich formuliert. Ihre Gedanken selbst aber sind bei ihm bereits früher (vermutlich bis zur ersten Hälfte der sechziger Jahre) ausgebildet und
treten auch sporadisch hier und da in den moralphilosophischen Reflexionen auf
(cf. 2.3.1.c). In ihr spiegelt sich seine persönliche ethische Grunderfahrung (moralische Umkehrung), nämlich die Vorgegebenheit des moralischen Gesetzes im Bewußtsein, selbst in der gemeinsten Menschenvernunft. Diese Grunderfahrung wird
in der Religionsschrift und den anderen Schriften des späten Kant als Revolution
in der Gesinnung tiefer erörtert (cf. 3.4.1.a).
1.4 Die kognitive Deduktion der Freiheit aus dem Gesetz
im § 5 und die essentielle Deduktion des Gesetzes aus der
Freiheit im § 6 des Grundsätze-Kapitels.
(a) Ich schicke der Erläuterung der Deduktion der Freiheit in § 5 eine kleine Bemerkung voraus, um einer möglichen Mißdeutung des Geltungsumfangs der Willensfreiheit vorzubeugen: Der Wille ist frei nicht nur von ,sinnlichen‘, sondern auch
von empirischen Gegenstandsvorstellungen überhaupt, sofern diese ihn durch die
pathologisch-praktische Lust und Unlust bestimmen. Dabei liegt Kants Einsicht
darin, daß jede empirische Gegenstandsvorstellung, die materialiter die Willkür
58
bestimmen soll, diese durch die praktische Lust und Unlust hindurch erreichen
muß, die ,pathologisch‘ sind. Der moralische Wille soll nicht aus der empirischen
Gegenständlichkeit von Gegenständen bestimmt werden, sondern aus dem Ort, der
über sie hinausgeht, d.h. aus der Freiheit. Zu den empirischen Gegenstandsvorstellungen werden auch die vermeintlichen ,intellektuellen‘ Gegenstandsvorstellungen gezählt, die etwa durch den regulativen Gebrauch der Vernunftideen mittels
der reflektierenden Urteilskraft zweckmäßig zustandekommen. Sie bestimmen als
solche die Willkür durch die pathologisch-praktische Lust und Unlust. Die moralischen Zwecke, die von der reinen praktischen Vernunft, die von materialen
Bestimmungsgründen der Wilkür unabhängig ist, intellektuell kreiert werden und
demnach intellektuelle Gegenstände heißen, treten in der kognitiven formalistischen Phase der Grundlegung noch nicht auf; sie sind hier ausgeklammert. Sollten sie aber auch unter dem Prinzip der Abhängigkeit von Gegenständen durch
die pathologisch-praktische Lust und Unlust den Willen bestimmen, so müssen
sie in dieser Phase als moralische Bestimmungsgründe ausscheiden. Sie werden
aber in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung voll rehabilitiert, in
der vorausgesetzt wird, daß praktische Vernunft die Distanzierung von der Abhängigkeit von Gegenständen vollzogen hat. Daß nun der menschliche Wille nicht
nur von ,sinnlichen‘, sondern von sämtlichen empirischen Objektvorstellungen frei
sein soll, hängt damit zusammen, daß die Kritik der praktischen Vernunft nicht die
der Sinnlichkeit, sondern die der empirisch bedingten praktischen Vernunft ist und
daß es sich bei ihr um den Übergang von den auf empirische Objektvorstellungen
bezogenen pragmatischen Klugheitsregeln zum reinen kategorischen Imperativ der
Sittlichkeit handelt, der gar nicht aus dem Empirischen stammt. Eben diese Kritik
hat eine ethische Transzendenz über die Erscheinungen überhaupt zur Folge. Aus
einer bloßen Kritik der Sinnlichkeit kann sich wohl eine Abkehr von der Tierheit
im Menschen ergeben, aber keineswegs eine von der Bösartigkeit in seiner Gesinnung, mit der zu kämpfen jedoch der Ethik auferlegt ist. Die Sinnlichkeit selbst ist
moralisch weder gut noch böse.
(b) Nun versucht Kant im § 5182 dieses Kapitels zusammenfassend noch einmal
die Deduktion der Freiheit aus dem Gesetz. Sie wird hier formell dem bisherigen
Rahmen der formalistischen Grundlegung gemäß als Übergang von der propositionalen bloßen gesetzgebenden Form der Maximen zum psychologischen freien Willen ausgeführt. Die Verwendung des Wortes ,Erscheinungen‘ zeigt aber an, daß die
Deduktion hier in Wahrheit kosmologisch vorgeht; es wird die Transzendenz über
die Erscheinungen der Sinnenwelt überhaupt vorgenommen. Die erlangte „Freiheit
im strengsten, d.i. transzendentalen, Verstande“183 ist daher die negative Freiheit
als Unabhängigkeit vom Naturgesetz der Erscheinungen, d.h. der ,andere Standpunkt außer der Sinnenwelt‘184 . Soll aus dem Gesetz Freiheit, als etwas Anderes
denn dieses, deduziert werden, so muß sie negative Freiheit sein. Denn moralische
KpV, V 28f <A51f>.
V 29 Z6f <A51>.
184
Vgl. GMS, IV 458 Z19 <B119>, 450 Z32 <B105>; vgl. dazu auch Träume, II 336.
182
183
59
Gesetzlichkeit und positive Freiheit sind miteinander Wechselbegriffe; eine Deduktion der letzteren aus der ersteren wäre beinahe tautologisch und mithin sinnlos. Bei
der „Freiheit im strengsten, d.i. transzendentalen Verstande“ hat man es demnach
nicht unmittelbar mit der „transzendentalen Freiheit“ zu tun, die mit der positiven
Freiheit in Parallele zu setzen ist. Das Wort ,transzendental‘ in der ersteren Freiheit bezieht sich eher auf die Transzendenz über die Erscheinungen überhaupt und
zeigt demnach die Richtung von der Sinnenwelt her auf den anderen Standpunkt
außer dieser hin, während dasselbe Wort in der letzteren Freiheit auf die umgekehrte Richtung, nämlich die Auswirkung der Freiheitskausalität aus dem anderen
Standpunkt her auf die naturkausalen Erscheinungen der Sinnenwelt hinweist. Jene
Freiheit läßt sich auch nicht mit der „praktischen Freiheit“ identifizieren, die wohl
Unabhängigkeit von der Nezessitation der sinnlichen Natur bedeutet, die aber aus
dem empirisch-psychologischen Begriff vom arbitrium liberum stammt und demzufolge empirisch ist.185 Mit ihr ist vielmehr kosmologisch-transzendental ein über
die Sinnenwelt hinausgehender Standpunkt gemeint; sie deutet demnach die intelligible Welt an.186
Bei Kant ist die negative Freiheit ursprünglicher als die positive. Denn die ursprüngliche Freiheit, das moralische Gesetz als das gute Prinzip in die Gesinnung
aufzunehmen, ist auch sinngemäß negativ. Die negative Freiheit ist aber grundsätzlich unbegreiflich.187 Das Wesen der Freiheit ist unbegreiflich, sofern sie von
der Moralität (der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft) her negativ betrachtet wird. Kant hat daher in den moralphilosophischen Reflexionen den Sinn
der negativen Freiheit kaum erörtert. Sein theoretisches Interesse lag vielmehr darin, ob und wie die an sich unbegreifliche Freiheit sich auf die Erscheinungen der
Sinnenwelt auswirken kann, d.h. in der positiven, transzendentalen Freiheit. Jener
Begriff der ursprünglichen Freiheit der Willkür auf intelligibler Ebene in der Religionsschrift ist erst in den späten Jahren aus seiner Auseinandersetzung mit den
Werken der pietistischen Theologen hervorgegangen.188
185
Die Herkunft des Kantischen Begriffs der praktischen Freiheit liegt in der schulphilosophischen
empirischen Psychologie, genauer im Begriff des arbitrium liberum (cf. 1.2.3.f; vgl. vor allem Refl. 4548, XVII 589, ξ–ρ? 1772–75; vgl. auch Cohen, H., Kants Begründung der Ethik, Berlin 2 1910,
S. 239). Daher kann er sich auch empirisch als Freiheit der empirisch-bedingten praktischen Vernunft zeigen (vgl. z.B. KrV, III 521 Z14–21 <B830>), da er sich auch schon im arbitrium liberum
sensitivum findet. Der Begriff der transzendentalen Freiheit hingegen gehört im Rahmen der Wolffianischen Psychologie zur rationalen (cf. die Fußnote 143 in 1.2.3.f). Zur praktischen Freiheit vgl.
Funke, G., Kants Satz über die praktische Freiheit, in: Philosophia Naturalis, Bd. 19, 1982, S. 40–52.
186
Vgl. z.B. KpV, V 42 Z18f <A72>: „... denn daß Freiheit, wenn sie uns beigelegt wird, uns
in eine intelligibele Ordnung der Dinge versetze, ist anderwärts [sc. im 3. Abschnitt der GMS; cf.
Fußnote 184] hinreichend bewiesen worden“; V 94 Z16f <A168>: „die [herrliche] Eröffnung einer
intelligibelen Welt durch Realisierung des sonst transzendenten Begriffs der Freiheit“.
187
(Vgl. etwa Refl. 3857; cf. Fußnote 174 in 1.3.
188
Cf. Fußnote 711 in 3.4.1. Eine systematische Erörterung des Kantischen Begriffs der Freiheit
anhand des Nachlaßwerkes und der späten Schriften wie der Religionsschrift und der MS kann in
der vorliegenden Arbeit nicht durchgeführt werden. Die Aufgabe wird aber in einer meiner künftigen
Arbeiten erfüllt werden. Vgl. zum Problem der Freiheit auch Konhardt, K., Die Unbegreiflichkeit der
Freiheit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 42, 1988. Zu Kants Auseinandersetzung
60
Obwohl nun der Begriff der Freiheit die intelligible Welt andeutet und essentiell in ihr beheimatet ist, kann die letztere in der praktischen Philosophie doch
nicht unmittelbar und sofort aus dem ersteren, der subjektiv und zudem im Grunde
unbegreiflich ist, deduziert werden. Die Idee der intelligiblen Welt als der systematischen Einheit aller Zwecke ist zwar latent und essentiell dem Gesetz und der
Freiheit vorausgesetzt; sie kann aber nicht wie eine empirische Welt konstitutiv
und empirisch-konkret zum Vorschein treten, wobei sie durch die pathologischpraktische Lust hindurch zur unmittelbaren Bestimmung des Willens dienen würde. Dazu fehlt ihr die theoretisch-objektive Realität. Sie läßt sich annehmen und
konstituieren erst durch die Erweiterung des Gesetzes auf den Endzweck. Das Gesetz aus Freiheit, dem praktische Realität zukommt, verleiht ihr durch seine Erweiterung ebendiese Realität. Die Theorie des Gegenstands der reinen praktischen
Vernunft und die Lehre vom höchsten Gut, die auf dem Prinzip der moralischen
Gesetzlichkeit als Kausalität aus Freiheit basieren, konkretisieren sie auf der objektivierten Ebene (cf. 3.).189
(c) Kant versucht nun anschließend an die Deduktion von Freiheit aus Gesetz
in § 5 im § 6190 eine Deduktion in der umgekehrten Richtung, nämlich diejenige
des Gesetzes aus der Freiheit, gemäß dem Rahmen der Darlegung des GrundsätzeKapitels in der Beziehung zwischen freiem Willen und gesetzgebender Form. Das
bereits als Faktum festgehaltene Gesetz wird hier unter einem anderen Aspekt der
Grundlegung nachgewiesen. Der Versuch ist einzigartig; er ist auch in den moralphilosophischen Reflexionen kaum so ausdrücklich und prägnant wie in diesem
Paragraphen angestellt und formuliert worden. Er ist die Deduktion der ratio cognoscendi aus der ratio essendi und gehört demnach nicht zu der im GrundsätzeKapitel dominanten, kognitiven formalistischen Grundlegung der Ethik. Die Deduktion ist die Gesetzeskonstitution aus der Freiheit als der ratio essendi und dementsprechend vielleicht als konstitutive bzw. essentielle formalistische Grundlegung
zu bezeichnen.191 Der Engpaß dieser Beweisführung liegt in der innerhalb der kognitiven formalistischen Grundlegung nie begründbaren Prämisse, daß die oben
in § 5 deduzierte und hier als Startpunkt der Deduktion vorausgesetzte negative
mit den Werken der pietistischen Theologen vgl. Delekat, F., Immanuel Kant, Heidelberg 2 1966,
S. 357f Anm. 10; Bohatec, J., Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft“, Hamburg 1938, S. 19–32, S. 61ff.
189
Die ,positive Bestimmung‘ der reinen Verstandeswelt in KpV, V 43 <A74f>vollzieht sich bloß
in Bezug auf die Sinnenwelt und liefert noch nicht die inneren Bestimmungen der ersteren. Diese
bleibt hier noch der bloße Standpunkt außer der Sinnenwelt, um die Autonomie des freien Willens
bzw. der reinen praktischen Vernunft in der Sinnenwelt zu sichern. Cf. 3.1.2.c.
190
KpV, V 29 <A52>.
191
Die von L. W. Beck vorgeschlagene Interpretationsidee einer Unterscheidung zwischen metaphysischer und transzendentaler Deduktion des Prinzips der reinen praktischen Vernunft (vgl.
ders., A Commentary on Kant’s Critique of practical Reason, Chicago 1960, S. 109–111, 170–175)
kann wohl als Unterscheidung zwischen kognitiver und essentieller Deduktion in den §§ 5 und 6
des Grundsätze-Kapitels gerechtfertigt werden, obgleich ein gravierender Übersetzungsfehler (ibid.,
S. 174: „This kind of credential for the moral law“ für die Textstelle KpV, V 48 Z1 <A83>; kurs. v.
Verf.) in seiner Argumentation über die transzendentale Deduktion steckt. Er ahnt doch, daß in der
Kantischen Grundlegung der Ethik zwei Phasen zu unterscheiden sind.
61
Freiheit „dennoch bestimmbar sein muß“.192 Durch diese Prämisse aber kann die
negative Freiheit in die positive des moralischen Willens transformiert werden, die
begrifflich moralische Gesetzlichkeit impliziert. Denn Freiheit kann nur nach der
sinnlichen Natur als gesetzlos bzw. ungebunden betrachtet werden.193 Daß, wenn
Freiheit vorausgesetzt wird, auch das Gesetz in logischer Konsequenz aus ihr deduziert werden kann, ist die fundamentale These Kants in der essentiellen Phase
der ethischen Grundlegung, die auch im 3. Abschnitt der GMS verwendet wird.194
Die Bestimmbarkeit der negativen Freiheit, die als solche nicht unmittelbar bewiesen werden kann, ist auf die in der kognitiven formalistischen Grundlegung
latente Annahme der intelligiblen Welt angewiesen, die den unerläßlichen Hintergrund für die essentielle Grundlegung der Ethik darstellt. Die Gültigkeit des Gesetzes wird bewiesen, indem es in einem System gezeigt wird, daß das Gesetz sich
von Freiheit aus auf den praktischen Endzweck erweitern und somit ,moralischteleologisch‘ nach einer Idee die intelligible Welt konstituieren kann. Dieser Art
der Grundlegung gehen wir im 2. und 3. Teil der vorliegenden Arbeit nach. Der
§ 6 des Grundsätze-Kapitels weist auf die Versuche Kants in den moralphilosophischen Reflexionen hin, das Gesetz essentiell in der intelligiblen Ordnung zwischen
Freiheit und Endzweck zu explizieren (cf. 3.1.1.b–d).
(d) Das moralische Gesetz, das kognitiv als Faktum der Vernunft angesetzt
worden ist, muß, wenn es aus der Freiheit, die aus ihm als Faktum deduziert wird,
in der umgekehrten Richtung deduziert werden soll, aufgrund einer intelligiblen
Ordnung, die durch den Begriff der Freiheit zu eröffnen ist, moralisch-teleologisch
expliziert werden. Die Deduktion des Gesetzes aus Freiheit gehört daher, näherhin
betrachtet, nicht der kognitiven formalistischen Grundlegung zu, sondern schon der
essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘ Grundlegung. Wenn also die beiden Phasen der Grundlegung der Ethik – ungeachtet der urphänomenalen Einheitlichkeit
von Gesetz, reiner praktischer Vernunft und Freiheit als Faktum – präzis unterschieden werden sollen: so betrifft die formalistische Phase der Grundlegung nur
die Exposition des Gesetzes (sowie der reinen praktischen Vernunft) und die Deduktion der Freiheit (die erkenntniskritische Rückführung auf die Freiheit als Ursprung der Moralität), und die ,moralisch-teleologische‘ Phase beginnt bereits mit
der Deduktion des Gesetzes aus Freiheit, d.h. sie soll von der Freiheit als Ursprung
der Moralität – über die Gesetze nach dem Endzweck – ausgehen. Kants Grundlegung der Ethik besteht also aus dem Rückgang zur Freiheit und dem Fortgang
aus derselben, wobei sich eine Umwendung vom ersteren zum letzteren annehmen
ließe; die besteht zwischen dem § 5 und dem § 6 des Grundsätze-Kapitels der KpV.
Die Freiheit als Wendepunkt ist an sich unbegreiflich, hat aber so große Bedeutung,
KpV, V 29 Z17 <A52>. Vgl. auch GMS, IV 400 Z13 <B14>, 446 Z19 <B98>; Was heißt:
S.i.D.or.?, VIII 145, etc.
193
Zur Gesetzlosigkeit bzw. Ungebundenheit der Freiheit vgl. Refl. 6962, XIX 215 υ? (1776–78?),
Refl. 6960, XIX 214 υ (1776–78), Refl. 6802, XIX 166f, ρ? ξ? (1773–75? 1772?), Refl. 7202, XIX
280, 281, ψ (1780–89), Refl. 7220, XIX 289, ψ? (1780–89?); vgl. auch Refl. 4226, 4337, 6723, 6767,
6795, 6802, 6948, 6949, 6952, etc.; vgl. außerdem Log., § 94, IX 139 (dazu Refl. 3323, XVI 780).
194
Vgl. GMS, IV 447 Z8–10 <B98>.
192
62
daß sie nicht nur den wichtigsten Grundbegriff der Moralphilosophie, sondern auch
den Schlußstein der ganzen Philosophie Kants bildet. Der Rückgang zur Freiheit
ist kognitiv-formalistisch, der Fortgang aus ihr ist moralisch-teleologisch im erweiterten Sinn.
Die Ableitung nun der Pflichten aus dem Gesetz kann wohl noch als formalistisch gekennzeichnet werden, sofern sie allein durch das Gesetz vollzogen wird;
sie ist aber moralisch-teleologisch im weiteren Sinn, sofern sie auf den Beistand
des Zweckbegriffs angewiesen ist (dies heißt aber auch, daß die Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung doch die formalistische Bestimmung durchs Gesetz als
ihr Fundament in sich enthält). Die Ableitung überhaupt muß jedoch auf jeden Fall
in der Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung betrachtet werden, falls bereits das Gesetz selbst, aus dem die Pflichten abgeleitet werden, in derselben Phase
hinsichtlich seines essentiellen Grundes zur Frage gestellt wird. Noch einmal: Der
Formalismus der Kantischen Ethik besteht aus zwei Momenten. Das eine Moment
ist die Unabhängigkeit von der Materie und artikuliert sich in Exposition des Gesetzes und Deduktion der Freiheit. Das andere besteht in der monistischen Ableitung
der Einzelpflichten allein aus dem Gesetz. Dieses zweite Moment des Formalismus
hat aber nur beschränkte Geltung, weil die Ableitung der unvollkommenen Pflichten auch den Zweckbegriff in Anspruch nimmt und weil auch das Gesetz, aus dem
die Einzelpflichten abgeleitet werden sollen, essentiell betrachtet, in der intelligiblen, teleologischen Ordnung fundiert ist. Daher hat man es beim Formalismus
der Kantischen Grundlegung der Ethik eigentlich und wesentlich nur mit dem ersten Moment zu tun, der in der Rückführung auf die Freiheit besteht, obgleich auch
dieses, aus dem ebengenannten zweiten Grund, nicht auf den reinen Formalismus
beschränkt werden kann. Die eigentliche formalistische Phase der Grundlegung
der Ethik ist also, streng genommen, nicht sehr umfangreich, obgleich sie für Kants
Ethik entscheidend und charakteristisch ist. Sie scheint bereits bis zur ersten Hälfte
der sechziger Jahre ausgebildet zu sein. Kants moralphilosophische Bemühung in
den siebziger und achtziger Jahren ist alsdann der moralisch-teleologischen Phase
der Grundlegung gewidmet (cf. 2.).
1.5 Kants positive Verwendung des Begriffs der Vollkommenheit: der Übergang zur essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der Ethik.
Es ist in der formalistischen Grundlegung der Ethik nicht möglich, Gegenstandsvorstellungen, denen der Begriff der Vollkommenheit beigelegt ist, zum moralischen Bestimmungsgrund des freien Willens zu machen. Der Begriff der Vollkommenheit als praktischer materialer Bestimmungsgrund des Willens kann kein Prinzip der reinen Sittlichkeit sein. Kant verwendet aber diesen einerseits in der formalistischen Phase der Grundlegung negierten Kriteriumsbegriff andererseits im
Übergang zur essentiellen, architektonischen Phase für die ideale Aktualität der
handelnden Subjektivität der reinen Sittlichkeit, nämlich den guten Willen, doch
63
positiv.
(a) Der vielfältige Gebrauch des Begriffs der Vollkommenheit in der Grundlegung der Ethik; die Subjektivierung des Begriffs der Vollkommenheit im
Übergang von der kognitiv-formalistischen Phase zur Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung.
Schon früh war Kant der Ansicht, daß „der Ausdruck der Vollkommenheit eine
Beziehung auf ein Wesen, welches Erkenntnis und Begierde hat, voraussetze“.195
Aufgrund dieser Einsicht hat er den Begriff der Vollkommenheit, der, da er an sich
leer ist, erst in Bezogenheit auf den Inhalt irgendeiner Sache seine Bedeutung zu
gewinnen vermag,196 im ethischen Bereich vielfältig verwendet. Der Begriff hat in
der Kantischen Grundlegung zur Ethik, vom besonderen Gebrauch wie beim Gottesbegriff197 abgesehen, hauptsächlich vier Bezugspunkte: (1) im Gegensatz zur
Wolffschen These soll die zu begehrende Vollkommenheit sich nicht an anschauender Erkenntnis, sondern an Lust und Unlust bemessen, die entweder pathologischpraktisch oder intellektuell-moralisch sein kann; (2) bei der Vollkommenheit der
moralischen Bonität handelt es sich um den guten Willen, der freie Subjektivität
ist; (3) jene Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst als mit den Gesetzen
und mit den Zwecken, welche die Bedingung der Gesetzlichkeit, der Zufriedenheit
und des Systems der Zwecke als Pflichten ausmacht, sowie die daraus zu konstituierende moralische, intelligible Welt als systematische Einheit aller Zwecke sind
ohne den Begriff der Form der Vollkommenheit (consensus) nicht denkbar; (4)
zu Zwecken als Pflichten, die der gute Wille (die Vollkommenheit der moralischen
Bonität), dem Gesetz folgend, systematisch (der Form der Vollkommenheit gemäß)
entwirft, wird die eigene Vollkommenheit gezählt, die sich in die physische Vollkommenheit, oben (cf. 1.2.3.c) als Vollkommenheit in hypothetisch-praktischer
Bedeutung (Vermögen bzw. Naturanlage des Menschen, wie etwa Verstand, Geschicklichkeit und Talent) bezeichnet, und die innere moralisch-praktische Vollkommenheit differenziert, welche die moralische Glückseligkeit (Zufriedenheit mit
sich selbst) zur Folge hat.
Die Grundzüge dieser Kantischen Anwendungen des Begriffs der Vollkommenheit, der in der Schulphilosophie doch bloß auf rezeptiver theoretischer Erkenntnis der harmonischen Struktur der Natur-Gegenständlichkeit beruht, bestehen
darin, daß er in die intellektuell-spontane Aktualität der den Willen betimmenden
denkenden Subjektivität verlagert wird, d.h. sie bestehen in der subjektiven AktuaBeweisgrund (abgefaßt: 1762), II 90. Vgl. auch Refl. 693, XV 308, κ–λ (1769–70): „Die vernünftigen Wesen haben den Beziehungspunkt der Vollkommenheit in sich.“
196
Refl. 6800, XIX 164f, ρ? ξ? (1773–75? 1772?): „Mit dem leeren Begriff der Vollkommenheit
ist es nicht ausgemacht. Wenn allererst bekannt ist, was gut sei, so ist Vollkommenheit die Fülle des
Guten“.
197
In der KrV z.B. wird die Idee einer Intelligenz, „in welcher der moralisch vollkommenste Wille
... die Ursache aller Glückseligkeit ist“, als Ideal von Gott gedacht (III 526 <B838>). Vgl. auch
GMS, IV 414 <B39>. Dazu auch Refl. 7202, XIX 282 Z14–16, ψ (1780–89), etc.
195
64
lisierung bzw. Subjektivierung198 desselben. Kant sieht von Anfang an Vollkommenheit nicht in der rezeptiven Gegenständlichkeit, sondern im apriorischen intellektuellen Aktvollzug der Willensbestimmung eines handelnden Subjekts; vollkommen ist zuerst die daraus idealistisch gedachte reine moralische Subjektivität
des Subjekts selber (der gute Wille) und erst danach auch die moralische, intelligible Welt. Die „kopernikanische Wende“199 in der praktischen Philosophie hat Kant
sehr früh vollzogen.
Da Punkt (1), soweit er die formalistische Phase der Grundlegung der Ethik
anbelangt, bereits oben hinreichend geklärt worden ist, und da Punkt (3) und (4)
später im 2. und 3. Kapitel für die essentielle, ,moralisch-teleologische‘ Phase derselben erörtert werden, ist hier nur auf Punkt (2) einzugehen.
(b) Die absolute Vollkommenheit in der ethischen Subjektivität als moralische
Bonität: der gute Wille.
Die absolute Vollkommenheit in der ethischen Subjektivität als moralische Bonität:
der gute Wille.
1. Die „Bemerkungen“ von 1764/65.
Bereits in den „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen“ (1764/65) formuliert Kant den freien Willen in bezug
auf die Vollkommenheit wie folgt: „Der Wille ist vollkommen, insofern er nach
den Gesetzen der Freiheit der größte Grund des Guten überhaupt ist. Das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Vollkommenheit des Willens.“200 „Der freie
Wille (eines Vernünftigen) ist für sich gut, wenn er alles will, was zu seiner Vollkommenheit (Vergnügen) beiträgt, und fürs Ganze [gut], wenn er zugleich aller
Vollkommenheit begehrt. So unvermögend auch der Mensch sein mag, der diesen
Willen hat, so ist doch der Wille gut. Andre Sachen mögen nützlich sein; andre
Menschen mögen durch einen geringen Grad Willen und viel Macht viel Gutes in
einer gewissen Handlung tun, so ist der Grund, das Gute zu wollen, doch einzig
und allein moralisch.“201 „Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Vollkommenheiten, aber weit mehr, wenn wir selbst die Ursache sind. Am allermeisten,
wenn wir die frei wirkende Ursache sind. Der freien Willkür alles zu subordinieren, ist die größeste Vollkommenheit. Und die Vollkommenheit der freien Willkür
als einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als alle anderen Ursachen des
Guten, wenn sie [sc. alle anderen Ursachen] gleich die Wirklichkeit hervorbrächten.“202 „Omnis bonitas conditionalis actionis est vel sub conditione possibili (uti
problemata) vel actuali (uti regulae prudentiae, quilibet vult sanus esse), sed in bonitate mediata vel conditionali το velle absolute non est bonum, nisi adsint vires et
198
Vgl. Forschner, M., Gesetz und Freiheit, S. 62.
Vgl. Henrich, D., Ethik der Autonomie, in: Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 16.
200
Bemerkungen, XX 136f.
201
Ibid., XX 138. Der hier verwendete Begriff von Vollkommenheit läßt sich aus seiner ursprünglichen Definition als Zusammenstimmung mit etwas verstehen.
202
Ibid., XX 144f.
199
65
circumstantiae temporis loci. Et in tantum, quatenus voluntas est efficiens, est bonum, sed poterit haec bonitas etiam qua voluntatem solam spectari. Si desint vires,
tamen est laudanda voluntas [Ovid, Ex Ponto III 4, 79] – in magnis voluisse sat est
[Properz, Elegien II 10, 6]203 – et perfectio haec absoluta, quatenus utrum aliquid
inde actuatur nec, eo est indeterminatum, dicitur moralis.“204
Soviel läßt sich aus diesen Formulierungen im Blick auf spätere Entwicklungen ersehen: Der Ursprung der größten Vollkommenheit ist der zur Subordination
von allem unter sich fähige freie Wille des vernünftigen Wesens, solange er die
Gesetze der Freiheit (unter der necessitas categorica) befolgt, obgleich es unbestimmt ist, ob er etwas in der Tat verwirklicht oder nicht; er ist demnach allein die
durch Ergebnisse der Handlungen nicht bestimmbare, folglich in diesem Sinn unbedingte Vollkommenheit und heißt moralisch; der Wille hingegen zur mittelbaren,
bedingten Bonität unter der necessitas problematica oder necessitas prudentiae205
ist nicht unbedingt gut, indem es von seinen Vermögen und anderen empirisch bedingten Umgebungen abhängt; aus jener absoluten Vollkommenheit des guten Willens entspringen nun auch das moralische Gefühl (der moral sense der britischen
Moralisten) und das Vergnügen (voluptas), das sich im Kontext der Formulierung
für rein erachten läßt, das folglich auf das hinauslaufen muß, was später Selbstzufriedenheit (innere moralisch-praktische Vollkommenheit) genannt wird; indem
er jede Vollkommenheit sucht, ist er nicht nur für sich, sondern auch für das Ganze gut; er ist als die größte Vollkommenheit sozusagen das selbsttätige Zentrum
des Aggregats aller Ursachen des Guten mitsamt anderen Vollkommenheiten in
hypothetisch-praktischer Bedeutung, unter dem sie subordiniert werden sollen.
Die Hauptgedanken der späteren Jahre um den Begriff der Vollkommenheit in
positiver Verwendung sind, wie gesehen, bereits hier in den „Bemerkungen“ versammelt. Nur orientiert sich der freie Wille am psychologischen Begriff des arbitrium liberum (der freien Willkür) in der Psychologie der Metaphysica Baumgartens
– auch Rousseaus Einfluß in dieser Zeit, der zusammen mit der Psychologisierung
der Sache stattfindet, ist unübersehbar. Er kann daher noch leicht mit der psychologischen Freiheit verwechselt werden, obwohl der auch zu dieser Zeit zutagetre203
Beide Quellenangaben nach D. Henrich. Vgl. ders., Ethik der Autonomie, S. 54, Anm. 6 u. 7.
Bemerkungen, XX 148.
205
Bemerkungen, XX 149f: „Bonitas actionis liberae objectiva (in Deo simul est subjectiva) vel
quod idem est necessitas objectiva est vel conditionalis vel categorica; prior est bonitas actionis tanquam medii, posterior tanquam finis, illa igitur mediata, haec immediata, illa continet necessitatem
practicam problematicam“. XX 155: „Necessitas actionum objectiva (bonitatis) vel est conditionalis (sub conditione alicuius boni appetiti) vel categorica, prior est problematica, et si appetitiones,
quae spectantur tamquam conditiones necessariae actionis, non solum ut possibiles sed ut actuales
spectantur, est necessitas prudentiae.“ Vgl. auch XX 162. Die Trichotomie von necessitas categorica,
problematica und prudentiae in „Bemerkungen“, XX 155, die in derjenigen der necessitatio practica in Met.L/1 (XXVIII 257: necessitatio problematica, pragmatica und moralis) und in derjenigen
des Imperativs in Ethik Menzer (S. 18f: problematischer, pragmatischer und moralischer Imperativus) wiedergegeben und zuletzt in jener der Imperative in der GMS von 1785 (IV 414f <B40>;
416f <B43f>) festgestellt wird, stellt die entwickelte Konfiguration der Dichotomie derselben in der
Preisschrift von 1762 (Deutlichkeit, II 298: necessitas problematica und legalis) und Refl. 6463 (XIX
13, ϵ bis 1764): „Necessitatio objectiva est vel categorica vel conditionalis.“) dar.
204
66
tende Gedanke einer „voluntas communis“206 noch zu berücksichtigen ist. Kants
damalige Grundeinstellung aber zur Freiheit des menschlichen Willens ist nun sein
Leben lang nie mehr erschüttert worden, obwohl er versucht hat, den Schwerpunkt
ihrer Implikation im moralphilosophischen Bereich nach und nach vernunftkritisch in Richtung auf die transzendentale Bedeutung zu verlegen – was aber auch
zugleich die Rolle des moralischen Gesetzes als intelligibles Faktum relevanter
macht, allerdings damit um so mehr den Anschein eines moralisch-rigoristischen
Kants verstärkt – und ihre Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust vorsichtiger und präziser darzulegen; durch diese Entpsychologisierung aber haben seine
Aussagen über die menschliche Freiheit allmählich die ursprüngliche imponierende Frische und Lebendigkeit207 verloren.
Das Fundament für die Kantische Grundlegung der Ethik ist bis zur ersten
Hälfte der sechziger Jahre festgelegt worden.
2. Reflexionen um 1769.
Daher beruht für Kant Vollkommenheit, anders als bei der Wolffianischen schulphilosophischen Gleichsetzung der objektiven Vollkommenheit mit der Bonität208 ,
auf der Bonität des Menschen: „Die Bonität ist der Grund der Vollkommenheit
[eines Dinges], unum ad quod consentitur. / Die Bonität der Menschen ist die moralische. Die relative Bonität ist, die nur ein Mittel zu etwas anderem ist, was gefällt.“209 Bonität ist demnach ratio perfectionis determinans bezüglich der Vollkommenheit der Dinge überhaupt. Sie entspringt aus der freien Willkür; von dieser
als Zentrum des Systems der Zwecke aus läßt sich die Bonität der Dinge auch bestimmen. Der freien Willkür, die Dingen Bonität verleiht, kommt ihrerseits „die
Vollkommenheit des Subjekts“ zu, die darin besteht, nicht seine Freiheit der Neigung zu unterwerfen, sondern seinen Zustand der Freiheit zu subordinieren; aufgrund dieser ihr zugehörigen Vollkommenheit aus Freiheit wird aus ihr, wenn
sie sich auch unter allgemeine Gesetze der Freiheit stellt, „die allgemeingültige Vollkommenheit“, nämlich die absolute Vollkommenheit des guten Willens.210
206
Bemerkungen, XX 161.
Eine imponierende und berührende Aussage über die Freiheit mit Bezug auf das Gefühl der
Lust und Unlust, typisch für den noch-nicht-alten Kant, ist: „Die Freiheit ist der größte Grad der
Tätigkeit und des Lebens. Das tierische Leben hat keine Spontaneität. Fühle ich nun, daß etwas mit
dem höchsten Grade der Freiheit, also mit dem geistigen Leben übereinstimmt; so gefällt es mir.
Diese Lust ist die intellektuelle Lust. Man hat bei ihr ein Wohlgefallen, ohne daß es vergnügt. Solche
intellektuelle Lust ist in der Moral. Woher hat aber die Moral solche Lust? Alle Moralität ist die
Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst. Z.E. wer da lügt, stimmt nicht mit seiner Freiheit
überein, weil er durch die Lüge gebunden ist. Was aber mit der Freiheit zusammenstimmt; das stimmt
mit dem ganzen Leben überein. Was aber mit dem ganzen Leben übereinstimmt, das gefällt. Dieses
ist jedoch nur eine reflektierende Lust; wir finden hier kein Vergnügen, sondern billigen es durch
Reflexion. Die Tugend hat also kein Vergnügen, aber dafür Beifall: denn der Mensch fühlt sein
geistiges Leben und den höchsten Grad seiner Freiheit“ (Met.L/1, XXVIII 249f).
208
Baumgarten, Metaphysica, lat., § 100, AA XVII 47: „Bonum est, quo posito ponitur perfectio.“
209
Refl. 4028, XVII 390, κ (1769). Vgl. auch Refl. 3887, XVII 327, θ? κ? (1766–68? 1769?): „Vollkommenheiten schlechthin sind, was zu dem innern Wert der Dinge zusammenstimmt. ... Der Wert
selber ist die Bonität, kommt auf die Materie der Vollkommenheit an.“
210
Refl. 6605, XIX 105f, κ–λ? (1769–70?).
207
67
M.a.W.: Die freie Willkür, die den bestimmenden Grund der objektiven Vollkommenheit von Dingen bildet, ist erst dann unbedingt gut (absolut vollkommen) und
moralisch, d.h. schlechthin guter Wille, wenn sie mit sich selbst, andern und der
Natur zusammenstimmt, indem sie Gesetze aus sich selbst beobachtet (cf. 2.2.3).
Relativ und mittelbar gut hingegen sind Mittel als durch Sinnlichkeit empirisch
gegebene Zwecke, unter denen die Vollkommenheit in problematisch-praktischer
Bedeutung (Vermögen, Geschicklichkeit, Talent und andere Tauglichkeiten) verstanden wird. Es soll daher primär die absolute Bonität des freien Willens als absolute Vollkommenheit, und es darf erst im Gefolge davon nur sekundär auch die
relative Bonität gesucht werden, aber keinesfalls die bloße Annehmlichkeit. „Suche
die Vollkommenheit (Bonität), nicht die Annehmlichkeit. Die Vollkommenheit (in
sensu absoluto) wird durch den Verstand erkannt, und zwar nicht bloß mittelbare,
wo der Zweck durch Sinnlichkeit gegeben wird, sondern die unmittelbare.“211 Mit
der absoluten Vollkommenheit wirkt das reine Denken (hier der Verstand) unmittelbar,212 d.h. die erstere ist unmittelbar intellektuell-spontan, anders als die bloß
mittelbare Vollkommenheit, die auf dem Weg der Mittel-Zweck-Beziehung durch
die Sinnlichkeit bestimmt wird. Zu dieser um 1769 vorgenommene Differenzierung der Vollkommenheit in die unmittelbare absolute und die mittelbare sinnlichbedingte findet Kant später eine klarere Formulierung: „Oder sie [sc. Vollkommenheit] bedeutet in praktischem Verstande das Gute, und da entweder das, was
an sich selbst gut ist (guter Wille), oder was als Mittel zu allen Zwecken gut ist,
die Tauglichkeit zu allen Zwecken“.213
3. Die Ethik-Vorlesung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre.
Während bei der Vollkommenheit in theoretischer Bedeutung einerseits die der
Dinge als Vollständigkeit (transzendentale und metaphysische Vollkommenheit)
vorliegt, wird sie im praktischen Bereich andererseits in die moralische des guten Willens und in die teleologisch mittelbar bestimmte des empirisch-bedingten
Willens eingeteilt. Kant faßt diese dreifache Differenzierung des Begriffs der Vollkommenheit in der von P. Menzer herausgegebenen, in die Jahre 1775–80 datierbaren Ethik-Vorlesung214 als Vollkommenheit der Sache, des Menschen215 und des
Willens zusammen.216 Die Differenzen des Begriffs der Vollkommenheit werden
so zusammengefaßt und eingeordnet, um die moralische Vollkommenheit des gu211
Refl. 6655, XIX 125, κ? (1769?). Vgl. auch Refl. 6590, XIX 98, η? κ? (1764–68? 1769?): „Die
Vollkommenheit besteht nicht im akzidentellen Guten, z.E. Wissenschaft, Zierlichkeit etc., sondern
im wesentlichen.“
212
Vgl. auch Refl. 746; Anthr., VII 144: „Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin:
daß er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu
unterwerfen. Dazu aber wird erfordert, daß der Verstand herrsche“.
213
Refl. 5753, XVIII 344, ψ3−4 (1785–89).
214
Man vermutet, daß Kant auch noch in der ersten Hälfte der achtziger Jahre über die Moralphilosophie eine Vorlesung gleichen Inhalts wie die „Ethik Menzer“ gehalten hat, weil die Vorlesungsnachschrift von „Moralphilosophie Collins“ (AA XXVII 237ff) das Datum WS 1784/85 trägt.
215
Anders als in der Ethik-Vorlesung scheint die der „Vollkommenheit des Zustandes“ gegenübergestellte „Vollkommenheit des Menschen“ in Reflexion 6656 (XIX 125, κ? 1769?) eher auf die Vollkommenheit des guten Willens zurückgeführt zu werden.
216
Ethik Menzer (Menzer, P. [Hrsg.]; Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924), S. 32: „Was ist
68
ten, freien Willens hervorzuheben, von der aus dann andere Vollkommenheiten als
Zwecke des guten Willens entworfen und organisiert werden sollen: „Allein zu einem guten Willen ist nötig die Vollständigkeit und das Vermögen aller Kräfte, alles
das zu vollführen, was der Wille will. Also können wir sagen, daß die Vollkommenheit [des Menschen] indirekt nur insofern zur Moralität gehöre.“ Soll daher unter
der perfectio im Wolffianischen Satz „quaere perfectionem“ die Vollkommenheit in
hypothetisch-praktischer Bedeutung („Vollkommenheit des Menschen“) verstanden werden, so ergibt sich: „Der Satz des Autors [sc. Baumgartens] als der Grund
der Obligation: quaere perfectionem, quantum potes, ist doch wenigstens bestimmter ausgedrückt, hier ist doch nicht eine totale Tautologie [wie im Satz: Fac bonum
et omitte malum]; also hat er einen Grad der Brauchbarkeit.“ „Also ist der Satz
indirekt moralisch.“217
4. Nachwirkungen der Erwägungen in den achtziger Jahren.
Die hervorgehobene moralische, unmittelbare Vollkommenheit des guten Willens wird etwa zur gleichen Zeit in einer Reflexion dargelegt und gepriesen,218
welche alsdann in gehobenem Stil an den später so berühmten Anfang des ersten
Abschnitts der GMS (1785) gesetzt wird.219 Sie schlägt sich somit auch in der Idee
des Zwecks-an-sich-selbst220 nieder. Auch in den achtziger Jahren reflektiert Kant
über den guten Willen noch mit Bezug auf den Begriff der Vollkommenheit.221 Die
intellektuelle Vollkommenheit der Moralität des freien Willens, die von sinnlichen
Bedingungen frei ist, liegt nicht Wolffisch in der Gegenständlichkeit,222 sondern
denn vollkommen? Die Vollkommenheit der Sache und des Menschen sind unterschieden. Die Vollkommenheit der Sache ist die Hinlänglichkeit aller requisitorum, um die Sache zu konstituieren. Also
generaliter bedeutet es die Vollständigkeit. Aber die Vollkommenheit des Menschen bedeutet noch
nicht Moralität. Die Vollkommenheit [des Menschen] und moralische Bonität sind unterschieden.
Die Vollkommenheit [des Menschen] ist die Vollständigkeit des Menschen in Ansehung seiner Kräfte, Vermögen und Fertigkeit, alle beliebige Zwecke auszuführen. Die Vollkommenheit kann größer
und kleiner sein. Einer kann vollkommener sein als der andere. Die Bonität ist aber die Eigenschaft,
sich aller dieser Vollkommenheiten gut und wohl zu bedienen. Also besteht die moralische Bonität
in der Vollkommenheit des Willens und nicht des Vermögens.“
217
Loc.cit. Zu Kants Deutung des Satzes „quaere perfectionem“ hinsichtlich der Tautologie vgl.
auch Refl. 6487, XIX 24f, ρ–ϕ (1773–78): „imperativus tautologicus. Haben doch den Nutzen, daß
sie die pragmatische Imperative und die stimulos ausschließen. Sei gut, und würdig, glücklich zu
sein.“ Vgl. auch Refl. 6972, XIX 217, ϕ? (1776–78?).
218
(Refl. 6890, XIX 194f, υ (1776–78): „Es kann überall nichts schlechthin Gutes sein als ein guter
Wille. Das übrige ist entweder mittelbar gut oder ...“. Vgl. aber auch Refl. 5444, XVIII 183f, ϕ
(1776–78).
219
GMS, IV 393 <B1>. Zum absoluten Wert des guten Willens vgl. auch KU, V 442f <B410–412>.
220
Vgl. GMS, IV 427–431 <B63–70>. Refl. 7305, XIX 307, ψ (1780–89): „... er [sc. der Mensch]
ist nur Zweck an sich selbst, sofern er ein Wesen ist, das sich selbst Zwecke setzen kann.“
221
Vgl. außer Refl. 5753 z.B. Refl. 7254, XIX 295, ψ (1780–89): „Der Satz ,perfice te‘ ist tautologisch. Man will wissen, worin die Vollkommenheit bestehe, die das Objekt des kategorischen
Imperativs ist. Die moralische Vollkommenheit ist die Bedingung, unter der alle andere allein Vollkommenheit heißen kann. Nun will ich wissen, worin die besteht. Sie ist eine Vollkommenheit des
Willens; aber worin? Der keinen guten Willen hat, ist des Verstandes nicht wert.“
222
Wohl aber wird in der moralisch-praktischen Zwecksetzung das höchste Gut als intellektueller
Gegenstand der reinen praktischen Vernunft gebildet und hingestellt, zu welchem auch die Vollkommenheit als Zweck gehört. In der essentiellen ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der
69
im selbsttätig denkenden Subjekt der Willensbestimmung aufgrund der negativen
Freiheit, in der reinen praktischen Vernunft, die nichts anderes gewesen ist als ein
Ziel der Beweisführung von Anmerkung I zu §§ 2 und 3 des Grundsätze-Kapitels
der KpV (cf. 1.2.3). Die Ursache des menschlichen Übels liegt in der Abhängigkeit vom Passiven in der Sinnlichkeit; die innere Vollkommenheit des Menschen
hingegen besteht in der Herrschaft des Verstandes, genauer der reinen praktischen
Vernunft als intellektueller Spontaneität in der Praxis, den Gebrauch aller seiner
Vermögen seiner freien Willkür zu unterwerfen.223 Kants intellektueller Voluntarismus artikuliert sich ausdrücklich in seiner Lehre über die absolute Vollkommenheit des guten Willens.
Ethik wird also die in der formalistischen Phase derselben negierte Gegenständlichkeit wieder intellektuell hergestellt. Die wiederhergestellte objektive Vollkommenheit aber wird der subjektiven
Vollkommenheit des guten freien Willens untergeordnet.
223
Vgl. dazu Anthr., VII 144.
70
2. Die innere Bewegung und
Struktur der
moralphilosophischen
Reflexionen in den siebziger und
achtziger Jahren.
2.1 Einleitung zur Untersuchung der moralphilosophischen
Reflexionen in den siebziger und achtziger Jahren.
Die moralphilosophischen Reflexionen Kants sind zum großen Teil in der ersten
Hälfte des Bd. XIX der Akademie-Ausgabe (AA), herausgegeben von E. Adickes
und F. Berger, gesammelt, aber man findet sie auch im letzten Teil desselben Bands
(Reflexionen zur Religionsphilosophie) und sporadisch in dem Band für Anthropologie (Bd. XV) und den Bänden für Metaphysik (Bd. XVII und XVIII). Unter ihnen ist die Produktivität in Periode υ/ϕ (1776–78) auffallend. Zu einer Erforschung
des moralphilosophischen Entwicklungsgangs Kants in den siebziger und achtziger Jahren sind darüber hinaus sowohl seine Vorlesungen wie etwa „Ethik Menzer“
und „Met.L/1 (Pölitz)“ als auch das Kanon-Kapitel224 der KrV zu berücksichtigen,
das aus einer Zusammenfassung der Reflexionen der siebziger Jahre, unter anderen
derjenigen in der ebengenannten produktiven Periode υ/ϕ (1776–78), zustandegekommen zu sein scheint, und aus dem sich alsdann die moralisch-teleologischen
Gedanken in der KpV, der KU und der Religionsschrift weiter entwickelt haben.225
Das Kanon-Kapitel der KrV befindet sich in III 517ff <B823ff>.
A. Schweitzer bezeichnet das Kanon-Kapitel der KrV als „religionsphilosophische Skizze“ und
nimmt das Dasein einer moralisch-theologischen Abhandlung Kants an, die ihm entspricht (vgl. dazu
Schweitzer, A., Die Religionsphilosophie Kant’s von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Freiburg i.B. 1899, S. 4 Anm. und S. 67). Diese Abhandlung müßten in Wirklichkeit die moralphilosophischen Reflexionen der siebziger Jahre, insbesondere
diejenigen aus Periode υ/ϕ, sein. Bei der Betrachtung nun des Übergangs vom Kanon-Kapitel in die
KpV ist es wichtig zu beachten, daß Kant in der 2. Auflage der KrV, d.h. ein Jahr vor dem Erscheinen
der KpV, den Inhalt des Kapitels nicht revidieren wollte (die Vorrede der KrV zur 2. Auflage ist unterzeichnet im April 1787. Doch war die KpV bereits am 25. Juni desselben Jahres nahezu druckfertig.
224
225
71
Außerdem muß auch auf das Besondere des 3. Abschnitts der GMS Bedacht genommen werden.
Unsere Aufgabe liegt jetzt darin, die Reflexionen sowie die Darstellungen der
Vorlesungsnachschriften in den siebziger und achtziger Jahren zusammenzustellen,
einzuordnen und ihre innere Bewegung und Struktur zu enthüllen.226 Die Rekonstruktionsarbeit dieser Art wurde bereits von M. Forschner in seiner Antrittsvorlesung begonnen.227 Diese trägt zu einer umfassenden, eingehenden Untersuchung
der moralphilosophischen Reflexionen bei, die große Mühe und Geduld, ja Opferbereitschaft fordert, die aber zur Gestaltung eines Gesamtbilds der Kantischen
Grundlegung der Ethik nicht entbehrt werden kann, welche der bisherigen Interpretation derselben unter den von H. Cohen festgelegten Leitlinien nicht vollauf
gelungen zu sein scheint. Auch die vorliegende Arbeit bietet lediglich einen ersten
bescheidenen Schritt zu jener Untersuchung dar.
Kant betrachtet nun in den „Reflexionen“ das Grundphänomen ,Moralität‘ als
eine Ganzheit von Freiheit, Gesetz und Zweck, bei deren Grundlegung eine Richtung von Freiheit über Gesetz zu Zweck besteht, die ,moralisch-teleologisch‘ und
architektonisch (aufbauend) genannt werden kann, während die umgekehrte Richtung von Zweck über Gesetz zu Freiheit, die als kognitiv-formalistisch (analytischregressiv) zu bezeichnen ist, in ihnen relativ wenig beachtet und erst in der Analytik
der KpV zwecks Fundamentsetzung zur ,moralisch-teleologischen‘ Grundlegung
der Ethik voll formuliert wird. Wenn aber die Grundlegung der Ethik aus dem ganzen Grundphänomen von Freiheit, Gesetz und Zweck her vorgenommen werden
soll – dies wird tatsächlich in den „Reflexionen“ durchgeführt – und wenn dabei
Gesetz und Freiheit, und nicht der Zweck, das Fundament abgeben sollen, so ist zu
einer vollständigen Grundlegung der Ethik ein Rückgang ins Gesetz und dann in
die Freiheit als dessen ratio essendi, wie er am Anfang der KpV ausgeführt wird,
unentbehrlich. Wer also die Entwicklung der Grundlegung der Ethik bei Kant derart sieht, daß die sogenannten Deduktionen des Gesetzes in den „Reflexionen“,
bei denen man es eigentlich mit der ,moralisch-teleologischen‘ Grundlegung der
Moralität als des Zusammenhangs von Freiheit, Gesetz und Zweck zu tun hat, zu
überwinden sind und aus ihrem Fehlschlag die Lehre vom Faktum der Vernunft in
der KpV unvermeidlich auftaucht, muß eingesehen haben, daß der Kern der GrundVgl. hierzu P. Natorps Einleitung zur KpV, AA V 497f). Die Hypothese einer moralphilosophischen
Umkippung Kants zwischen der GMS und der KpV ist schon damit fraglich.
226
Die moralphilosophischen Reflexionen sind einmal durch R. Bittner und K. Cramer nach den
begrenzten Themen zusammengestellt und eingeordnet worden (vgl. dazu Bittner, R., und Cramer,
K., Materialien zu ,Kants Kritik der praktischen Vernunft‘, Frankfurt/M. 1975, S. 31–136). Diese
Zusammenstellung beabsichtigt freilich nicht, innere Zusammenhänge und Bewegungen, die die Reflexionen selbst aufweisen, zutagezubringen.
227
Forschner, M., Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 42, 1988. Auch K. Düsing hat diese Aufgabe teilweise in Angriff genommen.
Vgl. dazu ders., Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien
Bd. 62, 1971. Ebenso ist auch O. Schwemmer im Rahmen seiner Interpretationssystematik teilweise
auf die moralphilosophischen Reflexionen eingegangen. Vgl. hierzu ders., Philosophie der Praxis,
Frankfurt/M. 1980, S. 98–102, 164–175.
72
legung auch deshalb im Rückgang zum Fundament der Ethik bestehen muß, weil
die ,moralisch-teleologische‘ Grundlegung in den „Reflexionen“ nicht das Ganze
der Grundlegung umfassen kann oder seiner Ansicht zufolge sogar gescheitert ist.
Wenn dem so ist, dann erweist sich daraus jedenfalls, daß ohne die Unterscheidung der Grundlegung der Ethik in die ,moralisch-teleologische‘ und die kognitivformalistische die Entwicklung der Gedanken der Reflexionen zur Analytik der
KpV nicht so verstanden werden kann, wie sie tatsächlich verlaufen ist.
Einen eigenartigen Charakter nun der moralphilosophischen Reflexionen Kants
kann man an den in ihnen befindlichen hartnäckigen Wiederholungen der gleichartigen Gedanken und Thesen sehen, die auf die Frage, wie sich das festgehaltene Fundament der Ethik auswirkt, demnach hauptsächlich auf die ,moralische
Teleologie‘ im erweiterten Sinn, bezogen sind. Dieser auf den ersten Blick negative Charakter der Reflexionen aber weist nur darauf hin, daß Kants Interesse an
der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der ethischen Grundlegung sehr groß gewesen ist, und in welcher Weise ein philosophisches Denken, das sich mit einem es
so interessierenden Thema befaßt, eigentlich vor sich gehen muß – es darf nur Wesentliches schlicht und lapidar zum Ausdruck bringen und dieses von allen Seiten
und Blickpunkten aus überprüfen; erst dadurch kann das Gerüst eines festen Denkgebäudes entstehen. Dieses Verfahren hat in Notizen der Werkstatt des Denkens
das Erscheinungsbild beinahe monotoner Wiederholungen zur Folge.
Den permanenten Nährboden nun der moralphilosophischen Reflexionen überhaupt und insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren kann man, statt Hutscheson und Rousseau zu nennen, die die Fundamentlegung der Ethik bis zum Jahre 1765 entscheidend beeinflußt haben, in der Wolffschen Schule und der geistigen
Atmosphäre des Pietismus finden.228 Kant gehört offensichtlich zum mitteleuropäischen Geistesraum des achtzehnten Jahrhunderts, sosehr deutsche Interpreten der
Kantischen Philosophie westliche Einflüsse unterstrichen haben mögen, um damit
den paneuropäischen Charakter derselben aufzuweisen. Eine Ursache der rapiden
Rezeption und Verbreitung der Kantischen Philosophie im deutschen Kulturraum
liegt in Kants kritischer Aufnahme der Wolffschen Terminologie und des Geistes
des Pietismus.
Nun kann die innere Bewegung und Struktur der moralphilosophischen Refle228
Kant hat für die Konzeptionsbasis seiner Reflexionen die Wolffianischen Lehrbücher verwendet.
Die Wolffsche Terminologie ist der Begriffsvorrat für sein Denken. Auf den dogmatischen Einfluß
des Pietismus auf sein moralphilosophisches Denken ist in der vorliegenden Arbeit nicht einzugehen. Der Pietismus war doch die Religion seiner Familie, und seine ethische Atmosphäre scheint
das Ethos Kants lebenslang bestimmt zu haben. Zur pietistischen Atmosphäre der Kantischen Moralphilosophie vgl. Delekat, F., Immanuel Kant, Heidelberg 2 1966, S. 314: „Kant hat in einer Zeit,
in welcher der Pietismus abgewirtschaftet hatte und die Gebildeten – von ihm enttäuscht – aus der
Kirche überhaupt hinausstrebten, die Motive der reformatorischen Rechtfertigungslehre wieder zur
Geltung gebracht, wenngleich nur im Rahmen der Ethik. Seine Zeitgenossen haben durchaus empfunden, woher der Geist wehte, und der Eindruck war tief.“ Daß die pietistische Atmosphäre und
die Wolffsche Schule der Nährboden seiner Moralphilosophie gewesen sind, dafür kann man sich
symbolisch daran erinnern, daß sein Mentor der Pietist und zugleich Wolffianer Franz Albert Schultz
gewesen ist.
73
xionen in den siebziger und den achtziger Jahren unter folgenden drei Rubriken
betrachtet werden: A. Der Gedanke der Zusammenstimmung und das Moralprinzip, B. Glückseligkeit als Zielvorstellung der Moralität aus Freiheit, C. Die relative
Gewichtsverlagerung bei der moralischen Triebfeder. Zuletzt aber beleuchten wir
den Zusammenhang zwischen der Idee der intelligiblen Welt und der moralischen
Gesetzlichkeit im 3. Abschnitt der GMS als ein Resultat aus dem in den „Reflexionen“ Gedachten unter Restriktion der Kritik der reinen praktischen Vernunft: D.
Die intelligible Welt als bloßer Standpunkt außer der Sinnenwelt.
A. Der Gedanke der Zusammenstimmung und das Moralprinzip.
2.2 Die Zusammenstimmung mit sich selbst, mit den Gesetzen und mit den Zwecken.
Einer der Grundgedanken in den fragmentarischen moralphilosophischen Reflexionen Kants in den siebziger und achtziger Jahren ist, mit einem Stichwort ausgedrückt, die Zusammenstimmung (bzw. Übereinstimmung) der Freiheit mit sich
selbst als mit den Gesetzen und mit den Zwecken. Bei ihr hat man es mit dem
Begriff einer Harmonie zu tun, deren Gefüge drei ethische Grundbegriffe, Freiheit,
moralisches Gesetz und Zweck (Glückseligkeit) miteinander zusammenstimmend
verbindet. Der mit diesem Begriff präsentierte Grundgedanke, der in den „Reflexionen“ gar nicht systematisch dargestellt ist, der sich aber auch in den Vorlesungsnachschriften dieser Zeit, wie etwa der „Ethik Menzer“ und der „Met.L/1 (Pölitz)“,
und im Kanon-Kapitel der KrV niederschlägt, läßt sich zuletzt auch in der GMS,
der KpV, der MS und den anderen ethischen Schriften als unscheinbare Selbstverständlichkeit finden. Er soll im folgenden rekonstruiert werden.
2.2.1 Allgemeine Erläuterung zum Begriff der Zusammenstimmung.
Das Wort Zusammenstimmung bzw. Einstimmung, das Bedeutungen wie Harmonie, Vollkommenheit und Sammlung auf Einheit impliziert, weist bei seinem Gebrauch in der Kantischen Ethik eine dreifache objektive Bezugnahme des Subjekts der Zusammenstimmung, der freien Willkür, auf. Zuerst nämlich soll diese
mit sich selbst zusammenstimmen. Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich
selbst kennt aber nun zwei Entfaltungen: Einerseits kann die Freiheit mit sich selbst
zusammenstimmen, indem sie mit allgemeinen Gesetzen zusammenstimmt; in der
Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst andererseits liegt die Möglichkeit
der Zusammenstimmung derselben mit den ihr wesentlichen Zwecken. Die dreifache Bezugnahme der Zusammenstimmung der freien Willkür heißt also: (1) mit
sich selbst, (2) mit den Gesetzen und (3) mit den Zwecken.
74
Um zu erklären, woher der Kantische Begriff der Zusammenstimmung philosophiegeschichtlich kommt, dazu wäre eine historische Detailforschung nötig.
Hier werden aber bloß die mit ihm verwandten Begriffe aufgezählt: (1) Vollkommenheit (Wolff-Baumgarten), (2) Einstimmung und Widerstreit (Leibniz) und (3)
übereinstimmendes Leben (die Stoa).
(1) Daß dem Begriff der Zusammenstimmung mit etwas derjenige der Vollkommenheit zugrundeliegt, das ersieht man sowohl aus dem Wort ,Zusammenstimmung‘ (consensus) selbst229 als auch aus öfters von Kant gemachten Aussagen, in denen das Wort auftritt, wie etwa dieser: „Je einstimmiger mit sich selbst,
je einstimmiger mit fremden Willen seiner Natur nach die Willkür ist, je mehr sie
ein Grund ist, andrer Willkür mit unsrer zu vereinigen: desto mehr stimmt es [sc.
das vollständige Leben] mit den allgemeinen Prinzipien des Lebens, desto weniger Hindernis auch, desto größerer Einfluß auf die Verhältnisse und freie Willkür anderer.“230 Beim ,vollständigen Leben‘ in bezug auf das Gute kommt es nun
auf die Zusammenstimmung mit den Vernunftgesetzen an, wobei das ,sich selbst‘
der Zusammenstimmung mit sich selbst als Glied der intelligiblen Welt angesehen
wird.231 Kant verwendet in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung
der Ethik den Begriff der Vollkommenheit beinahe uneingeschränkt, weil die Sache
und der Vorgang in dieser Phase intelligibel sind. In der kognitiv-formalistischen
Phase aber wird sein Gebrauch, wie oben dargelegt (cf. 1.2.3), abgelehnt, weil
er in sich die Abhängigkeit von der Gegenständlichkeit impliziert. Ebensowenig
wie der Begriff der Vollkommenheit kann der Begriff der Zusammenstimmung,
der dem ersteren als dessen Komponente zugehört, das erste, fundamentale Prinzip
bzw. der Ursprung der Moralität sein, sondern sie reguliert lediglich als Kriterium
der Moralität den Prozeß der Moralisierung der freien Willkür aus dem Ursprung
der Moralität in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase.
(2) Dem Begriffspaar von Einstimmung und Widerstreit, das in der Grundlegung der Ethik eine große Rolle spielt, wird kein Gebrauch bei der Gegenstandskonstitution der Verstandessynthesis in der theoretischen Philosophie eingeräumt.
Kant setzt sich mit dem theoretischen Gebrauch dieser Begriffe als Reflexionsbegriffe im Amphibolie-Kapitel der KrV auseinander.232
(3) Sachlich betrachtet, entspricht dem Kantischen Moralprinzip der Zusammenstimmung der freien Willkür mit sich selbst Zenons ὁμολογουμένως ζῆν (das
übereinstimmende Leben), worunter der Gründer der Stoa ,ein Leben in Übereinstimmung mit dem Logos‘ verstand, da das griechische Wort ὁμολογουμένως
in sich das Wort ,Logos‘ enthält.233 Seine Nachfolger, Kleanthes und Chrysipp,
229
Cf. 1.2.3.c (Baumgarten, Metaphysica, lat. § 94, dt. § 73).
Refl. 567, XV 246, υ (1776–78).
231
Vgl. dazu Refl. 712, XV 316, ν? (1771?): „... was mit mir als einem Glied der intellektualen
Welt zusammenstimmt, ist gut“.
232
Vgl. dazu KrV, III 217 <B320f>, 222 <B328f>.
233
Vgl. zum stoischen Moralprinzip Zenons: Pohlenz, M., Stoa und Stoiker, Bd. 1: Die Gründer,
Panaitios, Poseidonios, Zürich 1950, S. 109f; Schink, W., Kant und die stoische Ethik, in: KantStudien, Bd. 18, 1913, S. 426f.
230
75
wollten diese Bedeutung klar machen und formulierten sie so: ὁμολογουμένως τῆͺ
ϕύσει ζῆν (ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur),234 wobei mit der Natur
Vernunft (ὀρθὸς λόγος) gemeint ist. Also hat sich die Zusammenstimmung mit
sich selbst im übereinstimmenden Leben zu derjenigen mit der Vernunft und ihren
Gesetzen entwickelt. Nun ist bei Zenon dieses Moralprinzip das Lebensziel (τὸ
δὲ τέλος τὸ ὁμολογουμένως ζῆν). Es bringt der Stoa zufolge dem Menschen unmittelbar den inneren Frieden und die Eudämonie (das höchste Gut), während bei
Kant doch diese Unmittelbarkeit zur Erlangung des höchsten Guts durch Moralität fehlt. Es handelt sich nämlich bei der stoischen Zusammenstimmung mit sich
selbst als mit den Gesetzen um diejenige mit dem Lebenszweck. Aus dem angestellten Vergleich also ergibt sich, daß die dreifache Zusammenstimmung in der
Kantischen Ethik mit der Struktur des stoischen Moralprinzips in Parallele gesetzt
werden kann.
2.2.2 In den siebziger und achtziger Jahren werden Gesetz und Willensfreiheit aus der Perspektive der moralischen Zwecksetzung her weiter
in Betracht gezogen.
Der Moralphilosoph Kant, der bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre das
Fundament der Ethik gelegt hat, denkt weiterhin darüber nach, wie dieses Fundament sich auswirkt und in welchen ethischen Zusammenhängen es steht. Demnach
erwägt er das moralische Gesetz und die Freiheit des Willens von unseren wesentlichen Zwecken her. M.a.W.: Die Zusammenstimmung der freien Willkür mit sich
selbst als mit den Gesetzen wird unter dem Aspekt der Zusammenstimmung derselben mit den wesentlichen Zwecken in Betracht gezogen; die Einheit aller Zwecke
bestimmt die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit. Unter diesem Gesichtspunkt kann der Zweck auch die moralische Triebfeder (vis movens zur Ausübung
der Moralität) abgeben. In den moralphilosophischen „Reflexionen“ in den siebziger und achtziger Jahren werden also Gesetz und Freiheit als Fundament der
Kantischen Ethik überwiegend in bezug auf die moralische Zwecksetzung weiter
überlegt.
Mit den sogenannten Deduktionen des Gesetzes in den „Reflexionen“, wie sie
durch D. Henrich in seinem Aufsatz „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants
Lehre vom Faktum der Vernunft“235 aufgewiesen werden, wird von Kant nur in
dieser Konstellation, d.i. in der ,moralisch-teleologischen‘, architektonischen Problematik, wie sich das Fundament der Ethik, Willensfreiheit und Gesetz, weiter
auswirkt, experimentiert; manche jener Reflexionen, die Henrich dafür zitiert, können daher auch nach der KpV, d.h. nach der ausdrücklichen Festhaltung der Lehre
vom Gesetz als Faktum der Vernunft, essentiell gelten, nämlich als Sätze, die zur
,moralisch-teleologischen‘ Phase gehören. Henrich richtet sein Augenmerk nicht
234
Cf. dazu auch Fußnote 396 in 2.6.2.
In: Henrich, D., Schultz, W. und Volkmann-Schluck, K.-H. [Hrsg.], Die Gegenwart der Griechen
im neueren Denken. Festschrift für H.-G. Gadamer, Tübingen 1960; wiederabgedruckt in: Prauss, G.
[Hrsg.], Kant, Köln 1973.
235
76
darauf, wie das Fundament der Ethik mit der moralischen Teleologie zusammenhängt. Die Konzeption vom Faktum der Vernunft andererseits als faktische Vorgegebenheit des moralischen Gesetzes (des Sollens) erscheint nicht zum erstenmal in
der KpV, sondern ist bereits bis zur ersten Hälfte der sechziger Jahre de facto vorbereitet und in den Reflexionen der siebziger und achtziger Jahre weiter erhalten.
Der von Henrich aufgestellte Entwicklungsgang der Kantischen Grundlegung der
Ethik ist zwar sehr imponierend, reflektiert aber nicht den eigentlichen Grundzug
der moralphilosophischen Reflexionen Kants. Jeder, der diese durchgelesen hat,
merkt gleich, daß sich das eigentliche Bild ihrer Hauptgedankengänge ziemlich
unterscheidet von dem Eindruck, den Henrichs Aufsatz ihm macht. In diesem fehlt
noch ein richtiges Verständnis für die ,moralisch-teleologische‘ Phase der Grundlegung und die Triebfeder-Problematik sowie für den Zusammenhang zwischen
beiden. Ferner besteht die Eigenart seiner Interpretation darin, daß er den Begriff
der Spontaneität (Selbsttätigkeit) stets von der theoretischen Vernunft her zu denken versucht und daß er die Selbstheit des Subjekts der moralischen Entscheidung
(Billigung und Mißbilligung) mehr oder weniger ins Gefühl setzt. Somit wird der
reinen praktischen Vernunft Kants auf ihren beiden Seiten – auf der einen Seite
durch die theoretische Vernunft, auf der anderen Seite durch das Gefühl der Lust
und Unlust – ihre Eigentümlichkeit weggenommen.236 Die Untersuchung der moralphilosophischen Reflexionen in diesem Aufsatz stellt aber so etwas wie eine
Detektivarbeit dar, die in der Masse von Reflexionen einen roten Faden verfolgt,
und sein sachlicher Formulierungsstil ist philosophisch sehr attraktiv.237
Zur Orientierung über diese „Reflexionen“ ist nun kurz auf ein paar Grundgedanken in ihnen hinzuweisen.
In einer zweckmäßigen Welt wie der moralischen Welt enthält der Zweck des
Ganzen in sich die Bedingung der Zwecke der Teile. Dieses System der Zwecke
verweist darauf, daß jedermann sich als den Gesetzen unterworfen ansehen muß.
Erst dadurch können wir mit dieser Welt hinsichtlich der Glückseligkeit zusammentreffen.238 Die Zusammenstimmung der Freiheit mit dem Zweck des Ganzen239 bestimmt also diejenige mit den Gesetzen der Moralität. Das Ganze ist hier
bestimmend.240 So wird denn gesagt: „Die Vernunft zeigt, daß die durchgängige
Einheit aller Zwecke eines vernünftigen Wesens sowohl in Ansehung seiner selbst
als andrer, mithin die formale Einheit im Gebrauche unserer Freiheit, d.i. die Mo236
Cf. Fußnote 495 in 2.8.
Der Verfasser hat von D. Henrichs Arbeiten sehr viel gelernt, wofür er ihm sehr dankt.
238
Vgl. Refl. 6899, XIX 200 Z16–22, υ? κ? η? (1776–78? 1769? 1764–68?).
239
Vgl. dazu z.B. Refl. 6139, XVIII 467 Z8–10, ψ2 (1783–84).
240
Vgl. dazu z.B. Refl. 6981, XIX 219, ϕ (1776–78): „Es gibt viel Vollkommenheit als Mittel,
aber nur eine Vollkommenheit als ganzer Zweck.“ Der Satz stellt ein Gespräch mit dem Wolffschen
Prinzip „quaere perfectionem“ dar, und der ganze Zweck bezieht sich vermutlich auf das höchste
Gut. Vgl. auch Refl. 7027, XIX 230, υ? µ? ρ? (1776–78? 1770–71? 1773–75?): „Die empirischen
Gründe unserer Wahl haben keine Gewißheit, weil sie keine allgemeine Richtschnur haben und also
untereinander Widersprüche geben können. Die Regel ihrer Zusammenstimmung: Einheit in einem
Ganzen ist die oberste.“ Vgl. auch Refl. 6711, XIX 138 Z18–20, ξ–ρ? (1772–75?), Refl. 6712, XIX
138 Z22–27, ξ–ρ? (1772–75?).
237
77
ralität, wenn sie von jedermann ausgeübt würde, die Glückseligkeit durch Freiheit
hervorbringen ... würde und daß umgekehrt, wenn die allgemeine Willkür jede besondere bestimmen sollte, sie nach keinen andern als moralischen Prinzipien verfahren könnte“.241
Die Moralität besteht also in der Zusammenstimmung der Freiheit mit den
Zwecken. „Moralität ist die Übereinstimmung der freien Willkür mit dem Zwecke
der Menschheit und der Menschen überhaupt, nämlich mit notwendigen Bedingungen der allgemeinen Zwecke der Menschheit und der Menschen.“242 Moralische
Gesetze bringen einzig und allein die Glückseligkeit auf die Ursache der Freiheit
(sie sind sozusagen die Bindeglieder zwischen Autokratie der Freiheit und Epigenesis der Glückseligkeit; cf. 2.4.4) und führen somit die Würdigkeit glücklich zu
sein mit sich.243 D.h. die Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen verbindet diejenige mit sich selbst mit derjenigen mit den Zwecken und ist demnach
die Würdigkeit glücklich zu sein. Die Moralität gründet auf der Beziehung der Vernunftwesen auf die ursprünglichen Zwecken derselben, durch die allein ihr Dasein
möglich ist.244 Diese Zweckbeziehung ist demnach für sie wesenseigen und essentiell. Der Moralität als Bindeglied zwischen Freiheit und Endzweck wird unten in
extenso nachgegangen (cf. 2.3.2 und 3.1.1).
Die drei Bezüge der Zusammenstimmung der Freiheit können nun ganz kurz
so formuliert werden: Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst bezieht
sich auf die Autonomie des Willens, die Freiheit; diejenige mit den Gesetzen auf
die Sittlichkeit; diejenige mit den Zwecken auf die ,moralische Teleologie‘, die
teleologische Seinsordnung.
2.2.3 Das Konzept der Zusammenstimmung des Willens mit sich selbst
in den Jahren 1769–70.
Die Grundidee einer Zusammenstimmung mit sich selbst kann bereits in den Jahren
1769–70 (Periode κ–λ) in ausdrücklicher Gestalt angetroffen werden. Eine Reflexion, die vermutlich aus dieser Periode stammt, lautet:
„Allein es war nötig, daß unser Verstand zugleich allgemeine Regeln entwarf,
nach denen wir die Bestrebungen zu unserer Glückseligkeit zu ordnen, einzuschränken und übereinstimmig zu machen hätten, damit unsere blinden Triebe uns
nicht auf bloßes Glück bald hier, bald dahin trieben. Da diese sich gewöhnlichermaßen widerstreiten, so war ein Urteil nötig, welches in Ansehung ihrer aller unparteiisch und also abgesondert von aller Neigung bloß durch den reinen Willen die
Refl. 7204, XIX 283, ψ? υ? ϕ? (1780–89? 1776–78?); kursiv v. Verf. Cf. 2.3.1.g.
Refl. 4611, XVII 609, ξ–o (1772–75). Vgl. dazu auch Refl. 6950, XIX 212 Z9–16, ϕ (1776–78),
Refl. 6795, XIX 163 Z18–23, ρ? (1773–75?), Refl. 7209, XIX 285 Z29 – 286 Z5, ψ? ϕ? (1780–89?
1776–78?).
243
Vgl. Refl. 6910, XIX 203 Z18–23, υ (1776–78), Refl. 6876, XIX 189 Z10f, υ (1776–78).
244
Vgl. Refl. 6977, XIX 218, υ? (1776–78): „Der moralische Grund ist der Bewegungsgrund der
Handlungen aus den ursprünglichen Zwecken vernünftiger Wesen, d.i. denen Zwecken, durch die
allein ihr Dasein möglich ist. Alles, was dem widerstreitet, widerstreitet ihnen selbst, weil es dem
principio essendi derselben entgegen ist.“
241
242
78
Regeln entwarf, die, für alle Handlungen und für alle Menschen gültig, die größte
Harmonie eines Menschen mit sich selbst und mit andern hervorbrächten.“245
D.h.: Da unsere blinden Triebe aus sinnlichen Bedürfnissen der Natur, die, solange wir bloß den letzteren unterworfen sind, uns nur „auf bloßes Glück bald hier,
bald dahin“ treiben, „sich gewöhnlichermaßen widerstreiten“: so müssen „allgemeine Regeln“, nach denen „die Bestre- bungen zu unserer Glückseligkeit“ nach
Ordnung und Übereinstimmung reguliert werden können, in bezug auf die uns so
herumschleppenden Antriebe „unparteiisch“ und somit „abgesondert von aller Neigung“ bloß durch reine praktische Vernunft und mithin durch den reinen Willen,
der deren Kausalität ist, entworfen werden; als solche müssen sie „für alle Handlungen und für alle Menschen“ allgemeingültig sein und dadurch „die größte Harmonie eines Menschen mit sich selbst und mit andern“ hervorbringen, um den
Widerstreit durch sinnliche Bewegursachen aus der zufälligen Empirie der sinnlichen Natur zu vermeiden und somit die wahre, beständige Glückseligkeit erlangen
zu können. Die „größte Harmonie eines Menschen mit sich selbst und mit andern“, d.i. die Zusammenstimmung der Freiheit, die das Wesen der menschlichen
Handlung ausmacht, mit sich selbst, welche auch diejenige mit der Freiheit anderer involvieren kann, muß durch die allgemeinen Regeln der Vernunft doch deshalb
gegründet werden, weil dadurch der Zweck der allgemeinen Glückseligkeit überhaupt, ohne im Widerstreit „auf bloßes Glück bald hier, bald dahin“ getrieben zu
werden, wesentlich angestrebt werden kann. Denn die Glückseligkeit überhaupt als
Inbegriff aller Zwecke ist für alle Menschen gemeingültig. Wenn daher sein freier Wille mit Zwecken der allgemeinen Glückseligkeit zusammenstimmt, so heißt
das, daß er eigentlich mit sich selbst übereinstimmt. Bei der Abzielung nämlich auf
Zwecke der allgemeinen Glückseligkeit handelt es sich demnach um die Zusammenstimmung des freien Willens mit sich selbst, in deren Einheit auch allgemeine
Regeln der Vernunft anzutreffen sind. Auf dieser Übereinstimmung des freien Willens mit den „wesentlichen Zwecken“ des Menschen beruht nun auch die Bonität.
So wird in einer anderen Reflexion aus derselben Periode festgestellt:
„Man kann annehmen, daß der Mensch die Zwecke alle wolle, dazu seine Natur
abzielt, und daß diese Abzielung selber nicht der Zweck eines Fremden sei, mit
welchem sein Wille übereinstimmt, sondern sein eigener Zweck sei; wenn denn
sein Wille mit diesen Zwecken zusammenstimmt, so stimmt er eigentlich mit sich
selbst. Es ist aber objektiv notwendig, dasjenige zu wollen, was man will; folglich
ist die Übereinstimmung seines Willens mit seinen wesentlichen Zwecken gut.“246
Daß diese Abzielung der eigene Zweck des freien, guten Willens ist, bedeutet
die moralische Zwecksetzung aus der Autonomie des Willens. Die Formulierung:
Wenn der freie Wille mit den wesentlichen Zwecken der allgemeinen Glückseligkeit zusammenstimmt, so stimmt er eigentlich mit sich selbst, heißt auch: Wenn er
schon mit sich zusammenstimmt, ist er auch fähig, auch mit ihnen zusammenstimmen; und dies besagt wiederum, die Zusammenstimmung desselben mit sich selbst
245
246
Refl. 6621, XIX 114f, κ–λ? (1769–70?).
Refl. 679, XV 301, κ–λ (1769–1770).
79
nach allgemeinen Gesetzen stehe im weiteren Zusammenhang mit der Zwecksetzung desselben, dem Ausgerichtetsein auf die wesentlichen Zwecke der allgemeinen Glückseligkeit. Die Zusammenstimmung mit sich selbst und diejenige mit den
wesentlichen Zwecken erfolgen zusammen. Der Zusammenhang aber antizipiert in
diesem Zitat doch einen vollkommen zweckmäßigen Hintergrund. Beide erwähnten Reflexionen aus der Periode κ–λ (1769–70) zeigen an, daß die Zusammenstimmung mit dem Zweck der allgemeinen sicheren Glückseligkeit diejenige des freien
Willens mit sich selbst und mit den Gesetzen der Vernunft fordert.
2.3 Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst
und die Moralität.
2.3.1 Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst als Rückgang zum Fundament der Ethik (kognitiv-formalistische Grundlegung).
(a) Der Zusammenstimmung mit sich selbst geht der Zwiespalt mit sich selbst
voraus.
Die Zusammenstimmung der Freiheit (arbitrium liberum) mit sich selbst setzt eine ihr vorausgehende Gegebenheit, die Selbstzerspaltenheit (Zwiespalt mit sich
selbst), d.i. Nichtidentifizierbarkeit derselben mit sich selbst, voraus, die sich daraus ergibt, daß die Freiheit als freie Willkür unter dem Prinzip der Selbstliebe durch
Bewegursachen der sinnlichen Natur (Antriebe) nur herumgetrieben wird und sich
infolgedessen widerstreiten muß. Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich
selbst hingegen führt zur Selbstidentität.
(b) Die Zusammenstimmung kann nicht aus der sinnlichen Natur zustandegebracht werden.
Sinnliche Natur kann der freien Willkür nur zufällige, empirische Bewegursachen
und Zwecke geben, die die Willkür mit sich selbst in Widerstreit bringen. „Die empirischen Gründe unserer Wahl haben keine Gewißheit, weil sie keine allgemeine
Richtschnur haben und also untereinander Widersprüche geben können.“247 „Die
blinde Natur aber hat keine sichere Übereinstimmung.“248 Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst kann demnach nicht aus der sinnlichen Natur,
aber auch nicht aus einer gegenständlichen Zweckmäßigkeit derselben deduziert
werden (im Gegenteil: Sie entwirft selbst eine eigene Teleologie aus der Freiheit),
sondern liegt in der übersinnlichen Natur begründet.
247
248
(247) Refl. 7027, XIX 230, υ? µ? ρ? (1776–78? 1770–71? 1773–75?).
Refl. 6913, XIX 204, υ? κ? (1776–78? 1769?).
80
(c) Der Widerstreit mit sich selbst wird durch die empirisch bedingte Vernunft
verursacht.
Indessen beruht die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst auch nicht auf
der empirisch bedingten Vernunft unter dem hypothetischen Imperativ. Da nämlich
das humanum arbitrium sensitivum vom arbitrium brutum der Art nach unterschieden ist,249 so entsteht der Widerstreit bei einem endlichen Vernunftwesen, dem
es eignet, nicht durch den Instinkt, sondern eben durch die empirisch bedingte
Vernunft. „Wir sind durch die Vernunft, wenn sie bloß den Dienst der Sinne versieht, nämlich ihre Forderungen auszuführen, in einen größeren Widerspruch mit
uns selbst und mit andern gesetzt als selbst die Tiere, die durch Instinkt regiert
werden, der mit den Bedürfnissen derselben einstimmig ist, antatt daß Vernunft
sich gewisse Objekte wählt und nicht nach der Summe der Empfindungen, sondern nach dem durch willkürliche Phantasie erhöhten Wahne.“250 Das Zitat will
sagen: Die empirische Bedingtheit der Vernunft bringt dem menschlichen Willen
im Grunde nicht die Zusammenstimmung, demnach Einheit und Konsistenz, sondern vielmehr durch ihren „Wahn“ einen größeren Widerstreit als bei den Tieren,
die durch Instinkt regiert werden, wo man doch von der Vernunft im Gegenteil
das Vermögen der Einheit und Allgemeinheit erwartet. Denn Reflexionen der Vernunft bzw. des Verstandes mischen sich dergestalt unter die Triebfedern ein, daß,
während „der Instinkt, wo er allein herrscht, Regeln (ebenso auch der Verstand,
wenn er allein herrscht) hat, der Verstand aber, der sich selbst nicht Regeln vorschreibt, wenn er den Mangel des Instinkts ausfüllt, alles unregelmäßig macht.“251
Die Regelmäßigkeit ist hier streng gedacht; damit ist beinahe absolute Allgemeinheit und Notwendigkeit gemeint. Die Unregelmäßigkeit hingegen wird aus der von
empirischen – der Willkür nie notwendige und konstante Entscheidungskriterien
verleihenden – Empfindungen (Lust und Unlust) abhängigen Verwendung der Vernunft252 als des Beurteilungsvermögens der Mittel-Zweck-Verhältnisse unter dem
hypothetischen Imperativ, genauer unter den Klugheitsregeln (pragmatische Imprerative) für die sinnliche Glückseligkeit, die auf jenen empirischen Empfindungen
Vgl. dazu z.B. Refl. 1029, XV 461 υ? (1776–78?). Cf. 1.2.3.f.
Refl. 6958, XIX 213f, υ? (1776–78?).
251
Refl. 6859, XIX 182, ϕ? ψ? (1776–78? 1780–89?). Aus diesem Konzept eines Vorzugs des Instinkts gegenüber der empirisch bedingten Vernunft hinsichtlich der Regelmäßigkeit der Willkürbestimmung in der sinnlichen Natur entwickelt sich bei Kant auch unter dem Einfluß Rousseaus die
pessimistische Ansicht über die überwiegend auf dieser Vernunft aufgebaute menschliche Zivilisation, in der nun aber die Reinheit der praktischen Vernunft zurückgeholt und mithin bei jedem Menschen ein Charakter gegründet werden soll, d.h. das Rückgangsmotiv der kognitiv-formalistischen
Phase erfordert wird. Vgl. dazu GMS, IV 395f <B4–6>: „... alle Handlungen, die es [sc. das Vernunftwesen] in dieser Absicht [sc. seiner Erhaltung und seines Wohlergehens] auszuüben hat, und
die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet und jener
Zweck [würde] weit sicherer dadurch haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft
geschehen kann, ... In der Tat finden wir auch, daß ... eine gewisser Grad von Misologie, d.i. Haß der
Vernunft, entspringt,“ etc. Vgl. hierzu auch KpV, V 61f <A107f>.
252
Zur empirisch bedingten praktischen Vernunft als Beurteilungsvermögen für das Verhältnis von
Mitteln zu Zwecken vgl. z.B. KpV, V 58 Z31 – 59 Z11 <A103f>(cf. 1.2.4).
249
250
81
beruht und durch die Naturkausalität der sinnlichen Natur zufällig eingebracht werden kann, generiert und macht die Willkürbestimmung nur ungenau, unsicher und
mühselig, so daß „ich keinen sicheren Grund habe, auf mich selbst zu rechnen“.253
Der Widerstreit der Freiheit mit sich selbst wird nicht unmittelbar durch sinnliche
Empfindungen allein (cf. 3.3.2.a), sondern durch die Einmischung der empirisch
bedingten Vernunft in dieselben unter dem Prinzip der Selbstliebe verursacht. Cf.
1.2.4.
(d) Die Zusammenstimmung mit sich selbst als Rückgang zum Fundament
der Ethik.
Von diesem Widerstreit mit sich selbst durch die empirisch bedingte Vernunft ist
nun die freie Willkür, mithin auch das menschliche Herz überhaupt, durch Zusammenstimmung mit sich selbst zu befreien, die ihr absolute Selbstidentität und
Sicherheit, demnach auch innere Ruhe, verschaffen kann (cf. 1.2.2.d). Im Konzept einer Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst als mit den Gesetzen
hält sich von vornherein die Rückgangsproblematik (der Rückgang zum Fundament der Ethik) der kognitiv-formalistischen Phase versteckt. „Das erste, was der
Mensch tun muß, ist, daß er die Freiheit unter Gesetze der Einheit bringt; denn
ohne dieses ist sein Tun und Lassen lauter Verwirrung.“254 „Der auf kein Objekt
eingeschränkte, mithin reine Wille muß [sc. darf] zuerst sich selbst nicht widerstreiten, und die Freiheit als die dynamische Bedingung der intellektuellen Welt
und ihres commercii muß Einheit haben.“255 „Die Freiheit nach Prinzipien empirischer Zwecke hat keine durchgängige Einstimmung mit sich selbst; ich kann
mir daraus nichts Zuverlässiges in Ansehung meiner selbst vorstellen. Es ist keine
Einheit meines Willens. Daher sind restringierende Bedingungen des Gebrauchs
derselben absolut notwendig. Moralität aus dem principio der Einheit.“256 Bei dieser Einheit ist von der formalen bzw. „transzendentalen Einheit im Gebrauch der
Freiheit“, d.i. der „Identität meines Wollens“ die Rede. Das ,principium der Einheit‘ bedeutet demnach durchgängige Einstimmung mit sich selbst. Die Befreiung
vom durch empirische Zwecke verursachten Widerstreit fordert die Zusammenstimmung mit einer intelligiblen Ordnung nach den Gesetzen als den restringierenden Bedingungen. Dadurch geht die Vernunft auf die Unabhängigkeit von empirischen Bestimmungsgründen des Willens zurück. Bei der Zusammenstimmung als
Befreiung handelt es sich darum, Gebundenheit zugunsten der Freiheit aufzulösen.
„Alle Moralität ist die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst. Z. E. wer
da lügt, stimmt nicht mit seiner Freiheit überein, weil er durch die Lüge gebunden
ist.“257 Gebunden ist die Freiheit an empirische Bestimmungsgründe der Willkür
unter dem Prinzip der Selbstliebe. Die Zusammenstimmung mit sich selbst verRefl. 7202 (Duisburger Fragment 6), XIX 281, ψ (1780–89).
Refl. 7202, XIX 280.
255
Refl. 6850, XIX 178, υ (1776–78).
256
Refl. 7204, XIX 284.
257
Met.L/1, XXVIII 249f.
253
254
82
schafft ihr die Unabhängigkeit von ihnen, d.i. den Antrieben. So „muß der freie
Wille mit sich selbst in Ansehung der innern und äußern Unabhängigkeit von Antrieben zusammenstimmen.“258 In der Zusammenstimmung mit sich selbst findet
demnach der Rückgang zum Fundament der Ethik statt, in dem die freie Willkür
und mithin die menschliche Vernunft über die empirische Bedingtheit hinausgehen. Legt nun die Vernunft die empirische Bedingtheit ab, d.h. ist sie vom Prinzip
der Selbstliebe unabhängig, so heißt sie reine praktische Vernunft; diese kann die
Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst zuwegebringen. Der Übergang der
praktischen Vernunft vom ihrer empirischen Bedingtheit zu ihrer Reinheit macht
den Sinn ihrer „Kritik“ aus (cf. 1.2.4).
(e) Der Zusammenstimmung liegt eine intellektuelle Ausdehnung zugrunde,
die als ein intelligibles Gefüge aufgefaßt wird.
Die Zusammenstimmung von Etwas A(0) mit einem zunächst diesem A(0) fremden
Etwas A(1) , welche darauf abzielt, A(0) als mit A(1) ursprünglich identisch herauszustellen, antizipiert als ihre Grundlage eine schon vorgegebene, ihnen gemeinsame,
innere Ordnung der Identität, die der Selbstzerspaltenheit von A noch verborgen
ist. Diese innere Identitätsordnung aber, die der Zusammenstimmung der Freiheit
mit sich selbst zugrundeliegt und die ihr Beständigkeit und Zuverlässigkeit verheißt, kann, wenn sie nicht aus einem sinnlichen Zusammenhang hergenommen
werden kann (cf. 2.3.1.b), nichts anderes sein als eine intellektuelle, dem Zerspaltenen zunächst fremde, aber im Grunde auch ihm zugehörige gemeinsame Ausdehnung, ja eine objektiv-gültige Geisteslage der freien Willkür. Diese intellektuelle
Ausdehnung wird allerdings von Kant ohne weiteres als Idee eines intelligiblen
Gefüges, einer systematischen Einheit aller Zwecke, aufgefaßt. Auf diese Idee hin
kann die reine Vernunft als das Grundvermögen der Einstimmung in der systematischen Einheit der Zwecke, demnach auch als das Vermögen der Einheit und Allgemeinheit in der Praxis, nämlich als „die oberste Kraft“, die „sich selbst“ sowenig
„widerstreitet“ wie „im logischen“ Gebrauche,259 allgemeine Gesetze als Bedingungen der Zusammenstimmung mit sich selbst schaffen, da die Freiheit sonst in
einer empirischen Ordnung bloß sich selbst widerstreiten müßte, die durch die von
der reinen Vernunft zu unterscheidende sinnliche Rezeptivität bedingt ist.
(f) Die Zusammenstimmung mit sich selbst ist mit der Gesetzgebung der Vernunft möglich.
Die Befreiung vom Widerstreit erfordert die Regelmäßigkeit in der freien Willkür, d.h. die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit, welche nur dadurch möglich ist, daß die Vernunft die Freiheit unter Bedingungen stellt, die sie mit sich
selbst einstimmig machen. „Freiheit also vom Instinkt erfordert Regelmäßigkeit
im praktischen Gebrauch des Verstandes. Wir stellen uns also die Regelmäßigkeit
258
259
Refl. 6961, XIX 215, υ? (1776–78?).
Refl. 6853, XIX 179, υ? χ? (1776–78? 1778–79?).
83
und Einheit im Gebrauch unserer Willkür bloß dadurch als möglich vor, daß unser
Verstand solche [sc. unsere Willkür] an Bedingungen knüpfe, welche sie mit sich
selbst einstimmig machen.“260 „[E]s wird a priori ein Gesetz als notwendig erkannt
werden müssen, nach welchem die Freiheit auf die Bedingungen restringiert wird,
unter denen der Wille mit sich selbst zusammenstimmt.“261 Dieses Prinzip der Zusammenstimmung mit sich selbst auf die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit
hin ist „das principium a priori der allgemeinen Einstimmung mit sich selbst“262 .
Dabei können die „Gesetze der Einstimmung der Willkür mit sich selbst“ „nur aus
der Vernunft kommen“,263 „welche allein praktische Einheit des Willens“, d.i. die
formale Einheit im Gebrauch der Freiheit, „nach Prinzipien festsetzen kann.“264
Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst antizipiert also die die
Freiheit (die freie Willkür) zur Einheit bringende Gesetzgebung der Vernunft, wobei die Übereinstimmung der Willensbestimmung die Befreiung vom Widerstreit,
demnach Sicherheit, Beständigkeit und Zuverlässigkeit verleiht. „Die reine ... Vernunft hat in Ansehung der Freiheit überhaupt gesetzgebende Gewalt“. Es würde
daher umgekehrt „ohne Bedingungen der allgemeinen Einstimmung“ des freien
Menschen „mit sich selbst in Ansehung seiner selbst und anderer gar kein Gebrauch der Vernunft in Ansehung ihrer [sc. der Freiheit] stattfinden“.265 Das „principium der allgemeinen Einstimmung derselben [sc. der Freiheit] mit sich selbst“
ist kein anderes als das „principium der allgemeinen praktischen Gesetzgebung der
reinen Vernunft in Ansehung der Freiheit überhaupt“.266 Die Reinheit der Vernunft,
die Gesetze gibt, d.i. ihre Abgesondertheit von allen sinnlichen Triebfedern, fügt
sich mit der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst zusammen, und diese Zusammenfügung gelangt zu jener inneren Identitätsordnung, die der Willkür
Sicherheit, Beständigkeit und Zuverlässigkeit zuträgt. (Cf. 2.3.2.)
(g) Die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit.
Die so von der reinen Vernunft geformte innere Identitätsordnung, die objektiv zur
Idee einer intelligiblen Welt führt, ist subjektiv die formale bzw. transzendentale Einheit im Gebrauch der Freiheit, die „Identität meines Wollens“. Da sie mit
Prinzipien a priori (allgemeinen Gesetzen) konstituiert wird, sagt Kant: „Ich kann
nur, wenn ich nach Prinzipien a priori handle, immer eben derselbe in der Art
meiner Zwecke sein, innerlich und äußerlich. Empirische Bedingungen machen
260
Refl. 6859, XIX 182. „Unsere Willkür“ ist hier als arbitrium liberum mit jener „Freiheit“ im
Ausdruck „die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst“ bzw. „die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit“ identisch, die nicht transzendental, sondern eben noch praktisch ist.
261
Refl. 7202 (Duisburger Fragment 6), XIX 281, ψ. Vgl. auch den oben zitierten Satz aus Refl. 7204: „Dabei sind restringierende Bedingungen des Gebrauchs derselben absolut notwendig.“
262
Refl. 7204, XIX 284.
263
Refl. 6859, XIX 182.
264
Refl. 7202, XIX 281.
265
Refl. 6853, XIX 179.
266
Refl. 6864, XIX 184, υ (1776–78).
84
Verschiedenheiten.“267 Nach den allgemeinen Gesetzen stimmt der freie Wille mit
sich selbst im Hinblick auf eine formale Einheit zusammen. Aus der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst entsteht die formale bzw. transzendentale
Einheit im Gebrauch der Freiheit als die Identiät des reinen Wollens. Die moralische Gesetzlichkeit liegt subjektiv in dieser Selbstidentität der Freiheit. Die intellektuelle Ausdehnung, die dem Aktus der Zusammenstimmung der Freiheit mit
sich selbst zugrundeliegt, stellt sich als diese Identität des Wollens heraus. Von der
Vernunft her betrachtet, beruht das Interesse der freien Willkür am Grundaktus der
Zusammenstimmung mit sich selbst als mit den Gesetzen auf der Selbsterhaltung
der formalen Selbstidentität der reinen Vernunft, die den Widerstreit mit sich selbst
ausschließt.
(h) Zwei Gedankenzüge der Zusammenstimmung mit sich selbst: die Befreiung von der Gebundenheit und die Willensidentität nach Gesetzen aus Freiheit.
Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst hat daher die zweifache Bedeutung: (1) Befreiung von der Gebundenheit an die empirischen Bestimmungsgründe des Willens und an das Prinzip der Selbstliebe, d.i. an das der sinnlichen
Glückseligkeit und (2) Zusammenstimmung nach allgemeinen Gesetzen – als Bedingungen einer intelligiblen Welt – auf die formale Einheit hin. In ihr sind der
Übergang von der empirischen Bedingtheit zu Freiheit und Gesetzen und zugleich
der Übergang von der Freiheit zu Gesetzen und Zwecken in der intelligiblen Ordnung mit impliziert. Zu ihrem Begriff nämlich gehören der Gedankenzug der Befreiung von der Gebundenheit und der Gedankenzug der Genese der Willensidentität nach Gesetzen aus dieser Befreiung zugleich. Beim ersteren aber ist zu beachten: „Die Unabhängigkeit der Freiheit von der Sinnlichkeit setzt eine Abhängigkeit derselben von der allgemeinen Bedingung, mit sich selbst zu stimmen, voraus.“268 Moralisches Gesetz als „das erste Sollen“ (Faktum der Vernunft) ist die
Bedingung, unter der sich negative Freiheit (Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit)
durch die Zusammenstimmung mit sich selbst im zweiten Zug mit ihrer formalen
Einheit identifizieren (positive Freiheit) und dadurch mit der Einheit aller Zwecke
(der intelligiblen Welt) verknüpfen kann. Bei Kant setzt die negative Freiheit essentiell das Gesetz voraus. Der Kantische Rückgang auf das Fundament der Ethik
(kognitiv-formalistische Grundlegung) ist nur möglich, wenn bereits essentiell eine
intelligible Ordnung und ihre Gesetze vorausgesetzt sind. In der Zusammenstimmung mit sich selbst findet also ein faktischer Sprung in die intelligible Ordnung
und ihre Gesetze statt, der unter dem Aspekt der beiden Gedankenzüge in Betracht
gezogen werden kann.
267
Refl. 7204, XIX 283. Cf. das Zitat im Haupttext, auf das sich Fußnote 241 in 2.2.2 bezieht. Die
formale Einheit im Gebrauch der Freiheit kann sich in der KpV auf die „Form eines reinen Willens“
in der Vernunft (KpV, V 66 <A116>) beziehen.
268
Refl. 6850, XIX 178.
85
(i) Die Faktizität des moralischen Grundphänomens in den „Reflexionen“.
Kant scheint diesen Sprung in die intelligible Ordnung spätestens in der ersten
Hälfte der sechziger Jahre vollzogen zu haben. Danach ist ihm im Bereich der
praktischen Philosophie nur die Aufgabe geblieben, transzendentale Zusammenhänge zwischen dem Willen und dieser Ordnung, d.h. zwischen Freiheit, Gesetzen
und Zwecken, systematisch und architektonisch zu theoretisieren. Er hat sie mit
Hilfe eines Begriffs der Vollkommenheit, nämlich desjenigen der Zusammenstimmung mit der Idee eines Grundes, durchgeführt. Das Ergebnis dieses Versuches ist
in den späten Veröffentlichungen präsentiert, wobei das Wort Zusammenstimmung
wie eine Reminiszenz, aber in der Tat mit der Wichtigkeit einer unscheinbaren
Selbstverständlichkeit auftritt.
Es ist nun an mehreren Stellen der Reflexionen ersichtlich, daß für Kant das
aus Freiheit, Gesetzen (Vernunft) und Zwecken zusammengesetzte Grundphänomen der Moralität, das sich aus jenem Sprung ergibt und das, mit den Worten des
späteren Werkes, das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft ist, wozu Gesetz und positive Freiheit gehören,269 auch schon in den Reflexionen der
siebziger und achtziger Jahre Faktum der Ethik war, das nicht weiter hinterfragt
werden kann. Z.B. sagt er: „Woher aber dieser Gebrauch des Verstandes“, d.h. der
praktische Gebrauch der Vernunft, die Willkür an die Gesetze der Übereinstimmung derselben mit sich selbst (an die moralischen Gesetzen) zu knüpfen, „wirklich werde, ..., ist keine praktische Frage“, d.h. keine Frage für die Praxis, also ein
praktisches Faktum. „Genug: Gesetze der Einstimmung der Willkür mit sich selbst,
..., haben allein diese Wirkung“.270 Ohne die Überzeugung von der Faktizität des
moralisch-praktischen Gebrauchs der Vernunft aus der Spontaneität derselben hätte auch die Dritte Antinomie der KrV nicht konzipiert werden können. „Daß der
Verstand durch objektive Gesetze den Einfluß einer wirkenden Ursache auf Erscheinungen habe, ist das paradoxon, welches Natur (Summe der Erscheinungen)
und Freiheit unterschieden macht, indem unsere Handlungen nicht durch Naturursachen (als bloße Erscheinungen) bestimmt sind. Die Selbsttätigkeit des Verstandes
ist eine andere Gattung von Ursachen.“271 Oder er sagt auch kurz und knapp: „Das
erste Sollen (ursprünglich = absolute oder die allgemeine Idee der Pflicht) ist nicht
zu begreifen“,272 d.h. die exekutive Auswirkung der moralischen Gesetzlichkeit
auf den menschlichen Willen ist nicht hinterfragbar, sondern Faktum für die Praxis
(cf. 1.2.0.c, 1.3).
Vgl. dazu z.B. KpV, V 29 Z24–28 <A52>. Cf. 1.3.
Refl. 6859, XIX 182.
271
Loc.cit.
272
Refl. 6849, XIX 178, υ (1776–78).
269
270
86
2.3.2 Die Zusammenstimmung mit sich selbst und das principium diiudicationis moralis.
Auf die formale, transzendentale Einheit des Willens im Freiheitsgebrauch gründet
sich die vom Empirischen nicht bedingte moralische Bonität. Diese kann demnach
„nur durch Vernunft erkannt werden und betrifft nur die Form der Freiheit“, d.i.
die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit, „nämlich ihre durchgängige Zusammenstimmung mit sich selbst“.273 Sie beruht also auf der letzteren, nämlich der
Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst.
Die Bedingungen dieser Zusammenstimmung, d.i. die, unter denen allein die
Freiheit mit sich selbst zusammenstimmen kann, bzw. die Bedingungen der allgemeinen Einstimmung derselben mit sich selbst274 – die durch Abstrahieren von
aller Neigung übriggelassen werden – sind z.B. wie folgt konkretisiert: „1. daß
der Gebrauch derselben mit der Bestimmung seiner eigenen Natur, 2. mit andrer
Zwecken, sofern sie im Ganzen harmonieren, 3. mit anderer Freiheit überhaupt unter einer allgemeingültigen Bedingung zusammenstimme.“275 Dementsprechend
werden nun bei reiner Vernunft Gesetze angenommen, die solche konkreten Bedingungen der Zusammenstimmung enthalten; sie sind als Gesetze der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst schlechthin „Gesetze der Freiheit überhaupt“, „Bedingungen der Einheit im Gebrauche der Freiheit überhaupt“.276 Diese
„Vernunftgesetze“ haben „absolute praktische Notwendigkeit“ („Das Gesetz aber
bestimmt unbedingt die Freiheit.“)277 , die ohne jene Grundfunktion der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst nicht bestehen könnte. Solche sind moralische Gesetze. Die Rezeption der moralischen Gesetzlichkeit durch Freiheit und
ihre Zusammenstimmung mit sich selbst finden also zusammen statt.
Dabei ist die Freiheit durch ihre Zusammenstimmung mit sich selbst „sich
selbst ein Gesetz“. „Die Moralität ist die innere Gesetzmäßigkeit der Freiheit, sofern sie nämlich sich selbst ein Gesetz ist.“278 Woher kommt es aber, daß die Freiheit sich selbst ein Gesetz ist? Die Antwort, die zwar in den „Reflexionen“ noch
nicht deutlich artikuliert, aber als ein möglicher Gedanke im Begriff vom arbitrium
Refl. 1045, XV 468, ψ1−3 ? (1780–88?).
Der Terminus „Bedingungen“ der Zusammenstimmung findet sich etwa in Refl. 6853, XIX 179
Z24, Refl. 6859, XIX Z12, Refl. 7202, XIX 281 Z18f, Refl. 7250, XIX 294 Z17f usw.
275
Refl. 7197, XIX 270f, ψ? ρ–σ? ϕ–χ? (1780–89? 1773–77? 1776–1779?).
276
Refl. 7063, XIX 240, ϕ (1776–78): „Gesetze der Freiheit überhaupt sind die, welche die Bedingungen enthalten, unter denen es allein möglich ist, daß sie [sc. die Freiheit] mit sich selbst
zusammenstimmt*: Bedingungen der Einheit im Gebrauche der Freiheit überhaupt. Sie sind also
Vernunftgesetze und nicht empirisch oder willkürlich, sondern enthalten absolute praktische Notwendigkeit.“ (* Im Original: zusammenstimmen). Vgl. auch Refl. 6767, XIX 155, ξ? κ? η? (1772?
1769? 1764–68?): „Gesetz ist die Einschränkung der Freiheit durch allgemeine Bedingungen der
Einstimmung derselben mit sich selbst.“ (Die Reflexion, die E. Adickes spätestens in den Anfang
der siebziger Jahre datiert, könnte in die zweite Hälfte derselben Jahre nachverlegt werden.) Vgl.
auch Refl. 7250, XIX 294 Z17f, ψ (1780–89).
277
Refl. 7063, XIX 240.
278
Refl. 7197, XIX 270. Vgl. zum Ausdruck „sich selbst ein Gesetz sein“ auch Refl. 6854, XIX 180
Z24. Er kommt aus der Bibel (Röm 2, 14).
273
274
87
liberum verborgen ist, lautet: Aus der negativen Freiheit. Diese stellt sich sodann
in der Phase des Aufsteigens aus ihr als reine Spontaneität heraus und vollzieht als
solche die Zusammenstimmung mit sich selbst, die somit auf die Zusammenstimmung mit den Gesetzen hinausläuft, d.h. darauf, daß die Freiheit (der freie Wille)
sich selbst ein Gesetz sei. Diese Formel der Freiheit, sie sei sich selbst ein Gesetz,
bedeutet nun aber in der GMS nichts anderes als die Autonomie des Willens.279
Aus dieser kann auch die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der
Sittlichkeit abgeleitet werden.280 Das moralische Gesetz basiert also auf der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst, die sich in der Formel, „diese sei
sich selbst Gesetz“, artikuliert.
In der GMS jedoch geht die Argumentation von der Voraussetzung aus, daß die
Freiheit wohl nicht gesetzlos, aber doch als negative unabhängig von der Naturkausalität sei. Diese Unabhängigkeit führt zum Begriff einer Verstandeswelt, d.i.
zu einem anderen Standpunkt außer der Sinnenwelt, dessen essentielle Determinierungen aber offen bleiben (cf. 1.4.b, 2.8). Mit der Idee der Zusammenstimmung
der Freiheit mit sich selbst, mit den Gesetzen und mit den Zwecken in den „Reflexionen“ werden aber eben diese Determinierungen, somit der Hintergrund dieser
Voraussetzung der Nichtgesetzlosigkeit der Freiheit, erörtert (cf. 3.1.2). Für die Annahme nämlich einer intelligiblen Welt wird die Zusammenstimmung der Freiheit
mit wesentlichen Zwecken erfordert, die zum Inbegriff der Zusammenstimmung
der Freiheit mit sich selbst gehört.
Moralisches Gesetz kann sich also ohne die Zusammenstimmung der Freiheit
mit sich selbst nicht mit Freiheit verbinden (cf. 2.3.1.f).
Die Moralität bzw. Sittlichkeit – die Bonität des guten Willens – beruht daher auf der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst, dem konsistenten
Rationalismus der Freiheit, nach dem das Vernunfturteil, sei es Billigung, sei es
Mißbilligung, apodiktisch gebildet wird: „Das System [der Sittlichkeit] ist also ein
rationales System der mit sich selbst allgemein einstimmigen Freiheit“, die „ohne
Regel als allgemeine Befugnis genommen sich selbst“281 widerstreiten würde.
Von dieser Verankerung der Moralität in der Zusammenstimmung der Freiheit
mit sich selbst (d.i. in der Formel, die Freiheit sei sich selbst ein Gesetz), die sich
auf die formale Einheit im Freiheitsgebrauch gründet, wird, wenn von der intelligiblen Ordnung, worauf die formale Einheit im Freiheitsgebrauch essentiell beruht,
abstrahiert und abgesehen wird, der dijudikative282 Maßstab der allgemeinen WiVgl. dazu GMS, IV 447 <B98>: „... Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein
Gesetz zu sein“.
280
Vgl. GMS, IV 447 <B98>: „Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein
Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst
auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des
kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter
sittlichen Gesetzen einerlei.“
281
Refl. 7217, XIX 288, ψ? ϕ ? (1780–89? 1776–78?).
282
Vgl. zu Dijudikation (Beurteilung) und Exekution (Ausübung) bzw. principium diiudicationis
sive executionis Ethik Menzer, S. 44: „VOM OBERSTEN PRINCIPIO DER MORALITAET / Wir
haben hier zuerst auf zwei Stück zu sehen: auf das Principium der Dijudikation der Verbindlichkeit
279
88
derspruchslosigkeit bzw. des Nicht-Widerstreitens für die Moralität (cf. 2.3.1.c–f)
abgeleitet, der etwa so formuliert wird: „Die Handlung, deren Intention, als allgemeine Regel betrachtet, sich selbst und andrer ihrer notwendig widerstreiten würde, ist moralisch unmöglich.“283 Er ist das logische Konsistenzprinzip der Moralität, das aus der Einheit und Allgemeinheit des reinen sittlichen Denkens besteht.
Das dijudikative Moralprinzip des Nicht-Widerstreitens in den „Reflexionen“ tritt
auch in den späteren Druckschriften auf. Der GMS zufolge besteht die Bonität des
guten Willens im Nicht-Widerstreiten: „Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht
böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann.“284 Der kategorische Imperativ als dijudikatives Prinzip läßt sich aus diesem Prinzip des Nicht-Widerstreitens,
oder sagen wir, der ,Widerstreitslosigkeit‘, deduzieren.285 Vor allem kann mit dem
letzteren Prinzip vollständig beurteilt werden, ob eine Maxime als engere, unnachlaßliche (vollkommene) Pflicht gilt oder nicht; das Prinzip konstituiert wesentlich
die Pflichten dieser Art wie etwa das Suizidverbot286 und die Wahrhaftigkeit287 .
und auf das Principium der Exekution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das Principium der Dijudikation und Triebfeder der
Ausübung der Verbindlichkeit, ... Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht?, so ist das das
Principium der Dijudikation, nach welchem ich die Bonität der Handlung beurteile. Wenn aber die
Frage ist: was bewegt mich, diesen Gesetzen gemäß zu leben, so ist das das Principium der Triebfeder. Die Billigkeit der Handlung ist der objektive Grund, aber noch nicht der subjektive Grund“;
Refl. 7097, XIX 248, υ? (1776–78?): „Die moralischen Gesetze haben an sich selbst keine vim obligatoriam, sondern enthalten nur die Norm. Sie enthalten die objektiven Bedingungen der Beurteilung,
aber nicht die subjektiven der Ausübung. Die letzten bestehen in der Übereinstimmung mit unserem
Verlangen zur Glückseligkeit.“ Vgl. auch Refl. 6608 (praktische Philosophie und Dijudikation vs.
Exekution), Refl. 6619 (Exekution und Dijudikation mit Bezug auf Epikur und Zeno), Refl. 6628
(principia prima diiudicationis moralis und vis movens), Refl. 6631 (Beurteilung und Triebfeder),
Refl. 6717 (principia diiudicandi et imputandi), Refl. 6760 (Das principium der moralischen Dijudikation ist ... Vernunft), Refl. 6864 (1. das principium des moralischen Urteils, 2. der Grund des
moralischen Gefühls, 3. die Triebfeder des moralischen Verhaltens), Refl. 6915 (Dijudikation und
Exekution), Refl. 6988 (Beurteilung und Ausübung), KrV, III 527 Z18–20 <B840>(Beurteilung nach
Ideen und Befolgung nach Maximen).
283
Refl. 6765, XIX 154f, ξ? ϕ? (1772? 1776–78?). Das Prinzip der Zusammenstimmung mit sich
selbst im Sinne des Nicht-Widerstreitens wird in den Druckschriften auch für die Unterscheidung
des praktischen Gesetzes von der Maxime verwendet. Vgl. dazu KpV, V 19 Z19–23 <A36>.
284
GMS, IV 437 <B81>.
285
Vgl. die eben zitierte Stelle: „Dieses Prinzip [des Nicht-Widerstreitens einer Maxime des guten
Willens] ist also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wollen kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein
Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ ist kategorisch.“
Vgl. auch Fried. i.d.Ph., VIII 421 Z3.
286
Vgl. GMS, IV 422 <B53f>: „Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre,
durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das
Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin
jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden könne und folglich dem obersten
Prinzip aller Pflicht gänzlich widerstreite.“ Die teleologische Interpretation der engeren, unnachlaßlichen Pflichten durch H. J. Paton ist von M. Fleischer korrigiert worden. Vgl. hierzu M. Fleischer,
Die Formeln des kategorischen Imperativs in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in:
Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 46, 1964, S. 210f.
287
Vgl. GMS, IV 403 <B19>: „... denn nach einem solchen [allgemeinen Gesetz zu lügen] würde
89
Dieser negative Maßstab der Moralität wird auch als das „regulative Prinzip der
Freiheit“ bezeichnet; er kann zwar etwa zum Zweck der allgemeinen Glückseligkeit (Menschenliebe) nur regulativ und formal dienen, aber, als regulatives Prinzip,
doch für sich alleine die engeren, unnachlaßlichen Pflichten beurteilen und konstituieren. Wenn aber der Maßstab des Nicht-Widerstreitens bzw. der ,Widerstreitslosigkeit‘ sich erweitert und sich mit der Intentionalität auf den Zweck der Glückseligkeit verbindet, so heißt das erweiterte Prinzip der Freiheit „das konstitutive“,288
(das in sich auch das Nicht-Widerstreiten bzw. die ,Widerstreitslosigkeit‘ als regulatives Prinzip enthält,) weil es sich auf die empirische Dimension erstreckt, um
darin etwas in bezug auf das Empirische praktisch zu konstituieren. Die Förderung
der allgemeinen Glückseligkeit, zu der es sich erweitert, gehört zu den weiteren,
verdienstlichen (unvollkommenen) Pflichten.
Die Moralität (Gesetze der Freiheit), die durch die Zusammenstimmung der
Freiheit als tätigen Prinzips mit sich selbst zustandegebracht wird und somit in der
reinen absoluten Gegenwart Selbstzufriedenheit auslösen kann (cf. 2.4.1, 2.6.3,
3.5.1), d.i. das reine Prinzip der allgemeinen Konsistenz a priori für die Dijudikation, gilt in der Aussicht auf die Glückseligkeit nur regulativ. Über das bloße
dijudikative Moralitätsprinzip des Nicht-Widerstreitens bzw. der ,Widerstreitslosigkeit‘ hinaus erweitert sich der Problembereich der ,moralisch-teleologischen‘
Exekution: Zwecksetzung des endlichen Willens, Triebfeder, moralisches Gefühl,
das höchste Gut und dessen Postulate.
Der negative Maßstab des Nicht-Widerstreitens für die Moralität, der die engeren, unnachlaßlichen Pflichten angeht und die bewegende Kraft zur Ausübung derselben hat und der das principium diiudicationis moralis ausmacht, determiniert für
sich alleine keinen Zweck; er dient aber als Form aller moralischen Beurteilungen
auch denjenigen, die auf Zwecke bezogen sind.289 Die umfassende Bedingung der
Beurteilung für die weiteren, verdienstlichen Pflichten, die auf dem notwendigen
Bezug des endlichen Willens zu Zwecken beruhen, ist die Zusammenstimmung der
Freiheit mit den wesentlichen Zwecken, in die auch die Zusammenstimmung mit
den Gesetzen, woraus der Maßstab des Nicht-Widerstreitens als Moralitätsprinzip
es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil ... meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse“; IV 422 <B54f>: „Da sehe ich nun sogleich, daß
sie [sc. meine Maxime, im Notfall etwas versprechen zu können, ohne den Vorsatz, es einzuhalten]
niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern
sich notwendig widersprechen müsse“; KpV, V 27 <A49>: „Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, [daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand
beweisen kann,] als Gesetz, sich selbst vernichten würde“. Vgl. auch Ethik Menzer, S. 53.
288
Refl. 7251, XIX 294, ψ (1780–89): „Das regulative Prinzip der Freiheit: daß sie sich nur nicht
widerstreite; das konstitutive: daß sie sich wechselseitig befördere, nämlich den Zweck: die Glückseligkeit.“ Vgl. auch Refl. 7249, XIX 294 Z13–15, ψ (1780–89); Refl. 7202, XIX 279 Z21–25. Vgl.
auch KU, V 453 Z8–16 <B429>. Refl. 7049 (XIX 235, υ 1776–78) formuliert beide Prinzipien
anders.
289
Vgl. dazu Refl. 6633, XIX 120, κ–λ? (1769–70?): „Die obersten Prinzipien diiudicationis moralis sind zwar rational, aber nur principia formalia. Sie determinieren keinen Zweck, sondern nur
die moralische Form jedes Zwecks; daher nach dieser Form in concreto principia prima materialia
vorkommen.“
90
zustandekommt, als ihre erforderliche Bedingung einbezogen ist. Die Beurteilung
der Pflichten dieser Art kann erst in der Ausdehnung des logischen Konsistenzprinzips der Moralität, d.i. der Einheit und Allgemeinheit des reinen sittlichen
Denkens, auf die Zwecke vollzogen werden. Das bedeutet, daß das dijudikative
Moralprinzip des Nicht-Widerstreitens bzw. der ,Widerstreitslosigkeit‘ sich wieder
in die intelligible Ordnung als systematische Einheit der Zwecke einfügt, von der
aus es zustandegekommen ist, indem von ihr abstrahiert und abgesehen worden
ist. Mit dem Prinzip der moralischen Dijudikation können, wenn es auf Zwecke
erweitert wird, auch diese Pflichten beurteilt werden, obwohl es dazu nicht hinreicht. Die Triebfeder zur Handlung nun aus diesen Pflichten findet sich somit nicht
ausschließlich im logischen Konsistenzprinzip, wie es bei den engeren, unnachlaßlichen Pflichten von Suizidverbot und Wahrhaftigkeit der Fall ist, sondern auch
sekundär in den Zwecken (cf. 2.7.2.5).
M.a.W.: Der Verstand als logisches Vermögen enthält in sich wohl das rein intellektuelle Prinzip der Konsistenz als allgemeine Form der Moralität, aber an sich
gar keinen Zweck der Handlung;290 aus dem bloß-logischen Dijudikationsprinzip
des Nicht-Widerstreitens bzw. der ,Widerstreitslosigkeit‘, das sich aus den Reflexionsbegriffen von Einstimmung (Zusammenstimmung) und Widerstreit rekrutiert,
will Kant keinen realen Zweck machen.291 Obwohl der Verstand als Vermögen der
Beurteilung durch ein solches rein intellektuelles Prinzip, solange es rein bleibt,
auch schon eine gewisse bewegende Kraft zur Ausübung der moralischen Handlung hat,292 so ist diese Kraft zur Exekution der weiteren, verdienstlichen Pflichten
doch nicht stark genug,293 weil er als menschlicher Verstand endlich ist.
Der menschliche endliche Verstand ist zur Ausübung seiner Gesetze (dijudika290
Vgl. Ethik Menzer, S. 53: „Der Verstand enthält auch gar nicht den Zweck der Handlung, sondern die Moralität besteht in der allgemeinen Form des Verstandes (die pur intellektuell ist)“.
291
Vgl. dazu Refl. 6916, XIX 206, υ (1776–78): „Der aus bloßen Reflexionsbegriffen die Sittlichkeit ableiten will, der bringt formas substantiales hervor und macht aus dem Allgemeinen der Zusammenstimmung die Realität des Zwecks.“ Zu den Reflexionsbegriffen gehören auch Einstimmung
und Widerstreit. vgl. dazu KrV, III 217 <B320f>, 222 <B328–30>. Cf. 2.2.1.
292
Vgl. Ethik Menzer, S. 54: „Der Verstand nimmt alle Gegenstände auf, die mit dem Gebrauch
seiner Regel übereinstimmen, er widersetzt sich aber alledem, was der Regel zuwider ist. Da nun
die unsittlichen Handlungen wider die Regel sind, indem sie nicht zur allgemeinen Regel können
gemacht werden, so widersetzt sich der Verstand denselben, weil sie wider den Gebrauch seiner Regel laufen, Also steckt doch im Verstande vermöge seiner Natur eine bewegende Kraft“; Refl. 6765,
XIX 154f, ξ? ϕ ? (1772? 1776–78?): „Die treibende Kraft des Verstandes beruht darauf, daß er sich
an sich selbst allen principiis der Handlungen widersetzt, die den Gebrauch der Regeln unmöglich
machen“; Refl. 6920, XIX 207, ϕ (1776–78): „Causae subiective moventes sind elateres. Auch der
Verstand hat elateres, die den motivis intellectualibus recht angemessen sein“. Zur Reinheitserfordernis vgl. Refl. 6898, XIX 200, ϕ (1776–78): „Die bewegende Kraft des sittlichen Begriffs liegt in
dessen Reinigkeit und Unterscheidung von allen anderen Antrieben. Das ursprünglich intellectuale
fällt dadurch nur auf, daß es mit anderen analogischen Bewegungsgründen der Ehre, der Glückseligkeit, der Wechselliebe, der Ruhe des Gemüts verglichen wird und sich in der Vergleichung über alle
erhebt“ (Hierzu vgl. auch GMS, IV 411 Anm. <B33f>; KpV, V 156 <A278f>; etc.).
293
Vgl. Ethik Menzer, S. 54: „Wenn ich durch den Verstand urteile, daß die Handlung sittlich gut
ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe“; S. 55: „Der
Verstand hat keine elateres animi, ob er gleich bewegende Kraft und motiva hat“. Vgl. auch KpV, V
120 Z5–10 <A216>.
91
tive Prinzipien) (1) bei beiden Pflichtentypen in seiner notwendigen Bezogenheit
zur Sinnlichkeit auf die Kooperation mit dem moralischen Gefühl (elater animi)
angewiesen (cf. 2.7.1) und muß sich darüber hinaus (2) bei den weiteren, verdienstlichen Pflichten einen Zweck setzen (cf. 3.1.1.a); für die engeren, unnachlaßlichen
Pflichten ist die Zwecksetzung zwar möglich (Selbstzweck), aber er muß es nicht
notwendig tun. Bei jenem Pflichtentyp muß sich die Zusammenstimmung mit sich
selbst als mit den Gesetzen, die alleine nur dijudikative Moralprinzipien verschaffen kann, mit der Zusammenstimmung mit den Zwecken verbinden. Bei diesem
Pflichtentyp muß sich die reine Vernunft nicht außer sich einen Zweck setzen, sie
hat ihn bereits in sich als Selbstzweck; hier stellt die Zusammenstimmung mit sich
selbst ohne weiteres diejenige mit den Zwecken dar (cf. 3.2.3). Kants Explikation zu Dijudikation und Exekution ist nicht eben durchsichtig, weil er in sie nicht
ausdrücklich die Unterscheidung zwichen den Fällen, in denen die Zwecksetzung
notwendig ist, und solchen, in denen sie nicht unbedingt notwendig ist, – in beiden Fällen ist allerdings zur Exekution ein moralisches Gefühl unentbehrlich –
eingeführt hat. Er stellt sich aber dabei in erster Linie die weiteren, verdienstlichen
Pflichten vor, zu deren Exekution das moralische Gefühl und die Zwecksetzung zugleich benötigt werden. Aus der Verflechtung der beiden Bedingungen miteinander
ergibt sich die Problematik einer Verlagerung der Triebfeder (cf. 2.7.2).
B. Glückseligkeit als Zielvorstellung der Moralität aus Freiheit.
2.4 Drei Arten der Glückseligkeit.
Die Gedankengänge über Glückseligkeit in den „Reflexionen“ bilden die konzeptionelle Grundlage für jene Lehre vom höchsten Gut in den späteren ethischen
Druckschriften, die den Teil der Theorie der moralisch-praktischen Zwecksetzung
des freien Willens ausmacht, und für den Begriff einer moralischen Glückseligkeit
beim Wohlverhalten eines Rechtschaffenen in den späten Jahren.
2.4.1 Zusammenstimmung und Selbstzufriedenheit.
Jede Zusammenstimmung einer Funktion mit sich selbst in einem Menschen verschafft ihm als Rückkehr zu sich selbst gefühlsmäßig, genauer auf dem Gebiet des
Gefühls der Lust und Unlust,294 Zufriedenheit mit sich selbst. Ebenso führt auch
294
Der Begriff einer Zusammenstimmung impliziert sprachlich schon den Bezug auf das Gefühl.
Vielleicht bezeugt MS, VI 376 Z13–22 (der Probierstein des Volkslehrers) diesen sprachlichen Bezug. Die Implikation dürfte wohl auch darin verankert sein, daß der Begriff der Zusammenstimmung
sich wörtlich auf die Stimmung bezieht. Grimms Wörterbuch liefert folgende Beispiele, in denen
das Wort mit dem Gefühl zusammenhängt: „es ist kein schoener musik, dann so der mensch von innen wol zusamen ist gestimpt“ <Seb. Franck, sprüchw. (1545) 1, 54(b)>, „wenn nun die seele in ihr
selbst eine grosze zusammenstimmung ... fühlet“ <Leibnitz, dtsche schr. 1, 423>(Grimm, Deutsches
92
bei der Willensbestimmung die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst
als Selbstbilligung295 der Vernunft im Grundvermögen des Gefühls der Lust und
Unlust Selbstzufriedenheit herbei. Sie ist nun, indem sie auf die formale Einheit
im Gebrauch der Freiheit geht, zugleich die Zusammenstimmung derselben mit
den Gesetzen. Folglich entspringt auch aus der letzteren Zusammenstimmung die
Selbstzufriedenheit. So wird gesagt: Die „Übereinstimmung mit allgemeingültigen Gesetzen der Willkür ist nach der Vernunft ein notwendiger Grund unserer
Selbstbilligung und Zufriedenheit mit uns selbst“.296 Die „Selbstzufriedenheit“ als
„Hauptstuhl von Zufriedenheit“, „ohne welchen keine Glückseligkeit möglich ist“,
muß „in der Freiheit bestehen nach Gesetzen, einer durchgängigen Zusammenstimmung mit sich selbst“.297 Die Einstimmung der Freiheit – demnach die formale
Einheit des freien Willens nach den Gesetzen – ergibt im Bereich des Grundvermögens eines Gefühls der Lust und Unlust unmittelbar die Selbstzufriedenheit. Da
sie die Moralität ausmacht, ist die Selbstzufriedenheit ein mit der Selbstbilligung
der Vernunft eng verbundenes moralisches Gefühl.
2.4.2 Die zweifache Glückseligkeit (Refl. 6907).
Der jetzt eingeführte Begriff der Selbstzufriedenheit bezieht sich wesentlich auf
die Glückseligkeit: „Glückseligkeit ist eigentlich nicht die größte Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewußtsein, seiner Selbstmacht zufrieden zu
sein“.298
Darüber hinaus aber läßt sich Glückseligkeit auch „zwiefach“ auffassen (Refl. 6907): Einmal entspringt sie aus der Übereinstimmung der Freiheit mit den
Gesetzen, sie ist „eine Wirkung der freien Willkür vernünftiger Wesen an sich
selbst“;299 zum anderen ist sie die ebengenannte größte Summe des sinnlichen VerWörterbuch, Bd. 32 <Bd. 16>, S. 771f).
295
Zur „Selbstbilligung“ vgl. z.B. den gleich unten zitierten Satz aus Refl. 6892; sowie Refl. 6864,
Anm. ****, XIX 185, υ und ϕ (1776–78): „Wie kann Vernunft eine Triebfeder abgeben, da sie
sonst jederzeit nur eine Richtschnur ist und die Neigung treibt, der Verstand nur die Mittel vorschreibt? Zusammenstimmung mit sich selbst. Selbstbilligung und Zutrauen.“ „Selbstbilligung und
Zutrauen“ sind hier die Zusammenstimmung der freien Willkür mit sich selbst. Die Billigung und
Mißbilligung nun, auf der die Selbstbilligung gründet, läßt sich ursprünglich als ein Akt der Vernunft auffassen. Vgl. hierzu z.B. Refl. 7217, Anm. *, XIX 288 ψ? ϕ? (1780–89? 1776–78?): „Diese
Mißbilligung ist keine Unruhe, sondern Tadel und geschieht vermittelst des Urteils aus allgemeiner
Willkür. Sie geschieht ohne Beziehung auf einen Privat-Endzweck, also bloß durch Vernunft. Hier
ist also die Vernunft das principium konstitutiver oder objektiver Grundsätze. Und was nicht mit den
Vernunftgrundsätzen der Freiheit zusammenstimmt, ist objektiv (praktisch) unmöglich. Sonst haben
Vernunftgrundsätze nur subjektive Gültigkeit. Ursache: weil Freiheit ein Vermögen a priori ist zu
handeln.“ Vgl. auch Refl. 6636 und Refl. 6760 (XIX 152 Z6–12). Dies gegen D. Henrichs Interpretationsrichtung, die dem gefühlsmäßigen Dasein des Menschen Gewicht beimißt. Cf. Fußnote 495 in
2.8.
296
Refl. 6892, XIX 195f, υ (1776–78).
297
Refl. 7202 (Duisburg 6), XIX 278, ψ (1780–89).
298
Refl. 7202, XIX 276.
299
Refl. 6907, XIX 202, υ (1776–78).
93
gnügens,300 d.i. „eine zufällige und äußerlich von der Natur abhängende Wirkung“.
Die erstere Glückseligkeit ist „die wahre Glückseligkeit“, die durch Handlungen vernünftiger Wesen erreicht werden soll, und „die von allem in der [sinnlichen]
Natur unabhängig ist“.301 Mit ihr wird hervorgehoben, daß der Wille selbsttätig
Glückseligkeit herbeiführen kann, was auf die „Autokratie der Freiheit in Ansehung aller Glückseligleit“302 hinweist. Diese Glückseligkeit ist es, „die bloß auf
dem Willen beruht“, sofern er mit sich selbst (mit den Gesetzen) zusammenstimmt,
demnach an sich selbst gut ist. Da die Zusammenstimmung als consensus zu Einem
Vollkommenheit darstellt (cf. 1.2.3.c), so muß der Wille, auf dem die wahre, „so
große Glückseligkeit“ beruht, moralisch vollkommen sein. Nun ist die Glückseligkeit, die die „Natur“, die sich hier als die ganze verstehen läßt, durch Handlungen
der Vernunftwesen nach dem guten selbsttätigen Willen „liefert“, „die eigentliche
Glückseligkeit“, „die Glückseligkeit der Verstandeswelt“. Also strebt die menschliche Willkür nach der „Vorstellung der moralischen Vollkommenheit“, d.i. der Idee
der Heiligkeit, folglich nach dem „Muster der Vollkommenheit in einer möglichen
guten Welt“, indem sie in die Glückseligkeit der Verstandeswelt hinaussieht, die
durch den guten selbsttätigen Willen geschaffen werden soll.303 Bei diesem Muster der moralischen Vollkommenheit in einer möglichen guten Welt dürfte es sich
um die Idee eines Gott wohlgefälligen Menschen, Jesus Christus, handeln.
Die letztere Glückseligkeit hingegen in dieser Reflexion läßt sich so begreifen,
daß sie von der sinnlichen Natur abhängig und demnach sinnlich ist und mit den
Worten von Refl. 7202 die „Materie der Glückseligkeit“304 darstellt.
Beide Arten der Glückseligkeit aber dürften einander nicht unbedingt ausschließen, sondern die erstere könnte womöglich auch inhaltlich entweder die letztere oder einen Ersatz für sie, abgesehen von der Zufälligkeit derselben, als ihre
Komponente enthalten. Dabei könnte die Selbstzufriedenheit die formale Bedingung der ersteren sein. Auch dürfte die wahre Glückseligkeit nicht auf meine eigene beschränkt, sondern müßte die „Glückseligkeit des Ganzen“305 sein.
Dem Gesagten zufolge haben wir drei Arten der Glückseligkeit: (1) Selbstzufriedenheit, (2) die wahre Glückseligkeit als Glückseligkeit der Verstandeswelt und
(3) sinnliche, zufällig bewirkte Glückseligkeit. In der KpV heißt die erste Analogon der Glückseligkeit, die zweite: Glückseligkeit als Element des höchsten Guts;
in der Religionsschrift sowie der MS die erste: moralische Glückseligkeit, die dritte: physische Glückseligkeit, bei der zweiten dürfte eine sublimierte Form der letzteren vorliegen.306 In der moralisch-praktischen Zwecksetzung des freien Willens
auf das höchste Gut hin in der Dialektik der KpV begleitet ihn die erste (SelbstzuVgl. auch KrV, III 523 <B834>: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen“.
Refl. 6907, XIX 202.
302
Refl. 6867, XIX 186, υ (1776–78).
303
Refl. 6907.
304
Refl. 7202, XIX 276 Z18.
305
Refl. 6965, XIX 215, υ? (1776–78?).
306
Vgl. zu moralischer und physicher Glückseligkeit Rel., VI 67 <B86>, 75 Anm. <B100>; MS,
VI 377, 387. Cf. 3.5.
300
301
94
friedenheit) unmittelbar, während die zweite (Glückseligkeit der Verstandeswelt)
als das höchste Gut Zielvorstellung jener Zwecksetzung ist. Die Lehre vom höchsten Gut wird von den Überlegungen über Glückseligkeit in den „Reflexionen“
vorbereitet.
2.4.3 Zwei Gründe des Wohlgefallens (Refl. 7049).
Die Differenzierung der Glückseligkeit kann auch hinsichtlich des Wohlgefallens
und dessen Grundes vorgenommen werden. In Refl. 7049 werden „zwei Gründe
des Wohlgefallens der Handlungen“ genannt: „1. die Übereinstimmung mit dem
Objekte der Begierde; 2. die Übereinstimmung der freien Handlungen mit einer
Regel des Wohlgefallens überhaupt, d.i. mit einem allgemeingültigen Grunde“.307
Die erste Übereinstimmung löst nur pathologisch-praktische Lust aus; ihre Bestimmungsgründe der Willkür sind bloß „empirisch“308 , und „der Gebrauch der Freiheit
stimmt nicht untereinander“. Diese Übereinstimmung soll darum in der kognitivformalistischen Grundlegung als Rückgang zum universalen Bestimmungsgrund
des Willens negiert werden. Die zweite Übereinstimmung ist hingegen das Prinzip
der Moralität und bringt „das Wohlgefallen an der Regelmäßigkeit in allen unsern
Handlungen“309 hervor. Die Unterscheidung der beiden Gründe des Wohlgefallens
läuft daher zuletzt darauf hinaus, ob freie Willkür immer noch von sinnlichen Objekten abhängig ist, oder von dieser Abhängigkeit bereits derart befreit ist, daß sie
mit den Gesetzen zusammenstimmt. Das Wohlgefallen aus der ersten Übereinstimmung bezieht sich auf die materiale Glückseligkeit bzw. die Materie der Grückseligkeit, dasjenige aus der zweiten ist die Selbstzufriedenheit, die auch die formale
Bedingung der wahren Glückseligkeit sein kann. In der späten Periode wird jenes
pathologische, dieses moralische Lust genannt.310 Die „Würdigkeit, glücklich zu
sein“311 nun, die in dieser Reflexion außer zwei Arten des Wohlgefallens erwähnt
wird, beruht offensichtlich auf dem zweiten Grund des Wohlgefallens als dem der
Selbstzufriedenheit, nämlich auf der Übereinstimmung der Freiheit mit den Gesetzen. Dies kann darauf hinweisen, daß die Übereinstimmung der Freiheit mit sich
selbst als mit den Gesetzen subjektiv Selbstzufriedenheit auslöst, objektiv aber die
Würdigkeit, glücklich zu sein, ausmacht. Aus der letzteren ergibt sich, wie in der
KpV klar wird, die wahre Glückseligkeit als Element des höchsten Guts.
Refl. 7049, XIX 235, υ (1776–78).
XIX 235 Z7.
309
XIX 235.
310
Vgl. zur pathologischen und moralischen Lust MS, VI 378, 391; aber auch V.e.vorn.Ton, VIII
395 Anm.; Refl. 7320, XIX 316, ω5 (1800): „Geht in Bestimmung der Willkür die Lust vor dem
Gesetz voraus, so ist die Lust pathologisch –. Geht aber in dieser Bestimmung das Gesetz vor der
Lust voraus und ein Bestimmungsgrund der letzteren, so ist die Lust moralisch.“ Vgl. hierzu auch
Fortschritte, XX 351 Z4f.
311
XIX 235 Z10.
307
308
95
2.4.4 Die Autokratie der Freiheit in Ansehung der Glückseligkeit bzw.
die Epigenesis der Glückseligkeit nach allgemeinen Gesetzen der Freiheit (Refl. 6867).
Der Freiheit als tätigem Prinzip ist an sich eine Anlage zur Vollkommenheit hinsichtlich der Bonität wesenseigen (cf. 1.5.b);312 nur muß die Vollkommenheit, was
den Rückgang in die negative Freiheit betrifft, darauf beruhen, daß die Freiheit
„der Neigung nicht unterworfen werde oder überhaupt gar keiner fremden Ursache
unterworfen sei“;313 die Vollkommenheit der Freiheit bleibt allein übrig, „wenn
die Gegenstände unsrer jetzigen Neigung uns alle gleichgültig werden geworden
sein.“314 Kraft dieser Grundanlage aber der Freiheit zur Vollkommenheit konnte
ihre Zusammenstimmung mit sich selbst sich ohne weiteres als diejenige mit den
Gesetzen herausstellen. Denn die Freiheit ist sich selbst ein Gesetz.315 Sie hat ihre
innere Gesetzlichkeit. Demzufolge ist der freie Wille ein schlechthin guter Wille,316 der Wille, der sich wesentlich auf den Begriff von Vollkommenheit bezieht –
damit gehen wir aber in die positive Freiheit und die Phase der Deduktion des Gesetzes aus Freiheit über. Die Freiheit ist dabei als reine Willkür (arbitrium purum,
liberum intellectuale) „conditio sine qua non“,317 „die Bedingung der Möglichkeit
der Handlungen aus allgemeingültigen Prinzipien, folglich des Gebrauchs der Vernunft“, die allein „allgemeine Regeln des Gebrauchs der Freiheit geben“ kann, und
zwar „in Ansehung der Zwecke“,318 die sich auf die Glückseligkeit beziehen werden. Die „Vollkommenheit der Freiheit“ nun, die durch die Zusammenstimmung
derselben mit allgemeinen Gesetzen zu sich selbst gelangt, ist aber nicht derart
omnipotent, daß unter ihr gleich analytisch die wahre Glückseligkeit verstanden
werden könnte, sondern eben nur die Würdigkeit, glücklich zu sein,319 d.i. die
Moralität, die sich als „das Gute aus Prinzipien der Spontaneität“320 der Freiheit
begreifen läßt. Die Freiheit als die Bedingung der Möglichkeit der Moralität ist
aber doch eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Glückseligkeit für die
312
(312) Vgl. z.B. Refl. 6605, XIX 106,κ–λ? (1769–70?): „... gleichwie die Vollkommenheit eines
Subjekts nicht darauf beruht, daß es glückselig sei, sondern daß sein Zustand der Freiheit subordinert
sei: so auch die allgemeingültige Vollkommenheit, daß die Handlungen unter allgemeinen Gesetzen
der Freiheit stehen“; Refl. 7210, XIX 286, χ? ϕ? ω? (1778–79? 1776–78? 1790–1804?): „Die größte
Vollkommenheit ist die freie Willkür, und daraus kann auch das größte Gut entspringen“.
313
Refl. 6605, XIX 105f.
314
Refl. 7197, XIX 270f, ψ? ρ–σ? ϕ–χ? (1780–89? 1773–77? 1776–1779?).
315
Cf. 2.3.2 und Fußnote 278, 279 und 280.
316
Vgl. Refl. 7063, XIX 240, ϕ (1776–78): „Der freie Wille, der mit sich selbst nach allgemeinen
Gesetzen der Freiheit zusammenstimmt, ist ein schlechthin guter Wille.“
317
Refl. 6948, XIX 211, ϕ (1776–78). Vgl. auch Refl. 7202, XIX 276 Z29.
318
Refl. 6948, XIX 211.
319
Vgl. Refl. 7197, XIX 270f: „Diese Vollkommenheit der Freiheit ist die Bedingung, unter der
alles andre, Vollkommenheit und Glückseligkeit, eines vernünftigen Wesens allgemein wohlgefallen
muß (Würdigkeit)“; Refl. 7200, XIX 274, ψ? (1780–89?): „Würdigkeit glücklich zu sein. / Prinzipien
der Sittlichkeit aus der Einstimmung der Freiheit mit den notwendigen Bedingungen der Glückseligkeit überhaupt, d.i. aus dem allgemeinen selbsttätigen principio der Glückseligkeit.“ Vgl. auch
Refl. 6892, XIX 195.
320
Refl. 6820, XIX 172, υ? (1776–78?).
96
freien Vernunftwesen321 und hängt selber nicht umgekehrt dergestalt von ihr als
dem Zwecke ab,322 daß man an der Glückseligkeit teleologisch die Triebfeder für
Freiheit sehen müßte. „Die Glückseligkeit a priori kann in keinem andern Grunde
gesetzt werden als in der Regel der Einstimmung der freien Willkür“,323 und der
Gründungszusammenhang ist in umgekehrter Folge nicht möglich.
In Refl. 6867 kommt diese Perspektive einer Gründung von Glückseligkeit auf
der Einstimmung der freien Willkür als „Autokratie der Freiheit in Ansehung aller
Glückseligkeit oder die Epigenesis der Glückseligkeit nach allgemeinen Gesetzen
der Freiheit“ zum Ausdruck.324 Der Begriff wird als das „principium der Moral“325
bezeichnet, und zwar ausgezeichneterweise, weil er die ganze Sache, die Kant langjährig in „Reflexionen“, Vorlesungen und Druckschriften über Moralphilosophie
durchgedacht hat, deckt und ihr Prinzip mit einem einzigen Ausdruck resümiert.
Nun handelt es sich bei der „Autokratie der Freiheit in Ansehung aller Glückseligkeit“, wenn man nur von ihrem Bezug auf die Glückseligkeit absieht, um nichts
anderes als die „Autonomie des Willens“ in den beiden Grundlegungsschriften.326
Ein Moralprinzip, das sich auf Glückseligkeit bezieht, muß zwar, wie in den beiden
Grundlegungsschriften dargetan wurde, zunächst ohne dieselbe begründet werden.
Das erst einmal begründete Moralprinzip, das der Freiheit, muß aber dann ohne
weiteres auf Zusammenhänge mit der Glückseligkeit angewendet werden können.
Denn es ist doch a limine an ihr orientiert. Dies ist vornehmlich aus den moralphilosophischen Reflexionen ersichtlich. Ihre systematische Untersuchung kann
aufweisen, wie eigenwillig und einseitig jene Interpretationsrichtung ist, die die
Kantische Lehre über das höchste Gut, die es auf die Glückseligkeit absieht, von
der Problematik der Grundlegung der Ethik ausschalten will. Mit der Autokratie
der Freiheit in Ansehung aller Glückseligkeit haben wir schlechterdings einen der
Ausdrücke für das oberste Prinzip der Moral, d.i. das Prinzip der positiven Freiheit, zu denen noch die Begriffe von Vollkommenheit des Willens, Autonomie des
321
Vgl. z.B. Refl. 7200, XIX 274: „... die Freiheit unangesehen des Zustandes, darin das freie
Wesen sich befindet, mithin unabhängig von empirischen Bedingungen (der Antriebe) soll eine notwendige Ursache der Glückseligkeit sein“. Dieser Gedanke, der später die Lehre vom höchsten Gut
ausmacht, findet sich auch schon in den sechziger Jahren. Vgl. hierzu Refl. 6589, XIX 97 η? κ?
(1764–68? 1769?): „... aber die Bonität besteht in der Beziehung auf den Willen, bis endlich die
absolute Bonität in der Übereinstimmung der Glückseligkeit mit dem Willen besteht.“ Er ist das
Ergebnis der Betrachtung Kants in den „Bemerkungen“, daß das Gute auf dem Willen beruht.
322
Refl. 7202, XIX 277: „Das [sc. die Einheit a priori, nämlich die Freiheit unter allgemeinen
Gesetzen der Willkür, d.i. Moralität] macht die Glückseligkeit als solche möglich und hängt nicht
von ihr als dem Zwecke ab“.
323
Refl. 6911, XIX 203f, υ (1776–78).
324
Refl. 6867, XIX 186, υ (1776–78). Das Wort ,Autokratie‘ findet sich in der MS wieder, jedoch
nicht in bezug auf die Glückseligkeit. Vgl. hierzu MS, VI 383 Z24. Der Gedanke des Prinzips der
Autokratie/Epigenesis ist nicht neu, sondern steht bei Kant schon früher fest. Vgl. z.B. Bemerkungen,
XX 31: „Wie die Freiheit im eigentlichen Verstande (die moralische nicht die metaphysische) das
oberste principium aller Tugend sei und auch aller Glückseligkeit.“
325
XIX 186 Z4.
326
Vgl. zur Autonomie des Willens GMS, IV 433 <B74>, 440 <B87>; KpV, V 33 <A58>, 132
<A237>.
97
Willens, „principium libertatis nomotheticae“327 und „Eleutheronomie“328 gezählt
werden. Alle Prinzipien müssen zwar ohne die Eudämonie begründet werden –
sonst würde eine Euthanasie aller Moral ausgelöst –, implizieren aber die Entwicklungsmöglichkeit auf Glückseligkeitsbezüge, was der Ausdruck des Moralprinzips
in dieser Reflexion unverkennbar zeigt.
Das Moralprinzip der Autokratie/Epigenesis gehört in den „Reflexionen“ zum
Umkreis des Grundprinzips der Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst,
mit den Gesetzen und mit den Zwecken. Dabei determiniert ,moralisch-teleologisch‘
und exekutiv die Zusammenstimmung mit den Gesetzen primär diejenige mit den
Zwecken, und nicht umgekehrt. Nach dem Moralprinzip der Autokratie/Epigenesis
ist subjektiv im Gefühl der Lust und Unlust Zufriedenheit mit sich selbst herbeizuführen, objektiv aber dem Handlungssubjekt als Person die Würdigkeit, glücklich
zu sein, zu verschaffen; das Prinzip hat also zwei Wirkungen, eine subjektive und
eine objektive.
Zur letzteren, objektiven Wirkung des Moralprinzips: Aus der „Selbständigkeit und Zusammenstimmung“ der Freiheit entspringt Glückseligkeit. Sie ist „das
Selbstgeschöpf der guten oder regelmäßigen Willkür“.329 Die „Würdigkeit glücklich zu sein“ ist „die Übereinstimmung zum höchsten Gute“ durch „die Ergänzung
des Vermögens der freien Willkür, sofern sie [sc. die freie Willkür] nach allgemeinen Regeln zur Glückseligkeit im ganzen zusammenstimmt.“330 Mit den Formulierungen ist hauptsächlich gemeint, daß die Würdigkeit, glücklich zu sein, mithin
auch Glückseligkeit, sich aus der Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen, die auch diejenige mit dem Zwecke des höchsten Guts ist, (d.i. aus der
„Form der Glückseligkeit“) ergibt. Solcher Glückseligkeit nun, die auf dem durch
„einen absoluten Bestand“ ausgezeichneten „Wohlverhalten“, d.i. „Gebrauch der
Freiheit“ nach Gesetzen beruht, wird „die zufällige Glückseligkeit“, der als „Naturoder Glücksgabe“ kein selbständiger „Wert“ beizulegen ist und die offenkundig mit
der obengenannten sinnlichen, zufällig gewirkten Glückseligkeit identifiziert wird,
auch in dieser Reflexion selbstverständlich entgegengesetzt. Es läßt sich daher vermuten, daß auch die aus der Autokratie der Freiheit nachgenerierte Glückseligkeit als „die wahre Glückseligkeit“ in die „Glückseligkeit der Verstandeswelt“331
(Glückseligkeit als Element des höchsten Guts) münden wird. So wird ihr denn
auch neben dem guten Gebrauch der Freiheit vorausgesetzt, „daß ursprünglich ein
freier Wille, der allgemeingültig ist, die Ursache der Ordnung der Natur und aller
Schicksale sei“, was deutlich auf das Postulat der Existenz Gottes verweist.
Zur ersteren, subjektiven Wirkung des Moralprinzips: „Das moralische Gefühl
Refl. 7269, XIX 299 Z11f, ψ? υ? (1780–89? 1776–78?); vgl. auch KU, V 448 Z8 <B420>.
MS, VI 378 Z16.
329
Zum „Selbstgeschöpf“ vgl. Refl. 6864, XIX 184 Anm. *** (cf. Fußnote 333).
330
Zur gleichartigen Erläuterung der „Würdigkeit glücklich zu sein“ vgl. z.B. Refl. 7200 (cf. Fußnote 319). Das Wort „Ergänzung“ nun ist hier noch zweideutig. Es kann entweder die Selbstergänzung des Vermögens der freien Willkür oder die Ergänzung derselben durch eine oberste Weltursache
bedeuten.
331
Vgl. Refl. 6907.
327
328
98
geht hier auf die Einheit des Grundes und den Selbstbesitz der Quellen der Glückseligkeit in vernünftigen Geschöpfen“, d.h., es bezieht sich wesentlich auf das Moralprinzip der Autokratie/Epigenesis, das endliche Vernunftwesen als Quelle der
Glückseligkeit in sich selbst besitzen. Da der „gute Gebrauch der Freiheit“ nach
den Gesetzen, das Wohlverhalten, durch den die Glückseligkeit herbeizuführen ist,
einen absoluten Bestand hat und demnach „mehr wert als die zufällige Glückseligkeit“ ist, und da die Freiheit selbst „einen notwendigen innern Wert“ hat, d.h.
kurzum weil der Sichwohlverhaltende „in sich (soviel an ihm ist) das principium
der epigenesis der Glückseligkeit“ hat,332 so wird gesagt: „Daher besitzt der Tugendhafte in sich selbst die Glückseligkeit (in receptivitate), so schlimm auch die
Umstände sein mögen.“ Die „Glückseligkeit (in receptivitate)“ läßt sich im Kontext
nicht als die vom guten Gebrauch der Freiheit als Selbstgeschöpf des Willens aktiv
hervorzubringende Glückseligkeit, sondern als die Selbstzufriedenheit des durch
den beständigen Gebrauch der wertvollen Freiheit und die feste Aussicht auf die
Glückseligkeit (denn diese ist das Selbstgeschöpf des Willens) psychologisch gesicherten Willens des endlichen Vernunftwesens (ein real gegenwärtiges moralisches
Gefühl desselben) begreifen,333 welche in der KpV „Analogon der Glückseligkeit,
welches das Bewußtsein der Tugend notwendig begleiten muß“ genannt wird.334
So kann der Ausdruck „so schlimm auch die Umstände sein mögen“ an das Wort
„alle Leiden und Übel des Lebens überhaupt“ in der Religionsschrift erinnern, das
mit der „Zufriedenheit“ bzw. der „moralischen Glückseligkeit“ in Zusammenhang
steht.335
Also bringt das Moralprinzip der Freiheit nicht die zufällige Glückseligkeit,
sondern objektiv die wahre Glückseligkeit und subjektiv die Selbstzufriedenheit.
2.5 Selbstzufriedenheit, intellektuelle Lust und geistiges Leben.
2.5.1 Die Selbstzufriedenheit ist eine intellektuelle Lust.
Die Selbstzufriedenheit, die aus der Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen hervorgerufen wird, ist ein intellektuelles Wohlgefallen bzw. eine intellek332
Der Satz (XIX 186 Z21f) läßt sich dahingehend verstehen, daß die Glückseligkeit in receptivitate
als moralisches Gefühl im Moralprinzip der Autokratie/Epigenesis fundiert ist, nach dem die Freiheit
zu gebrauchen absoluten Bestand hat. Der Ausdruck „soviel an ihm ist“ läßt sich so deuten, daß er
sich ohne Rücksicht darauf, ob andere ebenso wie er tun, nach seinen inneren moralischen Gesetzen
recht verhält (vgl. hierzu beispielsweise Refl. 7204, XIX 283 Z14–17, ψ? υ? ϕ? 1780–89? 1776–78?).
333
Vgl. dazu, daß der Grund des moralischen Gefühls das Moralprinzip der Autokratie/Epigenesis
ist, auch Refl. 6864, XIX 184 Anm. ***, υ (1776–78): „Die Epigenesis der Glückseligkeit (Selbstgeschöpf) aus der Freiheit, die durch die Bedingungen der Allgemeingültigkeit eingeschränkt wird,
ist der Grund des moralischen Gefühls.“ Vgl. aber auch Refl. 7204, den 2. Absatz.
334
KpV, V 117, <A211f>. Das ,welches‘ ist ein Verbesserungsvorschlag von J. Kopper. Vgl. Kant,
I. [Hrsg. von J. Kopper], Kritik der praktischen Vernunft (Reclam-Ausgabe), Stuttgart o.J., ND: 1976,
S. 188.
335
Vgl. Rel., VI 75 Anm. <B100>.
99
tuelle Lust im Unterschied zur pathologisch-praktischen und kontemplativen Lust
(cf. 1.2.1.b). Das soll hier zunächst nur vorläufig erläutert werden. (1) Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst als mit den Gesetzen ruft ein notwendiges Wohlgefallen hervor. M.a.W.: Die „Gesetze, welche die Freiheit der Wahl“,
nämlich das arbitrium liberum (die freie Willkür), „mit sich selbst in Einstimmung
bringen, enthalten ... den Grund eines notwendigen Wohlgefallens“,336 d.i. des
Wohlgefallens am Guten. Bei diesem Wohlgefallen aber, das von der Zusammenstimmung der freien Willkür mit sich selbst ausgelöst wird, handelt es sich hier
(Refl. 7202) um die Selbstzufriedenheit, bei der nicht von der Lust am Zustand
seiner selbst, sondern von der „Lust an sich selbst“337 die Rede ist. (2) Nun ist
aber dieses Wohlgefallen intellektuell: „Das Wohlgefallen an der Regelmäßigkeit
der Freiheit ist intellektuell.“338 Denn die Regelmäßigkeit der Freiheit besteht in
deren Gesetzen, die in der Vernunft verankert und demnach von nicht sinnlicher,
sondern intellektueller Herkunft sind. (3) Zusammengefaßt also „korrespondiert“
der „Übereinstimmung der Freiheit mit sich selbst nach allgemeinen Gesetzen“,
die nicht bloß relativ, sondern absolut gut ist, die „complacentia intellectualis pura“,339 mit der das reine intellektuelle Wohlgefallen, die intellektuelle Lust, gemeint ist und in der man eben die Selbstzufriedenheit zu sehen hat. (4) Von daher
läßt sich die Selbstzufriedenheit zunächst so auffassen, daß sie ein Wohlgefallen ist,
das durch die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst dem ihm vorhergehenden Gesetz derselben folgt und demnach eine intellektuelle Lust ist.340 Sie wird
dementsprechend in der späten Periode als „moralische Lust“341 bezeichnet, indem
sie ihre Relevanz als formale Bedingung der wahren Glückseligkeit abschwächt.
Ebensowie die Selbstzufriedenheit ist auch die Achtung (reverentia) ein moralisches Gefühl. Beim moralischen Gefühl ist negativ in bezug auf die Glückseligkeit von der ersteren, positiv aber hinsichtlich der Triebfeder von der letzteren die
Refl. 7202, XIX 276. Vgl. auch Refl. 7022, XIX 229, υ? µ–ρ? (1776–78? 1770–75?).
Refl. 6116, XVIII 460, ψ2−3 (1783–88). Vgl. auch Refl. 6632, XIX 120, κ–λ? (1769–70?).
338
Refl. 6881, XIX 190, ϕ? (1776–78?). Vgl. zum „intellektuellen Wohlgefallen“ auch Refl. 3860,
XVII 316, η? (1764–68?): „Weil alles, was geschieht, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens
ein Wohlgefallen voraussetzt, so muß die complacentia, welche independent ist von der subjektiven
Nezessitation, intellektuell sein“.
339
Refl. 1044, XV 467, ψ1−2 (1780–84) (cf. Fußnote 128 in 1.2.3). Vgl. auch Refl. 7022.
340
Vgl. dazu Bohatec, J., Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft“, Hamburg 1938, S. 141: „Das Gefühl der Selbstzufriedenheit ist daher im Grunde ein intellektuelles Gefühl, die ,Lust der Form nach‘, also dasjenige, was Kant sonst ,intellektuelle
Lust‘ nennt.“ Vgl. zur „intellektuellen Lust“ auch Met.L/1, XXVIII 253: „Die intellektuelle Lust ist,
was allgemein gefällt, aber nicht nach den allgemeinen Gesetzen der Sinnlichkeit, sondern nach den
allgemeinen Gesetzen des Verstandes. Der Gegenstand der intellektuellen Lust ist gut. ... Das Gute
ist unabhängig von der Art, wie der Gegenstand den Sinnen erscheint; es muß so genommen werden,
wie es an und für sich selbst ist; z.E. die Wahrhaftigkeit.“ Der Terminus, der, obwohl er an sich eine
contradictio in adiecto ist, doch in der früheren Periode von der Wolffschen Psychologie erzwungen
scheint, tritt in beiden Grundlegungsschriften (GMS und KpV) in den Hintergrund, wird aber auf der
späten Periode im System der Ethik als Metaphysik der Sitten, wobei das Grundlegungsmotiv sich
zurückzieht und der ursprüngliche Wolffsche Einfluß wieder offenbar wird, rehabilitiert. Vgl. hierzu
MS, VI 212.
341
Zur „moralischen Lust“ cf. Fußnote 310 in 2.4.3.
336
337
100
Rede. Der Begriff der Achtung ist wohl bereits früh konzipiert worden,342 übernimmt jedoch die bedeutende systematische Rolle als gefühlsmäßiges Medium der
moralischen Triebfeder erst in der Periode der beiden Grundlegungsschriften,343
und zwar erst nachdem die Notwendigkeit der Unterscheidung der Triebfeder als
„Macht der Vernunft in Ansehung der Freiheit“ von dem negativen moralischen
Gefühl, worunter die Zufriedenheit mit sich selbst als bloßes Wohlgefallen verstanden wird, spätestens in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erblickt worden
ist.344 Dementsprechend tritt die Selbstzufriedenheit als Bestimmungsbedingung
der Willkür eher zurück und spielt im System der Grundlegung der Ethik, weil sie
als bloße Folge der Befolgung der Gesetze im Gefühl determiniert wird, eine wohl
subjektiv-fundamentale Rolle als Gefühl der Einheit ohne Widerstreit, das dem sich
wohlverhaltenden endlichen Vernunftwesen jeweils real gegenwärtig ist, aber gegenüber der Vormacht der Triebfeder der Vernunftgesetze eine passive Nebenrolle
als Analogon der Glückseligkeit.
2.5.2 Beständigkeit und Sicherheit zum Wohlgefallen im Gefühl eines
endlichen Vernunftwesens.
Was in der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft, d.i. in deren reiner
Spontaneität, die den Begriff einer Allgemeinheit abgibt, dem Gefühl der Lust und
Unlust intellektuell gefällt, ist Regelmäßigkeit, Ordnung, Form, und das, was Beständigkeit und Sicherheit hervorruft. „Das Wohlgefallen an der Regelmäßigkeit
der Freiheit ist intellektuell.“345 „Das Wohlgefallen an der Regelmäßigkeit ist eigentlich ein Wohlgefallen an dem Grunde der Beständigkeit und Sicherheit“.346
„Daß diese Betrachtung des Wohlgefallens a priori oder im allgemeinen den VorVgl. z.B. Refl. 6601, XIX 104, κ–λ? (1769–70?): „Alles, was an sich selbst gut ist, achten wir
hoch; was respective auf uns gut ist, lieben wir. Beides sind Empfindungen. Jene ist vorzüglich in
der Idee der Billigung, diese ist mehr ein Grund der Neigung. ... Wir haben einen größeren Trieb,
geachtet als geliebt zu werden, – aber einen größeren zur Liebe gegen andere als zur Achtung. Denn
in der Liebe gegen andere empfindet er seinen eignen Vorzug, in der Achtung vor andere schränkt er
diesen ein.“
343
Vgl. dazu Henrich, D., Ethik der Autonomie, in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 34:
„Kant hat zwar zu früherer Zeit schon gelehrt, daß die Freiheit unerkennbar ist, und auch gelegentlich von dem sittlichen Phänomen ,Achtung‘ gesprochen. Jene Lehre und dieser Begriff wurden aber
erst zu Grundlagen seiner Ethik, als er die Versuche einer Deduktion des Sittengesetzes aufgab und
als er daraus, daß sie gescheitert waren, maßgebliche Konsequenzen für den Aufbau der Ethik zog.“
Hierbei aber handelt es sich auch um die Revidierung und Ergänzung seines früheren Satzes: „Es
mag verwunderlich erscheinen, daß dieser Begriff [der ,Achtung fürs Gesetz‘], der für Kants Ethik
ebenso wie für seine Persönlichkeit ursprünglich charakteristisch scheint, das späteste Ergebnis seiner philosophischen Entwicklung war“ (ders., Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre
vom Faktum der Vernunft, in: Prauss, G., Kant, Köln 1973, S. 249).
344
Vgl. dazu Refl. 6864, XIX 184, υ (1776–78). Cf. 2.6.4.
345
Refl. 6881, XIX 190, ϕ? (1776–78?).
346
Refl. 5620, XVIII 258f, χ? (1778–79?). Vgl. auch Refl. 6710, XIX 138, ξ–ρ? (1772–75?): „Wir
halten alles hoch, was dem Guten Sicherheit und bestimmte Gewißheit verschafft, daher alles, was
einer Regel des Guten gemäß ist. Das Gute, welches aber die Regel unsicher macht, mißfällt. Dies
ist der Quell der Moralität. Man ist des Guten nur wert, sofern man den Regeln folgt.“
342
101
zug hat, beruht darauf, weil das principium der Ordnung und Form wesentlich notwendig ist und vorhergeht, ohne welches unter meinen Privatvergnügen, imgleichen denen mit anderer ihren, kein Zusammenhang ist. Das Regulativ geht vorher,
und nichts muß [sc. darf] ihm widerstreiten; sonst ist unter dem Mannigfaltigen
kein Zusammenhang, keine Sicherheit. Es ist alles tumultuarisch.“347 Das Wohlgefallen an diesen intelligiblen Eigenschaften, das intellektuell und frei ist,348 hängt
mit dem Interesse am Prinzip a priori der Zusammenstimmung (Übereinstimmng,
Einstimmung) der Freiheit mit sich selbst349 zusammen, das in der Zuverlässigkeit
der formalen Einheit des Wollens liegt,350 die in der systematischen Einheit aller
Zwecke beheimatet ist.351
347
Refl. 7029, XIX 230, υ? µ? ρ? (1776–78? 1770–71? 1773–75?). Auf die Redewendungen in der
zitierten Reflexion könnte sich jene Kritik Adornos „Angst vor Anarchie“ beziehen. „Kant, wie die
Idealisten nach ihm, kann Freiheit ohne Zwang nicht ertragen; ihm schon bereitet ihre unverbogene
Konzeption jene Angst vor der Anarchie, die später dem bürgerlichen Bewußtsein die Liquidation
seiner eigenen Freiheit empfahl“ (Adorno, Th. W.; Negative Dialektik, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1982,
S. 231). „Noch Freiheit konstruiert er als Spezialfall von Kausalität. Ihm geht es um die ,beständigen Gesetze‘. Sein bürgerlich verzagter Abscheu vor Anarchie ist nicht geringer als sein bürgerlich
selbstbewußter Widerwille gegen Bevormundung“ (ibid., S. 248). Allein Regelmäßigkeit und Ordnung, die auf der positiven Freiheit beruhen, entspringen nicht aus der Angst vor Anarchie. Positive
Freiheit gilt als Wiederübernahme der Verantwortung in der Gesellschaft.
348
Refl. 6881, XIX 191.
349
Vgl. dazu etwa Refl. 1044, XV 467.
350
Vgl. Refl. 7204 Anm. *, XIX 284. Cf. 2.3.1.g.
351
Die Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen liefert dem Gefühl der Lust und Unlust
solche intellektuelle Eigenschaften wie Ordnung, Form, Beständigkeit, Sicherheit usw. als Bedingungen des Wohlgefallens a priori, der intellektuellen Lust. (Der Sachverhalt darf nicht dahingehend verstanden werden, daß die Freiheit mit den Gesetzen zusammenstimmen müsse, damit das
Wohlgefallen a priori an diesen Eigenschaften entstehen und bleiben könne. Gesetz soll dem Gefühl
vorhergehen, welches nie Zweck der Annahme des Gesetzes sein kann.) Die Eigenschaften lassen
sich nicht in empirischen Gegenständen der Sinnenwelt antreffen, weil sonst die Willkürbestimmung
aus ihnen als stimuli unter Verwaltung der empirisch bedingten Vernunft mittels der pathologischpraktischer Lust und Unlust nur mit Widerstreit, d.i. ohne Einstimmung und Harmonie vollzogen
würde. Sie müssen daher im Gegenteil in der formalen Einheit der transzendentalen Subjektivität,
der reinen Spontaneität, liegen, und demnach zuletzt in der Verstandeswelt. / Bei diesen Eigenschaften nun, die intellektuell sind, hat man mit so etwas wie Abbildern nichts zu tun, die etwa dadurch in
der Gedankenwelt zustandegebracht werden, daß empirische Regelmäßigkeit und Ordnung, die aus
zur Sinnenwelt gehörenden, sinnlichen Gegenständen zusammengesetzt werden, durch den Wunsch
nach ihrer Erhaltung und Erweiterung, auf die Gedankenwelt projiziert werden. / Der Grund, warum
sie nicht derartige Abbilder sind, ließe sich erst aus jener Darlegung der zweiten Grundlegungsschrift für die Ethik, der KpV, explizieren, deren Inhalt auch beim früheren Kant – so können wir
annehmen – immer latent vorausgesetzt ist, die aber erst durch den Versuch der systematischen transzendentalen Grundlegung der Ethik in den Vordergrund getreten ist, nämlich aus der Darlegung
jenes Rückgangs in die negative Freiheit (Rückführung auf dieselbe), aufgrund deren allein auch
die ,moralisch-teleologische‘ Architektonik und mithin die Einräumung der obigen intellektuellen
Eigenschaften als hintergründige Bedingungen des Spielraums der menschlichen Willkür möglich
sind. / D.h.: Die Freiheitskausalität, die diese Eigenschaften formt, ist die Kausalität, die sich einmal
von sinnlichen Gegenständen vollständig distanziert hat (eine Abstrahierung, bei der aber von einer
induktiven Abstraktion keine Rede ist), um sich dann erneut, diesmal aber aus einer völlig anderen
Position her, von deren Welt, die keine Abschattung der Sinnenwelt ist, theoretische Vernunft mittels
ihrer Verstandessynthesis nichts weiß, auf dieselben richten zu können; für menschliche Willkür kann
im Bewußtsein positive Freiheit sich erst dann auf sinnliche Gegenstände auswirken, wenn der Rück-
102
2.5.3 Exkurs: Geistiges Leben und intellektuelle Lust.
Zu diesem Thema hat Kant selber seine Gedanken nie zusammenfassend formuliert, sondern in Reflexionen, Vorlesungen und Druckschriften lediglich sporadisch
notiert. Hier wird nur versucht, sie einmal zusammenzustellen. Die Zusammenstellung beabsichtigt, der eher abstrakten Grundlegung der Ethik eine breite anthropologische Perspektive zu geben und sie damit zu ergänzen.
Die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst entfaltet sich zu derjenigen mit den Gesetzen, die die Möglichkeit der Übereinstimmung mit dem Ganzen,
die wahre Glückseligkeit herbeizuschaffen, in der Hoffnung involviert. Das tätige
Subjekt, das mit den allgemeinen Gesetzen zusammenstimmen soll, ist die Freiheit bzw. die freie Willkür, deren Wesen in der reinen Spontaneität der Vernunft
fundiert ist. Die Möglichkeit der Erlangung des Ganzen liegt beim Menschen als
einem endlichen Vernunftwesen in dieser Freiheit als Selbsttätigkeit, weil diese
durch ihre Zusammenstimmung mit den Gesetzen auch mit dem Ganzen übereinzustimmen hoffen kann, was etwa das Moralprinzip einer Autokratie der Freiheit
ausdrückt.
Nun gründet das Leben, auf das doch alles zuletzt ankommt,352 zwar primär
und prinzipiell auf dem Begehrungsvermögen,353 ist aber auch subjektiv, d.h. zunächst und unmittelbar, mit dem Gefühl der Lust und Unlust eng verbunden.354
Leben ist im Gefühl der Lust und Unlust unmittelbar beheimatet. Da dieses nun im
inwendigen Sinn (sensus interior) sitzt,355 so ist auch jenes subjektiv auf denselben
bezogen.
Das Leben, das durch Freiheit und Vernunft, oder mit einem Wort durch reine
Spontaneität, geführt wird, ist das geistige Leben.356 Die Vernunft kann in ihm, wie
gang einmal in die negative Freiheit hinausgelaufen ist, wo empirische Bedingungen abgeschnitten
sind. Eben darum sind die intellektuelle Regelmäßigkeit und Ordnung als Woran des Wohlgefallens
a priori nicht in den sinnlichen Gegenständen verwurzelt. Sie lassen sich als derivative Konzepte des
moralischen Gesetzes (der Einheit des reinen Denkens im Sittlichen) erst dann annehmen, wenn reine praktische Vernunft von dem Nichts des Empirischen, d.i. von der Unabhängigkeit von materialen
Bestimmungsgründen der Willkür als stimulis, ausgehend sich wieder auf das Empirische richtet. Sie
sind folglich keine Abbilder desselben durch die Projektion aus der Sinnenwelt her. / Sie beziehen
sich nun auf die Selbsterhaltung der Vernunft. Auf dieses Problem aber ist hier nicht einzugehen (cf.
3.2.3.a.β, 3.4.1.d).
352
Vgl. Refl. 6862, XIX 183.
353
Vgl. KpV, V 9 Anm. <A16>: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine
Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ Vgl.
auch MAN, IV 544; MS, VI 211.
354
Vgl. z.B. Refl. 4857, XVIII 11, υ? (1776–78?): „Lust und Unlust machen allein das Absolute
aus, weil sie das Leben selbst sind.“ Vgl. auch Met.L/1, XXVIII 247.
355
Vgl. Anthr., VII 153. Cf. Fußnote 86 in 1.2.1.c.
356
Vgl. z.B. Fried. i.d.Ph., VIII 417: „Vermittelst der Vernunft ist der Seele des Menschen ein Geist
(Mens, νους) beigegeben, damit er nicht ein bloß dem Mechanismus der Natur und ihren technischpraktischen, sondern auch ein der Spontaneität der Freiheit und ihren moralisch-praktischen Gesetzen angemessenes Leben führe“; Met.L/1, XXVIII 249: „die Freiheit ist der größte Grad der Tätigkeit
und des Lebens. Das tierische Leben hat keine Spontaneität.“ Zur Dreiteilung des Lebens vgl. zunächst Met.L/1, XXVIII 248; Refl. 567, XV 246; Refl. 823, XV 367. Das Wort „Geist“ indessen hat
103
oben festgestellt, durch die Zusammenstimmung als Moralitätsprinzip auch auf das
Erreichen des Ganzen als der wahren Glückseligkeit hoffen. Ohne ein geistiges
Leben wären die Menschen so etwas wie die Figuren eines Marionettenspiels im
bloßen Mechanismus.357 Nun müßte ebenso wie das Leben im allgemeinen auch
das geistige Leben per definitionem zunächst und unmittelbar auf den inwendigen
Sinn bezogen sein.358
Das Wesentliche des geistigen Lebens aber besteht in der „Spontaneität der
Freiheit“,359 die als Begehrungsvermögen sein inneres Prinzip ausmacht und die
demnach darauf geht, mit moralischen Gesetzen zusammenzustimmen. Der Wert
des Lebens liegt daher gar nicht in dem, „was man genießt“, sondern in dem, „was
man tut“, und zwar „so unabhängig von der Natur zweckmäßig“, „daß selbst die
Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann“,360 weil das Ganze, dessen Erlangung durch Freiheit man erhofft, nicht die sinnliche mechanische
Natur sein kann (ein solches Ganze wäre ohnehin prinzipiell nicht erreichbar), sondern nach einer Idee als die Einheit aller Zwecke anzusprechen ist. Die intellektuelle Lust kommt aus dem, was man tut. „In Ansehung unsrer Selbst haben wir eine
sinnliche Lust in Ansehung dessen, was wir leiden, und eine intellektuelle in Ansehung dessen, was wir (aber nicht um einer Neigung willen) tun“.361 Sie kommt
folglich dem geistigen Leben zu.
Das Wohlgefallen und Mißfallen überhaupt als Gefühl der Lust und Unlust ist
nun das Gefühl der Beförderung oder Behinderung des Lebens.362 Auch Vergnügen und Schmerz, wobei es sich um die vom Empirischen abhängige, pathologischpraktische Lust und Unlust handelt, als welche das Gefühl noch nicht dem moralischen Gesetz entspricht und darum auch nicht die kognitiv-formalistische Grundlegung als Rückführung auf die Freiheit absolviert hat, sind als Unterarten des
Wohlgefallens und Mißfallens im allgemeinen, das Gefühl der Beförderung oder
Behinderung des Lebens.363 Das Leben nämlich beschränkt sich nicht auf Vergnügen und Schmerz, die empirischen Dingen anhaften; ebenso wie sie kann die
intellektuelle Lust (Wohlgefallen a priori), die durch die geistige Lebensführung
auch bei Kant weitgehende Bedeutung. Vgl. hierzu beispielsweise Refl. 817, 819, 831, 841, 844 etc.
357
Vgl. dazu KpV, V 147 <A265>.
358
Vgl. z.B. Refl. 6865. „Was das Gefühl betrifft (...), so fühlen wir ... nur durch die Sinne“. Das
Prinzip des Sitzes des Gefühls der Lust und Unlust im inwendigen Sinne scheint im Grunde epikureisch. Vgl. hierzu beispielsweise Refl. 823, XV 367, υ?: „Epikur sagt: Alles Vergnügen kommt nur
durch Mitwirkung vom Körper, ob es zwar seine erste Ursache im Geiste hat.“ Vgl. auch KpV, V 24
Z15–25 <A43f>.
359
Fried. i.d.Ph., VIII 417.
360
KU, V 434 Anm. <B395f>(cf. 3.3.1.c). Vgl. auch Anthr., VII 239: „... daß das Leben überhaupt,
was den Genuß desselben betrifft, der von Glücksumständen abhängt, gar keinen eigenen Wert und
nur, was den Gebrauch desselben anlangt, zu welchen Zwecken es gerichtet ist, einen Wert habe,
...“. Vgl. hierzu auch VII 144. Auch die Welt ist nur dann gut, wenn sie von vernünftigen Wesen
gebraucht wird. Vgl. dazu Refl. 6908, XIX 203, υ (1776–78).
361
Refl. 6974, XIX 218, υ? (1776–78?).
362
Vgl. Refl. 823, XV 367, υ?: „Das Gefühl also von der Beförderung oder Hindernis des Lebens
ist Wohlgefallen und Mißfallen.“
363
Vgl. Anthr., VII 231.
104
ausgelöst wird,364 auch zum Gefühl der Beförderung des Lebens gezählt werden.
Sie sitzt auch im inwendigen Sinn, obgleich sie aus der Vernunft, demnach aus
einem anderen Standpunkt, entsteht.365 Die Zusammenstimmung der Freiheit (als
des tätigen Fundaments) mit sich selbst, mithin mit den Gesetzen, bildet das geistige Leben und befördert es; diese Beförderung bringt im inwendigen Sinne das
Wohlgefallen a priori als intellektuelle Lust hervor.
Die intellektuelle Lust wird durch jene Zusammenstimmung der Freiheit bzw.
der freien Willkür mit den Gesetzen als Bedingung des geistigen Lebens hervorgerufen, welche die Möglichkeit der Erreichung des Ganzen in der Hoffnung voraussieht. „Je einstimmiger mit sich selbst, je einstimmiger mit fremden Willen seiner
Natur nach die Willkür ist, je mehr sie ein Grund ist, andrer Willkür mit unsrer zu
vereinigen: desto mehr stimmt es mit den allgemeinen Prinzipien des Lebens, desto weniger Hindernis auch, desto größerer Einfluß auf die Verhältnisse und freie
Willkür anderer.“366 Solche Einstimmigkeiten der Willkür mit dem Ganzen, die
das vollständige Leben formen, es dadurch befördern und somit Wohlgefallen a
priori auslösen,367 haben die Zusammenstimmung derselben mit den allgemeinen
Gesetzen nötig. Und diese Allgemeinheit der Gesetze in der Zusammenstimmung
garantiert der Freiheit bzw. der freien Willkür, die, indem sie das tätige Subjekt
der Zusammenstimmung sowie das Begehrungsvermögen als inneres Prinzip des
Lebens ist, den Ursprung des geistigen Lebens darstellt,368 intellektuelle Lust. So
wird gesagt: „Freiheit ist das ursprüngliche Leben und in ihrem Zusammenhang
die Bedingung der Übereinstimmung alles Lebens; daher das, was das Gefühl allgemeinen Lebens befördert, oder das Gefühl von der Beförderung des allgemeinen
Lebens eine Lust verursacht. Fühlen wir uns aber wohl im allgemeinen Leben?
Die Allgemeinheit macht, daß alle unsere Gefühle zusammenstimmen, obzwar für
diese Allgemeinheit keine besondere Art von Empfindung ist. Es ist die Form des
consensus.“369 Unter Berücksichtigung des gesamten Zusammenhangs ließe sich
364
Vgl. Met.L/1, XXVIII 249f: „Fühle ich nun, daß etwas mit dem höchsten Grade der Freiheit,
also mit dem geistigen Leben übereinstimmt; so gefällt es mir. Diese Lust ist die intellektuelle Lust.
Man hat bei ihr ein Wohlgefallen, ohne daß es vergnügt.“
365
Vgl. Refl. 6865, XIX 185, υ.
366
Refl. 567, XV 246, υ (1776–78). Vgl. auch Refl. 824, XV 368, υ? (1776–78?): „Das Gefühl des
geistigen Lebens geht auf Verstand und Freiheit, da man in sich selbst die Gründe der Erkenntnis
und der Wahl hat. Alles, was damit zusammenstimmt, heißt gut. Dies Urteil ist unabhängig von der
Privatbeschaffenheit des Subjekts. Es geht auf die Möglichkeit der Sachen durch uns und besteht
in der Allgemeingültigkeit für jede Willkür; denn sonst ist eine andre widerstreitende Willkür die
größte Hindernis des Lebens.“
367
Vgl. Met.L/1, XXVIII, 250: „Was aber mit der Freiheit zusammenstimmt; das stimmt mit dem
ganzen Leben überein. Was aber mit dem ganzen Leben übereinstimmt, das gefällt“ (cf. Fußnote 207
in 1.5).
368
Vgl. auch Refl. 823, XV 367, υ? (1776–78?): „Intellektuelle Wesen sind also foci und niemals
bloße Mittel. Der Wert des Wohlgefallens und Mißfallens beziehen sich auf mögliche Wahl, d.i. auf
Willkür, folglich auf das principium des Lebens.“
369
Refl. 6862, XIX 183, ϕ? ψ? (1776–78?, 1780–89?). Diese Allgemeinheit läßt sich selbstverständlich auch als Regelmäßigkeit aus Vernunft begreifen, die das Gefühl der Lust und Unlust einflößt:
„Es ist nur ein Prinzip des Lebens und also nur ein principium des Gefühls von Lust und Unlust,
dieses [sc. das Gefühl von Lust und Unlust] kann nun auch durch die Vernunft (durch Regelmäßig-
105
daraus entnehmen: Drei Faktoren in der Moralitätsformel der Zusammenstimmung
der Freiheit mit den allgemeinen Gesetzen: Freiheit, Zusammenstimmung (consensus) und Allgemeinheit der Gesetze seien alle Bedingungen der Beförderung des
geistigen Lebens und generierten demnach zusammen das Wohlgefallen a priori
an ihm, mithin die intellektuelle Lust, wobei der erste Faktor das tätige Fundament
bzw. die ursprüngliche Bedingung, der zweite das in Zusammenhänge bringende
Medium bzw. die formale Bedingung, der dritte die Regel bzw. die materiale Bedingung der Beförderung des geistigen Lebens mit Wohlgefallen bilde.
Da Selbstzufriedenheit eine intellektuelle Lust ist, könnte sie sich auch auf ihre oben mit Bezug aufs geistige Leben dargestellten Charakteristiken beziehen. So
besteht denn auch das geistige Leben gefühlsmäßig in der moralischen Glückseligkeit als Zufriedenheit mit sich selbst, dementsprechend auch mit dem, was man
tut, und nicht was man genießt, und trachtet in ihr nach der wahren Glückseligkeit.
C. Die relative Gewichtsverlagerung bei der moralischen Triebfeder.
2.6 Ist die Selbstzufriedenheit als moralische Triebfeder tauglich?
2.6.1 Selbstzufriedenheit erhebt die Seele (Refl. 6892).
In der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Kantischen Grundlegung der Ethik
läßt sich Sittlichkeit, die subjektive Konfiguration der moralischen Gesetzlichkeit,
in der Aussicht auf wesentliche Zwecke endlicher Vernunftwesen, Glückseligkeit,
thematisieren. Sie kann aber von der letzteren als Zwecken nicht abhängen, sondern diese muß umgekehrt aufgrund jener in irgendeiner Weise hervorgebracht
werden. Daß es unmöglich ist, von sinnlicher, zufälliger Glückseligkeit ausgehend moralische Willensentscheidungen und Handlungen zu gestalten, ist in der
kognitiv-formalistischen Phase der Grundlegung hinreichend nachgewiesen worden. Daher sagt Refl. 6892 zuerst: „Der Begriff der Sittlichkeit besteht in der Würdigkeit glücklich zu sein“, welche aber „auf der Übereinstimmung mit den Gesetzen“ „beruht“.370 Für die ,moralisch-teleologische‘ Phase der Grundlegung der
Ethik gelten fundamental die Gleichungen: Sittlichkeit gleich Zusammenstimmung
mit den Gesetzen gleich Würdigkeit glücklich zu sein.
Die Sittlichkeit, die Zusammenstimmung mit den Gesetzen der freien Willkür,
ist die Zusammenstimmung der freien Willkür mit sich selbst; bei ihr ist es demnach um die Selbstbilligung der freien Willkür zu tun, deren Aktussubjekt in der
keit oder Regellosigkeit der Freiheit) rege gemacht werden“ (Refl. 6871, XIX 187, υ? ϕ?). Vgl. zur
Zusammenfassung Refl. 6870, XIX 187, υ? ϕ? (1776–78?): „Gefühl ist die Empfindung des Lebens.
Der vollständige Gebrauch des Lebens ist Freiheit. Die formale Bedingung der Freiheit als eines mit
dem Leben durchgängig einstimmigen Gebrauchs ist Regelmäßigkeit.“
370
Refl. 6892, XIX 195, υ (1776–78).
106
Willkür aber Vernunft ist, und sie löst demzufolge als solche im Gefühl der Lust
und Unlust als Empfänglichkeit des Gemüts Zufriedenheit mit sich selbst (moralische Lust) aus, ungeachtet, daß andere sich auch nicht sittlich, d.i. nicht mit den
Gesetzen übereinstimmend, verhalten mögen. Dementsprechend heißt es in dieser
Reflexion: „Diese Übereinstimmung mit allgemeingültigen Gesetzen der Willkür
ist nach der Vernunft ein notwendiger Grund unserer Selbstbilligung und Zufriedenheit mit uns selbst, was auch andre tun mögen.“371 (Cf. 2.4.1.)
Nun besteht hinsichtlich des inneren Beifalls, nämlich der Selbstbilligung, „der
größte Bewegungsgrund der Vernunft, unabhängig von Sinnen die Glückseligkeit
zu einem Produkt der Spontaneität zu machen“, was auch immer in äußeren Verhältnissen geschehen mag; m.a.W., bei ihm kann es sich um das größte Motiv zur
moralischen Nezessitation handeln, nach der das Prinzip der Autokratie der Freiheit sive der Epigenesis der Glückseligkeit ausgeführt wird. Denn 1. kann er „ein
hinreichender Bewegungsgrund, uns zu nezessitieren“ sein, wenn wir „viel Vergnügen der Sinne oder Stillungen ihrer Bedürfnisse“ entbehren können, um glücklich
zu sein, und 2. wird uns diese Entbehrlichkeit tatsächlich durch die Selbstzufriedenheit, die aus der Zusammenstimmung mit den Gesetzen im Gefühl der Lust und
Unlust entsteht, eingeräumt, indem diese positiv „die Seele erhebt und sie wegen
vieler sinnlichen Belustigungen ... schadlos hält“.372 Somit scheint in dieser Reflexion eine positive Funktion der Selbstzufriedenheit (eines moralischen Gefühls)
einmal als Triebfeder (elater) zur moralischen Handlung im Ausblick auf die wahre Glückseligkeit festgestellt zu sein, was nun dem Umstand nicht widerspricht,
daß sie auch einmal experimentell als die formale Bedingung aller notwendigen
Glückseligkeit erwogen wird (Refl. 7202). Die Selbstzufriedenheit, die die formale
Einheit der freien Willkür nach der Zusammenstimmung mit den Gesetzen gefühlsmäßig ausdrückt, kann möglicherweise als die exekutive Grundbedingung für die
Ausführbarkeit des Prinzips der Epigenesis der Glückseligkeit aus der Autokratie der Freiheit fungieren; ihre Wirkung als Erhebung der Seele kann dahingehend
verstanden werden, daß sie sich als Triebfeder (elater) zur Exekution des Moralprinzips zur Verfügung stellen kann. Allein, näher gesehen, Kant sagt nirgends
in dieser Reflexion, die Selbstzufriedenheit sei die Triebfeder zur Befolgung der
Gesetze bzw. zu moralischen Handlungen. Er erwähnt lediglich, beim inneren Beifall bestehe der größte Bewegungsgrund der Vernunft, unabhängig von den Sinnen
die wahre Glückseligkeit durch die Freiheit hervorzubringen, weil die Selbstzufriedenheit durch ihre Erhebung der Seele diese wegen vieler sinnlicher Belustigungen
schadlos hält. Der innere Beifall bezieht sich unmittelbar auf die moralische Dijudikation und kann demnach unmittelbar nach dem Gesetz als Bewegungsgrund zur
moralischen Handlung fungieren, während die Selbstzufriedenheit in dieser Reflexion nur dazu dient, Bedürfnisse der Sinne zu kompensieren. Nun bleibt zwar immerhin in den „Reflexionen“ zu dieser Zeit noch die Möglichkeit bestehen, daß die
371
XIX 195f.
XIX 196. Vgl. dazu auch Refl. 7202, XIX 278 Z18–20: „das Vermögen auch ohne LebensAnnehmlichkeiten zufrieden zu sein und glücklich zu machen“; Refl. 7204, XIX 283 ψ? υ? ϕ? (1780–
89? 1776–78?): „Die Selbstzufriedenheit der Vernunft vergilt auch die Verluste der Sinne.“
372
107
Erhebung der Seele durch Selbstzufriedenheit sich zur Triebfeder entfaltet. Später
wird jedoch mit dem Auftreten des Gefühls der Achtung als des zentralen moralischen Gefühls, das direkt aus dem Gesetz entspringt, auch diese Erhebung im
Gefühl, wofür in Refl. 6892 die Selbstzufriedenheit zuständig ist, in das Gefühl der
Achtung versetzt,373 welches dadurch die Rolle der Triebfeder übernimmt, und die
Selbstzufriedenheit zieht sich dadurch auf eine passive Rolle zurück. Ihre Untauglichkeit als moralische Triebfeder hat ihren Grund, dem unten noch nachgegangen
werden wird.
Da nun jener innere Beifall, obzwar er der größte Bewegungsgrund ist, für die
Realisierung des Prinzips der Autokratie/Epigenesis nicht zulänglich ist, um „ohne Einstimmung des Schicksals glücklich zu werden“, so „gibt die Idee von der
Möglichkeit eines heiligen und gütigen Wesens ... das Komplement“,374 d.h. es ist
notwendig, als Komplement der Autokratie der Freiheit in bezug auf die Glückseligkeit und mithin auch des Bewegungsgrunds eines inneren Beifalls (einschließlich der Selbstzufriedenheit) zur Hervorbringung der wahren Glückseligkeit das
Dasein Gottes zu postulieren.
2.6.2 Die Selbstzufriedenheit als Hauptstuhl für Glückseligkeit (Refl. 7202).
Eine Grundlegung der Ethik muß sich mit dem Begriff der Glückseligkeit befassen, die Kantische aber operiert, wie oben dargelegt, mit deren drei Arten: (1) die
sinnliche, zufällig gewirkte, (2) die wahre Glückseligkeit (die Glückseligkeit der
Verstandeswelt), die durch das Prinzip der Autokratie/Epigenesis hervorgebracht
werden soll, die aber in diesem Leben nicht realisierbar scheint, und (3) die reale Selbstzufriedenheit im jetzigen moralischen Lebenswandel. Die erste wird aber
von der Kantischen Ethik ausgeschlossen, so daß in ihr nur die beiden letzteren,
insbesondere aber der Zusammenhang zwischen ihnen, in Frage kommen. Da beide je in der Einstimmung der Freiheit (der freien Willkür) mit sich selbst als mit
den Gesetzen fundiert sind, so muß hier nach Zusammenhängen zwischen diesen
drei Begriffen, d.i. der wahren Glückseligkeit, der Selbstzufriedenheit und der formalen Einheit der freien Willkür nach den Gesetzen (Moralität), gefragt werden.
Die Erörterungen von Refl. 7202 drehen sich vor allem um den Zusammenhang
zwischen den beiden letzteren. Es steht bei Kant zur Zeit dieser Reflexion bereits
fest, daß die Moralität, die Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen, die
wahre Glückseligkeit hervorbringen muß (das Prinzip der Autokratie/Epigenesis).
Der Gedanke, daß die Zufriedenheit mit sich selbst, die aus dieser Zusammenstimmung hervorgeht, das strukturelle Fundament aller wahren Glückseligkeit ausmachen muß (Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“), erscheint ihm auch sicher und
wird in dieser Reflexion ebenfalls festgelegt. In was für eine Weise und in welVgl. dazu KpV, V 80 <A143>: „Dagegen aber, da dieser Zwang bloß durch Gesetzgebung der
eigenen Vernunft ausgeübt wird, enthält es [sc. das Gefühl, das aus dem Bewußtsein der Nötigung
entspringt] auch Erhebung“.
374
Refl. 6892, XIX 196.
373
108
chem Ausmaß sie es aber sein kann, hängt davon ab, wie nahe und in was für einer
Zusammenfügung sie zu der formalen Einheit der freien Willkür steht, die aus jener Zusammenstimmung derselben mit den Gesetzen formiert wird. Die Kantische
Analyse der Reflexion bewegt sich im Grunde um diese Nähe und Zusammenfügung. Durch sie stellt sich zwar heraus, daß die Selbstzufriedenheit das aller Glückseligkeit strukturell gemeinsame Fundament, deren Empfänglichkeit, sein kann, jedoch weder, daß sie Ursache der Hervorbringung der Glückseligkeit sei, noch, daß
sie der Bewegungsgrund zur moralischen Willkürbestimmung oder der exekutive
Grund zur Befolgung der Gesetze sei.375
Refl. 7202 (Duisburg 6),376 worin man einen Gipfel der Reflexionen Kants über
Moralphilosophie zu sehen hat, setzt sich aus zwei Teilen zusammen.377 Der erste Teil thematisiert jene Zusammenhänge zwischen Einstimmung der Freiheit mit
den Gesetzen (Moralität), Selbstzufriedenheit und wahrer Glückseligkeit, der zweite stellt eine summarische Überlegung Kants über die Grundlegung der Moralität
überhaupt sowohl in ihrer kognitiv-formalistischen als auch ,moralisch-teleologischen‘ Phase, allerdings ohne die Umwendungsphase, dar, in die auch das Ergebnis
der Analyse des ersten Teils eingegliedert wird.378 Unser Interesse liegt jetzt nur im
ersten Teil. Wie es mit ihm bestellt ist, das versuchen wir nun intensiv zu analysieren, weil Kants Gedankenstränge hier, große Möglichkeiten austragend, ziemlich
verschlungen sind.379 Erst dadurch können wir zu einem sicheren Ergebnis kom375
Dies gegen die Interpretation von L. W. Beck über Refl. 7202. Mit „Mißbilligung“ und „innerem
Abscheu“ (Refl. 7202, XIX 280 Z31f), die in dieser Reflexion zu einem anderen Kontext gehören,
wird an dieser Stelle sicher nicht eine Unzufriedenheit mit sich selbst gemeint. Vgl. dazu Beck, L.
W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, Chicago 1960, S. 215f. Der Satz „The
inner applaus is a sufficient motiv“ ist der Selbstzufriedenheit in dieser Reflexion fremd. Refl. 6892
würde zu seiner Interpretationsabsicht zwar besser passen, ist aber leider von Adickes in die Phase υ
(1776–78) datiert.)
376
Refl. 7202, XIX 276–282, ψ (1780–89). Beck datiert diese Reflexion zu Recht in die Zeit zwischen 1781 und 1784. Vgl. dazu Beck, L.W., op.cit., S. 11 (cf. Fußnote 401). P. Menzer glaubt,
„daß das Fragment vor der Kritik der reinen Vernunft anzusetzen ist“. Vgl. dazu: derselbe, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik in den Jahren 1760–1785, Zweiter Abschnitt, in: Kant-Studien,
Bd. 3, 1899, S. 70f. Auch die Datierungen der anderen Interpretatoren bis zu ihm faßt er an dieser
Stelle zusammen.
377
Der eine bezieht sich nach der Akademie-Ausgabe auf XIX 276 Z5 – 279 Z25 und S. 280
Z17–26, wobei die letztere, gesondert abgedruckte und in einen anderen Kontext eingeschobene kurze Stelle, ein gleichzeitiger Zusatz Kants auf dem Blattrand des Manuskripts, schlechterdings das
Schlußergebnis der Analyse des ganzen ersten Teils darstellt („Der Lehrbegriff der Moralität aus
dem Prinzip der reinen Willkür. / Dies ist das Prinzip der Selbstzufriedenheit a priori als der formalen Bedingung aller Glückseligkeit (pararell mit der Apperzeption)“, XIX 280 Z17–20), und der
andere Teil auf XIX 279 Z26 – 280 Z16 und S. 280 Z27 – 282 Z20; dieser ist ohne jenen Einschub
des Schlußergebnisses des ersten Teils durchgehend zu verstehen. Auch K. Schmidt analysiert das
Fragment durch die Zweiteilung desselben. Vgl. ders., Beiträge zur Entwicklung der Kant’schen
Ethik, Marburg 1900, S. 96–105. Damit warnt er davor, „daß, wo man bei Kant Auseinandersetzungen über das Verhältnis der Moralgesetze zur Glückseligkeit findet, man sofort bereit sei, ihn zu
einem individualistischen Eudämonisten zu stempeln“ (S. 96f) und kritisiert beide eudämonistischen
Interpretationen des Fragments von Fr. W. Förster (cf. Fußnote 379) und H. Höffding (S. 95). Ihm
zufolge soll schon H. Cohen beide Teile desselben getrennt von einander abgehandelt haben.
378
Vgl. Refl. 7202, XIX 281 Z28–33.
379
Zu Refl. 7202 gibt Fr. W. Förster als einer der Pioniere ausführliche Erläuterungen. Vgl. dazu
109
men.
(a) Die zwei Arten der Glückseligkeit: Glückseligkeit der Annehmlichkeiten
und Glückseligkeit aus Freiheit.
„Seinen Zustand angenehm zu finden, beruht auf dem Glück“, und so können „die
Annehmlichkeiten dieses Zustandes“ „als Glückseligkeit“ betrachtet werden, und
man kann sich über sie erfreuen.380 Da aber diese Glückseligkeit in der Befriedigung von Bedürfnissen der Sinne gründet, so ist sie weder gewiß noch allgemein und kann niemals befriedigt werden. Denn ihre inneren Bedingungen, die
Bedürfnisse der Sinne, sind variabel; „sie steigen immer in der Forderung“. Sie ist
aber auch deshalb zufällig und unsicher, weil sie äußerlich empirisch durch Veränderlichkeit des Glücks und Zufälligkeit günstiger Umstände bestimmt wird, und
weil außerdem das Leben kurz ist.381 Sie bezieht sich demnach auf die oben genannte sinnliche, zufällig gewirkte Glückseligkeit. M.a.W.: Das „Wohlgefallen an
Dingen, die unsere Sinne rühren“, auf dem die sinnliche, zufällige Glückseligkeit
von Annehmlichkeiten beruht, ist „nicht im Objekte“ (das dürfte heißen, nicht in
der objektiven Ordnung wie etwa einer intelligiblen Welt), sondern „in der individuellen oder auch spezifischen Beschaffenheit unseres Subjekts“ verankert und
demnach „nicht notwendig und allgemeingültig“.382 Diese Glückseligkeit wird für
das Handlungssubjekt nur empirisch, demnach nur passiv und leidend hervorgebracht und ist daher niemals gewiß. Auf sie kann nicht Wert gelegt werden. Die
Ableugnung der sinnlichen, von außen zufällig gewirkten Glückseligkeit wird damit kognitiv-formalistisch durch den Rekurs auf die Unsicherheit und Zufälligkeit
der empirischen Abläufe der Sinnenwelt, die sowohl innerliche als auch äußerliche
Bedingungen derselben ausmachen, vollzogen.
Zum Vergleich mit den späteren Schriften: Diese Art der Glückseligkeit besteht, genauer besehen, nicht unmittelbar in den „Sinnen“, sondern in dem in der
„Anthropologie“ erwähnten „inwendigen Sinn“ (sensus interior), in dem das Gefühl der Lust und Unlust sitzt. Dieses tritt nun in dieser Reflexion als das Wohlgefallen an den die Sinne rührenden Dingen auf, bei dem, weil es durch empirische
Bestimmungsgründe der Willkür bzw. deren Vorstellungen ausgelöst wird, nur von
der pathologisch-praktischen Lust und Unlust in der KpV und KU bzw. von dem
Wohlgefallen am Angenehmen im Unterschied zu demjenigen am Schönen und am
Foerster, Fr. W., Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik bis zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1893, S. 39–75. Auch J. Bohatec gibt ihr einen Kommentar, der ihren äußeren Zusammenhängen
mit anderen Reflexionen sowie den Einflüssen einiger Autoren auf sie nachgeht, ohne jedoch zugleich ihre innere Struktur genau zu rekonstruieren. Vgl. dazu Bohatec, J., Die Religionsphilosophie
Kants ..., S. 132–146. P. Menzers Erläuterungen zu der Reflexion finden sich in: Menzer, P., op.cit.,
S. 70–76. Neulich hat M. Forschner das Fragment in der Absicht der Rekonstruktion von Relexionen der siebziger und achtziger Jahre behandelt. Vgl. ders., Moralität und Glückseligkeit in Kants
Reflexionen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 42, 1988.
380
Refl. 7202, XIX 277 Z12f.
381
XIX 277 Z17–23. Vgl. dazu auch KpV, V 118 <A212f>.
382
Refl. 7202, XIX 276 Z5–10.
110
an sich Guten in der KU die Rede ist. In dieser Art der Glückseligkeit, die das Ideal
der Einbildungskraft in der GMS ist, ist das Glückseligkeitsprinzip der KpV, das
mit dem Prinzip der Selbstliebe identifiziert wird, beheimatet.
Der eben dargestellten Glückseligkeit von Lebensannehmlichkeiten, die nur
sinnlich ist und zufällig bewirkt wird, wird nun aber von Kant eine andere Art
der Glückseligkeit, die „reine Glückseligkeit“,383 oder, mit dem Ausdruck von Refl. 6907, die wahre Glückseligkeit, entgegengesetzt, um die es in Refl. 7202 eigentlich geht. Sie „muß von einem Grunde a priori, den die Vernunft billigt, herkommen“384 und „besteht eben im Wohlbefinden, sofern es nicht äußerlich zufällig ist, auch nicht empirisch abhängend, sondern auf unsrer eignen Wahl beruht“,
welche spontan (selbsttätig) „bestimmen“ muß und „nicht von der Naturbestimmung abhängen“ darf. Mit solcher freien Wahl, aus der dem Gesagten zufolge das
intellektuelle Wohlbefinden, folglich auch die wahre Glückseligkeit entspringen
soll, ist die Wahlfreiheit unter den Gesetzen, das arbitrium liberum intellectuale (cf. 1.2.3.f), gemeint, welches hier auch „die wohlgeordnete Freiheit“ genannt
wird.385 Diese reine bzw. wahre Glückseligkeit ist die Idee der Vernunft, die dem
Ideal der Einbildungskraft entgegenzustellen ist, als das in der GMS Glückseligkeit bezeichnet wird. Daher wird auch gesagt: „Die [reine bzw. wahre] Glückseligkeit ist nicht etwas Empfundenes sondern Gedachtes. Es ist auch kein Gedanke,
der aus der Erfahrung genommen werden kann, sondern der sie allererst möglich
macht.“386 Sie ist die Idee eines „vollständigen Guts“,387 das zum höchsten Gut
zu zählen ist. Dem Gesagten zufolge wäre sie auch als Glückseligkeit der Verstandeswelt zu erachten. Gleichwohl ist ihre „Materie“ „sinnlich“ und dürfte demnach
womöglich inhaltlich mit der sinnlichen zufälligen Glückseligkeit gleichzusetzen
sein, während ihre „Form“ „intellektuell“ ist und in der Freiheit unter Gesetzen
a priori besteht.388 Kurzum, nachdem die sinnliche, zufällige Glückseligkeit oben
kognitiv-formalistisch zurückgewiesen worden ist, wird eine andere Art der Glückseligkeit ,moralisch-teleologisch‘ und architektonisch im Ausblick auf das höchste
Gut (Endzweck) als Vernunftidee wieder wahrgenommen; sie involviert aber somit
wieder sinnliche Materie.
(b) Die äußerliche Argumentation zur Freiheit unter allgemeinen Gesetzen als
der notwendigen Bedingung der Möglichkeit der Glückseligkeit.
Die durch die Vernunft belehrte Gesinnung oder die freie Willkür unter allgemeinen Gesetzen, die sich aller der Materialien zum Wohlbefinden, demnach zur
Glückseligkeit, wohl und einstimmig bedient, ist a priori gewiß, vollständig erkennbar und dem Handlungssubjekt eigen.389 Gewißheit und allgemeine Notwen383
Refl. 7202, XIX 281 Z27f.
XIX 277 Z14f.
385
XIX 276 Z22–26.
386
XIX 278f.
387
XIX 281 Z27. Vgl. dazu z.B. KrV, III 527 Z33 – 528 Z12 <B841f>.
388
XIX 276 Z18–20.
389
Vgl. Refl. 7202, XIX 277 Z23–26.
384
111
digkeit in der Gestaltung der Glückseligkeit sind ihr zuzuschreiben, während Bedürfnisse der Sinne und äußere empirische Naturverläufe diese Kriterien der wahren, reinen Glückseligkeit nicht erfüllen können. Der Mensch ist durch sie Urheber
der Glückseligkeit ungeachtet der empirischen Bedingungen, und darin besteht ihr
hoher Wert, wobei sie Tugend genannt wird.390 Da sie sich also zur wahren Glückseligkeit aller Materialien einstimmig bedient und sie dadurch notwendig und allgemein, demnach auch gewiß hervorbringt, so hat man an ihr die „Funktion der
Einheit a priori aller Elemente der Glückseligkeit“ zu sehen. Die Freiheit nämlich
unter allgemeinen Gesetzen (Moralität) ist diese Einheit a priori und „die notwendige Bedingung der Möglichkeit und das Wesen derselben [sc. der Glückseligkeit]“.
Sie macht die Glückseligkeit als solche möglich.391 D.h.: Durch die Moralität, die
auf Selbsttätigkeit und Zuverlässigkeit der Freiheit unter den Gesetzen beruht, kann
die wahre Glückseligkeit als Einheit zusammengesetzt und dadurch auch hervorgebracht werden.
(c) Die innerliche Argumentation zur Freiheit unter allgemeinen Gesetzen als
Form der Glückseligkeit.
Die Gesetze, die die Wahlfreiheit, d.i. das arbitrium liberum, mit sich selbst in Einstimmung bringen, enthalten den Grund eines notwendigen Wohlgefallens, während das Wohlgefallen an den die Sinne rührenden Dingen nicht notwendig und
allgemeingültig ausgelöst wird.392 Nun besteht Glückseligkeit in einem Wohlbefinden. Die wahre bzw. reine Glückseligkeit besteht in dem Wohlbefinden, das
auf der Freiheit unter allgemeinen Gesetzen, die für die Hervorbringung derselben
selbsttätig und zuverlässig wirkt, beruht.393 Sie ist demnach in der Notwendigkeit
des Wohlgefallens bzw. des in diesem bestehenden Wohlbefindens aus der Freiheit
unter den Gesetzen fundiert. Damit ist nun also anzunehmen, daß ihre Form die
Freiheit unter den Gesetzen (Moralität) ist.394 Das notwendige Wohlgefallen als
Element der wahren Glückseligkeit verbindet diese innerlich mit dem Begriff der
Freiheit nach den Gesetzen, und die Verbindung findet sich begrifflich in der Form
der Glückseligkeit. Die Genese des Begriffs einer Form der Glückseligkeit ist hier
im notwendigen Wohlgefallen verankert.
(d) Die erste Determination der Selbstzufriedenheit: ,den datis der Natur nicht
zuwider sein‘.
Die Selbstzufriedenheit wird in dieser Reflexion daraus konzipiert, daß der Gebrauch der freien Willkür eines Vernunftwesens nicht den ,Data‘ zur Glückseligkeit, die ihm Natur gibt, zuwider sein soll.395 Damit nähert sich Kant unbewußt
390
Vgl. XIX 277 Z29–34.
XIX 277 Z3–7.
392
Vgl. Refl. 7202, XIX 276 Z10–14.
393
Vgl. XIX 276 Z22–26.
394
Zur „Form der Glückseligkeit“ vgl. XIX 276 Z18, 277 Z8.
395
Refl. 7202, XIX 276 Z27f.
391
112
dem stoischen Moralprinzip: Vive convenienter naturae.396 Dieses ,Nicht zuwider‘
als Eigenschaft der freien Willkür soll „die conditio sine qua non der Glückseligkeit“ sein.397 Die erwähnte erste Determination der Selbstzufriedenheit ließe sich
wie folgt erläutern: Mit der Bedingung ,den datis der Natur nicht zuwider sein‘,
die zunächst ohne den direkten Bezug auf einen Gefühlszustand, Wohlgefallen,
eingeführt wird, ist auf der Gefühlsebene nicht etwa der Anspruch einer völligen
Befriedigung von Bedürfnissen der Sinne gemeint, sondern im Gegenteil die Enthaltsamkeit in denselben; das Nicht-zuwider bedeutet: ohne von ihnen herumgetrieben zu werden, mit der Selbstmacht seiner Freiheit zufrieden zu sein, so klein
diese auch sein mag; die Einschränkung auf sich selbst zeigt sich demnach als ,der
Natur nicht zuwider‘. Daher heißt es: „Glückseligkeit ist eigentlich nicht die größte
Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewußtsein, seiner Selbstmacht
zufrieden zu sein“.398 Bei der Verbindung von Nicht-zuwider und Zufriedenheit
mit der Selbstmacht seiner Freiheit, die den Begriff der Selbstzufriedenheit bildet,
müßte es zuletzt auf den Begriff einer Freiheit ankommen, die mit den Gesetzen
zusammenstimmt. Dementsprechend wird die Selbstzufriedenheit für „die wesentliche formale Bedingung der Glückseligkeit“399 genommen.
(e) Die Selbstzufriedenheit als formale Bedingung der wahren Glückseligkeit
(Hauptstuhl von Zufriedenheit).
Aus der Aufstellung des Begriffs einer Form der Glückseligkeit als Verbindung
der Freiheit unter Gesetzen mit der Glückseligkeit durchs notwendige Wohlgefallen in (c) wird nun aber auch die Möglichkeit eröffnet, daß die in (d) eingeführte
Selbstzufriedenheit, als ein notwendiges Wohlgefallen, aus dem die Glückseligkeit
wesentlich besteht, den Status einer formalen Bedingung der Glückseligkeit bekommt. Die Selbstzufriedenheit spielt zwischen Freiheit und Glückseligkeit eine
vermittelnde Rolle. Denn als Folgen daraus lassen sich ansehen: (1) Bei der „ursprüngliche[n] Form der Glückseligkeit, bei welcher man der Annehmlichkeiten
gar wohl entbehren und dagegen viel Übel des Lebens ... übernehmen kann“, wird
die Zufriedenheit doch nicht nur nicht vermindert, sondern sogar ,erhoben‘, d.h.
gesteigert.400 Denn das notwendige Gefallen kann durch den angesichts der Übel
des Lebens verstärkten Gebrauch der Freiheit unter den Gesetzen gesteigert werden. (2) Die „Tugend“, die durch die Vernunft belehrte Gesinnung, die in der Frei396
Vgl. zu diesem Moralprinzip Ethik Menzer S. 33f, Refl. 6658, XIX 125f, Refl. 6984–86, XIX
219f; Baumgarten, A., Initia philosophiae practicae § 45–47, in: AA, XIX 25f. Für Kant scheidet
dieses Prinzip als Moralgesetz aus, weil für ihn die Natur, die in ihm enthalten ist, im Gegensatz
zur Freiheit steht. Es taugt nur zu einer Regel der Klugheit und zwar zu einer nicht ausgezeichneten.
Gleichwohl übernimmt er mit dem Begriff der Selbstzufriedenheit de facto seinen Geist. Zu diesem
stoischen Moralprinzip cf. 2.2.1.(3). Unterdessen verwendet er es in der MS für die negativen Pflichten gegen sich selbst, welche auf die moralische Selbsterhaltung gehen, ohne die Stoiker namhaft zu
machen (MS, VI 419).
397
Refl. 7202, XIX 276 Z29f.
398
XIX 276 Z30–32.
399
XIX 276f.
400
Refl. 7202, XIX 277 Z8–11.
113
heit unter Gesetzen verankert ist und dadurch „die größte Wohlfahrt zuwegebringen“ können soll und mit welcher Vernunftwesen „unangesehen der empirischen
Bedingungen“ „Urheber“ derselben sein können, führt somit „Selbstzufriedenheit“
bei sich. Die Selbstzufriedenheit macht dementsprechend die formale Bedingung,
d.i. das innere strukturelle Fundament der wahren Glückseligkeit aus, die auf der
Freiheit unter allgemeinen Gesetzen beruht, und ist demnach „Hauptstuhl von Zufriedenheit“, „ohne welchen keine [wahre bzw. reine] Glückseligkeit möglich ist,
das Übrige sind Akzidenzien“.401 Eine Schwäche dieser Auslegung mag nun aber
daran liegen, daß Kant selber nirgends in dieser Reflexion ausdrücklich äußert, die
Selbstzufriedenheit sei ein notwendiges Wohlgefallen aus Freiheit. Solches aber
läßt sich, wie oben ausgeführt (cf. 2.5.1), aus dem ganzen Zusammenhang der „Reflexionen“ wohl feststellen.
Wie denn die Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“ für wahre Glückseligkeit
auf der Freiheit nach Gesetzen beruhen muß, wird von Kant auch formal in bezug
auf ,unsere wesentlichen Zwecke‘ expliziert. Da nämlich die „Zufriedenheit“, womit das wesentliche Element der wahren Glückseligkeit gemeint sein dürfte, mithin
auch die Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“ für dieselbe, mit „unseren wesentlichen und höchsten Zwecken“, bei denen von den Zwecken in einer systematischen
Einheit und der dazu gehörenden wahren Glückseligkeit die Rede sein dürfte, „zusammenhängen“ muß, und da Naturgeschenk, Glück und Zufall nicht zu diesen
Zwecken zusammenstimmen können und „keine noch höheren Bewegungsgründe
und ein höheres Gut gegeben worden“ sind, so muß der „Hauptstuhl“ für Glückseligkeit (die Selbstzufriedenheit) auf nichts anderem als der Freiheit nach Gesetzen
beruhen, „damit wir uns ihn selbst nach der Idee des höchsten Guts machen können“.402 Die Argumentation beruht offensichtlich auf der Aussicht, daß auch die
Selbstzufriedenheit, die jene vermittelnde Rolle spielt, sich als wesentliches Element der Glückseligkeit auf die wahre Glückseligkeit bzw. die Glückseligkeit der
Verstandeswelt bezieht, die in der geistigen Ausdehnung von der Freiheit zu ihr
vom Prinzip der Autokratie/Epigenesis zu realisieren ist.
Die Selbstzufriedenheit als die formale Bedingung der Glückseligkeit, d.h.
„der Hauptstuhl von Zufriedenheit“, bei dem es nicht auf die Bedingung der Möglichkeit der Hervorbringung derselben, sondern auf ihre fundamentale Struktur ankommt, besteht also „in der Freiheit ... nach Gesetzen, einer durchgängigen Zusammenstimmung mit sich selbst“.403 Man kann demzufolge auch kurz so formulieren:
Die formale Bedingung der Glückseligkeit beruht auf der Form der Glückseligkeit.
Dabei ist aber zu beachten, daß die Freiheit nach Gesetzen, die Moralität, die
wohl real die Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“ für Glückseligkeit verschaffen
kann, dem Menschen von solcher moralischen Gesinnung doch nur die Würdigkeit glücklich zu sein verleiht. Sie ist bloß „regulatives Prinzip der Glückseligkeit
401
XIX 278 Z1–4. Zum „Hauptstuhl von Zufriedenheit“ vgl. auch Refl. 1511, XV 831 Z18, ψ1−2
(1780–84). Die Datierung für diese Reflexion von Adickes läßt vermuten, daß Becks Datierung für
Refl. 7202 (cf. Fußnote 376) wahrscheinlich ist.
402
XIX 278 Z5–15.
403
XIX 278 Z14f.
114
a priori“. Sie „verspricht“ „das Empirische der Glückseligkeit“ nicht; „sie enthält
... an sich keine [empirischen] Triebfedern“. Das Wohlgefallen an ihr wird nur
„aus einem allgemeinen Gesichtspunkte a priori, d.i. vor der Vernunft“ hervorgerufen.404 Diese apriorische Allgemeinheit ohne empirische Triebfedern charakterisiert eben das Wohlgefallen an ihr, nämlich die Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“ für wahre Glückseligkeit.
Nun entwickelt Kant aufgrund der erlangten Grundthese vom „Hauptstuhl“ für
Glückseligkeit ein paar Terme: (1) Der freie Mensch, d.i. das mit Freiheit versehene endliche Vernunftwesen, hat im Bewußtsein das Vermögen der Selbstzufriedenheit, d.i. des „Hauptstuhls“ („die Empfänglichkeit“), in dem alle Glückseligkeit
aufzunehmen ist: „das Vermögen, auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden
zu sein und glücklich zu machen“. „Dieses ist das Intellektuelle der Glückseligkeit.“405 Denn die Freiheit nach Gesetzen (arbitrium liberum intellectuale) ist der
Vernunft und deren Ordnung untergeordnet und demnach intellektuell. Die wahre Glückseligkeit beruht wesentlich auf dem Intellektuellen, das sich am notwendigen Wohlgefallen (der intellektuellen Lust), der Selbstzufriedenheit, zeigt. (2)
Der „Hauptstuhl“, der auf der Freiheit nach Gesetzen gründet, rekrutiert sich nicht
aus etwas Realem, d.i. hier Vergnügen oder der Materie der Glückseligkeit, sondern sein Begriff enthält „die formale Bedingung der Einheit“ für die Glückseligkeit, welche auch „Spontaneität des Wohlbefindens“ zu nennen ist und in der
auch der „Wert der Person“ verankert ist.406 Die Spontaneität des Wohlbefindens
könnte mit dem obengenannten Intellektuellen der Glückseligkeit identisch sein.
Daß hinsichtlich des „Hauptstuhls“ die formale Bedingung der Einheit der Glückseligkeit, die Spontaneität des Wohlbefindens, besteht, basiert vermutlich darauf,
daß der „Hauptstuhl von Zufriedenheit“ in der formalen Einheit der freien Willkür
(„Identität meines Wollens“407 ) liegt. Diese wird durch die Zusammenstimmung
der letzteren mit allgemeinen Gesetzen gebildet, und in ihr ist eigentlich der Wert
der Person zu erkennen. Wie diese das Subjekt der Spontaneität ist, so involviert
der „Hauptstuhl“, der auf der formalen Einheit des freien Willens in ihr beruht,
auch das Element der Spontaneität.
Kants eben dargestellte Analyse der Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“ für
Glückseligkeit stellt heraus, daß es ihr um den Zusammenhang zwischen Freiheit nach Gesetzen (Moralität) und formaler ästhetischer Empfänglichkeit für wahre Glückseligkeit (Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“) geht; in dieser Reflexion
handelt es sich bei der Selbstzufriedenheit, einem moralischen Gefühl, nicht etwa
um eine psychologische Ursache für die Hervorbringung der wahren Glückseligkeit (moralische Triebfeder), sondern vielmehr um diejenige Wirkung aus der Freiheit nach Gesetzen, die die innere Basisstruktur der wahren Glückseligkeit a priori
404
XIX 279 Z9–25. Zu „keine Triebfedern“: Es kann bei Kant stattfinden, daß ein Ausdruck „kein
...“ sich lediglich auf das Empirische bezieht und nicht das Moralische betrifft. Vgl. dazu z.B. GMS,
IV 449 Z14 <B102>: „kein Interesse“.
405
XIX 278 Z17–20.
406
XIX 278 Z21–25.
407
Refl. 7204, XIX 284 Z1f, ψ? υ? ϕ? (1780–89? 1776–78?).
115
ausmacht.
Kants Denken über die Selbstzufriedenheit geht aber in dieser Reflexion noch
auf ein weiteres Ziel. Glückseligkeit wird nämlich hinsichtlich ihres Existenzmodus der Kantischen Zweiweltenlehre gemäß zweifach differenziert, „entweder wie
sie erscheint, oder wie sie ist“. Es könnte dem ersteren die sinnliche zufällige,
dem letzteren die wahre Glückseligkeit zugewiesen werden. Die letztere nun soll
durch „moralische Kategorien“ konstituiert werden, die an sich selbst die „Form
der Freiheit“ vorstellen.408 Behält man darüber hinaus im Auge, daß die Selbstzufriedenheit als „Hauptstuhl“ für Glückseligkeit zu einer Apperzeption („apperceptio iucunda primitiva“) erhoben wird,409 und berücksichtigt man zugleich die
hier verwendete Terminologie wie etwa Form und Materie der Glückseligkeit, formale Bedingung der Einheit, das Intellektuelle, Spontaneität etc., so muß man zur
Vermutung kommen, daß Kant hier mit der Möglichkeit einer Synthesis der Glückseligkeit durch Freiheitskategorien410 nach dem Modell der transzendentalen Deduktion in der KrV experimentiert. Die Selbstzufriedenheit also ist in Refl. 7202
nicht in Hinsicht auf die exekutive Kraft zur moralischen Handlung (Triebfeder),
mithin auf eine eudämonistische Ethik, sondern im praktisch-theoretischen Interesse an der Möglichkeit der Konstitution einer wahren Glückseligkeit durch Freiheit
thematisiert. Es kann allerdings die Möglichkeit nicht vollauf ausgeschlossen werden, daß die „Spontaneität des Wohlbefindens“ doch in Richtung auf die Triebfeder
verstanden werden könnte.
2.6.3 Die Selbstzufriedenheit ist zur moralischen Triebfeder nicht fähig.
Es kann nun zunächst angenommen werden, daß Kant vor der KpV auch die Selbstzufriedenheit für die Triebfeder zur moralischen Willkürbestimmung hält. Denn
bei der ersteren handelt es sich um das wesentliche Element der Seligkeit, die ein
Begriff ist, der zum Begriff vom Reiche Gottes gehört. Dieser Begriff wird nun, wie
unten gezeigt wird (cf. 2.7.2), von Kant bis zur KrV ausdrücklich als die Triebfeder
bezeichnet. Also sei die Selbstzufriedenheit die moralische Triebfeder.
Die Begriffe von Selbstzufriedenheit und Seligkeit erscheinen schon in der früheren Periode miteinander verbunden: „Die Selbstzufriedenheit, zu der die Welt
keinen äußeren Zusatz enthält, Seligkeit.“411 Sie ist von himmlischer Herkunft:
„Diese Wollust [sc. die Selbstzufriedenheit] ist vom Himmel genommen und das
ambrosia der Götter.“412 Ihre Unterscheidung von der sinnlichen, zufälligen Glückseligkeit wird auch dadurch vollzogen, daß sie dem Begriff der Seligkeit analogisch gedacht wird. Die göttliche Seligkeit, die Selbstgenugsamkeit, sei zwar von
der Glückseligkeit unterschieden, die auf äußeren Dingen beruht, aber „Analogon
408
Refl. 7202, XIX 278 Z26–32.
XIX 278 Z4f.
410
(Zu Kants Versuchen zu den Freiheitskategorien vgl. z.B. Refl. 6888, XIX 192f, υ? ϕ? (1776–
78). Ein Ergebnis aus ihnen hat er in der KpV angezeigt, ohne jedoch Bezug auf die Glückseligkeit
zu nehmen. Vgl. dazu KpV, V 66 <A117>.
411
Refl. 6616, XIX 111, κ–λ? (1769–70?).
412
Refl. 6915, XIX 205, υ (1776–78).
409
116
der Selbstzufriedenheit, nichts Äußeres zu bedürfen“.413 In einer Vorlesungsnachschrift sagt Kant: „Erstreckt sich diese Selbstzufriedenheit auf unsere ganze Existenz; so heißt sie Seligkeit“; diese sei der höchste Grad der Selbstzufriedenheit.414
Die Nähe beider Begriffe zueinander ist auch in der KpV unverändert: Der Genuß aus der Freiheit (Zufriedenheit mit seiner Person) sei der Seligkeit ähnlich und
wenigstens seinem Ursprung nach der Selbstgenugsamkeit Gottes analogisch.415
Obwohl Kant es mittels der Idee der Seligkeit für möglich zu halten scheint,
daß die Selbstzufriedenheit die moralische Triebfeder sei, läßt sich dies in den
konkreten Analysen über sie, wie sie etwa in Refl. 6892 und Refl. 7202 angestellt
sind, wie oben dargelegt (cf. 2.6.1 und 2.6.2), nicht überzeugend beweisen. Denn
sie wird in menschlicher Wirklichkeit nicht von der Idee der Seligkeit abgeleitet, sondern muß erst durch die Freiheit unter allgemeinen Gesetzen (und mithin
die formale Einheit des Wollens im Gebrauch der Freiheit) erlangt werden, in der
auch eine moralische Triebfeder ursprünglich liegen muß. Sie ist diesseitig-real
(cf. 3.5.a), wird aber in Wirklichkeit mit der Idee der Seligkeit nicht so sicher verknüpft, daß sie auch durch ihre Potenz zur Seligkeit die Rolle einer moralischen
Triebfeder spielen könnte. Denn einerseits kann sie während des Lebens gewiß
nicht vollständig erreicht werden,416 auf der anderen Seite hält man die Idee der
Seligkeit wegen ihrer objektiven Irrealität für unverständlich.417 Die mit der Seligkeit in Zusammenhang gebrachte Selbstzufriedenheit liefert daher ursprünglich
wenig reale Kraft zur moralischen Motivation. Da es indessen bei einer Triebfeder auf eine reale verbindende Kraft ankommt, muß auch die moralische in einer
realen faktischen Kausalität der Moralität unmittelbar fundiert sein, während die
Selbstzufriedenheit zwar real, jedoch eigentlich vielmehr erst eine Wirkung dieser
Kausalität ist. Die Selbstzufriedenheit, die der Idee der Seligkeit analog gedacht
wird, bewährt sich also nicht als moralische Triebfeder.
Nun führt K. Düsing zwei Reflexionen als Belege dafür ein, daß die Selbstzufriedenheit moralische Triebfeder sei.418 Sie sind aber als Belege ganz schwach. (1)
In der einen wird die Triebfeder nicht unmittelbar mit der Macht der Selbstzufriedenheit, sondern genauer mit der Macht des Moralischen derselben gleichgesetzt,
welche sich auf die Moralität selbst, mithin möglicherweise auch auf das Gesetz
beziehen kann.419 Daraus kann man allenfalls folgern, daß sie als Triebfeder nur seRefl. 5631, XVIII 262, χ–ψ? (1778–1789?).
Religionslehre Pölitz (WS 1783/84?), XXVIII 1089f.
415
Vgl. KpV, V 118 Z24–37 <A213f>.
416
Vgl. Anthr., VII 234f: „Wie steht es aber mit der Zufriedenheit (acquiescentia) während dem
Leben? – Sie ist dem Menschen unerreichbar: weder in moralischer (mit sich selbst im Wohlverhalten
zufrieden zu sein) noch in pragmatischer Hinsicht (mit seinem Wohlbefinden, was er sich durch
Geschicklichkeit und Klugheit zu verschaffen denkt).“ Vgl. dazu auch KpV, V 25 Z12–17 <A45>.
417
Refl. 6883, XIX 191, υ? (1776–78?): „Von der bloß moralischen Gückseligkeit oder der Seligkeit
verstehen wir nichts.“
418
Vgl. Düsing, K., Das Problem des höchsten Gutes ..., S. 26.
419
Vgl. Refl. 7237, XIX 292, ψ? (1780–89?): „... Worin das Moralische der Selbstzufriedenheit
bestehe und die Macht desselben als Triebfeder, die sehr groß werden kann“. Die Reflexion könnte
inhaltlich gut mit Refl. 6892 zusammenhängen.
413
414
117
kundär gelten kann. (2) In der anderen wird die treibende Kraft, die Triebfeder, mit
dem Gefühl des Wohlgefallens, das auf sich selbst und die Selbstschätzung angewandt wird, in Zusammenhang gebracht.420 Freilich ist es richtig, daß die treibende
Kraft im Gefühl der Lust und Unlust sitzt. Allerdings muß dieses Gefühl des Wohlgefallens nicht unbedingt die Selbstzufriedenheit sein. Es kann diese, aber auch ein
anderes moralisches Gefühl sein, und eben das Gefühl der Achtung geht auf sich
selbst und ist Selbstschätzung.421 In dieser Reflexion kommt jedenfalls das Wort
,Selbstzufriedenheit‘ nicht vor. In beiden Reflexionen wird darüber hinaus keine
konkrete Analyse der Realität der Selbstzufriedenheit angestellt; eine solche Analyse würde vielmehr zu dem Ergebnis führen müssen, daß sie nicht als primäre
moralische Triebfeder tauglich ist.
2.6.4 Die Unterscheidung der moralischen Triebfeder vom moralischen
Gefühl (Refl. 6864).
Obwohl Kant schon früh auf seinem moralphilosophischen Denkweg zu der Erkenntnis gekommen ist, daß das moralische Gefühl nicht der erste Grund der Moralität ist, sofern dieser von uns erkannt werden kann, so ist er sich doch auch
darüber im klaren, daß es in ihrer Ausübung immer noch eine ziemlich gewichtige
Rolle spielt. Es muß also spezifiziert werden, was für ein moralisches Gefühl und
in Beziehung auf welchen Grund der Moralität es diese Rolle spielt. Seitdem ihm
nun einerseits schon bis zu Periode η, genauer den „Bemerkungen“ (1764/65), die
Gründung seiner rationalen Gesinnungsethik gelungen ist, ist es beinahe immer
die Ausgangsbasis seines ethischen Denkens, daß das Gesetz als principium diiudicationis moralis den von uns erkennbaren ersten Grund der Moralität ausmacht,
obwohl noch über seine Zusammenhänge mit anderen möglichen elementaren Begriffen der Moralität weiter zu reflektieren ist. Auf der anderen Seite scheint ihm
das Prinzip der Beurteilung allein nicht mächtig genug zu sein für den exekutiven
Grund zur wirklichen moralischen Handlung, weil das Gefühl sicher zur Exekution
der moralischen Handlungen durch ein endliches Vernunftwesen beiträgt und weil
in Wirklichkeit auch eine Zweckidee wie etwa die Idee vom Reich Gottes für dieses
Vernunftwesen als bewegende Kraft zur moralischen Handlung wirkt. Von da her
sehen manche Interpretatoren im Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst, die sich
schließlich als wesentliches Element der Seligkeit im Reich Gottes vollauf realisieren soll, die bewegende Kraft zur moralischen Exekution; diese Ansicht (religiösen
Eudämonismus) soll Kant bis Mitte der achtziger Jahre vertreten haben. Allein die
reale Selbstzufriedenheit, die er tatsächlich analysiert, läßt sich, wie dargelegt, nur
durch die Freiheit unter den Gesetzen, d.i. durch das Prinzip ihrer Zusammenstimmung mit sich selbst, auslösen und ist demnach Wirkung aus dem dieser Freiheit
gemäßen Wohlverhalten, keineswegs Ursache desselben. Sie mag nämlich wohl als
solche noch die Handlung zur Moralität bewegen, jedoch wirkt solche bewegende
Vgl. Refl. 6866, XIX 185f, υ (1776–78).
Vgl. dazu MS, VI 399 Z7: „die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung)“; KpV, V 161 Z18
<A287>.
420
421
118
Kraft erst sekundär. Man muß also noch nach einem moralischen Gefühl suchen,
das unmittelbar aus der Freiheit nach Gesetzen entsteht und ohne weiteres den Willen moralisch bestimmen kann. Dabei hilft eine klare funktionale Unterscheidung
der moralischen Triebfeder, die den Willen unmittelbar bestimmt und im Umkreis
der Freiheit nach Gesetzen gesucht werden muß, von dem moralischen Gefühl, das
in der Tat zum Gefühl der Selbstzufriedenheit tendiert. Diese Unterscheidung wird
von Kant spätestens bis zu Periode υ (1776–78) ausdrücklich vollzogen.
In Refl. 6864 nämlich gibt er drei kardinale Elemente der Moralität an. (1) Das
erste Grundprinzip der Moralität ist das principium diiudicationis moralis, das im
Prinzip der Zusammenstimmung („Einstimmung“) der Freiheit mit sich selbst als
mit den Gesetzen besteht (cf. 2.3.2). Es ist aber „das principium der Vernunftmäßigkeit der Freiheit überhaupt“ bzw. das „principium der allgemeinen praktischen
Gesetzgebung der reinen Vernunft in Ansehung der Freiheit überhaupt“,422 weil
darin die Vernunft als Grundvermögen der allgemeinen Gesetzgebung die moralische Dijudikation determiniert (cf. 2.3.1.f), welche mit den Worten anderer Schriften ,Urteil der Vernunft‘ heißen wird. Denn die Beurteilung als Zusammenstimmung erfolgt im arbitrium purum, demnach auf der Ebene der Vernunft. (2) Aus
diesem ersten Grundprinzip (Zusammenstimmung mit sich selbst als allgemeiner
praktischer Gesetzgebung der reinen Vernunft) entspringt nun aber das Wohlgefallen an demselben, d.i. das moralische Gefühl. Dieses gründet auf der Notwendigkeit des Wohlgefallens, die in allgemeinen Gesetzen fundiert ist. Da in dieser
Periode das Gefühl der Achtung noch nicht in den Vordergrund tritt, muß beim
moralischen Gefühl als Wohlgefallen hauptsächlich von der Selbstzufriedenheit
die Rede sein. Erst von da her läßt sich auch der Satz verstehen: „Die Epigenesis
der Glückseligkeit (Selbstgeschöpf) aus der Freiheit, die durch die Bedingungen
der Allgemeingültigkeit eingeschränkt wird, ist der Grund des moralischen Gefühls.“423 Das moralische Gefühl der Selbstzufriedenheit gründet nämlich auf der
Sicherheit der formalen Einheit im Gebrauch der Freiheit, die durch jene Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst als mit den Gesetzen gebildet wird, aus
der nach dem Prinzip von Autokratie/Epigenesis auch die wahre Glückseligkeit,
die Glückseligkeit der Verstandeswelt, hervorgebracht werden kann. Die durch den
Glauben gesicherte Aussicht auf künftige wahre Glückseligkeit, die durch jene Zusammenstimmung (die Würdigkeit glücklich zu sein) zu erlangen ist, trägt auch zur
Bildung der Selbstzufriedenheit bei.424 Das Gefühl der Achtung hingegen als das
Medium der moralischen Triebfeder aus Gesetz kann nicht direkt durch die gesicherte Aussicht auf die Epigenesis der Glückseligkeit ausgelöst werden. (3) Nun ist
aber von dem moralischen Gefühl, das sich auf die Selbstzufriedenheit bezieht, die
moralische Triebfeder terminologisch zu unterscheiden. „Die Triebfeder des moralischen Verhaltens ist wiederum davon [sc. vom moralischen Gefühl] unterschieden“. Sie kann nicht sekundär aus dem Wolffisch als Lust genommenen Gefühl
Refl. 6864, XIX 184, υ (1776–78). Auch der Nachtrag zu dieser Reflexion stammt aus derselben
Zeit.
423
Refl. 6864, XIX 185.
424
Vgl. dazu beispielsweise Religionslehre Pölitz, XXVIII 1090 Z14–20.
422
119
folgen, das zuerst durch das erste Grundprinzip (principium diiudicationis) der Vernunft hervorgerufen wird, sondern muß unmittelbar durch dieses selbst ausgelöst
werden, d.h. auf demselben beruhen. Sie „beruht“ “‘auf der Macht der Vernunft
in Ansehung der Freiheit“, welche hier auch mit der „Macht der Pflicht“425 in Zusammenhang gebracht wird. Diese Auslösung der Triebfeder durch die Macht der
Dijudikation der Vernunft aber könnte unter einem anderen Aspekt darauf hindeuten, daß das praktische Urteil der Vernunft nicht theoretischer Herkunft ist, sondern
auf die Spontaneität der Freiheit rekurrieren muß.426 Da nun diese Macht der Vernunft mit den Worten der Religionsschrift erst durch die Revolution in der Gesinnung („eine einzige unwandelbare Entschließung“427 ), d.i. die intelligible Tat einer
Annehmung des moralischen Gesetzes in die Grundmaxime der Gesinnung durch
Vernunft, zuwegegebracht wird (cf. 3.4.1.a), so wird hier auch davon gesprochen,
daß die moralische Triebfeder „auf der Entschlossenheit, einem einmal genommenen Vorsatz (einer allgemeinen Maxime) gemäß zu handeln“ beruht.428 Auf diese
Entschlossenheit der Vernunft hin ist sie unmittelbar im Prinzip der Dijudikation
durch Vernunft als Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst fundiert. Erhebt sich demzufolge die Frage: „Wie kann Vernunft eine Triebfeder abgeben, da
sie sonst jederzeit nur eine Richtschnur ist ...?“, so wird darauf geantwortet: durch
„Zusammenstimmung mit sich selbst“, „Selbstbilligung und Zutrauen“, durch welche die Vernunft im Gegensatz zur Triebfeder aus Neigung oder äußerem Zwang,
die niemals an die Stelle der Pflicht gesetzt werden kann, unmittelbar die moralische Triebfeder abgeben kann.429 D.h. die Zusammenstimmung mit sich selbst
funktioniert nicht nur dijudikativ und gefühlsmäßig, sondern auch exekutiv. Dabei
bestimmt die Macht der Vernunft die Exekution. Die Vernunft bestimmt die freie
Willkür zur Handlung unmittelbar, indem die Funktion der Zusammenstimmung
mit sich selbst sich auch als exekutiv erweist. Obwohl es in dieser Periode nicht
vollständig festgelegt ist, daß sich die Macht der Vernunft ausdrücklich nur auf
das moralische Gesetz bezieht430 (der Zusammenhang der Macht der Vernunft mit
der der Pflicht aber bestätigt doch diese Entwicklungsrichtung), so wird doch mit
dem eben Dargelegten immerhin der Weg geebnet, auf dem das durch Vernunft
vorgeschriebene Gesetz unmittelbar den Willen bestimmen kann; es kann nämlich
selbst die Triebfeder sein.431 Und dadurch wird auch vorbereitet, für den endlichen Willen praktisch-theoretisch (im Sinne einer praktischen Theorie) das Gefühl
der Achtung als moralische Triebfeder im Gefühl der Lust und Unlust (genauer
als Medium der moralischen Triebfeder, weil diese das Gesetz selbst ist) anzunehmen. Selbstbilligung und Zutrauen mögen nun freilich auf der anderen Seite
425
Refl. 6864 XIX 184 und 185.
Vgl. dazu GMS, IV 448 <B101>. Dies gegen die Interpretaionsrichtung von H. J. Paton und D.
Henrich. Cf. dazu Fußnote 495 in 2.8.
427
Rel., VI 47f <B55>.
428
Refl. 6864, XIX 184.
429
Refl. 6864 XIX 185.
430
Refl. 7204 (XIX 283f, ψ? υ? ϕ? 1780–89? 1776–78?) scheint zu zeigen, daß sich „die bloße Idee
der Einheit der Vernunft im Gebrauche der Freiheit“ auf den Endzweck beziehen kann.
431
Vgl. dazu KpV, V 71f <A126f>.
426
120
wiederum Selbstzufriedenheit hervorrufen können; diese kann aber in diesem Zusammenhang prinzipiell nicht als eine primäre moralische Triebfeder taugen, die
unmittelbar, durch die Macht der Vernunft ausgelöst, den Willen bestimmt, sondern
ist nichts als die letzte Folge im Gefühl der Lust und Unlust aus der Willensbestimmung, die ohne die Triebfeder doch nicht getroffen werden kann.
2.7 Die relative Verlagerung der moralischen Triebfeder ins
Gesetz.
2.7.1 Moralisches Gefühl als contradictio und seine bewegende Kraft.
„Ein vernünftig Vergnügen“, das als intellektuelles Wohlgefallen entspringt, „ist
eine contradictio in adiecto“,432 womit gemeint ist, daß zwei unvereinbare Begriffe in einem Ausdruck verbunden sind. Ebenso kann auch die intellektuelle Lust
contradictio in adiecto genannt werden. Das moralische Gefühl überhaupt, das real entweder moralische Handlungen bewirkt oder zusammen mit ihnen ausgelöst
wird, hat die Struktur dieses Widerspruchs.433 Er soll jetzt erläutert werden. Seine
Unvermeidlichkeit bezieht sich auf die besondere Konstellation, in der das Handlungssubjekt steht, das durch die Triebfeder (elater animi) zur Ausübung der moralischen Handlung bewegt wird und das durch die Befolgung des Gesetzes ausgelöste moralische Gefühl empfängt.
Die Vernunft als Beurteilungsvermögen (facultas diiudicationis) in der reinen
Willkür (arbitrium purum) hat an sich wohl eine gewisse unsittlichen Antrieben
und Neigungen widerstehende Kraft, die aus der Reinheit der von ihr geformten
Idee des Gesetzes entspringt, das negativ auf dem Prinzip des Nicht-Widerstreitens
bzw. der ,Widerstreitslosigkeit‘ beruht;434 sie kann aber ohne Hilfe eines anderen
Grundvermögens nicht genug die bewegende Kraft ausüben, moralische Handlungen der endlichen Vernunftwesen, die in der Sinnenwelt operieren, hervorzubringen (cf. 2.3.2).435 Diese bewegende Kraft zur Handlung in der Sinnenwelt, die
Triebfeder, trägt das moralische Gefühl als ihr Medium.436 „Man soll das Gute
Refl. 547, XV 239, υ (1776–78).
Vgl. dazu KpV, V 117 <A210>: „... denn ein intellektuelles [Gefühl] wäre ein Widerspruch“.
434
Vgl. Refl. 6898, XIX 200, ϕ (1776–78) (hierzu vgl. auch GMS, IV 411 Anm. <B33f>; KpV,
V 156 <A278f>; etc.); Ethik Menzer, S. 54; Refl. 6765, XIX 154f, ξ? ϕ? (1772? 1776–78?) (cf.
Fußnote 292 in 2.3.2).
435
Vgl. dazu Refl. 1028, XV 460, υ (1776–8): „Bei den Menschen haben die Bewegungsgründe der
reinen Willkür zwar eine Kraft: den Wunsch, aber nicht: die Handlung hervorzubringen“; Met.L/1,
XXVIII 258: „Das ist ein Unglück fürs menschliche Geschlecht, daß die moralischen Gesetze, die
da objektiv nezessitieren, nicht auch zugleich subjektiv nezessitieren.“
436
Vgl. Ethik Menzer, S. 54: „... das subjektive Principium, die Triebfeder der Handlung ist das
moralische Gefühl, ... Das moralische Gefühl ist eine Fähigkeit durch ein moralisches Urteil affiziert
zu werden. Wenn ich durch den Verstand urteile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch
sehr viel, daß ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe. Bewegt mich aber dieses Urteil,
die Handlung zu tun, so ist das das moralische Gefühl“. Dieses sollte nun aber exakter als Medium
(Träger) der Triebfeder bezeichnet werden, weil die Triebfeder selber entweder bis zur KrV sowohl
Vernunft und mithin auch Gesetz als auch intelligible Welt und Gott (das höchste Gut) oder in der
432
433
121
durch den Verstand erkennen, und doch davon ein Gefühl haben. ... Ich soll ein Gefühl davon haben, was kein Gegenstand des Gefühls ist, sondern welches ich durch
den Verstand erkenne.“ Der Sachverhalt versteht sich nicht von selbst, denn „das
Gute kann gar nicht unsere Sinne affizieren“, weil es nicht das Angenehme ist. „Es
steckt hierin also immer eine Contradiction.“437 Aber ungeachtet der Unverständlichkeit des kontradiktorischen Sachverhaltes, die auch in der GMS nur konstatiert
wird,438 ließe sich dieser immerhin so darstellen: Im Vorgang der Zusammenstimmung mit sich selbst löst die Macht der Vernunft, die in der Entschlossenheit der
Freiheit enthalten ist, im sinnlichen Teil der freien Willkür (sensus interior) das moralische Gefühl aus, das die bewegende Kraft zur Handlung im sinnlichen Selbst
trägt; die Vernunft, die an sich das Vermögen von Ideen ist, ergibt aus sich in der
Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst, demnach durch Selbstbilligung
und Zutrauen der reinen Willkür, die Triebfeder zum moralischen Verhalten, das
sich in der Sinnenwelt abspielt,439 was bedeutet, daß sie somit der freien Willkür im
Grundvermögen des Gefühls der Lust und Unlust das die bewegende Kraft tragende moralische Gefühl einflößt. Ohne dieses „bringen die Motive der reinen Willkür
nur Wünsche, d.i. untätige Begierden, hervor“,440 denen die Tätigkeit derjenigen
Willkür (als tätiger Begierde) nicht zukommt (cf. 1.2.3.f), der die Triebfeder (elater animi) wesenseigen ist.441 Somit gewinnen auch moralische Vernunftideen die
Bestimmungskraft der Willkür.
Der Grund, warum die Reinheit der Vernunftgesetze nicht für sich und allein
die hinreichende Bestimmungskraft des arbitrium liberum abgeben kann, sondern
das durch die Selbstbilligung entstehende moralische Gefühl in die Motivationsbedingungen desselben mit einbeziehen muß, liegt darin, daß das arbitrium liberum
des Menschen zwar intellectuale, jedoch zugleich sensitivum ist. Er muß sich in
der Sinnenwelt wohl aus der Gesetzgebung der Vernunft, jedoch zugleich auch
durch die sinnliche freie Willkür betätigen. Die Kontradiktion des Sachverhaltes
zwischen Vernunft und Gefühl, die sich pointiert im Ausdruck etwa eines ,intelspäteren, durchs Grundlegungsmotiv determinierten Auffassung Kants (seit der KpV) lediglich das
moralische Gesetz ist. Das moralische Gefühl wird hier, anders als etwa in Refl. 6864, XIX 184,
Punkt 2 (cf. 2.6.4), als dasjenige Gefühl der Lust und Unlust vorgestellt, das von Vernunft und Gesetz
unmittelbar bestimmt wird und wieder unmittelbar die moralische Handlung zuwegebringen kann.
Es ist demnach mit dem Medium der Triebfeder identisch und wird sich sodann als das Gefühl der
Achtung herausstellen.
437
Met.L/1, XXVIII 258.
438
Vgl. dazu GMS, IV 459 Z32 – 460 Z24 <B121–123>.
439
Vgl. Refl. 6864, Anm. ****, XIX 184, Nachtrag υ ϕ (1776–78) (cf. den auf Fußnote 429 bezogenen Haupttext in 2.6.4).
440
Refl. 1028, XV 460. In dieser Reflexion wird das, was dem moralischen Gefühl entspricht,
durchaus als „praktisches Gefühl“ bezeichnet, das aber im Unterschied zum ersteren auch ein Gefühl
des Klugheitsimperativs umfassen kann, ohne das seine Anratungen, obzwar Vernunft sie billigt,
ohne Kraft sind.
441
Vgl. dazu Refl. 1008, XV 449, θ? (1766–68?): „Beweis, daß wir ein arbitrium liberum haben.
vis subiective movens. Elateres animi. / Beweis, daß wir ein arbitrium liberum intellectuale haben.
vis obiective movens.“ Elater ist das Wesen des arbitrium (als tätiger Begierde), das von der müßigen
Begierde wie bloßem Wunsch unterschieden ist. Vgl. dazu auch Refl. 1021, 1031, 1052.
122
lektuellen Gefühls‘ artikuliert, beruht also auf dem fundamentalen Widerspruch in
der Struktur des humanum arbitrium liberum.
Der Widerspruch beim moralischen Gefühl bzw. der moralischen Triebfeder
läßt sich demnach auch hinsichtlich der Differenzierung der causae impulsivae in
stimuli und motiva bei der freien Willkür präzisieren: Causae impulsivae (Gegenstandsvorstellungen nach Wohlgefallen und Mißfallen) sind entweder sensitiv (pathologisch) oder intellektuell. Bei den ersteren handelt es sich um stimuli (Bewegursachen, Antriebe), bei den letzteren um motiva (Bewegungsgründe).442 Während
nun causae impulsivae, sowohl stimuli wie motiva, ursprünglich im Objekt sind,
so sind elateres animi, die das Wesen der Willkür ausmachen, doch zunächst und
an sich nur die subjektive Rezeptivität, zum Begehren bewegt zu werden.443 Nun
nezessitieren stimuli sensitiv und subjektiv und sind demnach causae sensitive et
subiective moventes (d. i. sie sind Gegenstandsvorstellungen als materiale Bestimmungsgründe, die nach der pathologisch-praktischen Lust gebildet werden); sie
können also ohne weiteres elateres sein. Motiva hingegen nezessitieren nur objektiv und heißen causae obiective moventes;444 es scheint demnach, daß sie per definitionem nicht sofort causae subiective moventes, d.i. elateres sein können. Nun
sind sie entweder pragmatica oder moralia.445 Bei dem moralischen Gefühl bzw.
der moralischen Triebfeder aber kommt es nur auf die letzteren an. Diese sollen und
können doch elateres animi sein; pure intellectualia motiva können elateres animi
werden, indem die subjektive Rezeptivität durch den bloßen Geist bewegt wird.446
„Die moralischen Motive sollen nicht bloß vim obiective necessitantem haben zur
Überzeugung des Verstandes, sondern vim subiective necessitantem, d.i. sie sollen elateres sein.“447 Sie können elateres sein, d.i. die vis subiective necessitans
haben, indem sie auf moralische Gesetze rekurrieren („Bei moralischen [Bewegungsgründen] habe ich die Regel nötig.“448 ), die transzendental-subjektiv aus der
Gesinnung wirken. Daß reine praktische Vernunft und moralisches Gesetz, die in
der freien Willkür transzendental-subjektiv ihren Sitz haben, sich auf die Ebene
442
Vgl. dazu beispielsweise Met.L/1, XXVIII 254.
Vgl. Refl. 1055, XV 470, ψ3 (1785–88): „Causae impulsivae sind im Objekt. Elateres sind sie,
sofern im Subjekt die Fähigkeit ist, bestimmt zu werden“; Refl. 1021, XV 457 Z10f, σ–χ (1775–79):
„Elater ist die subjektive Rezeptivität, zum Begehren bewegt zu werden.“
444
Vgl. Refl. 6918, XIX 206, υ? (1776–78?): „Die Gründe der objektiven Notwendigkeit: motiva,
der subjektiven Nezessitation: stimuli. Jene intellectualiter, diese pathologice“; Refl. 6919, XIX 207,
ϕ (1776–78): „Die necessitatio obiectiva ist das Sollen“; Refl. 6920, XIX 207, ϕ? (1776–78?): „Causae sensitive moventes sind stimuli. (Der Mensch ist nicht nezessitiert durch stimulos und also frei,
auch nicht durch motiva.) Causae subiective moventes sind elateres. Auch der Verstand hat elateres,
die den motivis intellectualibus recht angemessen sein“; Refl. 6934, XIX 209, ϕ (1776–78): „obiective impellentia sunt motiva, subiective elateres“; Refl. 6929, XIX 208 Z23–29, υ? (1776–78?).
445
Vgl. z.B. Refl. 6929; Met.L/1, XXVIII 258.
446
Vgl. dazu Refl. 1010, XV 451, κ? (1769?).
447
Refl. 5448, XVIII 185, ϕ (1776–78). Vgl. auch Refl. 1018, XV 454, ρ? (1773–75): „Quaeritur: utrum motiva intellectus habeant vim subiective moventem et possint esse elateres animi? nam
elateres sunt causae impulsivae subiective moventes. / Respondetur: non habent in homine per se,
sed quatenus sunt causae moventes elaterum animi ea ratione, ut intellectum ad horum excitationem
urgeant.“
448
Refl. 7019, XIX υ? µ? (1776–78? 1770–71?).
443
123
der empirischen Objektivität, zu der auch das Gefühl gehört, auswirken und in der
letzteren objektive Nezessitation, objektive Kriterien der Handlung, ergeben können, kurz, daß der bloße Geist die subjektive Rezeptivität bewegt, darin liegt der
Widerspruch. Dies ist aber nur faktisch so und nicht hinterfragbar.
Sowohl der Begriff der moralischen Triebfeder als auch der des moralisches
Gefühls haben diese faktische Struktur von Widerspruch. Der Sinn ist nämlich an
sich Rezeptivität; sensus moralis jedoch, auf den die moralische Triebfeder sich
bezieht, ist nicht mehr bloß rezeptiv, sondern „ein Vermögen“, das wohl auf reiner Spontaneität beruht, demzufolge „in sensu proprio ein Unding“. Denn Sinn
und Gefühl sind ihrer Herkunft nach pathologisch, während motiva moralia in objektiver Nezessitation sich auf positive Freiheit (Freiheitskausalität) beziehen, die
intellektuell ist; sensus moralis ist „nur per analogiam so genannt“.449
Bei der Doppelstruktur der Willkür aber „geht“ moralisches Gefühl, so notwendig sein Einsatz in der Sinnenwelt auch sei, doch „nicht vor der Vernunfterkenntnis
vorher“.450 Vernunft bestimmt das Gefühl.451 Es ist Kants schon früh errungene
und bis zu den späten Jahren erhaltene Grundposition, daß das Gesetz dem moralischen Gefühl, sei dieses Achtung oder Selbstzufriedenheit, vorausgeht. Gesetz und
moralisches Gefühl aber sind, wenn auch kontradiktorisch, jedoch so eng miteinander verbunden, daß, wie etwa bei Epikur, der „Fehler des Erschleichens (vitium
subreptionis)“,452 leicht vorkommt, den transzendental-subjektiven Grund der intellektuellen Bestimmbarkeit des Willens für etwas Ästhetisches zu halten.
Die Struktur des Widerspruchs in der intellektuellen Lust oder im moralischen
Gefühl überhaupt kann nun auf die Doppelstruktur der Position, die ein Mensch
als endliches Vernunftwesen in der Welt einnimmt, verlegt werden, nämlich darauf, daß das Gefühl der Lust und Unlust als solches, folglich selbst das moralische
Gefühl, zwar in der Sinnlichkeit (im sensus interior) sitzt,453 daß aber der Mensch
ungeachtet dieses Sitzes des Gefühls in der Sinnenwelt seinen „Standpunkt“ doch
in der Vernunft, demnach in der intelligiblen Welt nehmen kann.454 Diese verdop449
Vgl. Refl. 5448.
Refl. 1028. XV 461.
451
Refl. 5620, XVIII 258f, χ? (1778–79?): „Gleichwie die Vernunft nicht durch die Sinne, aber
doch in Beziehung auf dieselben nach den allgemeinen Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt
urteilt: so [urteilt] auch eben dieselbe [sc. die Vernunft] nicht durch das Gefühl, aber doch in Beziehung auf dasselbe nach den Bedingungen der Allgemeingültigkeit des Urteils über das Wohlgefallen
und Mißfallen.“ Vgl. auch Refl. 541, XV 237, µ? (1770–71?). Die These, „Vernunft bestimmt das
Gefühl“, wird unverändert durch die erste Grundlegungsschrift, die GMS, übernommen. Vgl. hierzu
GMS, IV 460 <B122f>.
452
KpV, V 116 <A209>.
453
Vgl. z.B. KpV, V 116 <A210>: „Da diese Bestimmung [sc. die intellektuelle Bestimmung des
Willens unmittelbar durch die Vernunft bzw. durchs Gesetz] nun innerlich gerade dieselbe Wirkung
eines Antriebs zur Tätigkeit tut, als ein Gefühl der Annehmlichkeit, die aus der begehrten Handlung
erwartet wird, würde getan haben, ...“.
454
Refl. 6865, XIX 185, υ (1776–78): „Was das Gefühl betrifft (Nachtrag ϕ: Es kann auch bloß zur
Beurteilung verwandt werden), so fühlen wir zwar nur durch die Sinne; aber den Standpunkt, worin
wir uns gegen den Gegenstand setzen, können wir nehmen, wie wir wollen. Hier nehmen wir ihn in
der Vernunft und empfinden im allgemeinen Standpunkte. (Nachtrag ϕ: Selbstschöpfer der allgemei450
124
pelte Weltzugehörigkeit beruht auf der ursprünglichen Annehmung des reinen sittlichen Denkens (der sittlichen Einsicht der reinen praktischen Vernunft) als gänzliche Unabhängigkeit von dem Naturgesetz der Erscheinungen (negative Freiheit).
Sie beruht nämlich auf der prinzipiellen Dichotomie zwischen reinem sittlichen
Denken und sinnlicher Natur; dabei entspringt das erstere der negativen Freiheit,
dem Unbegreiflichen. Diese Dichotomie läßt sich überall im System der Kantischen Ethik als ein Widerspruch erblicken, der stets nur als Faktum konstatiert
werden kann. Aber eben aus dieser faktischen contradictio, die sich zugleich als
enge Verbindungsfunktion erweist, kommt die moralische Triebfeder zur Handlung, mithin unsere moralische Handlung zustande, als kontradiktorische Einheit
von reinem sittlichen Denken und sinnlicher Natur, von intelligibler und Sinnenwelt, und zwar auf unverständliche Weise.
Auch der deutliche Widerspruch des Ausdrucks einer „intellektuellen Lust“
rührt also davon her, daß sie der Begriff ist, der beide Bürgerschaften des Menschen als endlichen Vernunftwesens in der Sinnen- und intelligiblen Welt von der
letzteren aus miteinander verkoppeln will. Kant hat ihn aber wahrscheinlich wegen
dieser wohl notwendigen, jedoch ungeschickten Ausdrucksart in seinen Druckschriften, außer durch den Zwang der Erfordernis eines kompletten Systems,455
nicht verwendet; er bevorzugte weniger widersprüchlich klingende Ausdrücke wie
moralisches Gefühl, moralische Lust und moralische Glückseligkeit.
2.7.2 Die relative Gewichtsverlagerung beim Begriff der Triebfeder in
der intellektuellen Ausdehnung vom freien Willen zum Reich Gottes:
Die ,moralisch-teleologische‘ Grundrichtung, vom freien Willen auszugehen, setzt sich durch.
1. Die Triebfeder-Lehre in Periode υ/ϕ (1776–78): Für den Kant bis zur ersten
Hälfte der achtziger Jahre hat das moralische Gesetz, wie dargelegt (cf. 2.3.2 und
2.7.1), an sich selbst nicht genug real bindende Kraft zur moralischen Handlung,
obwohl es als logisches Dijudikationsprinzip der Konsistenz immerhin regulative
und normative Kraft zu ihr hat. Zur realen, subjektiven Exekution der moralischen
Gesetze durch ein endliches Vernunftwesen muß ein Endzweck, auf den das Wohlverhalten ausgeht, der Zweck des vollständigen Guts (die wahre Glückseligkeit), in
Anspruch genommen werden, aber damit werden auch die Idee einer intelligiblen
Welt und der Begriff eines allgemeingültigen Willens, der zugleich allvermögend
ist, als Triebfedern benötigt.456 So heißt es auch: „Das Reich Gottes auf Erden
nen Glückseligkeit.)“ Vgl. auch KpV, V 117 Z20f <A211>. Der Standpunkt in der Vernunft kann
bei Kant mit demjenigen in der Verstandeswelt gleichbedeutend sein. Vgl. zum letzteren Standpunkt
GMS, IV 458; Träume, II 336 Z19.
455
Vgl. z.B. Anthr., VII 230.
456
Vgl. z.B. Refl. 7097, XIX 248, υ? (1776–78?): „Die moralischen Gesetze haben an sich selbst
keine vim obligatoriam, sondern enthalten nur die Norm. Sie enthalten die objektiven Bedingungen
der Beurteilung, aber nicht die subjektiven der Ausübung. Die letzten bestehen in der Übereinstimmung mit unserem Verlangen zur Glückseligkeit. Die moralischen Gesetze bedürfen einen Gesetzgeber, dessen Willen ein guter Wille (ein heiliger), aber auch ein allvermögender Wille sei.“
125
ist ein Ideal, welches in dem Verstande desjenigen eine bewegende Kraft hat, der
sittlich gut sein will.“457 Oder: „Ohne Religion würde die Moral keine Triebfedern haben, die alle von der Glückseligkeit müssen hergenommen sein.“458 Die
bewegende Kraft bzw. die Triebfeder ist hier religiös-teleologisch vom Endzweck
als dem vollständigen Gut her gedacht. Dieser Gedanke der „Triebfeder aus der
andern Welt“ bei Kant ist weder etwa epikureisch noch stoisch, sondern stammt
offensichtlich aus der christlichen Lehre: „Nur Christus gibt ihr [sc. der Tugend]
den innern Wert und auch die Triebfeder.“459 Mit Christus ist hier nicht gerade das
Ideal der Heiligkeit, sondern eher lediglich der Lehrer des Evangeliums gemeint,
der hinsichtlich der Lehre vom höchsten Gut neben Epikur und Zenon steht. Bei
der Triebfeder für die Tugend handelt es sich um die intelligible Welt als die andere
Welt, in der die wahre Glückseligkeit erlangt wird, indem sie mit der Sittlichkeit
übereinstimmt. Der vom freien Willen vergegenständlichte Endzweck bildet für
ihn hier die Triebfeder zur moralischen Handlung, indem er ihn von empirischen
Bestimmungsgründen distanziert.460
(Zur Aufrechterhaltung der ,moralisch-teleologischen‘ Grundrichtung, von der
Freiheit auf den Endzweck auszugehen, in Periode υ/ϕ (1776–78): Es ist nun zu
beachten, daß Kant in derselben Periode auch schon davor warnt, die Moral auf
Religion zu gründen. „Unter allen Abweichungen von der natürlichen Beurteilung
und bewegenden Kraft der Sitten ist die schädlichste, da man die Lehre der Sitten
in eine Lehre der Religion verwandelt oder auf Religion gründet. Denn da verläßt
der Mensch die wahre moralische Gesinnungen, sucht die göttliche Gunst zu gewinnen, abzudienen oder zu erschleichen und läßt allen Keim des Guten unter den
Maximen der Furcht ersterben.“461 Ungeachtet der Triebfeder aus Religion richtet sich also der Wille ,moralisch-teleologisch‘, d.h. in der moralisch-praktischen
Zwecksetzung, erst von der Freiheit als der Unabhängigkeit von allen seinen empirischen Bestimmungsgründen (negative Freiheit), demnach von der Autonomie
des Willens, ausgehend, den Gesetzen gemäß auf Religion. Denn sonst würde er
den empirischen Bestimmungsgründen, die sogar verabsolutiert sein können, anheimfallen, welches in seine Heteronomie (den Verlust der Freiheit) und Unfähigkeit, das unbedingt Gute zu entwerfen, münden würde. Aus der Moral geht doch
ein Zweck hervor, und die Moral führt unumgänglich zu Religion.462 Die zitierte Reflexion deutet darauf hin, daß die ,moralisch-teleologische‘ Grundrichtung
des freien Willens auch in Periode υ (1776–78) prinzipiell beibehalten ist. Auch
das Prinzip von Autokratie/Epigenesis in derselben Periode ist, wie dargelegt (cf.
2.4.4), eben dieser ,moralisch-teleologischen‘ Grundrichtung gemäß gebildet.)
Refl. 6904, XIX 201, υ (1776–78).
Refl. 6858, XIX 181, υ? ϕ? (1776–78). Vgl. auch Met.L/1, XXVIII 289: „Er [sc. der moralische
Beweis zu einem künftigen Zustand (als einer künftigen Welt), d.i. der Glaube an denselben] ist die
Triebfeder zur Tugend, und wer das Gegenteil einführen wollte, der hebt alle moralische Gesetze und
alle Triebfedern zur Tugend auf; dann sind die moralischen Grundsätze nur Chimären.“
459
Refl. 6838, XIX 176, ϕ (1776–78). Vgl. auch Ethik Menzer, S. 13.
460
Zu Refl. 6838.
461
Refl. 6903, XIX 201, υ (1776–78). Vgl. hierzu auch GMS, IV 443 Z10–19 <B92>.
462
Vgl. Rel., VI 5 Z1f, 6 Z8, 8 Z37.
457
458
126
2. Von Periode υ (1776–78) an spricht nun Kant häufiger als bis dahin über
die christliche Morallehre.463 Er erwähnt sogar Demut und Gnaden: „Gegen Gott
haben wir kein Verdienst, sondern lauter Schuldigkeit. Dieses ist die Ursache der
Demut, aber nicht eine Absprechung der Hoffnung, weil dazu nur die Würdigkeit
gehört (nicht unwürdig), um aus Gnaden Glückseligkeit, die man nicht verdient,
zu erlangen.“464 Diese Grundgesinnung wird auch der Lehre über das höchte Gut
in der KpV, wohl in den Formulierungen rationalisiert, aber inhaltlich unverändert, zugrundeliegen.465 Nun sind aber der freie Wille (bzw. die Vernunft) als Ursprungsort der Moralität und das moralische Gesetz in ihm moralphilosophische
Grundprinzipien (Fundament der Ethik), die von Kant bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gegründet sind und weiter beibehalten werden. Zu diesem
Fundament der Moralität ist nunmehr die eben genannte christliche Gnaden- bzw.
Erlösungslehre, die seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in Kants Denken als
überwiegendes Element eingedrungen ist, hinzugetreten. Seither ist es seine Aufgabe geworden, jenes Fundament mit dieser Lehre zusammenzuschließen. Daraus
wurden, wohl ein wenig monotone, aber immerhin umfangreiche Versuche angestellt, für die eben das Moralprinzip von Autokratie/Epigenesis repräsentativ ist,
und aus denen sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und der ersten Hälfte
der achtziger Jahre die Lehre über das höchste Gut entwickelt, die als die Dialektik
der KpV veröffentlicht wird.
Auch die oben erwähnte Triebfeder-Problematik trat in Periode υ/ϕ (1776–78)
in den Vordergrund, veranlaßt von der christlichen Gnadenlehre, weil ein überzeugter Christ in seinem realen Leben nicht allein von der Idee der Autonomie (Freiheit
und Gesetz) zum Wohlverhalten bewegt, sondern gewiß von der Idee vom Reich
Gottes ermutigt wird. Es ist nun aber für Kant seit der frühen Gründung seiner
Ethik ein bereits vorprogrammierter Grundgedanke gewesen, daß Vernunft und
Gesetz objektiv der Bestimmungsgrund des Willens sind und daß sie demzufolge auch seine Triebfeder zur moralischen Handlung sein müssen. Er mußte sich
Vgl. z.B. Refl. 7060, XIX 238f, υ (1776–78), Refl. 7312, XIX 309, ψ (1780–89). Vgl. auch
Refl. 6832, 6836, 6840, 6872, 6878, 6882, 6894, 7093, 7094, etc.
464
Refl. 7166, XIX 262, υ (1776–78).
465
Geläufiger Ansicht zufolge soll Kant neben Fichte die christliche Erlösungslehre abgelehnt haben. Näher gesehen aber hat er sich lediglich gegen denjenigen gewendet, der „diese Art der Erlösung des Menschen vom Bösen [sc. wie das, was er hofft, zugehe] durchaus wissen will,“ und zwar,
„um sich (...) aus dem Glauben, der Annahme, dem Bekenntnisse und der Hochpräzisung alles dieses Offenbarten einen Gottesdienst machen zu können, der ihm die Gunst des Himmels vor allem
Aufwande seiner eigenen Kräfte zu einem guten Lebenswandel, also ganz umsonst erwerben, den
letzteren wohl gar übernatürlicher Weise hervorbringen, oder, wo ihm etwa zuwider gehandelt würde, wenigstens die Übertretung vergüten könne“ (Rel., VI 172 <B263>). Kant ist also als praktischer
Pietist nur gegen den Religionswahn. Seine rationalisierte Erlösungslehre zeigt sich etwa darin, „daß,
wer in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht, tut,
um (wenigstens in einer beständigen Annäherung zur vollständigen Angemessenheit mit dem Gesetze) seiner Verbindlichkeit ein Genüge zu leisten, hoffen dürfe, was nicht in seinem Vermögen steht,
das werde von der höchsten Weisheit auf irgendeine Weise (...) ergänzt werden, ohne daß sie [sc. die
Vernunft] sich doch anmaßt, die Art zu bestimmen und zu wissen, worin sie bestehe“ (Rel., VI 171
<B262>). Dabei aber bleibt die Frage offen, ob derartige rationalisierte Erlösungslehre das Wesen
einer religiösen Erlösung treffen kann.
463
127
also unter dem Einfluß der christlichen Gnaden- bzw. Erlösungslehre den exekutiven Grund der moralischen Handlung neu überlegen. Die Überlegung dauerte bis
zur Zeit der Niederschrift der KpV. Die alten Leitlinien aber bestimmten stärker
ihr Ergebnis, daß nämlich die Idee vom Reich Gottes nur sekundär den Willen
bestimmen und insofern auch sekundär so etwas wie eine Triebfeder sein kann.
Daraufhin wird der Name der Triebfeder, wie sogleich unten aufgewiesen wird,
ausschließlich dem moralischen Gesetz zugewiesen. Bei dem Konzept, die Idee
vom Reich Gottes sei die moralische Triebfeder, hat man es also nicht mit einer
„älteren Triebfeder-Lehre“ zu tun, noch ist der Gedanke, das moralische Gesetz
selbst sei Triebfeder, neu.466 Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist der letztere
de facto älter als das erstere, welches demnach angemessener bloß als Übergangslehre von der moralischen Triebfeder bezeichnet werden müßte. Gesetz und Reich
Gottes stehen beide in der Lehre über das höchste Gut und dessen Postulate selbst
in KpV und Religionsschrift als Betimmungsgründe des Willens, obwohl das letztere nur ein sekundärer ist, beisammen (cf. 3.3.3 und 3.4.2.b). Lediglich der Name
der Triebfeder wird ins Gesetz verlagert.
3. Die Triebfeder-Lehre in der Zeit der KrV: Aber zurück zu der Übergangslehre von der moralischen Triebfeder. Kant behält diese, nämlich daß die Idee der
Moralität wohl Dijudikationsprinzip, demnach Gegenstand des Beifalls sein könne, aber an sich selbst nicht genug die treibende Kraft zur subjektiven Ausübung
der Moralität besitze und daß die reale Triebfeder vielmehr dem höchsten Wesen und der intelligiblen Welt, mit einem Wort dem Reich Gottes, zugeschrieben
werden solle, auch noch in der KrV ausdrücklich bei: „Ohne also einen Gott und
eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der
Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem
jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.“467 Der Satz steht aber damit in engem
Zusammenhang, daß moralische Gesetze ohne die Postulate für „leere Hirngespinste“ gehalten würden (cf. 3.4.2.b), und bestätigt daher auch die Relevanz der intentionalen intellektuellen Ausdehnung der Gesetzlichkeit des freien Willens zum
Endzweck, dessen Realisierbarkeit einen Gott und eine gehoffte Welt postuliert.
Er verträgt sich demzufolge als solcher doch auch mit dem praktisch-theoretischen
Umkreis der neu formulierten Triebfeder-Lehre in der KpV. In der Periode der KrV
aber wird das Gewicht des Endzwecks sowie seiner Postulate als Triebfedern nur
stärker als in der KpV vorgestellt.
(Zur Aufrechterhaltung der ,moralisch-teleologischen‘ Grundrichtung in der
Zeit der KrV: Allerdings warnt Kant auch in der KrV davor, die moralischen Ge466
Dies im Unterschied zu M. Albrecht. Vgl. seine philologisch umfangreiche Dissertation, Kants
Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, S. 153 Anm. 472, S. 93 Anm. 293 und S. 136.
467
KrV, III 527 <B841>. Vgl. auch Religionslehre Pölitz, XXVIII 1073: „Die Pflichten der Moral
sind also apodiktisch gewiß, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft aufgegeben werden; aber
es würden ihnen alle Triebfedern fehlen, die mich bewegen könnten, ihnen gemäß, als vernünftiger
Mensch zu handeln, wofern kein Gott, und keine zukünftige Welt wäre.“
128
setzen vom Begriff eines Urwesens abzuleiten, und sagt: „Denn diese [sc. die moralischen Gesetze] waren es eben, deren innere praktische Notwendigkeit uns zu der
Voraussetzung einer selbstständigen Ursache oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effekt zu geben“.468 Die ,moralisch-teleologische‘ Grundrichtung, von der Freiheit mit den Gesetzen auszugehen und dann auf den Endzweck zu gehen, ist auch hier unverändert; nur kann das Postulat eines höchsten
Wesens den Gesetzen „Effekt“, d.i. die für uns verbindende Kraft, geben. Auch
Duisburg-Fragment 6 (Refl. 7202), das zur Zeit der KrV gehört, hat es, wie dargetan (cf. 2.6.2), nicht auf den religiösen Eudämonismus abgesehen.)
4. Noch in der GMS, wo auch der Gedanke, das moralische Gesetz allein sei
die Triebfeder, sich weiter ausbildet, bleibt der intelligiblen Welt der Name der
Triebfeder erhalten: „[E]s müßte denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst
die Triebfeder oder dasjenige sein, woran die Vernunft urspünglich ein Interesse
nähme“.469 Die intelligible Welt wird aber im 3. Abschnitt der GMS in erster Linie transzendental-subjektiv als Grund der Sinnenwelt, und nicht ausdrücklich als
vergegenständlichter Endzweck vorgestellt (cf. 2.8).
5. Aber schon in „Was heißt: S.i.D.or.?“ (1786) passiert es, daß die Triebfeder
zur Befolgung der Gesetze von der Seite des höchsten Wesens auf die der Gesetze
selber hin verschoben wird.470 Danach weist erst die KpV den Namen der Triebfeder ausschließlich dem moralischen Gesetz selbst zu: Es wird nämlich in ihr deklariert, daß „die Triebfeder des menschlichen Willens aber (...) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objektive Bestimmungsgrund
jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv hinreichende Bestimmungsgrund
der Handlung sein müsse“.471 Damit setzt sich allererst der anfängliche Leitgedanke über die Bewegkraft des obersten Grunds der Moralität vollauf durch.472 In eins
damit wird auch die christliche Morallehre hinsichtlich der Triebfeder in modifizierter Form dargestellt; ihr Prinzip sei nunmehr ausdrücklich die Autonomie der
Vernunft, die die Triebfeder allein in die Vorstellung der Pflicht setzt.473 Während
KrV, III 530f <B846>.
GMS, IV 462 <B126>.
470
Vgl. dazu Was heißt: S.i.D.or.?, VIII 139 Z22–28.
471
KpV, V 72 <A127>. Vgl. auch V 75 Z20–26 <A133>, 117 Z13f <A211>. In den späten Schriften vgl. z.B. V.e.vorn.Ton, VIII 397 Z29f.
472
Vgl. Kants Brief an M. Herz (gegen Ende 1773): „Der oberste Grund der Moralität muß nicht
bloß auf das Wohlgefallen schließen lassen, er muß selbst im höchsten Grade wohlgefallen, denn er
ist keine bloß spekulative Vorstellung, sondern muß Bewegkraft haben und daher, ob er zwar intellektual ist, so muß er doch eine gerade Beziehung auf die ersten Triebfedern des Willens haben.“ (In:
Kant, I., Briefwechsel, Auswahl und Anmerkungen von O. Schöndörffer, Hamburg 2 1972, S. 114f.)
473
Vgl. dazu KpV, V 129 <A232>: „Diesem ungeachtet ist das christliche Prinzip der Moral selbst
doch nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft
für sich selbst, weil sie [darunter möchte ich nicht sosehr die reine praktische Vernunft, sondern
vielmehr die christliche Moral verstehen; statt ,sie‘ wäre vielleicht ,es‘ besser] die Erkenntnis Gottes
und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nur der Gelangung zum höchsten Gute
unter der Bedingung der Befolgung derselben macht und selbst die eigentliche Triebfeder zu Befolgung der ersteren [sc. der Gesetze] nicht in den gewünschten Folgen derselben [sc. der Befolgung],
sondern in der Vorstellung der Pflicht allein setzt, als in deren treuer Beobachtung die Würdigkeit
468
469
129
in der GMS die intelligible Welt noch für den Grund der moralischen Triebfeder
(als des Interesses am Gesetze), transzendental-subjektiv verinnerlicht, verwendet
wird (cf. 2.8), ist sie in der KpV nichts als der bloß nach einer Idee angenommene,
demnach menschliche Willkür nur essentiell bestimmende Grund.474 Demzufolge
hat man es in der KpV bei der Idee der intelligiblen Welt nicht mit der unmittelbaren Triebfeder zur Handlung zu tun, sondern sozusagen lediglich mit der Triebfeder
aus der Hoffnung im Vernunftglauben.
Daß nun die intelligible Welt als der Endzweck der wahren Glückseligkeit (das
Reich Gottes) nicht länger primär die Rolle der Triebfeder zur Befolgung des moralischen Gesetzes spielt und daß demzufolge dieses selbst sich als Triebfeder dient,
ist eigentlich objektiv darin verankert, daß moralische Gesetze, selbst wenn sie sich
auf den Zweck der Glückseligkeit beziehen und somit eben den Begriff der unvollkommenen Pflicht betreffen, auch ohne die Voraussetzung eines Begriffs von der
intelligiblen Welt als einem vergegenständlichten Zweck sowie von Gott, der die
Natur mit dem Zweck des freien Willens übereinstimmend zu machen vermag, für
sich selbst bestehen und den Willen für sich alleine vollständig moralisch bestimmen können müssen und daß folglich der Endzweck der wahren Glückseligkeit,
das höchste Gut, nicht primär der Bestimmungsgrund des freien Willens, sondern
vielmehr bloß das von diesem Willen vergegenständlichte, demnach von ihm zu
erstrebende Objekt (finis in consequentiam veniens) sein muß. Damit setzt sich
auch die ,moralisch-teleologische‘ Grundrichtung vollauf durch, in der die Freiheit durch Gesetze den Endzweck bestimmt. Kant war sich über dieses Resultat
spätestens zur Zeit der Niederschrift der KpV im klaren und hat es auch in einer
Reflexion ausdrücklich und prägnant notiert: „1. Die Moral besteht für sich selbst
(ihrem Prinzip nach) ohne Voraussetzung einer Gottheit. / 2. Das höchste Gut ist
nicht der Bestimmungsgrund, sondern das Objekt eines durchs moralische Gesetz
bestimmten Willens“.475 Diese Zunahme der Gewichtigkeit der moralischen Gesetze verändert jedoch nicht die formale Struktur der intellektuellen Ausdehnung
zwischen dem freien Willen und seinem Endzweck vor dem Hintergrund einer intelligiblen Ordnung – mit den Worten der „Reflexionen“ zwischen Autokratie der
Freiheit und Epigenesis der Glückseligkeit –, in die ja auch die moralischen Gesetze zweckmäßig eingefügt sind; nur der exekutive Schwerpunkt ist mehr in den
Ursprung der intellektuellen Ausdehnung, nämlich in den freien Willen verlagert,
d.i. bei den Grundlegungsschriften in die Autonomie des Willens, indem erneut
und ausdrücklich festgestellt wird, daß die Bestimmungsrichtung der intellektuellen Ausdehnung durch und durch vom freien Willen aus auf seinen Endzweck hin
geht.
Die Verlagerung des Namens Triebfeder in das moralische Gesetz hindert aber
das höchste Gut bzw. seine Momente nicht daran, de facto die sekundären Triebfedern zu sein. Nur wird dabei nicht mehr der Name Triebfeder verwendet. Wenn es
des Erwerbs der letzteren [sc. der gewünschten Folgen] allein besteht.“
474
Vgl. dazu KpV, V 42–45 <A72–78>.
475
Refl. 6107, XVIII 455, ψ3−4 (1785–89). Vgl. auch Refl. 8097, XIX 641, ω2 (1792–94).
130
z.B. heißt: Das Ideal der Heiligkeit gibt uns Kraft, uns zu ihm zu erheben,476 so ist
damit in Wirklichkeit eine sekundäre moralische Triebfeder gemeint.
2.7.3 Die Verlagerung der moralischen Triebfeder und die motiva moralia.
Eine Triebfeder, die dem Begriff eines moralischen Motivs als Gegenstandsvorstellung entspricht, muß unvermeidlich auch in der Idee vom Reich Gottes angesetzt
werden.
Der Grund, warum in der Übergangslehre die moralische Triebfeder in die Idee
vom Reich Gottes, d.i. den Endzweck, gesetzt werden muß, liegt zum Teil darin, daß sie vom Begriff eines moralischen Motivs aus konzipiert ist, bei dem es
sich, da er schulphilosophischer Herkunft ist, nicht sosehr um das Gesetz selbst
als die formale Bedingung der Moralität in der Gesinnung, als vielmehr um eine
Gegenstands-, demnach Zweckvorstellung handelt, die erst aus dem Gesetz hervorgeht. Die moralischen Motive als solche Zwecke beziehen sich auf beide Bestandstücke des höchsten Guts (d.i. des Endzwecks), Sittlichkeit und Glückseligkeit, welche aber erst im Reich Gottes realisiert werden sollen. Folglich muß die
moralische Triebfeder, die konzeptionell mit dem Begriff eines Motivs einhergeht,
unvermeidlich in den Endzweck vom Reich Gottes gelegt werden. Kant selbst aber
setzt das moralische Motiv mit dem Gesetz gleich, was der Sache nach der Verlagerung der moralischen Triebfeder in dasselbe entsprechen kann. Dies ist nun in
extenso zu explizieren.
(a) Motive können sowohl Gegenstandsvorstellungen des Guten und Bösen als
auch das Gesetz selbst sein.
Causae impulsivae als Gegenstandsvorstellungen nach Wohlgefallen und Mißfallen, die das arbitrium bestimmen, sind stimuli, wenn sie „von der Art abhängen,
wie wir von den Gegenständen affiziert werden“. Wenn sie aber „abhängen von
der Art, wie wir die Gegenstände durch Begriffe, durch den Verstand; so sind das
Motive.“477 Diese beziehen sich also prinzipiell als eine Unterart von causae impulsivae ebenso auf Gegenstände, die durch Begriffe bzw. den Verstand (Vernunft)
erkannt werden, wie jene auf ihre Gegenstände. M.a.W.: Auf die Freiheit als „independentiam a necessitatione per stimulos“ wird „das Vermögen, nach Motiven
zu handeln“ gegründet, welches damit gleichbedeutend ist, „nach der Dijudikation
des Guten und Bösen“ zu handeln. Motive sind demzufolge Gegenstandsvorstellungen des Guten und Bösen im Urteil der Vernunft, auf die die positive Freiheit,
von der Unabhängigkeit von Gegenstandsvorstellungen abgewendet, sich wieder
476
Vgl. dazu Rel., VI 61 Z3–7, Z13 <B74>. Freilich ist auch in der Religionsschrift die moralische
Triebfeder das moralische Gesetz. Vgl. hierzu beispielsweise die dem ebengenannten Beleg folgende
Stelle, VI 62 Z22 <B77>.
477
Met.L/1, XXVIII 254. Zu stimuli und motiva vgl. Baumgarten, Metaphysica, lat., § 677 u. 690
(AA XV 49 u. 51; dt.: § 500 u. 511).
131
richtet. Sowohl stimuli als auch motiva beziehen sich also auf Gegenstände, und
auch elateres als subjektive causae impulsivae sind demnach gegenstandsbezogen;
dementsprechend „ist nur Vergnügen oder Tugend das, was vim elateris hat“, während „Geschmack“ doch „nicht vim elateris“ „hat“,478 weil er nicht auf Gegenstände bezogen (interesselos) ist. Kurz: „motiva sunt repraesentationes boni vel
mali“.479 Motivum ist also ein bonum. Wenn das letztere absolutum ist, so heißen
die Motive motiva moralia; wenn es comparativum ist, so motiva pragmatica.480 Da
die moralischen Motive Gegenstandsvorstellungen des Guten und Bösen sind, gilt
für sie alles, was im Gegenstand-Kapitel der KpV negativ gesagt wird (cf. 3.2.1.f–
h); sie können aber nicht das Gesetz selbst sein, sofern sie repraesentationes boni
vel mali sind.
Kant war sich dessen von früh an bewußt, daß die motiva nur Gegenstände, die
mit den Gesetzen harmonieren, und nicht ohne weiteres die Gesetze selbst sind,
die sich im gleichsam isolierten freien Willen – weil nichts Äußeres (stimuli oder
Gottheit) ihn bestimmt – zeigen und ihn actualiter als subjektive Gründe nezessitieren; das Gute – mithin auch das Motiv – ist nämlich die Wirkung, die nach
Gesetzen des Willens möglich ist.481 Das Gesetz ist der „allgemeine Grund der
moralischen Verknüpfung der freien Willkür mit ihrem Gegenstand“,482 der auch
motivum sein kann. M.a.W.: Das Gesetz ist „die transzendentale Nezessitation von
mir“, die „nicht wahrgenommen werden“ kann, und das, was gar nicht wahrgenommen werden kann, ist praktisch doch nichts, weil solches „nicht in Anschlag der
Bewegungsgründe“, mithin auch nicht in Anschlag der motiva, „kommt“.483 Das
Gesetz kann nämlich nicht als Bewegungsgrund (motivum) der Willkür bezeichnet werden, solange dieser ein wahrgenommener Gegenstand sein soll. Die Motive
werden vielmehr erst durch den Akt der Freiheit, die Spontaneität der Kausalität des Wollens, die die Aktualität des Gesetzes bedeutet, hervorgebracht.484 Das
Gesetz und die Motive sind daher voneinander unterschieden. Dementsprechend
muß die moralische Triebfeder, die als causa subiective movens objektiv dem Motiv entspricht, nicht sosehr auf der transzendental-subjektiven Seite des Gesetzes
als vielmehr auf der verobjektivierten Seite von Gegenstandsvorstellungen gesetzt
Refl. 1043, XV 467, ψ1−2 (1780–84).
Refl. 1008, XV 449, Nachtrag aus den 70er Jahren.
480
Vgl. dazu Met.L/1, XXVIII 258.
481
Ref.3872, XVII 319, η? (1764–68?): „Der freie Wille ist gleichsam isoliert. Nichts Äußeres
bestimmt ihn; er ist tätig, ohne zu leiden. Die motiva sind nur Gegenstände, die mit dem innern
Gesetze seiner Tätigkeit harmonieren.* [* Nachtrag aus einer späteren Zeit: Nicht die objektiven,
sondern subjektiven Gründe nezessitieren actualiter.] Das Gute bewegt nur einen guten Willen, d.i.
es [sc. das Gute] ist nur die Wirkung, die nach Gesetzen desselben möglich ist. Er mag nun von
Bewegursachen [sc. stimuli] oder von causis efficientibus (der Gottheit) bestimmt sein, so ist das
Subjekt an eine fremde Ursache vermittelst einer Kette gehängt, und seine Handlungen sind nur
abgeleitet das Gute sowohl als das Böse.“
482
Refl. 6473, XIX 18, ζ? η? κ? (1764–69?).
483
Refl. 4223, XVII 463, λ (1769–70).
484
Vgl. dazu Refl. 5438, XVIII 182, υ? (1776–78?): „Das Vermögen, die Motiven des Wollens
schlechthin selbst hervorzubringen, ist die Freiheit. Dieser actus beruht nicht selbst auf dem Wollen,
sondern ist die Spontaneität der Kausalität des Wollens.“
478
479
132
werden.
Wenn also Kant in seiner späten Schrift von 1793 deklariert: die Motive sind
„nicht gewisse vorgesetzte, aufs physische Gefühl bezogene Objekte als Zwecke“
d.h. materiale Zwecke, „sondern nichts als das unbedingte Gesetz selbst“,485 so
stellt diese Erklärung eine Abweichung von grundsätzlichen Erläuterungen dar, die
er normalerweise dem Begriff der Motive gegeben hat, und weist darauf hin, daß
er hier den Sachverhalt vereinfacht und ganz und gar mit dem Wolffianischen Begriffsrahmen des motivum gebrochen hat, um seine Lehre von der transzendentalsubjektiven Aktualität des Gesetzes aus Freiheit vollständig durchzusetzen, die den
Willen nezessitiert. Der Gedanke, daß moralische Motive das Gesetz selbst seien,
ist aber schon in der Überlegung vorbereitet, daß sie in formale und materiale differenziert werden, und daß die ersteren als motiva moralia obligantia bezeichnet
werden, die sich auf das Gesetz beziehen können.486 Der Begriff vom moralischen
Motiv bei Kant steht innerhalb der Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens auf
Gegenstände und drückt als solcher dessen Bewegungskraft überhaupt in dieser
Ausdehnung aus, obwohl er ursprünglich gegenständliche Bewegungskraft bedeutet. Die vereinfachte Identifizierung des Motivs mit dem Gesetz steht der Sache
nach mit der Verlegung der Triebfeder ins Gesetz in Parallele. Meistens aber hat
Kant seine Definition des Motivs entweder nicht vollauf vom Wolffianischen Begriffsrahmen getrennt oder demselben treu angegeben, wonach die motiva zu den
causae impulsivae als Gegenstandsvorstellungen der Willkür gehören.
(b) Motiva moralia und Endzweck (Sittlichkeit und Glückseligkeit).
Aus dem zu (a) Gesagten erhellt auch, daß der Begriff eines Motivs als einer Gegenstandsvorstellung der Willkür auf den eines Zwecks verweist.487 Denn der Begriff vom Bonum, dessen Vorstellung auch motivum ist, deutet auch klar auf den
Zweck hin (cf. 3.2.4). Der Begriff des Motivs läßt sich Zwecken beilegen.
Da die moralischen Motive als Gegenstandsvorstellungen der Willkür auch die
von der reinen praktischen Vernunft vergegenständlichten Zwecke (das Gute überhaupt) begrifflich umfassen können, so müssen sie sich auch auf den Endzweck
485
Gemeinspruch, VIII 283. (Vgl. auch Ethik Menzer, S. 18.) In der „MS Vigilantius“ (Vorlesung
1793/94) führt Kant wieder vorsichtig aus und erklärt die Identität des motivum mit dem Gesetz
nicht so direkt wie im „Gemeinspruch“. Vgl. dazu MS Vigilantius, XXVII 493f. Nun aber kann das
moralische Gesetz freilich doch sekundär motivum sein, wenn es im vergegenständlichten höchsten
Gut angetroffen wird.
486
Vgl. dazu Refl. 6720 und 6721, XIX 140f, ξ? (1772?).
487
Vgl. dazu auch GMS, IV 427 <B63f>: „Nun ist das, was dem Willen zum objektiven Grunde
seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck“. „Der subjektive Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objektive des Wollens der Bewegungsgrund [sc. das Motiv]; daher der Unterschied zwischen
subjektiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und objektiven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche für jedes vernünftige Wesen gelten.“ An der Idee des Zwecks an sich selbst aber
wird dieser objektive Zweck, der aufs Motiv ankommt, transzendental subjektiviert. Wenn das Motiv
ihm beizulegen ist, so muß es auch subjektiviert und in der transzendental-subjektiven Aktualität des
Gesetzes aus Freiheit gesetzt werden. Damit kann die Verlagerung der moralischen Triebfeder ins
Gesetz zusammengehen.
133
(das höchste Gut) beziehen. So wird gesagt: „Die motiva moralia sind rational und
auf Ideen gegründet, deren Gegenstand, die allgemeine Einstimmung der Freiheit
und daraus die Glückseligkeit, in concreto nicht möglich ist.“488 Bei der allgemeinen Einstimmung der Freiheit mit sich selbst als mit den Gesetzen handelt es
sich um die eigene moralische Vollkommenheit, mithin auch die Heiligkeit, die
aber beim endlichen Vernunftwesen nur als subjektivierte Sittlichkeit bzw. Tugend
realisierbar ist. In dieser ist die Würdigkeit, glücklich zu sein, verankert, wodurch
die wahre Glückseligkeit herbeizuschaffen ist. Beide aber, Heiligkeit und wahre
Glückseligkeit, die in der Idee vom Reich Gottes vorzustellen sind, sind als Zwecke
(Gegenstand der Ideen) in diesem Leben in concreto gar nicht möglich. Sie stehen
aber immerhin im Umkreis der motiva moralia (causae obiective moventes) und
können demnach auch subjektiv elateres (causae subiective moventes) sein. Daraus
kann also der Gedanke entstehen, daß die Idee vom Reich Gottes als das maximierte moralische Motiv (der Endzweck) die moralische Triebfeder zur Handlung sein
kann.
(c) Die Verlagerung der primären moralischen Triebfeder ins Gesetz.
Es ist für Kant von früh an klar, daß intellektuell die Willkür durch das Gesetz (den
kategorischen Imperativ) gänzlich zu bestimmen ist. Allein, sie ist, als dem endlichen Vernunftwesen gehörend, auch sinnlich und folgt demnach nicht immer der
objektiven Nezessitation. Kant versucht daher, diese Schwäche der menschlichen
Willkür im Rahmen der wegen deren Endlichkeit notwendigen Zwecksetzung, die
in der Verarbeitung der aus der Sinnlichkeit stammenden empirischen Materie
durchs Gesetz ausgeführt wird, zu überwinden, und spricht demzufolge dem Endzweck die moralische Triebfeder zu; denn auch vom Zweck her soll die sinnliche
Willkür bestimmt werden können. Indessen verlegt er später in der Zeit der Niederschrift der KpV die moralische Triebfeder aus dem Endzweck, der erst aus dem
Gesetz notwendig abgeleitet und entworfen wird, ins Gesetz selbst, während der
Begriff der Triebfeder (elater) überhaupt sich immer noch auf die Gegenstandsvorstellung nach Wohlgefallen und Mißfallen bezieht, da die empirischen Triebfedern
Gegenstandsvorstellungen des Angenehmen sind.489 Die Idee vom Reich Gottes,
der das moralische Motiv beizulegen ist, kann demnach erst als Korrelat des Gesetzes in der intelligiblen Ordnung als Erweiterung der moralischen Gesetzlichkeit
eine sekundäre Triebfeder sein. Das schließt aber nicht aus, daß das Gesetz selbst
erst in Bezogenheit auf die motiva moralia, zu deren Machtumkreis die Idee vom
Reich Gottes gehört, die primäre Triebfeder sein kann.
Refl. 1044, XV 468, ψ1−2 (1780–84).
Vgl. dazu Refl. 1056, XV 470f, ψ3 (1785–88): „Die Möglichkeit einer Vorstellung, causa impulsiva zu sein, ist elater animi; wie etwas elater animi sein könne, ist nicht immer einzusehen, außer
bei dem Angenehmen. Wie das Gesetz elater sein könne.“
488
489
134
2.7.4 Der Sinn der Verlagerung der moralischen Triebfeder im System
der Kantischen Grundlegung der Ethik.
Die Verlagerung der moralischen Triebfeder ins Gesetz bedeutet, daß die primären
Bestimmungsgründe des Willens, seien sie objektiv, seien sie subjektiv, nunmehr
keinesfalls in den Endzweck, d. h. in die religiöse Teleologie gesetzt werden, wobei die Gefahr droht, daß die intellektuellen Zwecke in empirische Bestimmungsgründe des Willens transformiert würden,490 sondern gänzlich in das moralische
Gesetz selbst (Faktum der reinen praktischen Vernunft) und somit in die positive
Freiheit eines Handlungssubjekts, welche nun, wenn ihr Ursprung gesucht werden soll, transzendental-subjektiv auf der negativen Freiheit desselben als Unabhängigkeit von allen empirischen Bestimmungsgründen des Willens beruhen muß,
weil sie sich nicht im geringsten von Anfang an auf eine transzendente Ordnung
und Gesetzgebung der intelligiblen Welt als ihren realen Grund, sei dieser auch
nur als Triebfeder erfordert, berufen kann; diese intelligible Welt wird erst in der
,moralisch-teleologischen‘ Phase in der Erweiterung bzw. Ausdehnung des reinen
sittlichen Denkens aus negativer Freiheit auf den Endzweck als dessen Hintergrund
angenommen und demnach auch als Endzweck angesetzt; sie darf nämlich nicht
den primären Effekt auf die Willkür ausüben, weil man sonst Gefahr laufen würde,
die Zwecke wieder in empirische Bestimmungsgründe des Willens umzuwandeln.
Das Gesetz als Faktum, das der Willkür auch die moralische Triebfeder verleiht,
und mithin auch die Freiheit als dessen ratio essendi sind allein der einzige Bestimmungsgrund der Willkür, der von allem Empirischen zu unterscheiden ist und sich
keineswegs auf eine transzendent hypostasierte Ordnung als seinen realen Grund
berufen darf.
Der Ursprung der faktischen Autonomie der Vernunft im Handlungssubjekt findet sich, wenn er aufgesucht und zu diesem Zweck einmal von allen realen Bestimmungsgründen des Willens distanziert werden soll, kognitiv bloß in der negativen
Freiheit, die nicht weiter real hinterfragt werden kann, obwohl er weiterhin essentiell und lediglich nach einer Idee substantiell angenommen werden mag. Die Sphäre
der negativen Freiheit (der andere Standpunkt außer der Sinnenwelt) wird durch die
radikale Distanzierung sowohl von allen Gegenstandsvorstellungen, Motiven und
Triebfedern als auch von dem Prinzip der Selbstliebe, der pathologisch-praktischen
Lust, sinnlichen Begierden und Neigungen und zuletzt von einer eminenten Angewiesenheit auf die religiöse Teleologie eröffnet. In ihr wird auch die Revolution
in der Gesinnung als Gründung eines intelligiblen Charakters vollzogen. Sie ist
aber der Ort, der für Kant schlechterdings unerklärbar und unerforschlich ist, weil
darauf die Naturkausalität nicht angewendet werden kann, um sie zu erklären, und
kann lediglich als intelligibel begriffen werden. D. Die intelligible Welt als bloßer
Standpunkt außer der Sinnenwelt.
490
Vgl. dazu beispielsweise Refl. 6903, XIX 201; GMS IV 443 <B92>.
135
D. Die intelligible Welt als bloßer Standpunkt außer der Sinnenwelt.
2.8 Der Explikationsversuch des Prinzips der Exekution für
die Verpflichtung der Gesetze aus der transzendental-subjektiv verinnerlichten intelligiblen Welt im 3. Abschnitt der
GMS.
Im 3. Abschnitt der GMS, der entgegen dem 2. Abschnitt, der den kategorischen
Imperativ hinsichtlich seiner Formulierbarkeit, d.h. dijudikativ und begriffsanalytisch darstellt, die Exekutionsproblematik überhaupt thematisiert, werden das Interesse, das der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen kann, und mithin auch
die Triebfeder zu ihrer Befolgung, auf der ja auch das Interesse beruht, erörtert.
Bei der Frage nach dem Interesse an moralischen Gesetzen bzw. der Triebfeder zu
ihrer Befolgung hat man es zu tun mit der Frage nach der Möglichkeit der positiven Freiheit oder der Möglichkeit, wie reine Vernunft praktisch sein kann (d.i.
wie die Allgemeingültigkeit der Form der Maxime, die zunächst nur dijudikativ
ist, die Triebfeder ergeben und somit Interesse bewirken kann), welche Möglichkeit aber hinsichtlich ihrer theoretischen Begründbarkeit eigentlich nicht real einzusehen bzw. zu erklären ist.491 Die Begründung der exekutiven Realität der notwendigen Auswirkung des Begriffs der Einheit von Selbsttätigkeit (von sich aus
tätig) und Gesetzlichkeit,492 die die erstere unvermeidlich mit sich führt, ist Kant
zufolge vom menschlichen Verstande nie zu leisten, obwohl – bzw. gerade weil
– diese Einheit, d.i. das reine sittliche Denken aus Freiheit, doch den Kern der
Grundlage der Kantischen Grundlegung der Ethik bildet. Gleichwohl kann doch
die Konstellation, in die die an sich unbegründbare Realität der Notwendigkeit
der exekutiven Auswirkung dieser Einheit gesetzt ist, essentiell, d.h. nach Ideen,
erörtert werden. Das Interesse nämlich, das der Mensch als Vernunftwesen an moralischen Gesetzen nimmt, kann, vom Begriff einer dem Vernunfwesen beigelegten reinen praktischen Vernunft ausgehend, wie folgt expliziert werden: Die reine
praktische Vernunft verweist auf die Idee der Freiheit („Deduktion des Begriffs der
Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“493 ), welche sodann die Idee einer intelligiblen Welt für den menschlichen Willen annehmbar macht; alsdann läßt sich
aufgrund ihrer Annehmbarkeit gegenüber der Sinnenwelt auch das Interesse an moralischen Gesetzen hinsichtlich seiner zwischen beiden Welten befindlichen funkVgl. dazu GMS, IV 461 <B124f>.
Zur Einheit von Selbsttätigkeit und Gesetzlichkeit Vgl. im 3. Abschnitt der GMS etwa IV 446
Z24 – 447 Z7 <B98>; sie artikuliert sich an dieser Stelle prägnant und eindrucksvoll, obwohl der
Name Selbsttätigkeit fehlt.
493
GMS, IV 447 <B99>. Die Freiheit wird nicht im mindesten aus der theoretischen reinen Vernunft – wie D. Henrich diese Möglichkeit andeutet –, sondern wie hier ausdrücklich formuliert ist,
aus der reinen praktischen Vernunft deduziert.
491
492
136
tionellen Position essentiell explizieren. Durch die Verwendung nun des Begriffs
einer transzendental-subjektiv dem menschlichen Gemüte zugrundeliegenden reinen praktischen Vernunft im Rahmen der für die Grundlegung der Ethik wesentlich konstitutiven Triebfederproblematik wird die Idee der intelligiblen Welt nicht
als ein vergegenständlichter Endzweck hingestellt – dies ist bei der Gedankenlinie Kants in der Phase der ,moralischen Teleologie‘ der Fall –, sondern sie wirkt
sich hier im 3. Abschnitt der GMS als eine Idee durch reine praktische Vernunft
hindurch vernunftkausal, sozusagen von innen her aus. Sie läßt sich bei der Erörterung der exekutiven Bestimmungsgründe zur moralischen Handlung in diesem Abschnitt transzendental-subjektiv verinnerlichen.494 Die transzendental-subjektive
Verinnerlichung der intelligiblen Welt, und zwar als Grund der Freiheitskausalität
des Willens, verstärkt doch die Grundposition der die ,moralische Teleologie‘ begründenden und mithin vollziehenden Autonomie des Willens in der Grundlegung
der Ethik überhaupt. Es handelt sich bei ihr nämlich um die entwicklungsgeschichtliche Voraussetzung dafür, daß in der KpV endlich ausdrücklich das Gewicht der
moralischen Triebfeder angemessen ins moralische Gesetz als kognitives Faktum
verlagert wird, welches aber essentiell in der intelligiblen Welt beheimatet ist.
Der Argumentationsgang des 3. Abschnitts der GMS weist öfters nicht eben
eindeutige Richtung auf, und wiederholt kommen gleichartige Denkversuche und
Formulierungen vor, weil Kant hier seine schon erworbenen Argumente noch unter
diversen Aspekten prüft. Doch können aus diesen Denkversuchen und Formulierungen einige Hauptzüge des Argumentationsgangs entnommen werden.
1. Bei der reinen praktischen Vernunft hat man die „Urheberin ihrer Prinzipien“, unabhängig von fremden Einflüssen, vor sich; sie muß demnach „von ihr selbst
als frei angesehen werden“.495 Die Freiheit der reinen praktischen Vernunft ist für
494
Bei der Exegese einer Stelle des Neuen Testaments aber ist Kant in dieser Richtung auf die Verinnerlichung der intelligiblen Welt doch nicht so weit gegangen wie im 3. Abschnitt der GMS. Das
„Reich Gottes inwendig in euch“ (Lk 17, 21) nämlich, das philosophisch der verinnerlichten, intelligiblen Welt entsprechen könnte, besagt ihm zufolge lediglich, „uns jederzeit wirklich als berufene
Bürger eines göttlichen (ethischen) Staats anzusehen“, und ist noch nicht so weit gedeutet, daß es
ausdrücklich auf das Reich Gottes (und somit das Wirken Gottes) im Innern des Menschen hinweise.
Vgl. dazu Rel., VI 136 <B205f>.
495
GMS, IV 448 <B101>, Kant erläutert hier das Vermögen der Vernunft in ihrer Urteilsfunktion
(IV 448 Z13–16 <B101>). Darauf gestützt, wollen H. J. Paton und D. Henrich sie als auf die theoretische Vernunft bezogen verstanden wissen. Vgl. hierzu Paton, H. J.: Der kategorische Imperativ,
Berlin 1962, S. 270 und Henrich, D.: Die Deduktion des Sittengesetzes, in: Schwan, A.: Denken
im Schatten des Nihilismus, Darmstadt 1975, S. 64–69. In welchen funktionalen Zusammenhängen
aber praktische Vernunft auch stehen mag, es läßt sich wenigstens konstatieren, daß sie als solche
urteile: Vgl. dazu folgende Belege: „... so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die,
es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt“ (KpV, V 121 Z4–6
<A218>); „im Urteile dieser gemeinen Vernunft“, die offensichtlich praktisch gemeint ist (KpV, V
91 Z25 <A163>); „im Urteile der Vernunft“ (KpV, V 75 Z14, 76 Z3f; Rel., VI 24 Z6); „alle Urteile über Handlungen“ (GMS, IV 455 Z12); „der praktischen [Urteile]“ (KrV, III 520 Anm. Z35
<B520>) etc. Sollte praktische Vernunft nicht urteilen können, so wäre auch die reine praktische
Urteilskraft (KpV, V 67f <A119f>) ein Unding. Immerhin ist es doch wenigstens nicht fraglich,
daß man es bei der Vernunft, von der hier in der GMS die Rede ist, zuletzt mit der reinen praktischen zu tun hat. So müßte dann auch mit F. Kaulbach gesagt werden können, daß „sich jeder
137
diese real, wohl aber für theoretische Vernunft eine bloße Idee. Die bloße Idee der
Freiheit für theoretische Vernunft aber genügt doch der reinen praktischen Venunft,
damit das Vernunftwesen in praktischer Hinsicht wirklich frei sein kann. Auf diese
Weise wird in der Auseinandersetzung des 3. Abschnitts der GMS mit der Exekutionsproblematik die Freiheit durch den Begriff der Vernunft eingeräumt.496
2. Die Idee der Freiheit des Willens nun, die zunächst nichts als jene negatiAnspruch auf Beweis dieser Wirklichkeit [der Freiheit] durch theoretische Vernunft als ungerechtfertigt und als hinfällig erweist“ (Kaulbach, F.: Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten“, Darmstadt 1988, S. 126). Dabei kann man sich auch daran erinnern, daß die Festsetzung der
moralischen Gesetzlichkeit und mithin der Realität der Freiheit (bis in die erste Hälfte der sechziger
Jahre) der Konzeption der Idealität von Raum und Zeit (im Jahre 1769 des großen Lichtes) vorausgeht, aufgrund derer sich die Lehre der theoretischen Erkenntnis der Erscheinungen in ihnen durch
die transzendentale Apperzeption entwickelt. Auch der späte Kant spielt bei der Differenzierung der
Selbsterkenntnis in zwei Modi, d.i. in die Erkenntnis der Erscheinungen von sich durch den Verstand
als Vermögen der Spontaneität und „das Bewußtsein der reinen Spontaneität (den Freiheitsbegriff)“,
gar nicht darauf an, daß die reine Spontaneität als Freiheit, die „durch den kategorischen Pflichtimperativ, also nur durch den höchsten praktischen,“ angekündigt wird, doch aus der Spontaneität des
theoretischen Verstandes deduziert werden sollte. Vgl. dazu Anthr., Ergänzung aus Handschrift, VII
397–399. Daß nun die reine Vernunft vor dem Eintritt des moralischen Gefühls praktisch von sich
selbst aus urteilt, ist festes Bestandstück der moralphilosophischen Gedanken Kants von früh an. In
der Exekutionsproblematik nämlich beruht moralisches Gefühl auf dem Urteil, d.i. der Billigung der
reinen praktischen Vernunft; die Exekutionskraft, die auch durch den Begriff der Freiheit getragen
werden soll, und um die es sich ja beim 3. Abschnitt der GMS handelt, muß im Grundvermögen der
reinen Vernunft im Menschen gesucht werden. Der Gedanke dieser Funktion des Urteils der reinen
praktischen Vernunft in der Exekutionsproblematik tritt schon früh auf: „Das subjektive principium
der Moral ist die Unterordnung aller Zwecke unter das Urteil (Billigung) der reinen Vernunft“ (Refl. 6636, XIX 121, κ–λ? 1769–70?). Er läßt sich aber auch wie folgt erklären: „Das moralische Urteil
der Billigung und Mißbilligung geschieht durch den Verstand, die moralische Empfindung des Vergnügens und Abscheus durchs moralische Gefühl, doch so, daß nicht das moralische Urteil aus dem
Gefühl, sondern dieses aus jenem entspringt. Alles moralische Gefühl setzt ein sittliches Urteil durch
den Verstand voraus“ (Refl. 6760, XIX 152, ξ? 1772?). Die Quintessenz dieses Gedankens wird nun
so artikuliert: „Es muß vom moralischen Gefühl niemals die Rede sein beim Urteil (es ist kein Sinn,
sondern Wahl)“ (Refl. 7042, XIX 233 υ 1776–78). Dieses Urteil der Vernunft als „Wahl“ (das Wort
erinnert an die Wahlfreiheit der Willkür, die praktisch ist), das exekutiv mit dem moralischen Gefühl
eng verbunden ist, muß nicht unbedingt als theoretisches interpretiert werden; viel plausibler ist es,
es bloß für praktisch zu halten. Auch aus diesen Belegen übrigens liegt es auf der Hand, daß die
Billigung primär durch die Vernunft durchgeführt wird, und nicht durch das Gefühl. Die Billigung
und Mißbilligung ist die Dijudikation (Beurteilung), die durch die Vernunft vollzogen werden soll
(cf. 2.3.2). Vgl. dazu Refl. 6988, XIX 220, ϕ? (1776–78?): „Lehren der moralischen Beurteilung, zu
erkennen, was gut und böse sei, was verabscheuenswürdig sei, und also Gründe der Billigung und
Mißbilligung“. Selbst die „Selbstbilligung“ in der KpV (V 81 Z2 <A143>), wobei von der subjektiven Wirkung aufs Gefühl die Rede ist, ist doch eine Wirkung aus Vernunft als Zusammenstimmung
mit sich selbst als mit den Vernunftgesetzen (vgl. Refl. 6892, XIX 195f). (Zur Selbstbilligung cf.
Fußnote 295 in 2.4.1.) Dies gegen D. Henrich, der die Billigung bzw. Zustimmung mit complacentia
gleichsetzt. Vgl. hierzu ders., Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der
Vernunft, in: Prauss, G., Köln 1973, S. 230 (vgl. diesbezüglich auch S. 246: „Deshalb ist auch nur
die sittliche Einsicht des Guten ursprünglich mit einem emotionalen Akt verbunden. Nur in ihm sind
Billigung [!], Wohlgefallen und Achtung unwegdenkbare Elemente“); ders., Ethik der Autonomie,
in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1983, S. 30. Zu complacentia cf. 2.5.1. Die intellektuelle Ethik
Kants aber muß vor jeder ästhetischen Interpretationstendenz bewahrt werden.
496
Vgl. dazu auch GMS, IV 459 Z9f <B120>: „Sie [sc. (die Idee der) Freiheit] gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens ... bewußt sein zu glaubt.“
138
ve Freiheit, die „Unabhängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“,497
ist, welche einräumt, lediglich einen anderen Standpunkt498 als den in der Sinnenwelt einzunehmen, ebnet jedoch dem Menschen den Weg in die Zugehörigkeit zur
Intelligiblen Welt.499
Das Vermögen der Vernunft in ihm als „reine Selbsttätigkeit“ also führt unvermeidlich zu seiner Mitgliedschaft in der intelligiblen Welt.500 Dieser Verweis
auf die intelligible Welt ist möglich, weil in der Idee der letzteren schon das Begriffselement der Selbsttätigkeit, die nicht etwa erst durch die diskursive Vergegenständlichung zustandekommt, vorbereitet ist.501 Bei diesem Verweis ist zudem
zu bemerken, daß (1) bei der Funktion der Vernunft primär von reiner Spontaneität (Selbsttätigkeit) und nicht zuerst von Allgemeingültigkeit die Rede ist, und (2)
daß bezüglich dieser selbsttätigen Kausalität der Vernunft der Zweckbegriff noch
nicht eingeführt ist. Das, was der Freiheit essentiell und unerforschlich zugrundeliegt, und worauf die Idee einer transzendental-subjektiv verinnerlichten intelligiblen Welt hinweisen will, wäre für Kant ein noch nicht diskursiv vergegenständlichtes, demnach noch nicht für einen entworfenen Zweck zu nehmendes Ganzes,
aus dem aber die reine Spontaneität der reinen praktischen Vernunft als Kausalität
derselben annehmbar wird.
Kant faßt nun die dargelegte zweistufige Deduktion (1) der Freiheit des Willens
im negativen Verstande aus der Vernunft als reiner Spontaneität und (2) der Zugehörigkeit des Menschen als Intelligenz zur intelligiblen Welt aus dieser negativen
Freiheit wie folgt zusammen: „Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die
zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjektivbestimmenden Ursachen, die insgesamt das ausmachen, was bloß zur Empfindung,
mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehört. Der Mensch, der
sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältnis zu bestimmenden Gründen von ganz
anderer Art“.502
Dieser zweistufige deduktive Verweis von der Vernunft auf die Freiheit und
von dieser auf die intelligible Welt als einen anderen Standpunkt stellt die kognitivGMS, IV 455 Z2f <B113>.
IV 450 Z32 <B105>; 458 Z19 <B119>. Zum „Standpunkt in der Vernunft“ vgl. Refl. 6865,
XIX 185, υ (1776–78) (cf. Fußnote 454 in 2.7.1). Der im Titel des 3. Abschnitts der GMS enthaltene
Ausdruck „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ (IV 446 <B97>) zeigt an, daß dieser andere
Standpunkt „nur ein Etwas, das da übrigbleibt“ und das ich nicht weiter kenne, ist (IV 462 <B125f>).
499
Vgl. GMS, IV 454 Z6f <B111>: „... daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer
intelligiblen Welt macht“.
500
Vgl. dazu IV 452 Z7–23 <B107>. Das Wort „Selbsttätigkeit“ übrigens ist Übersetzung aus dem
lateinischen „spontaneitas“. Vgl. hierzu beispielsweise Baumgarten, A. G., Metaphysica (lat.) § 706,
AA XVII 131f, Metaphysik (dt.) § 521, S. 260.
501
Vgl. dazu IV 451 Z11f <B106>: „... von denen [sc. den Vorstellungen], die wir lediglich aus uns
selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Tätigkeit beweisen ...“; Z33–36 <B107>: „... in Ansehung
dessen aber, was in ihm [sc. dem Menschen] reine Tätigkeit sein mag, (dessen, was gar nicht durch
Affizierung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewußtsein gelangt) ...“
502
IV 457 <B117>.
497
498
139
formalistische Grundlegung der Ethik dar, die im 1. Teil der vorliegenden Arbeit
dargelegt worden ist. Daß der durch diese Grundlegung erlangte andere Standpunkt
nur ein Etwas ist, das ich nicht weiter kenne, hängt mit der Absicht der Kritik der
reinen praktischen Vernunft zusammen.
In der nun von der intelligiblen Welt als bloßem Standpunkt ausgehenden Deduktion der moralischen Gesetzlichkeit aus Freiheit als einem Teil der essentiellen,
,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung wird festgestellt, daß die negative Freiheit in Wahrheit mit der positiven Vernunftkausalität als dem reinen Willen
verbunden ist und daß demzufolge das Gesetz, d.i. – was das Dijudikationsprinzip betrifft – das Vernunftprinzip der Allgemeingültigkeit (Form der Maxime als
Gesetzes), aus dieser Vernunftkausalität als reiner Spontaneität abgeleitet werden
kann.503 Die Ableitung der Allgemeingültigkeit als Dijudikationsprinzip aus der
Vernunftkausalität müßte zuletzt in dem für Kant selbstverständlichen, demnach
nicht ausdrücklich artikulierten Gedanken verankert sein, daß die Allgemeinheit
(universalitas) auf der Einheit der Selbsttätigkeit des reinen Denkens aus Freiheit
beruhe.
Was nun das Exekutionsprinzip anlangt, wickelt sich die Deduktion der moralischen Gesetzlichkeit diesbezüglich in folgender Weise ab: (1) die intelligible
Welt enthält den Grund der Sinnenwelt, mithin auch den der Gesetze derselben –
daß der Satz sich hier ohne Beweise a priori ansetzen läßt, deutet darauf hin, daß
der Begriff einer intelligiblen Welt u. E. von vornherein in der essentiellen Phase
von der Freiheit zum Endzweck mit Bezug auf die Sinnenwelt, um diese zu gründen, analogisch mit derselben angenommen ist (cf. 3.1.2) –; (2) sie muß daher für
den reinen Willen des zu beiden Welten gehörenden Menschen als gesetzgebend
gedacht werden; (3) das Gesetz nun, das durch die intelligible Welt gegeben wird,
ist das der Vernunft im Menschen, die in ihrer Beschaffenheit als Freiheit, d.i. der
reinen Spontaneität, dieses Gesetz bewahrt; (4) Folglich erkennt der Mensch sich
bei der Bestimmung seines auch durch sinnliche Begierden affizierten Willens als
dem Gesetz der Vernunft, demnach der Autonomie des Willens, bei dem es sich
um die Kausalität der praktischen Vernunft handelt, unterworfen; (5) er muß also
die Gesetze der intelligiblen Welt für seinen affizierbaren Willen als Imperative ansehen.504 Mit dieser Ausführung der essentiellen Deduktion der Gesetze aus der
intelligiblen Welt ist sowohl die exekutive Kraft des kategorischen Imperativs deduziert, als zugleich das Woher der praktisch-objektiven Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes505 angezeigt worden;506 Diese (Verbindlichkeit) und mithin jene
(exekutive Kraft) stammen aus der Gründungsbefugnis der intelligiblen Welt für
die Sinnenwelt, die mittels der in uns befindlichen reinen praktischen Vernunft ausgeübt werden kann. Das moralische Interesse am Gesetz nämlich, in dem auch die
Vgl. IV 458 Z6–16 <B118f>.
Vgl. IV 453 Z31 – 454 Z5 <B111>. Vgl. auch den Argumentationsgang in IV 452 Z31 – 453
Z2 <B109>, der dieselbe essentielle Grundlegung zeigt. Zum ersten Satz vgl. auch IV 461 Z4–6
<B123>.
505
Vgl. dazu IV 450 Z16 <B104>.
506
Vgl. dazu auch IV 454 Z6–15 <B111f>.
503
504
140
Triebfeder zur Befolgung desselben mitenthalten ist und dessen Grundlage in uns
moralisches Gefühl genannt wird,507 mithin der exekutive Grund zu Befolgung des
Gesetzes, läßt sich auf diese Weise mit Hilfe des menschlichen Grundvermögens
der Vernunft als reiner Spontaneität aus der Idee der intelligiblen Welt, wohl nicht
real, jedoch allemal nach einer Idee, explizieren.508 Und dadurch wird auch die
ausdrückliche Verlagerung der moralischen Triebfeder vom Endzweck zum Gesetz selbst in der KpV vorbereitet, weil die Verbindlichkeit bzw. exekutive Kraft
nach der dargelegten Ausführung des 3. Abschnitts der GMS auf der hier für ein
Faktum gehaltenen reinen Spontaneität der reinen praktischen Vernunft beruht, obwohl sie sich essentiell weiter auf die Gründungsbefugnis der Idee der intelligiblen
Welt beruft.
Da aber der reale Gründungsmechanismus von der intelligiblen Welt zur Sinnenwelt nicht erklärbar ist und da der bloße Verweis auf die erstere nicht die mindeste Kenntnis darüber bringt, so wird letztlich die gesamte Unerklärbarkeit der
realen exekutiven Möglichkeit von (1) Freiheit, (2) reiner praktischen Vernunft
und (3) moralischem Interesse angegeben.509 Erkenntniskritisch gesehen beruht
sie auf der Unerklärbarkeit der Beziehung der Vernunft auf das Gefühl der Lust
und Unlust.510 Der Grund der Freiheit ist unerforschlich und heißt als solcher in
der religiösen Dimension Geheimnis.511
Der Lösungsversuch nun der Exekutionsproblematik mit Hilfe der Idee der
durch den Begriff einer in uns befindlichen Vernunft hindurch angesetzten, transzendental-subjektiv verinnerlichten intelligiblen Welt als des Grundes der Sinnenwelt im 3. Abschnitt der GMS steht mit der Auflösung der Dritten Antinomie
der KrV im Zusammenhang. Denn er hat seine Wurzel noch früher in den langjährigen Denkversuchen der Reflexionen über arbitrium liberum und libertas,512
aus denen auch die letztere hervorgegangen ist. Er bezieht sich damit auf die eigentliche, transzendental-subjektive Problematik der kritischen Philosophie Kants,
in deren Zentrum sich die Dritte Antinomie der KrV befindet, während sich die
Gedankenlinie von der intelligiblen Welt als dem vergegenständlichten Endzweck,
die für sich auch als sekundäre Triebfeder der moralischen Handlung fungieren
kann, als rein ethisches, demnach intelligibles und essentielles Problem, auf den
Vgl. IV 460 Z2f <B122>.
Vgl. dazu IV 449 Z15–23 <B102f>, 453 Z14f <B110>(dieser Beleg stellt den Schlußsatz und
somit das Resultat des Abschnitts über das Interesse dar), 462 Z18f <B126>.
509
Vgl. dazu IV 458–462 <B120–126>. Vgl. auch Rel., VI 170 Anm. <B259f>.
510
Vgl. dazu IV 460 <B122f>.
511
Vgl. dazu Rel., VI 138 Z19f <B209>: „... der uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft [sc.
der Freiheit] aber ist ein Geheimnis, weil er uns zur Erkenntnis nicht gegeben ist.“ Unter dem „Geheimnis“ wird R. Wimmer zufolge „die Notwendigkeit und gleichzeitige Unmöglichkeit, menschliche Freiheit und göttliche Mitwirkung zusammenzudenken“, verstanden. Vgl. hierzu Wimmer, R.,
Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin 1990, S. 184f.
512
Vgl. dazu die diesbezüglichen Reflexionen in Bd. XVII und XVIII der AA: XVII 313–320, 462–
467, 508–511, 548, 587–591, 688f; XVIII 181–185, 252–259. H. Heimsoeth behandelt in seinem
Aufsatz: Freiheit und Charakter, in: Prauss, G. [Hrsg.], Kant, Köln 1973, S. 292–309, einen Auflösungsversuch der Dritten Antinomie, die Charakter-Lehre, indem er diese Reflexionen in Periode χ
(1778–79) analysiert.
507
508
141
Bereich des Vernunftglaubens bezieht. Die transzendentale Problematik, die zunächst in der Kantischen Zweiweltenlehre liegt und die demnach auch durch die
theoretische Philosophie erörtert worden ist, hat in der praktischen die relative Verlagerung der moralischen Triebfeder ins Gesetz beeinflußt.
Man kann aber nicht feststellen, daß Kant sich in der GMS der Differenzierung
der Funktion der Idee der intelligiblen Welt in den vergegenständlichten Endzweck
einerseits und den Grund der positiven Freiheit als Vernunftkausalität andererseits
klar und deutlich bewußt gewesen sei. Die dargestellte essentielle Deduktion der
moralischen Gesetzlichkeit aus der Idee der intelligiblen Welt kann die in der Einleitung genannte synthetisch-progressive Lehrart sein; die Idee der intelligiblen
Welt ist nicht nur transzendental-subjektiv aus der reinen Vernunft deduziert worden, sondern sie könnte auch in der GMS – ebenso wie in den „Reflexionen“ –
transzendental-objektiv vorgestellt sein. Die Idee der intelligiblen Welt ist für Kant
schon vor dieser Differenzierung in der essentiellen Phase von der Freiheit zum
Endzweck überhaupt als Welt- bzw. Ortsbegriff grundlegend, ob sie nun in der
Freiheit oder im Endzweck placiert wird. Kant scheint im Grunde eine undifferenzierte Idee von ihr zu hegen. Eine transzendental-subjektive Idee kann zugleich
tranzendental-objektiv sein. Die Bedrohung jedoch, daß die Idee der intelligiblen
Welt als Endzweck, wenn man sie als erstes Moralprinzip fungieren ließe, die Autonomie der Vernunft untergraben würde, mußte abgewendet werden. Dabei hat
man es wohl mit dem Sinn der Kritik der reinen praktischen Vernunft zu tun. Wenn
Kant die Argumentation über das moralische Interesse abschließt und im Übergang
zum Vernunftglauben die Rolle der Idee einer intelligiblen Welt als Triebfeder bzw.
als das Woran des Interesses noch einmal konstatiert, stellt er diese Idee noch als
bloßen Ursprung und exekutiven Grund der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, der an sich unerforschlich ist, vor, ohne den Namen eines Endzwecks ausdrücklich auszusprechen. Sie dürfte jedoch implizit als solcher gedacht sein.513 In
diesem Zusammenhang ist Refl. 7204 große Bedeutung beizumessen.
513
Vgl. IV 462 Z18–20 <B126>: „... es müßte denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst die
Triebfeder oder dasjenige sein, woran die Vernunft ursprünglich ein Interesse nähme; ...“ Noch im
nächsten Absatz (462 Z22 – 463 Z2 <B126f>) wird erstmals auf eine Funktion der Idee der intelligiblen Welt im Rahmen des Vernunftglaubens hingewiesen, in dem sie als Endzweck vorgestellt
werden müßte.
142
3. Der Übergang von der Theorie
des ,Gegenstands der reinen
praktischen Vernunft‘ zur Lehre
vom höchsten Gut.
Die Grundlegung der Ethik wird in die kognitiv-formalistische und die essentielle,
,moralisch-teleologische‘ Phase eingeteilt. Die Analyse der moralphilosophischen
Reflexionen im 2. Teil der vorliegenden Arbeit hat gezeigt, daß die letztere Phase in den Denkversuchen Kants besteht, die Moralität im Blick auf die intelligible
Welt (das Reich Gottes), wo die wahre Glückseligkeit angetroffen wird, sozusagen
in der Beleuchtung durch das Licht zu explizieren, das die Idee der intelligiblen
Welt reflektiert und dessen Ursprung selbst doch in Freiheit und reiner praktischer
Vernunft liegt. In den Schriften der achtziger und neunziger Jahre, vor allem in
der KpV, hat Kant diese Denkversuche zusammengefaßt. In der zusammengefaßten Lehre von der ,moralisch-teleologischen‘ Phase, d.h. der Phase der moralischpraktischen Zwecksetzung, geht er erkenntniskritisch vom Fundament der Ethik
bzw. der Moral aus und richtet sich ,moralisch-teleologisch‘ auf die intelligible
Welt als praktischen Endzweck (das höchste Gut).514 Aber auch hier denkt er die
Moralität zugleich essentiell von der Idee der letzteren her. Er sucht die Moral im
Äguilibrium eines Systems zwischen dem Fundament der Ethik bzw. der Moral
(Freiheit, Gesetz und reine praktische Vernunft) und der Idee vom Reich Gottes zu
konstruieren. Dieser zusammengefaßten Lehre ist jetzt nachzugehen.
514
O. Kohlschmidt hebt in seiner Dissertation, Kants Stellung zur Teleologie und Physicotheologie,
Jena 1894, die Relevanz der moralisch-teleologischen Elemente in bezug auf die physiche Teleologie und die Theologie hervor. In letzter Zeit hat sich auch D. Lenfers mit dem Versuch befaßt, die
Teleologie in der KU zu analysieren und von ihr zur Theologie überzugehen, und aus diesem Anlaß
auch die moralische Teleologie gestreift. Seine Arbeit aber beabsichtigt nicht, diese vom Fundament
der Moral her architektonisch zu rekonstruieren. Vgl. dazu ders., Kants Weg von der Teleologie zur
Theologie, Köln 1965, S. 94–103.
143
3.1 Vorbegriffe zur ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der Ethik.
Zuerst sind einige Begiffe, die für diese Phase grundlegend sind, zu erläutern.
3.1.1 Die Relevanz der moralisch-praktischen Zwecksetzung des freien
Willens gegenüber dem bloß logischen Vernunftprinzip der Moralität:
Moralische Gesetze entspringen nicht der Vernunft.
Hier wird die Relevanz jener moralisch-praktischen Zwecksetzung in Betracht gezogen, die in den „Reflexionen“ essentiell aus dem zweckmäßigen Ganzen her erwogen wird. In ihrem Hintergrund liegt die intelligible Welt mit einem allgemeingültigen Willen. Die Erwägungen werden in der KpV von dem Gesichtspunkt des
Gesetzes als Faktum der Vernunft her in systematischer Klarheit und Eindeutigkeit
neu eingeordnet.
(a) Die praktische Setzung eines Ganzen als Zweck durch endliche Vernunft
und die Glückseligkeit als Endzweck.
Sowohl die Autokratie der Freiheit und Epigenesis der Glückseligkeit in den „Reflexionen“ als auch die umgestaltete Theorie des höchsten Guts in der KpV basieren auf der Setzung des Zweckes als Glückseligkeit durch den freien Willen
des endlichen Vernunftwesens. Kant hat aber die apriorische innere Struktur einer
praktischen Zwecksetzung überhaupt nicht thematisch erörtert, die für verschiedene Zwecksetzungen gemeinsam gilt. Sie war für ihn eine selbstverständliche Voraussetzung, die nicht besonders erläutert werden muß. Doch jene Erörterung, die
er der Grundlegung der Möglichkeit einer Teleologie für Organismen gibt, liefert
gewisse Hinweise auf das Wesen der praktischen Zwecksetzung. Ihr zufolge ist
der Verstand des endlichen Vernunftwesens nicht derart „intuitiv“, daß er „vom
Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum
Besonderen“ gehen und demnach „das Ganze den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Teile“ enthalten könnte, sondern er hat keine andere als die „diskursive“ Eigentümlichkeit, nach der nur „die Vorstellung eines Ganzen den Grund
der Möglichkeit der Form desselben und der dazu gehörigen Verknüpfug der Teile enthalte“; „das Produkt aber einer Ursache, deren Bestimmungsgrund bloß die
Vorstellung ihrer Wirkung ist“, heiße „ein Zweck“.515 Der diskursive Verstand
kann sich also das Ganze, wovon die Teile ihrer Beschaffenheit und Bedingung
nach abhängen, nur als Zweck vorstellen. Er vergegenständlicht somit nach einer Idee das Ganze als Zweck. Die Grundzüge dieser Endlichkeit nun, die für die
physisch-teleologische Zwecksetzung eigentümlich ist, gelten auch für die praktische Zwecksetzung. Im Grunde genommen läßt sich aber das Verhältnis zwischen
physischer Teleologie und praktischer Zwecksetzung umkehren: Die ursprünglich
515
Vgl. KU, V 407f <B349f>.
144
wegen der Endlichkeit der menschlichen Vernunft als Instrument für Handlungen eingerichtete praktische Zwecksetzung kann auch auf die Teleologisierung der
sinnlichen Natur erst angewendet werden. Gerade die praktische Vernunft entwirft
im Rahmen ihrer Endlichkeit das noch nicht Realisierte als eine zu realisierende
Vorstellung, die als Zweck bezeichnet wird.516 Die endliche Vernunft des Menschen vermag nämlich nicht – durch einen intuitiven Verstand – ein Ganzes auf
einmal zustandezubringen, sondern sich lediglich praktisch eine Vorstellung desselben als den formalen Grund für seine Herstellungsmöglichkeit zu machen; eine
solche Vorstellung wird Zweck genannt. Nun ist eine der praktischen Zwecksetzungen die moralisch-praktische. Sie befaßt sich nicht nur mit einzelnen Zwecken
als dem Guten, sondern geht auf den Endzweck als das höchste Gut hinaus. Bei
ihr wirkt sich von der ursprünglichen Freiheit aus die apriorische Notwendigkeit
der Freiheitskausalität als des Gesetzes auf den Endzweck aus. Dadurch dehnt sich
von der Freiheit bis zum Endzweck hin ein intellektuelles Geistesfeld aus, in dem
auch das Prinzip von Autokratie/Epigenesis in Kraft tritt, eine apriorische Struktur
der Geisteslage des endlichen Vernunftwesens für seinen unendlichen Progressus
auf den Endzweck.
Nun ist Glückseligkeit der allgemeingültige Zweck (Vorstellung bzw. Idee des
Ganzen) seines freien Willens.517 Sie wird dabei auch essentiell und strukturell
vom Ganzen her als möglich betrachtet (cf. 3.1.2): „Die Glückseligkeit ... ist nur
möglich in einem Ganzen nach einer Idee.“518 Der Setzung der Glückseligkeit als
Zweck liegt also ein Ganzes nach einer Idee zugrunde, mit dem die Freiheit, um
sie zu erreichen, zusammenstimmen soll. Die endliche praktische Vernunft kann
dabei das Ganze, mit dem zusammenzustimmen die wahre Glückseligkeit erbringt,
nicht ursprünglich anschauen, sondern sich nur als eine Idee denken oder als einen
Zweck vergegenständlichen und setzen. Bei diesem Ganzen ist aber eben von der
intelligiblen Welt die Rede; bei dem als Endzweck vergegenständlichten Ganzen
handelt es sich daher um das Reich Gottes als eine christliche Konfiguration der
intelligiblen, moralischen Welt, in der auch Glückseligkeit erlangt wird.
(b) Moralische Gesetze als Bindeglieder zwischen Freiheit und Glückseligkeit
als Endzweck vor dem Hintergrund der intelligiblen Welt.
Zur Epigenesis nun der als das Ganze und mithin als Endzweck begriffenen Glückseligkeit aus dem Prinzip der Autokratie der endlichen tätigen Freiheit hat nur die
516
Daher wird auch gesagt: „Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den übrigen aus, daß
sie ihr selbst einen Zweck setzt“ (GMS, IV 437 <B82>).
517
Vgl. Refl. 6875, XIX 188, υ? κ?: „Der Zweck, der notwendig allgemein ist, ist: daß alle ihre
Zwecke erreicht werden, d.i. Glückseligkeit.“ Refl. 7058, XIX 237, ϕ : „Der allgemeine Zweck der
Menschen ist Glückseligkeit.“ Refl. 6889, XIX 194, υ? χ?: „Der wirkliche Zweck ist: glücklich
zu sein. Bedingungen sind Sittlichkeit und Geschicklichkeit.“ Refl. 7310, XIX 308, ψ? τ?: „Der
Zweck der Menschen ist Glückseligkeit.“ Ebenso meint Refl. 7205 (XIX 284, ψ? ϕ?), die Einheit
aller möglichen Zwecke vernünftiger Wesen sei rational aus dem Begriff der Glückseligkeit, solange
sie bloß eine Wirkung der Freiheit ist, bestimmt.
518
Refl. 6971, XIX 216, υ? (1776–78?).
145
Sittlichkeit bzw. Moralität Tauglichkeit und Wirksamkeit. Daher heißt es, daß „die
Sittlichkeit sich auf die Idee der allgemeinen Glückseligkeit aus freiem Verhalten gründet“;519 die Zusammenstimmung der freien Willkür mit dem Ganzen als
Zwecke erfordert Gesetzlichkeit. Dieses Erfordernis läßt sich unter dem Aspekt
der essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘ Grundlegung der Ethik so sehen, als
ob moralische Gesetze aus der intellektuellen Ausdehnung, die aus beiden Polen,
Freiheit und Glückseligkeit, gebildet wird, generiert würden; sie zeigen sich nämlich in dieser Ausdehnung als Bindeglieder zwischen beiden. Im Hintergrund dieser Ausdehnung wird aber, wie man sogleich unten sehen wird (cf. 3.1.2), essentiell
die Idee der intelligiblen Welt als Einheit der Zwecke angenommen.
Moralische Gesetze müssen, wenn sie expliziert werden sollen, grundsätzlich
aus dem Begriff der Freiheit deduziert werden können, jedoch nicht kognitiv-real,
sondern nur essentiell, weil diese, als das von ihnen zu Unterscheidende, jene negative Freiheit ist, die an und für sich kognitiv und erkenntnistheoretisch unerklärbar
und unerforschlich ist. Es wird auch ausgeschlossen, Gesetze aus der positiven
Freiheit her zu erklären, weil ein solcher Erklärungsversuch beinahe bloß tautologisch ist. Sie können aber aus dem Begriff der negativen Freiheit essentiell deduziert werden erst in bezug auf den Endzweck, d.h. sie können von einer intelligiblen
Ordnung aus, worauf die negative Freiheit hinweist und worin der Endzweck der
Glückseligkeit realisiert werden kann, ,moralisch-teleologisch‘ expliziert werden.
Es ist auch eine oft zu verwendende wissenschaftliche Methode, unter Voraussetzung des Äguilibriums eines gesamten Systems einen kognitiv früheren Faktor in
demselben aus den übrigen Faktoren, die mit ihm im Gleichgewicht desselben korrelieren und essentiell früher sind, zu deduzieren. Freilich lehrt später die KpV
eindeutig, daß man real und demnach erkenntnistheoretisch vom moralischen Gesetz als ratio cognoscendi ausgehen muß und nicht vom Endzweck seinen Ausgang
nehmen darf. (Die Freiheit, die erst aus dem Gesetz deduziert wird, wird dann doch
auch als Tatsache verstanden und gilt als Ausgangspunkt der moralisch-praktischen
Zwecksetzung.) Aber die in den „Reflexionen“ vorgenommene Funktionsanalyse
der moralischen Gesetze in bezug auf das gesamte System einer intelligiblen Ordnung verliert trotzdem ihren Sinn nicht, sondern ihre essentiellen Ergebnisse sind
auch in der KpV latent vorausgesetzt; erst unter dieser Voraussetzung wird der
Weg, der vom moralischen Gesetz als Faktum ausgeht, in zwei Richtungen – in der
Refl. 6958, XIX 214, υ? (1776–78?). Vgl. auch Refl. 7199, XIX 273, ψ? (1780–89?): „Die Moralität besteht in den Gesetzen der Erzeugung der wahren Glückseligkeit aus Freiheit überhaupt“;
Refl. 7202, XIX 279, ψ (1780–89): „Moralität ist die Idee der Freiheit als eines Prinzip der Glückseligkeit (regulatives Prinzip der Glückseligkeit a priori)“; Refl. 6924, XIX 208, ϕ (1776–78): „Die
Moralität besteht in der Unterordnung eines jeden Willens unter die Regel allgemeingültiger Zwecke.
Die Regel muß sein, daß die Handlung den allgemeingültigen Zweck zur Bedingung habe“; Refl. 6910, XIX 203, υ (1776–78): „Die notwendigen Gesetze (die a priori feststehen) der allgemeinen
Glückseligkeit sind moralische Gesetze. Sie sind Gesetze der freien Willkür überhaupt, und die Regeln derselben nezessitieren intellectualiter; mithin, weil sie einzig und allein die Glückseligkeit auf
die Ursache der Freiheit bringen und also die Würdigkeit glücklich zu sein bei sich führen“; Refl. 6823, XIX 172f, υ–ψ (1776–89): „[Moralisch ist alles, was weise macht. Dies betrifft] die Idee
der Einheit der Einstimmung dieser Zwecke [sc. der Glückseligkeit] mit sich selbst.“
519
146
einen auf die Freiheit und in der anderen auf den Endzweck – gebahnt.
Daß in den „Reflexionen“ das Gesetz in bezug auf den Endzweck expliziert
wird, deutet darauf hin, daß Gesetz und Freiheit allein der Kantischen Grundlegung
der Ethik nicht genügen und daß diese sich unabdingbar auf den Zweck beziehen
muß. Das Gesetz ist nicht wie ein empirisches Ding substantiell zu hypostasieren,
sondern funktionell aufzufassen. Es erweitert sich in der Grundlegung der Ethik
auf den Endzweck bzw. das höchste Gut. Die Explizierbarkeit des Gesetzes aus
dem Endzweck besteht in dieser Erweiterung als Ausdehnung und hängt damit
zusammen, daß der Endzweck sekundär der Bestimmungsgrund des Willens sein
kann.
(c) Moralische Gesetze entspringen nicht der Vernunft, sondern lassen sich
erst in Aussicht auf den allgemeingültigen Zweck denken.
(1) Von der intelligiblen Ordnung her betrachtet, in der der allgemeingültige Zweck
gegenüber der Freiheit des Willens gesetzt wird, entspringen die moralischen Gesetze nicht aus der Vernunft, sofern diese nicht als Vermögen der Zwecksetzung,
sondern bloß als das logische Vermögen verstanden wird, sondern vielmehr aus
dem allgemeingültigen Zweck. Sie werden nämlich nicht ohne die Zwecksetzung
generiert, sondern erst dann, wenn der allgemeingültige Zweck zum Grund der
Handlungen gemacht wird; sie sind die vom allgemeingültigen Zweck her, d.h.
vom Ganzen her, gestellten Bedingungen, freie Handlungen nach Vernunftregeln,
nämlich auch mit Hilfe des logischen Vermögens der Vernunft, zu bestimmen. Der
Gedankengang wird aber von Kant sehr vorsichtig formuliert: „Die moralischen
Gesetze entspringen nicht aus der Vernunft, sondern sind dasjenige, was die Bedingungen enthält, wodurch es allein möglich ist, daß freie Handlungen nach den
Regeln der Vernunft können bestimmt und erkannt werden. Dieses geschieht aber,
wenn wir den allgemeingültigen Zweck zum Grunde der Handlungen machen.“520
(2) Dabei kann die Vernunft, selbst als bloß logisches Vermögen, vom Allgemeinen zum Besonderen zu gehen, Zwecke einschränken und unter ihre allgemeinen Regeln bringen, obwohl sie dieselben für sich nicht materiell schaffen kann.
„Logisch ist die Vernunft der Grund der Regel. Was im Allgemeinen gilt, gilt auch
im Besonderen, was darunter enthalten ist.“521 „Die Vernunft allein kann keinen
Zweck geben, auch keine Triebfeder; sie ist es aber, die alle Zwecke ohne Unterschied so einschränkt, daß sie unter einer einzigen gemeinschaftlichen Regel stehen. Sie allein bestimmt die Bedingungen, unter denen die freie Willkür unter einer
selbstständigen Regel steht.“522 Sie kann den Willen, der partikular ist, durch die
Refl. 5445, XVIII 184, υ (1776–78).
Refl. 6796, XIX 164, ρ? ξ? (1773–75? 1772?). Vgl. auch Refl. 6802, XIX 167 Z2–5, ρ? ξ?
(1773–75? 1772?).
522
Refl. 7029, XIX 230, υ? µ? ρ? (1776–78? 1770–71? 1773–75?). Das logische Vermögen der
Vernunft geht auf die Zusammenstimmung der Freiheit mit sich selbst, während die Zwecksetzung
der Vernunft mit dem Vernunftinteresse zusammenhängt, das in die Erweiterungsproblematik gehört.
Vgl. dazu KpV, V 120 <A216>: „Das, was zur Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich ist, nämlich daß die Prinzipien und Behauptungen derselben [sc. der Vernunft] einander
520
521
147
Bedingungen der Allgemeingültigkeit einschränken und somit formal das Sollen
vorschreiben. „Nur Vernunft kann das Sollen vorschreiben. Die Einschränkung des
besonderen Willens durch die Bedingungen der Allgemeingültigkeit ist ein Prinzip
der Vernunft des Praktischen. Weil sonst unter Handlungen keine unbedingte Einheit sein würde.“523 Moralische Gesetze entspringen also zwar nicht aus der Vernunft als dem bloß logischen Vermögen, sondern aus dem Ganzen hinsichtlich der
Zwecksetzung, die auch materielle Bedingungen involviert, aber sie entspringen
nicht ohne die Vernunft. Diese Unentbehrlichkeit führt nun aber zur Erweiterung
der Funktion der Vernunft: Sie läßt sich nicht nur als jenes logische Vermögen,
sondern, wie in der GMS hervorgehoben wird (cf. 2.8), auch als reine Spontaneität
begreifen, die essentiell und nach einer Idee in der intelligiblen Welt verankert ist.
Dadurch läßt sie sich als Instrument der Vermittlung zwischen dem zweckmäßigen
Ganzen und dem real sich aufdrängenden Gesetz auffassen. Unter dem Aspekt der
Vermittlung zwischen den beiden läßt sie sich demnach so betrachten, daß sie für
sich moralisch-praktische Gesetze, verschieden von pragmatischen Gesetzen, produzieren kann.524 Zu dieser Leistung der reinen praktischen Vernunft, die aus ihrer
reinen Spontaneität auch den Begriff der absoluten Einheit darbietet, wird auch
das Prinzip der Konsistenz gezählt, das jene moralischen Gesetze betrifft, die die
vollkommenen Pflichten zwar nur regulativ aber vollauf determinieren können (cf.
3.2.3.a). Also lassen sich moralische Gesetze auch so betrachten, daß sie doch aus
der Vernunft entspringen. „... dieses [sc. das moralische Gesetz] entspringt gänzlich aus der Vernunft.“525 Wird aber die ganze Konstellation berücksichtigt, in der
die menschliche Vernunft mit dem Gesetz im Zusammenhang steht, so muß sie
sich, wie unten betrachtet wird, so ansehen, daß sie es, im Grunde genommen, nur
aufnimmt.
Wenn aber Kant erwägt, moralische Gesetze entsprängen nicht der Vernunft,
so denkt er mit der oben erwähnten Methode der Funktionsanalyse im Äguilibrium
des Systems der durch die Zwecksetzung gebildeten intellektuellen Ausdehnung,
die sich als beinahe mit der intelligiblen Welt nach einer Idee identisch herausstellt. Auf der Struktur dieser essentiellen Analyse, die man bloße Spekulation
nennen mag, basieren aber auch die ,kritischen‘, vom Gesetz als Faktum ausgehenden Darlegungen der KpV.
nicht widersprechen müssen, macht keinen Teil ihres Interesse aus, sondern ist die Bedingung überhaupt Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die bloße Zusammenstimmung mit sich selbst
wird zum Interesse derselben gezählt.“
523
Vgl. Refl. 7253, XIX 295, ψ (1780–89).
524
Vgl. dazu z.B. KrV, III 520 <B828>: „Dagegen [sc. gegen die pragmatischen Gesetze] würden
reine praktische Gesetze ... Produkte der reinen Vernunft sein“.
525
Was heißt: S.i.D.or.?, VIII 140 Anm. Vgl. auch Gemeinspruch, VIII 278f: „... des ihm [sc. dem
Menschen] durch die Vernunft vorgeschriebenen Gesetzes“; KpV, V 31 <A55>: „Denn reine, an sich
praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend“; etc.
148
(d) Moralische Gesetze als göttliche Gebote.
Nun aber kann durch die Moralität allein doch lediglich die Würdigkeit glücklich
zu sein erlangt werden,526 welche daher zur Erreichung der wahren Glückseligkeit als Endzweck noch eine dritte Bedingung in Anspruch nimmt, die noch näher
das Ganze repräsentieren kann (ein kurzer moralischer Gottesbeweis). Daher wird
gesagt: „Da nun die Sittlichkeit sich auf die Idee der allgemeinen Glückseligkeit
aus freiem Verhalten gründet, so werden wir genötigt, selbst die Ursache und Regierung der Welt nach einer Idee, nämlich demjenigen, was alles einstimmig macht
oder durch einstimmige Bestrebung zur Glückseligkeit auch diese selbst besorgt, zu
gedenken; denn sonst hätte die moralische Idee keine Realität in der Erwartung und
wäre ein bloß vernünftelnder Begriff.“527 Die Moralität hätte nämlich ohne dieses
Dritte keine Realität in der ganzen Struktur der Zwecksetzung des endlichen Willens und wäre ein bloßes formal-logisches Prinzip der Konsistenz. Um folglich den
Endzweck der Glückseligkeit erreichen zu können, müssen moralische Gesetze für
Regeln (Gebote) eines allgemeingültigen Willens gehalten werden,528 der als Ursache und Regierung der Welt für die Glückseligkeit desjenigen zu sorgen imstande
ist, der das Ganze wohl nicht regieren, aber doch mit den Gesetzen als Regeln jenes Willens zusammenzustimmen streben kann. Ohne ein drittes Wesen, das man
wohl zur bloßen Beurteilung der Moralität nicht braucht, wären moralische Gesetze in der realen Welt, wo nach den Zwecken der Glückseligkeit getrachtet wird, zu
ihrer Ausübung doch leer und effektlos.529 „Der allgemeine Wille gibt darum das
526
Vgl. z.B. Refl. 6892; Refl. 7202, XIX 279 Z9–11.
Refl. 6958, XIX 214. Vgl. auch folgende Reflexionen: Refl. 6971, XIX 217: „... folglich wird
ein allgemeingültiger Wille nur den Grund der Versicherung der Glückseligkeit abgeben können; also können wir entweder gar nicht hoffen glücklich zu sein, oder wir müssen unsere Handlungen zur
Einstimmung mit dem allgemeingültigen Willen bringen. Denn alsdenn sind wir nach der Idee, d.i.
der Vorstellung des Ganzen, allein der Glückseligkeit fähig, und weil diese Fähigkeit eine Folge unsres freien Willens ist, derselben würdig. Der Umfang unsrer Glückseligkeit beruht auf dem Ganzen,
und unser Wille als [derivativus*] wird dem originario subordiniert** werden müssen.“ (* ergänzt v.
Verf.; im Original ist nach ,als‘ kein Wort gegeben. ** nach der Erwartung des Herausgebers; i.O.
„substituiert“.) Refl. 6969, XIX 216, υ?: „Weil unsre Glückseligkeit nur möglich ist durch die Einstimmung des Ganzen mit unserm natürlichen allgemeinen Willen und wir das Ganze nicht regieren
können, so werden wir das Ganze als untergeordnet einem allgemeingültigen Willen, der alle unter
sich begreift, ansehen“. Refl. 5446, XVIII 184, υ(1776–78): „Moralische Gesetze sind die, welche
die Bedingungen enthalten, durch welche freie Handlungen mit dem allgemeingültigen Zwecke einstimmig werden, also der Privatwille mit dem ursprünglichen und obersten Willen. Entweder mit
dem allgemeinen Zwecke der Natur oder frei handelnder Wesen. Es wird also der Wille betrachtet
nach der Einheit des Grundes, sofern nämlich aller Wille liegt in einem Willen: dem, der die Ursache der Natur ist und jeden andern.“ Vgl. auch Refl. 7202, XIX 282 Z14–16; Refl. 6867, XIX 186
Z21–26, υ (1776–78).
528
Vgl. Refl. 6894, XIX 198, Nachtrag ϕ (1776–78): „das moralische Gesetz der Form (Reinigkeit)
nach als ein göttlich Gesetz, d.i. als ein Gesetz des vollkommensten Willens.“ Vgl. auch Refl. 7257,
XIX 296, ψ (1780–89): „Daß die moralischen Gesetze göttliche Gebote (praecepta) sind, ...“ Vgl.
auch Refl. 7258.
529
Vgl. Ethik Menzer, S. 48f: „... alle moralischen Gesetze können richtig sein, ohne ein drittes
Wesen, aber in der Ausübung wären sie leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nötigen möchte; man
hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effekt
527
149
Gesetz, weil ohne ihn die Freiheit im ganzen genommen eine Gesetzlosigkeit und
also ohne Regel ist, mithin die Vernunft im Handeln nichts bestimmen kann.“530
Man muß also die moralischen Gesetze, die man exekutiv befolgen soll, als
göttliche Gebote erachten, um sich dessen zu versichern, daß man durch ihre Befolgung die wahre Glückseligkeit erlangen kann. Die Versicherung darf aber nicht
als empirisch-willkürlich angestellt verstanden werden, sondern ist notwendig und
besteht in der intellektuellen Ausdehnung zwischen Freiheit des Willens und Endzweck, der die intelligiblen Ordnung unmittelbar zugrundeliegt und in der die Exekution ihre Kraft bekommt. Indem die Gesetze in dieser Ordnung durch einen allgemeingültigen Willen solche Realität bekommen und nicht zu ihrer Ausübung leer
und effektlos sind, gerät die freie Wilkür exekutiv nicht in Gesetzlosigkeit. Auch
die These, die moralischen Gesetze entsprängen nicht aus der Vernunft, ist letztlich
essentiell in dem Gedanken verankert, sie seien göttliche Gesetze.
Der Gedanke der moralischen Gesetze bzw. Pflichten als göttliche Gebote tritt
alsdann in der KpV und der Religionsschrift ausdrücklich auf.531 Auch die Lehre
des moralischen Gesetzes als Faktum der Vernunft532 gründet sich essentiell d.h.
nach einer Idee auf ihn: Die Vernunft verschafft sich nicht von sich selbst aus die
Gesetze, sondern bei ihr sind sie schon real da; unter dem intelligiblen Aspekt bei
Kant, aber auch der Sache nach, hat sie sie in der ursprünglichen Freiheit der intelligiblen Willkür lediglich aufgenommen; erst danach erschließt sich der Sachverhalt
auch derart, daß das Gesetz der Vernunft entspringt, und daß diese gesetzgebend
ist. Dieser intelligible, tiefe Sinn des Faktums der Vernunft wird aber innerhalb der
Druckschriften erst in der Religionsschrift offengelegt.533
(e) Die moralisch-praktische Setzung des Endzwecks und die exekutive Kraft.
Das moralische Gesetz bleibt in seiner Aktualität nicht bei sich, sondern vergegenständlicht sich notwendig und kommt dadurch zur „Erweiterung“534 ; d.h. die
reine praktische Vernunft als der reine Wille setzt sich den Endzweck, die Autonomie der Vernunft bezieht sich notwendig auf ihn. In dieser Erweiterung gelangt
das moralische Gesetz in seine exekutive Kraft und wird Triebfeder, die durchs
wären; alsdann wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkenntnis
Gottes ist in Ansehung der Ausübung des moralischen Gesetzes notwendig.“ Aber bei Kant kann der
göttliche Wille doch erst aus dem moralischen Gesetz erkannt werden. Hier findet sich der gleiche
Kreislauf zwischen ratio cognoscendi und essendi wie bei Gesetz und Freiheit. „Wie erkennen wir
den göttlichen Willen? Es fühlt keiner den göttlichen Willen in seinem Herzen und wir können auch
aus keiner Offenbarung das moralische Gesetz erkennen, ... Wir erkennen also den göttlichen Willen
durch unsere Vernunft. ... Also erkennen wir die Vollkommenheit des göttlichen Willens aus dem
moralischen Gesetze.“
530
Refl. 7040, XIX 233, ϕ? (1776–78?).
531
(531) Vgl. z.B. KpV, V 129 <A233>: „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“; Rel.,
VI 42 <B44>: „des moralischen Gesetzes als göttlichen Gebots“, KU, V 481 Z13f <B477>, etc.
532
KpV, V 31 <A56>(cf. 1.3).
533
Rel., VI 26 Anm. <B16>(cf. Fußnote 712 in 3.4.1). Vgl. auch V.e.vorn.Ton, VIII 397 Z38–41.
534
KpV, V 120 Z8f. Vgl. auch Gemeinspruch, VIII 280 Anm. Z21; Rel., VI 7 Anm. Z29 <BXII>.
Cf. 3.4.0.
150
moralische Gefühl aufgenommen wird. Wenn Kant die Gesetze als göttliche Gebote interpretiert, denkt er sie von der Zwecksetzung her, d.h. in der Erweiterung
des Gesetzes auf den Endzweck, in der die Triebfeder real wird und die Exekution
dadurch tatsächlich zustandekommen kann. Dabei dient aber auch der Endzweck
zur sekundären Triebfeder. Wenn man sein Interpretationsanliegen auf das Gesetz
und dessen Freiheit einschränkt und die notwendige Zwecksetzung durch die reine
praktische Vernunft sowie die Erweiterung des Gesetzes auf den Endzweck nicht
berücksichtigt, so kann man den Stellenwert der Lehre Kants über das höchste Gut
als Bestimmungsgrund des Willens nie richtig einschätzen.
Kants Ethik besteht nicht allein aus der Autonomie der Vernunft, sondern auch
aus der Zwecksetzung derselben bzw. der Erweiterung des Gesetzes auf den Endzweck, in der Gesetz und Endzweck zugleich Triebfedern werden, die die Willkür
in der Tat zur Handlung unter Gegenständen der Sinnenwelt bewegen. Sie ist die
Ethik vom endlichen menschlichen Vernunftwesens, das in der Sinnenwelt unendlich und ununterbrochen nach dem Ideal der moralischen Vollkommenheit trachtet,
während es zugleich auf die wahre Glückseligkeit hofft. Man kann fast sagen, gerade zur Begründung dieses Trachtens nach dem höchsten Gut als Endzweck wird
auch die Lehre von der Autonomie der Vernunft benötigt. Kants moralphilosophisches Denken in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und der ersten Hälfte der achtziger Jahre widmet sich der Theoretisierung dieser Zwecksetzung und
der dadurch ermöglichten Triebfeder, deren Ergebnis sich im Kanon-Kapitel der
KrV und in der Dialektik der KpV niederschlägt, aber auch vom Gegenstand- und
Triebfedern-Kapitel der Analytik der letzteren reflektiert wird, während das Prinzip der moralischen Gesetzlichkeit, das er bereits in der ersten Hälfte der sechziger
Jahre gegründet hat, zusammen mit seiner ausführlichen begriffsanalytischen Begründung erst in der GMS und dem Grundsätze-Kapitel der Analytik der KpV
präsentiert wird. Es rührt von den von H. Cohen festgelegten Leitlinien der Interpretation her, daß in der modernen Interpretationsgeschichte bis zur von J. R. Silber
ausgelösten Kontroverse die Phase der Zwecksetzung in der Kantischen Ethik eher
gering geschätzt535 und Kants Mühe in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in
den „Reflexionen“ ungeachtet ihres reichen Umfangs beinahe ignoriert wurde.
3.1.2 Die intelligible Welt in der essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘
Phase der Grundlegung der Ethik.
(a) Zur Erreichbarkeit nun des Endzwecks der moralischen Vollkommenheit sowie
der wahren Glückseligkeit durch den freien Willen unter der Regierung des allgemeingültigen Willens wird aber auch ein systematischer Hintergrund der Ganzheit
nach einer Idee, in den der freie einzelne und der allgemeingültige Wille essentiell
zusammengehören, eine wahre selbständige Welt, nach der Analogie mit der Natur
beansprucht und angenommen. Somit gewinnt das, was vom Gesetz als Faktum
535
Vgl. zu diesem historischen Zusammenhang beispielsweise Krämling, G., Das höchste Gut als
mögliche Welt, in: Kant-Studien Bd. 77, 1986, S. 273–276: Schwartländer, J., Der Mensch ist Person,
Stuttgart 1968, S. 200 u. 208.
151
her bzw. von der reinen praktischen Vernunft her bloß als ein anderer Standpunkt
angenommen wird, gewisse Gestalt und wird essentiell hypostasiert. Dieser Hintergrund heißt Verstandes- bzw. intelligible Welt.536 „Das Prinzipium der Einheit der
Freiheit unter Gesetzen stiftet ein analogon mit dem, was wir Natur nennen, und
auch einen innern Quell der Glückseligkeit,537 den Natur nicht geben kann und
wovon wir selbst Urheber sein. Wir befinden uns alsdenn in einer Verstandeswelt
nach besonderen Gesetzen, die moralisch sind, verbunden.“538 D.h. die intelligible
Welt läßt sich vom Prinzip der Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen
her, demnach auch von der Autokratie der Freiheit her, in Aussicht auf die wahre
Glückseligkeit, nach der Analogie der Natur im allgemeinen gedanklich stiften; sie
wird der intellektuellen Ausdehnung der Gesetzlichkeit, die sich so von der Freiheit über Gesetze zum Endzweck erweitert, zugrundegelegt, damit der Entwurf des
freien Willens (1) von der Freiheit zu den Gesetzen, (2) von der Freiheit über die
Gesetze zum Endzweck übergehen kann. Der Begriff einer intelligiblen Welt wird
also erst in der Richtung auf den Endzweck – diese intellektuelle Richtungsnahme auf den Entzweck ist notwendig, damit man sich von der Freiheit ausgehend
wieder auf Gegenstände in unserer Erfahrungswelt befassen kann – ,moralischteleologisch‘ angenommen, wobei die Freiheit des Willens als Ausgangspunkt der
Richtungsnahme vorausgesetzt ist. Man begegnet ihr inhaltlich nicht im Vorgang
der kognitiv-formalistischen Grundlegung der Ethik. Eine solche Welt wird, da die
Zusammenstimmung der Freiheit mit den Gesetzen diejenige mit den Zwecken
ist, durch die Vernunft des endlichen Vernunftwesens, die mit dem Gebrauch des
Zweckbegriffs auf der Ebene von Ideen denkt, dergestalt systematisiert begriffen,
daß in ihr „alle Zwecke vom Allgemeinen (Ganzen) zum Besonderen herabgehn
und also der Zweck des Ganzen539 die Bedingung der Zwecke der Teile in sich enthalte“, und daß sie „im ganzen zweckmäßig ist“.540 In der Idee einer intelligiblen
Welt als einer solchen zweckmäßigen sieht man also eine notwendige ,Hypothese‘541 der endlichen Menschenvernunft als des freien Willens, ein zweckmäßiges
System der Gesetze anzunehmen, in dem das Besondere vom Ganzen her zweckmäßig bestimmt werden kann und das ihr somit Sicherheit (cf. 2.5.2) verschafft.
Erst auf diese „systematische Einheit der Zwecke“542 der intelligiblen Welt
hin, die aber auch zugleich subjektiviert als diejenige „eines vernünftigen Wesens“
536
Kant faßt die Charakteristiken der intelligiblen Welt in Refl. 5086, XVIII 83, ϕ (1776–78) folgendermaßen zusammen: „In der Verstandeswelt ist das substratum: Intelligenz, die Handlung und
Ursache: Freiheit, die Gemeinschaft: Glückseligkeit aus Freiheit, das Urwesen: eine Intelligenz durch
Idee, die Form: Moralität, der nexus: ein nexus der Zwecke. Diese Verstandeswelt liegt schon jetzt
der Sinnenwelt zum Grunde und ist das wahre Selbstständige.“ Vgl. auch Refl. 5103.
537
Vgl. die Stelle aus Refl. 7202 in Fußnote 527, in dem der Quell der Glückseligkeit Gott ist,
während er hier in Refl. 7260 auf die Verstandeswelt zu verweisen scheint.
538
Refl. 7260, XIX 296, ψ? υ? ϕ? (1780–89? 1776–78?).
539
Zum ,Zweck des Ganzen‘ vgl. etwa Refl. 5445, VIII 184 Z13, υ (1776–78).
540
Refl. 6899, XIX 200, υ? κ? η? (1776–78? 1769? 1764–68?).
541
Kant nennt es „eine notwendige Hypothesis des theoretischen und praktischen Gebrauchs der
Vernunft“, „daß eine intelligible Welt der sensiblen zugrundeliege“ (Refl. 5109, XVIII 91, ψ1−2 1780–
84).
542
Vgl. KrV, III 528 Z18 <B842>, 529 Z9 <B843>, 524 <B835f>.
152
verstanden wird, in der mithin auch „die formale Einheit im Gebrauch der Freiheit“ (Moralität)543 verankert ist, hat auch die wahre Glückseligkeit essentiell die
Möglichkeit ihrer Verwirklichung. Denn: „Aus der Idee des Ganzen wird hier die
Glückseligkeit jedes Teils bestimmt“,544 oder genauer essentiell vorbestimmt. Nun
ist die Moralität die essentielle Form der systematischen Einheit aller Zwecke,545
die vom Allgemeinen zum Besonderen herabgehen; ein allgemeingültiger Wille
nämlich bestimmt jeden besonderen in der Weise, daß das Besondere aus dem Allgemeinen abgeleitet wird, welches aber besagt, er verfahre nach keinen anderen
als moralischen Prinzipien:546 „Nur aus dem Ganzen und dem obersten Grunde läßt sich dasjenige ableiten, was nach allgemeinen Gesetzen [zu tun sei]“.547
Hier besteht daher die Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen Glückseligkeit
und Moralität nach der systematischen Einheit aller Zwecke. Wer also seine freien
Handlungen auf die Zusammenstimmung mit dem zweckmäßigen Ganzen und dem
obersten Grund, d.h. auf die Moralität richtet, der ist würdig, glücklich zu sein.548
Die wahre Glückseligkeit selbst aber wird ihm, so kann er hoffen, in der Proportion
zu seiner Würdigkeit glücklich zu sein erst durch diesen obersten Grund, d.i. den
allgemeingültigen Willen und zugleich die oberste Ursache gewährt, die auch das
Ganze der Natur regieren kann, weil die Moralität in der sinnlichen Natur nicht von
jedermann ausgeübt wird.549
Die Idee der intelligiblen Welt, die transzendental-subjektiv der Verbindlichkeit
des Gesetzes zugrundegelegt wird, ist ein bloßer Standpunkt ohne erkennbare Eigenschaften (cf. 2.8). Sie wird aber in der essentiellen, ,moralisch-teleologischen‘
Phase der Grundlegung von der Freiheit über Gesetze zum Endzweck, und zwar
in der Richtungsnahme auf unsere Erfahrungswelt, als Ort der Moralität und als
Grund der Glückseligkeit nach der Analogie mit der Natur im allgemeinen verobjektiviert. Dadurch werden ihr Eigenschaften als ihr Inhalt praktisch-theoretisch,
d.h. moralisch-dogmatisch, beigelegt.
(b) Wenn nun die Idee der intelligiblen Welt aus der Analogie mit dem allgeRefl. 7204, XIX 283, ψ? υ? ϕ? (1780–89? 1776–78?). Cf. 1.3 (Fußnote 178), 2.2.2 (Fußnote
241). 2.3.1.g (Fußnote 267).
544
Refl. 7058, XIX 237, ϕ (1776–78).
545
Vgl. auch Religionslehre Pölitz, XXVIII 1099: „Ein System aller Zwecke durch Freiheit wird
nach den Grundsätzen der Moral errichtet, und ist die moralische Vollkommenheit der Welt.“ Vgl.
auch Refl. 5086 (cf. Fußnote 536). Daß die Sittlichkeit in der intelligiblen Welt fundiert ist, wird
später in der KpV als Schlüssel für die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft verwendet.
Vgl. dazu KpV, V 114f <A206f>.
546
Vgl. Refl. 7204, XIX 283: „[W]enn die allgemeine Willkür jede besondere bestimmen sollte,
[könnte] sie nach keinen andern als moralischen Prinzipien verfahren“. Vgl. auch Refl. 6853, XIX
179, υ? χ? (1776–78? 1778–79?): „Die Unterwerfung der Freiheit unter die Gesetzgebung der reinen
Vernunft. (Aus den allgemeinen Bedingungen der Zwecke überhaupt zu den besonderen zu gehen.)“
547
Refl. 5445, XVIII 184. Vgl. auch Refl. 6802, XIX 167, ρ? ξ? (1773–75? 1772?): „Die Handlungen sind nicht richtig, die Freiheit ist regellos, wenn sie nicht unter solcher Einschränkung aus der
Idee des Ganzen steht.“
548
Vgl. Refl. 7058, XIX 237: „Der ist würdig der Glückseligkeit, dessen freie Handlungen auf die
Einstimmung mit dem allgemeinen Grunde derselben gerichtet sind“.
549
Ein anderer Grund ist, wie oben gesehen (cf. 2.7.2), daß wir gegen Gott lauter Schuldigkeit
haben und nur aus Gnade Glückseligkeit erlangen können.
543
153
meinen Begriff der Natur, der als Oberbegriff auch die sinnliche umfaßt, konzipiert
wird, so heißt das umgekehrt, daß die Natur wie eine Idee, Urbild oder Norm, angesehen wird: „Die Natur muß wie eine Idee angesehen werden, welche im Schöpfer
das Urbild, bei uns aber die Norm ist.“550 In ihr als einer normativen Idee muß
die Freiheit „nicht mit den Naturgesetzen, sondern bloß der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur [übereinstimmen], so daß die Maxime unserer Handlungen
mit unserem Willen ein allgemeines Naturgesetz sein könne.“551 Der Gedanke einer Natur nach der Analogie mit der intelligiblen Welt artikuliert sich dann in der
Naturgesetze-Formel des kategorischen Imperativs552 sowie in der Erwägung des
„Reich[s] der Zwecke“ (der intelligiblen Welt) als „Reich der Natur“553 und kristallisiert sich zuletzt als „Typik der reinen praktischen Vernunft“.554 Die Erwägung meint noch nicht, daß die Sinnenwelt, die bereits vorhanden ist, physischteleologisch expliziert werden soll, sondern daß die intelligible Welt für diejenige
Natur gehalten werden soll, durch die als Norm die sinnliche Natur soll sozusagen direkt überdeckt werden können. Aus dieser Erwägung einer Methexis in der
moralischen Teleologie, bei der es sich um die ,moralisch-teleologische‘ Grundbewegung des Selbstentwurfs der menschlichen Freiheit auf den Endzweck nach der
Idee der intelligiblen Welt handelt, läßt sich nun doch auch eine physische gestalten, und dadurch wird bei Kant auch an einer Vereinigung der praktischen Vernunft
mit der spekulativen experimentiert.555
Die Idee der intelligiblen Welt als Analogon der Natur und die der Natur als
Typus der intelligiblen Welt stehen in engem Zusammenhang,556 weil beide zueinander analogischen Beziehungen genetisch in der Frage nach dem Zusammenhang
zwischen moralischer Freiheit und Glückseligkeit (Problematik der Realisierbarkeit des Endzwecks) und zwischen Gesetz und Natur (Anwendungsproblematik),
die beide auf die einzige fundamentale Frage nach dem Zusammenhang zwischen
reinem sittlichen Denken und sinnlicher Natur hinauslaufen, praktisch erfordert
und eingesetzt worden sind.557 Die ursprüngliche Differenzierung zwischen reiRefl. 6958, XIX 214, υ? (1776–78?).
Refl. 7269, XIX 299, ψ? υ? (1780–89? 1776–78?).
552
Vgl. GMS, IV 421 Z18–20 <B52>, 437 <B81>: „Weil die Gültigkeit des Willens, als eines
allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen, mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der
Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das Formale der Natur überhaupt ist, Analogie [!] hat, so
kann der kategorische Imperativ auch so ausgedrückt werden: Handle nach Maximen, die sich selbst
zugleich als allgemeine Natgurgesetze zum Gegenstande haben können.“
553
Vgl. GMS, IV 436 Anm. <B80>: „Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke,
die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke
eine theoretische Idee zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was
nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee
gemäß, zustandezubringen.“ Vgl. auch 3.2.3 und Fußnote 615.
554
Vgl. KpV, V 67–70 <A119–124>.
555
Vgl. dazu den ganzen zweiten Teil der KU; KrV, III 529 <B843f>; GMS, IV 391 <BXIV>;
KpV, V 91 <A162>, 121 <A218f>; Fortschritte, etc. Zum Problem der Einheit der Vernunft sollen
die Arbeiten von K. Konhardt und G. Prauss genannt sein (cf. das Literaturverzeichnis).
556
So hat das denn auch später wiederum gesagt werden können: „Ein Reich der Zwecke ist also
nur möglich nach der Analogie mit einem Reiche der Natur“ (GMS, IV 438 <B84>).
557
Dieser enge Zusammenhang stellt eben den Standpunkt und Charakter des Kantischen Ratio550
551
154
nem sittlichen Denken und sinnlicher Natur bei jener kognitiven Exposition des
Gesetzes als Faktum der Vernunft (cf. 1.3) erfordert zur Wiederherstellung ihrer
Beziehung den Begriff einer in Analogie mit der Natur gedachten intelligiblen Welt
und zugleich einer durch die Analogie mit der intelligiblen Welt zu bestimmenden
Natur.
(c) Die gedankliche Genese der intelligiblen Welt als Analogon der Natur, in
der moralische Gesetze essentiell beheimatet sind, im Selbstentwurf der autonomen Freiheit, steht dafür ein, daß im § 6 der KpV die Bestimmbarkeit des freien
Willens durch moralische Gesetzlichkeit in der essentiellen Deduktion der gesetzgebenden Form der Maxime aus der negativen Freiheit ohne Bedenken sofort eingesetzt werden konnte (cf. 1.4),558 sowie daß im 3. Abschnitt der GMS die negative
Freiheit ohne weiteres mit der Redewendung „darum doch nicht gar gesetzlos“ abgetan werden konnte.559 Im Hintergrund dieser raschen Umwendung ohne weitere
Überlegungen in beiden Grundlegungsschriften hält sich die Idee der intelligiblen
Welt, eine intellektuelle Ordnung der Gesetzlichkeit, versteckt, in der moralische
Gesetze auch für göttlich erachtet werden können; durch die gedankliche Annahme dieser Welt nämlich bleibt die Freiheit nicht mehr negativ, sondern kann sich
sofort in die positive umwandeln.560 Diese nämlich läßt sich essentiell unter der
Idee der intelligiblen Welt wieder annehmen; beide Begriffe werden in der intellektuellen Richtungsnahme auf unsere Erfahrungswelt eingeräumt. Nun ist aber die
Annahme der intelligiblen Welt als hintergründige Garantie der moralischen Gesetzlichkeit bereits eben in den „Reflexionen“ derart durchgedacht worden, daß sie
exekutiv in nichts anderem als dem ,moralisch-teleologischen‘ Entwurf der Freiheit auf Glückseligkeit notwendig ist. Die Erkenntnis von Eigenschaften des Gesetzes und die Annahme der intelligiblen Welt finden in der essentiellen, ,moralischteleologischen‘ Phase der Grundlegung zusammen statt.
Nun ließe sich der tatsächliche entwicklungsgeschichtliche Ausgangspunkt des
Denkens Kants zur Idee einer intelligiblen Welt und mithin seine Zweiweltenlehre
mit den Worten des späteren Werkes wohl dergestalt darstellen, daß eben das moralische Gesetz „ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen
Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum“ an die
Hand gibt, das „auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv
nalismus der praktischen Urteilskraft dar. Vgl. hierzu KpV, V 71 <A125>: „Dem Gebrauche der
moralischen Begriffe ist bloß der Rationalismus der Urteilskraft angemessen, der von der sinnlichen
Natur nichts weiter nimmt, als was auch reine Vernunft für sich denken kann, d.i. die Gesetzmäßigkeit, und in die übersinnliche [Natur] nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durch Handlungen
in der Sinnenwelt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich darstellen läßt.“
558
Vgl. KpV, V 29 <A52>.
559
Vgl. GMS, IV 446 <B98>. Vgl. auch IV 400 <B14>(cf. Fußnote 33 in der Einleitung).
560
Vgl. dazu GMS, IV 458 <B118f>: „Jenes [sc. das Sich-Hineindenken in eine Verstandeswelt]
ist nur ein negativer Gedanke in Ansehung der Sinnenwelt, die der Vernunft in Bestimmung des
Willens keine Gesetze gibt, und nur in diesem einzigen Punkte positiv, daß jene Freiheit als negative
Bestimmung zugleich mit einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Kausalität der Vernunft
verbunden sei, welche wir einen Willen nennen“.
155
bestimmt“.561 Dies dürfte in der Tat auf seinem Denkweg ungefähr in der Zeit der
Gründung der moralischen Gesetzlichkeit bis zur ersten Hälfte der sechziger Jahre
geschehen sein, aus der dann die Theorie der ,moralisch-teleologischen‘ Struktur für den Progressus eines endlichen Vernunftwesens, der durch die moralischen
Triebfedern in Gang gehalten wird, entwickelt wurde und dessen Bewegung durch
die Idee der intelligiblen Welt als ihren essentiellen Hintergrund gesichert wird. Die
inzwischen unter solchen ,moralisch-teleologischen‘ Erwägungen in Kants Denken
selbstverständlich gewordene Annahme der intelligiblen Welt – in die die Freiheit
auch gehören muß – gibt aber dann neben dem ursprünglichen Ausgangspunkt, daß
das Gesetz kognitives Faktum ist, den moralisch-dogmatischen Grund ab, warum er
in beiden Grundlegungsschriften bei der Umwendung der negativen Freiheit ohne
weiteres und ohne Bedenken die Gesetzlichkeit zugestanden hat. Kurz: Die Theorie
der intelligiblen Welt untermauert Kants von Anfang an unerschütterliche Überzeugung, daß moralische Gesetzlichkeit, genauer das Bewußtsein derselben, faktisch
vorgegeben ist. Unter diesen Umständen aber wird bei ihm die Frage nicht einmal
erhoben, in welcher Weise sich die negative Freiheit, die an sich unbegreiflich ist,
eigentlich zeigt, auf deren Begriff die moralische Gesetzlichkeit sich notwendig
bezieht.
3.2 Die Theorie vom Gegenstand der reinen praktischen
Vernunft verknüpft das Fundament der Moral (Gesetz und
Freiheit) mit der Lehre vom höchsten Gut; dadurch wird
eine Struktur der moralisch-praktischen Zwecksetzung in
der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der
Ethik gebildet.
Moralisches Gesetz, reine praktische Vernunft und Freiheit sind der erkenntniskritisch eingesetzte transzendental-subjektive Grund der Moral. Dieser Grund liegt
nun aber essentiell (ontotheologisch) in einer intelligiblen Ordnung beschlossen –
oder er eröffnet diese Ordnung –, die ein Weltbegriff ist und für transzendentalobjektiv gehalten wird. Sie läßt sich erkenntniskritisch (unter der Kritik der reinen praktischen Vernunft) in keiner empirischen Theorie charakterisieren, sondern lediglich als ein anderer Standpunkt außer der Sinnenwelt annehmen. Die
Charakterisierung und konkrete Bestimmung dieser theoretisch nicht erkennbaren transzendental-objektiven intelligiblen Ordnung (das doktrinale Geschäft der
eigentlichen Metaphysik Kants, die durch die moralische Teleologie ermöglicht
wird) erfolgt auf dem Weg der moralisch-praktischen Zwecksetzung aus Freiheit
als der Selbstobjektivierung jenes transzendental-subjektiven Grundes in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der Ethik. Die Struktur der moralischpraktischen Zwecksetzung kann aber erst durch die Verknüpfung der Theorie vom
561
KpV, V 43 <A74>. Cf. Fußnote 189 in 1.4.
156
Gegenstand der reinen praktischen Vernunft mit der Lehre vom höchsten Gut freigelegt werden. Dazu muß der erstere als moralischer Zweck interpretiert werden,
weil das letztere der praktische Endzweck ist. Dieses Kapitel (3.2) versucht diese Interpretation und wird dementsprechend in folgende vier Abschnitte eingeteilt:
(1) die Notwendigkeit des formalistischen Verfahrens in der Theorie der Zwecksetzung (Abstrahierung von materialen Zwecken), um einen moralischen Zweck
anzunehmen (3.2.1), (2) die Aufstellung der Hypothese, daß der Gegenstand der
reinen praktischen Vernunft der moralische Zweck ist (3.2.2), (3) die Argumentation über diese Hypothese hinsichtlich der vollkommenen und der unvollkommenen
Pflichten (3.2.3) und (4) die Bestätigung derselben mit Bezug auf den Begriff des
Endzwecks (3.2.4). Aber vorerst sollen einige allgemeine Hinweise in bezug auf
die Struktur der moralisch-praktischen Zwecksetzung überhaupt gegeben werden
(3.2.0).
3.2.0 Vorwort zur dreistufigen Struktur der Theorie der moralischpraktischen Zwecksetzung.
Das Konzept der Phase der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der Grundlegung der Ethik besteht in der notwendigen Verknüpfung des Gegenstand-Kapitels
der KpV mit der Dialektik derselben. Die Verknüpfung wurde von Kant selbst
nicht ausdrücklich und systematisch durchgeführt. Denn auf der einen Seite ist die
Dreiteilung der Analytik in Grundsätze-, Gegenstand- und Triebfedern-Kapitel die
schon früh festgehaltene leitende Idee des ethischen Untersuchungsrahmens;562
andererseits entwickelt sich, unabhängig davon, die in der Dialektik dargestellte
Lehre vom summum bonum durch die Auseinandersetzung mit der Stoa, dem Epikureismus und der christlichen Morallehre. Wir haben die im ersten Kapitel der
Analytik der KpV dargelegte kognitiv-formalistische Grundlegung der Ethik bereits im 1. Teil der vorliegenden Arbeit erörtert und haben auch im 2. Teil und im
vorigen Kapitel (cf. 3.1) ihren notwendigen Zusammenhang mit der Lehre vom
höchsten Gut gesehen: Die in der ersteren kognitiv und formalistisch nachgewiesenen moralischen Gesetze können in der letzteren, in der Lehre vom höchsten Gut,
essentiell und ,moralisch-teleologisch‘ in bezug auf den Endzweck begriffen und
als Gottes Gebote angesehen werden. Wir haben dann im 2. Teil der vorliegenden Arbeit den ,moralisch-teleologischen‘ Zusammenhang der Triebfeder-Lehre,
die im dritten Kapitel der Analytik der KpV ihre endgültige Formulierung findet,
mit der Lehre vom höchsten Gut untersucht. Die Möglichkeit nun der ,moralischteleologischen‘ Verknüpfung der Theorie des Gegenstands der reinen praktischen
Vernunft im zweiten Kapitel der Analytik mit derselben Lehre in der Dialektik wird
Vgl. dazu Refl. 6628, XIX 117, κ–λ? (1769–70?): „Die erste Untersuchung ist: Welches sind die
principia prima diiudicationis moralis [Nachtrag: theoretische Regeln der Dijudikation], d.i. welches
sind die obersten Maximen der Sittlichkeit, und welches ist ihr oberstes Gesetz. / 2. Welches ist die
Regel der Anwendung [Nachtrag: praktische der dijudizierenden Applikation] auf ein Objekt der
Dijudikation. (...) 3. Wodurch werden die sittliche Bedingungen motiva, d.i. worauf beruht ihre vis
movens und also ihre Anwendung aufs Subjekt? Die letzteren sind erstlich das mit der Moralität
wesentlich verbundene motivum, nämlich die Würdigkeit, glücklich zu sein.“
562
157
von Kant angedeutet, indem er im ersteren auf diese Lehre hinweist563 und auch
in der Dialektik feststellt, daß das höchste Gut der ganze Gegenstand der reinen
praktischen Vernunft ist.564 Die Durchführung dieser Verknüpfung ist darum jetzt
unsere Aufgabe.
Dementsprechend besteht die formale Struktur der moralisch-praktischen Zwecksetzung, in der der unendliche Progressus der Tugend, d.i. der moralischen Gesinnung im Kampfe, stattfindet, aus drei Strukturstufen: (1) die Stufe des Guten als des
Gegenstands der reinen praktischen Vernunft, d.i. die Grundstufe einer Selbstobjektivierung des reinen Denkens im Sittlichen (cf. 3.2), (2) die Stufe des höchsten
Guts, bzw. des Endzwecks, d.i. die Hauptstufe der moralisch-praktischen Zwecksetzung (cf. 3.3) und (3) die Stufe der Postulate als Voraussetzungen der Ausführbarkeit des höchsten Guts (cf. 3.4).
Der Ausdruck ,moralisches Gesetz‘ stellt eher die objektive für die Dijudikation substantivierte Formel der Aktualität der aus der Freiheit transzendentalsubjektiv erfließenden inneren kategorialen Auswirkung der Moralität in den Vordergrund. Statt seiner wird in der vorliegenden Arbeit häufig der Ausdruck ,reines
Denken im Sittlichen‘, manchmal auch ,reine Noesis im Sittlichen‘, verwendet,
der direkt auf diese Aktualität selbst verweisen will. Unter diesem Ausdruck ist
nämlich jene sittliche Einsicht der reinen praktischen Vernunft zu verstehen, die
den Kern der Moralität ausmacht und in der kognitiven Phase der Grundlegung
als Faktum der Vernunft auftritt. Sie wird von Kant in den „Reflexionen“ auch
,intellektuelles Anschauen‘565 genannt, zuletzt aber dem Denken zugewiesen. Dieses reine sittliche Denken bzw. die reine sittliche ,Noesis‘ wird von ihm auch als
,Weisheit‘ bezeichnet;566 diese Bezeichnung aber erhält innerhalb der veröffentlichten Grundlegung der Ethik keine zentrale Funktion. Auch der Terminus ,reine
praktische Vernunft‘ kann wohl auf dieselbe Aktualität hinweisen, bezeichnet jedoch eher ihre Funktion und Potenz bzw. das intellektuelle Organ für sie.
3.2.1 Die Distanzierung von der Zwecksetzung der Willkür.
Der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft (das an sich moralisch Gute)
wird über die Intentionalität des reinen sittlichen Denkens als des reinen Willlens
hergestellt und impliziert demnach den Zweckbegriff. Obwohl im GegenstandKapitel der KpV nur aus äußeren Gründen nicht explizit als Zweck bezeichnet,
steht er doch in großen Zusammenhängen der moralisch-praktischen ZwecksetVgl. dazu KpV, V 64 Z25–34 <A113f>.
Vgl. dazu KpV, V 109 Z21f <A196>. Vgl. auch V 119 Z11f <A214>.
565
Vgl. dazu Refl. 4336, XVII 509, µ? κ? (1770–71? 1769?): „durch unser intellektuelles inneres
Anschauen (nicht den inneren Sinn)“; Refl. 4228, XVII 467, λ? (1769–70?): „unsere intellektualen
Anschauungen vom freien Willen“. Vgl. auch Refl. 4334, XVII 509, µ? (1770–71?): „eine Anschauung der Selbsttätigkeit“. Der Grund, warum Kant später das Wort ,Anschauung‘ für die Aktualität des
reinen sittlichen Denkens nicht verwendet, könnte vielleicht darin liegen, daß bei unserem Philosophen die erstere, sei sie sinnlich oder intellektuell, grundsätzlich auf Materialität und mithin Objekte
bezogen ist, während die letztere an sich auch ohne diese bestehen kann.
566
Cf. Fußnote 641 in 3.3.1.
563
564
158
zung. Um nun die objektiv-notwendigen, moralischen Zwecke hervorbringen zu
können, müssen im voraus das Fundament der Ethik (moralisches Gesetz, reine
praktische Vernunft und Freiheit) und die Autonomie der Vernunft (einschließlich
des Begriffs des Zwecks-an-sich-selbst) feststehen. Dafür ist zuerst die Abstrahierung von allen Zwecken, wie sie etwa im 2. Abschnitt der GMS ausgeführt wird,
als formalistisches Verfahren (Abstrahierung von der Materie) notwendig. Dementsprechend wird auch im Gegenstand-Kapitel der KpV das formalistische Verfahren, das bereits im Grundsätze-Kapitel durchgeführt worden ist, wiederholt. Dabei
hat der Paradoxon-Grundsatz vom Guten (siehe unten) entscheidende Bedeutung
in der kritischen Grundlegung der Ethik.
(a) Die intellektuelle Erstreckung des ethischen reinen Denkens auf ein Objekt.
Unter der Theorie des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft als der ersten Strukturstufe der konstitutiven moralisch-praktischen Zwecksetzung in der
,moralisch-teleologischen‘ Grundlegung verstehe ich die intellektuelle Ausdehnung bzw. Erstreckung des aus der transzendentalen Subjektivität entspringenden
sittlichen reinen Denkens auf sein Objekt als das Gute (cf. 3.4.0). Das reine sittliche Denken vergegenständlicht sich selbst durch die Verbindung mit der Materie
in der Maxime des Willens und bildet dadurch das Gute als sein Objekt. Seine
Auswirkung nun, die in der durch die Vergegenständlichung entstandenen Ausdehnung zwischen Willen (Subjekt) und dem Guten (Objekt) vom ersteren zum
letzteren verläuft, ist als ethische Intentionalität des Willens zu bezeichnen; bei der
ersten Strukturstufe der konstitutiven moralisch-praktischen Zwecksetzung handelt
es sich eben um diese fundamentale Intentionalität des reinen sittlichen Denkens.
Ferner verstehe ich unter der Selbstobjektivierung bzw. Selbstvergegenständlichung des reinen Denkens im Sittlichen eine Grundfunktion der reinen praktischen
Vernunft, das moralisch an sich Gute hervorzubringen. Der Gebrauch des von Kant
selbst nicht verwendeten Wortes ist dadurch zu rechtfertigen, daß es schlechthin
das, was er meint, nur treffend ausdrückt: Wenn die Selbstvergegenständlichung
des reinen Denkens im Sittlichen nicht zu vollziehen wäre, so hieße es gerade, der
,Gegenstand der reinen praktischen Vernunft‘ könne nicht einmal hervorgebracht
werden. Dieser Ausdruck hat nur dann seinen Sinn, wenn die reine praktische Vernunft auch das transzendental-subjektive Vermögen ist, etwas intellektuell zu vergegenständlichen.
Welches der Erkenntnisvermögen und wie es diese Selbstobjektivierung des
reinen Denkens im Sittlichen, somit den Gegenstand der reinen praktischen Vernunft bewerkstelligt, wird in der Kantischen Moralphilosophie nicht eingehend
erörtert. Wahrscheinlich dürfte aber dabei das Vermögen mitwirken, das diskursiver Verstand genannt wird, welcher von dem ursprünglichen Vermögen der reinen
praktischen Vernunft, das reine sittliche Denken hervorzubringen, zu unterscheiden
ist. Jedoch ist dasjenige, was sich ausdehnt und sich etwas intellektuell zum Gegenstand macht, das reine sittliche Denken der reinen praktischen Vernunft selbst.
159
(b) Das Gegenstand-Kapitel der KpV und der Begriff eines Zwecks.
Den Begriff eines Zwecks hat Kant ins Argumentationsfeld des Begriffs des Guten
als des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft im Gegenstand-Kapitel567 der
Analytik der KpV nicht explizit eingeführt. Er tritt allerdings an anderen Stellen
des gesamten Gefüges seiner Ethik in jeweils besonderer Bedeutung auf: (1) als
Zweck an sich selbst in der Autonomie des Willens, (2) als Zweck, der vorausgesehene Folge aus moralischen Handlungen ist, und (3) als materiale Zwecke in der
formalistischen Grundlegung. Normalerweise sieht man etwas als gut an, weil man
es als Zweck seines Willens versteht; beim Begriff des Guten hat man es prinzipiell mit dem des Zwecks zu tun. Kant hat jedoch die Anwendung des Begriffs eines
Zwecks auf den Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sorgfältig vermieden,
weil das Gute (hier der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft) nicht von
der empirischen Objektivität her, sondern vom moralischen Gesetz her, d.h. vom
reinen sittlichen Denken aus Freiheit her, abgeleitet werden, und die Triebfeder
als die bewegende Kraft, das Gute zu exekutieren, demnach nicht in empirischen
Objekten als Zwecken, sondern im moralischen Gesetz selbst, d.h. in dem reinen
sittlichen Denken aus Freiheit, bestehen soll; ein dem Begriff des Guten beigelegter
Zweckbegriff würde die Auffassung nahelegen, daß das Gute als Zweck in der empirischen Objektivität verankert wäre, aus der auch ein moralisches Grundprinzip
deduziert werden können sollte, und daß demnach die Triebfeder zur Befolgung
dieses Grundprinzips im Guten als einem Zweck liegen sollte (cf. 3.2.4). Ungeachtet dieses Bedenkens aber verliert der Begriff des Guten, sachlich betrachtet,
das Charakteristikum eines Zwecks nicht. Der Mensch als ein endliches Vernunftwesen setzt sich in der Tat stets das Gute zum Zweck (cf. 3.2.1.e). Nur folgt der
Zweck Kants Ansicht zufolge dem Begriff des Guten nach; er begründet weder
das Gesetz, noch enthält er in sich die moralische Triebfeder. Kant hat später diese
Eigenschaft des moralisch-praktischen Zwecks in der ,moralisch-teleologischen‘
Phase der Grundlegung mit dem Wort „finis in consequentiam veniens“568 zum
Ausdruck gebracht. Der Begriff des Guten ist also hinsichtlich des Begriffs des
Zwecks ambivalent: Die eine Seite zeigt sich darin, daß er erst durch die Selbstobjektivierung des sittlichen reinen Denkens zuwegegebracht wird und demnach selber keine Triebfeder besitzt. Die andere Seite aber besteht darin, daß nach ihm sehr
wohl eine moralische Zwecksetzung erfolgt und das Gute alsdann unter diesem
Aspekt Zweck wird: Die Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens selber
stellt sich als Zwecksetzung heraus. Im Gegenstand-Kapitel der KpV hat Kant wohl
die erstere Seite des Begriffs des Guten allein thematisiert und verfolgt. Das Kapitel
ist aber sozusagen latent an seinen beiden Toren vom Begriff eines Zwecks belagert. D.h., um für die konstitutive moralisch-praktische Zwecksetzung erst einmal
die Grundstufe einer ethischen Vergegenständlichung des reinen Denkens durch
sich selbst installieren zu können, muß zunächst die Souveränität des moralischen
KpV, V 57ff <A100ff>.
Rel., VI 4 Z21 <BVI>. Obwohl dieser Begriff sich auf den Endzweck bezieht, wäre es doch auch
gestattet, ihn in der eben determinierten Bedeutung auf den Begriff des Guten zurückzubeziehen.
567
568
160
Gesetzes gegründet, hierzu jedoch beim Eingangstor die materiale bzw. empirische
Zwecksetzung (oder „Zwecke der Natur“) durch das formalistische Verfahren der
„Kritik der praktischen Vernunft“ beiseitegedrängt werden. Beim Ausgangstor aber
wird der reine Wille, der schließlich in die empirisch-objektive Dimension doch
wieder hinausgehen muß, den Begriff eines Zwecks (Zwecke „der Freiheit“569 )
erneut aufnehmen müssen.
(c) Die faktisch-fundamentale Vorstufe einer indifferenten Zwecksetzung des
Willens.
Daß der menschliche Wille jedenfalls auf Zwecke bezogen ist, hängt von der elementaren Grundstruktur des menschlichen Aktus ab, die die allererste Voraussetzung des gesamten Argumentationsgangs über die Strukturstufen der ,moralischen
Teleologie‘ in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung ausmacht. Es
geht nämlich der ersten Strukturstufe derselben noch eine faktische Vorstufe der
indifferenten Zwecksetzung voraus. Das menschliche Handlungssubjekt als freie
Willkür macht sich unabdingbar etwas zum Zweck. Die Zwecksetzung des Willens als faktisch-fundamentale Funktion, die nicht nur auf das Moralische, sondern
an sich indifferent auch auf etwas Nicht-Moralisches gehen kann, beruht auf dem
Sich-befassen-mit-den-Sachen als Grundverfassung des menschlichen Aktus; der
Mensch muß in seiner Tätigkeit unter Verwendung von ihm eigentümlichen Vermögen auf die Sachen selbst gehen. Alles Wollen muß sich auf irgendein Objekt
beziehen. „Nun ist freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand,
mithin eine Materie haben müsse“.570 Das Objekt des Wollens wird üblicherweise
Zweck genannt. Es ist nämlich die fundamentale Funktion der mit Vernunft versehenen freien menschlichen Willkür, daß sie in äußeren Verhältnissen vor sich
einen Zweck aufstellt.571 Die Zwecksetzung wird durch die Vernunft vollzogen.
Die ethische Analyse der formalen Struktur der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der ethischen Grundlegung geht demnach ebenso wie die Analyse der formalistischen Grundlegung der Ethik von der
Zwecksetzung der Willkür bzw. des Willens aus. Cf. 3.1.1.a.
(d) Die Differenzierung des Begriffs des Guten sowie der faktisch-fundamentalen Funktion der praktischen Vernunft.
Die praktische Vernunft aber, die mit Hilfe ihres Begriffs vom Zweck-Mittel-Verhältnis
die Zwecksetzung überhaupt vollzieht, wird zunächst durch die pathologisch-praktische
Lust gelenkt und stellt dabei als empirisch bedingte Vernunft der Willkür nur das
569
Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 182.
KpV, V 34 <A60>. Selbst der strenge ethische Formalismus der reinen praktischen Vernunft hat
nur dann seine Bedeutung, wenn ihre formale Gesetzgebung sich auf die Materie bezieht. Vgl. hierzu
Refl. 6883 (cf. Fußnote 761 in 3.5).
571
Vgl. z.B. Refl. 1052, XV 470, ψ3 ? (1785–88?), wo die Willkür bzw. der Wille mit dem Zweck
in Zusammenhang gebracht ist. Vgl. auch MS, VI 381 Z4–6, 384 Z33f.
570
161
mittelbar Gute (das Nützliche) als hypothetisches Mittel zum als Zweck genommenen Angenehmen bereit (cf. 2.3.1.c). Um nun das unmittelbar moralisch Gute,
d.i. einen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft herauszustellen, ist es daher
erforderlich, durch ein formalistisches Verfahren sowohl von den durch jene Lust
bestimmten empirischen Zwecken Abstand zu nehmen als auch auf diese Weise
die praktische Vernunft zu purifiziern, d. i. sie von ihrer empirischen Bedingtheit
zu befreien und in die reine praktische Vernunft umzuwandeln, die nur dem Unbedingten nachgeht. Das ist die ursprüngliche Aufgabe der Kritik der praktischen
Vernunft572 und wird bereits im Grundsätze-Kapitel der KpV als kognitive formalistische Grundlegung vollzogen.
(e) Der Ausschluß der Bösartigkeit aus der moralischen Dogmatik.
Die freie Willkür des Menschen begehrt das Gute und verabscheut das Böse.573 Das
Böse zu begehren, ist bei Kant wohl am Anfang der Analyse der formalistischen
Grundlegung einzuräumen, kommt jedoch in der der ,moralisch-teleologischen‘
außer den vom Prinzip der Moralität nur abweichenden Fällen von Gebrechlichkeit und Unlauterkeit grundsätzlich nicht in Frage. Das Begehren des Bösen und
das Verabscheuen des Guten nämlich können im Begriff einer allgemeinen Zweckbeziehung der Willkür mit enthalten sein, werden jedoch von der moralischen Dogmatik der ,moralischen Teleologie‘ ausgeschlossen. Denn in ihr wird ihre Voraussetzung, die Revolution der Denkungsart in der ursprünglichen Freiheit der Willkür, aufgrund deren das Bewußtsein des reinen sittlichen Denkens sich uns als
Faktum der reinen praktischen Vernunft aufdrängt, für bereits vollzogen gehalten,
obwohl noch bezüglich der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit als Nachwirkung der
früheren Gewohnheit auf empirischer Ebene die allmähliche Reform der empirischen Gesinnung vor sich gehen muß.
(f) Die Abstrahierung von allen Zwecken in der formalistischen Phase der
Grundlegung der Ethik.
Die Objekt- bzw. Zwecksetzung durch die menschliche Willkür im allgemeinen
Sinn ist die Voraussetzung sowohl für die moralisch-praktische Zwecksetzung in
der ,moralisch-teleologischen‘ Phase als auch schon für die formalistische Phase
der Grundlegung. Die formalistische Grundlegung, d.i. die Abstrahierung von empirischen Zwecken als Bestimmungsgründen des Willens (dem Angenehmen), ist
ja nur möglich, wenn diese Zwecke zunächst für den Willen vorausgesetzt werden. Im zweiten Anlauf574 der formalistischen Grundlegung des 2. Abschnitts der
GMS z.B. wird der Wille, wobei es sich ebenso um die mit Vernunft versehene
freie Willkür des Menschen handelt wie im ersten Anlauf575 derselben (die AusVgl. dazu Refl. 7201, XIX 275 Z21–23, ψ (1780–89) (cf. Fußnote 46 in 1.1).
Vgl. KpV, V 58 Z6–9 <A101>.
574
GMS, IV 427 Z19 – 428 Z2 <B63f>.
575
GMS, IV 412 Z26 – 413 Z8 <B36f>.
572
573
162
gangsbasis beider formalistischen Ausführungen ist das arbitrium liberum), mit
dem Zweckbegriff verbunden eingeführt. Es wird von den materialen Zwecken abstrahiert, um den intellektuellen Zweck an sich selbst herauszustellen, der auf der
reinen, transzendentalen Subjektivität der Willensbestimmung beruht. Wenn empirische Zwecke, die durch die pathologisch-praktische Lust die Willkür bestimmen
können, durch das formalistische Verfahren eliminiert werden, bleibt im Ursprung
des Willens nur das reine Denken (die Selbstgesetzgebung durch Vernunft, d.i. die
Autonomie des Willens bzw. der Zweck an sich selbst) als Bestimmungsgrund des
Willens übrig. Man kann nun aber dieses Verfahren auch modifiziert ausführen:
Wenn bereits das ethische reine Denken durch das formalistische Verfahren enthüllt ist, d.h. in den Maximen die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit als
oberster, selbst unbedingter, Bedingung aller Zwecke explizit etabliert ist, so läßt
sich die Eliminierung aller materialen Zwecke auch nachträglich so erklären, daß
die Moral aufgrund dieser Gesetzmäßigkeit für die Erkenntnis und Ausübung der
Pflicht „gar keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür, d.i. keines
Zwecks“ bedarf, sondern „von allen Zwecken abstrahieren“ kann und soll.576
(g) Die Notwendigkeit der Wiederholung des formalistischen Verfahrens im
Gegenstand-Kapitel.
So wird auch im Gegenstand-Kapitel der KpV die Analyse der formalistischen
Phase der Grundlegung, die bereits im Grundsätze-Kapitel vollzogen worden ist,
wiederholt.577 Dies ist vonnöten, weil erst einmal aufgewiesen werden soll, daß die
Idee eines Gegenstands der reinen praktischen Vernunft im ,moralisch-teleologischen‘
Entwurf von der Freiheit her auf die empirische Objektivität hin, aufgrund deren
auch ein neues Konzept der Zwecksetzung eingeräumt wird, vom Begriff eines aus
dem pathologisch-praktischen Gefühl der Lust und Unlust mit Hilfe der empirisch
bedingten praktischen Vernunft gesetzten, materialen Zwecks (des Angenehmen)
als eines dem Gesetz vorhergehenden Bestimmungsgrundes der Willkür prinzipiell
zu unterscheiden ist. Der materiale Zweck steht deswegen am Anfang einer formalistischen Grundlegung als der durch sie zu negierende Begriff.
(h) Das methodische Paradoxon der Kantischen Ethik: die Beiseitesetzung der
Gegenständlichkeit von Gegenständen überhaupt vor dem moralischen Gesetz.
Daß nun dieser „Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze
(...), sondern nur (...) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“,578 ist „das Paradoxon der Methode“ der kritischen Ethik. Dabei hat man es
Vgl. Rel., VI 3f <BIVf>.
KpV, V 58 Z10 – 65 Z4 <A101–114>.
578
KpV, V 62f <A110>. Dieser Gedanke – demnach auch das Motiv des Formalismus – tritt bei
Kant sehr früh auf. Z.B. Ref.3872, XVII 319f, η? (1764–68?): „... es [sc. das Gute] ist nur die Wirkung, die nach Gesetzen desselben möglich ist.“
576
577
163
mit dem Ergebnis der kognitiven formalistischen Grundlegung zu tun, welche erstmals herausgestellt hat, daß die dem Willen heteronome Gegenständlichkeit von
Erscheinungen überhaupt, die durch die Verstandessynthesis zuwegegebracht werden und zu der auch der Begriff des Guten und Bösen im Paradoxon-Grundsatz
gehört, keine Voraussetzung zur apriorischen Bestimmung des freien Willens bilden kann, weil das Gefühl der Lust und Unlust, dem sie zur Willkürbestimmung
unterzogen wird, kein selbständiges unbedingtes Kriterium für die moralische Willensbestimmung sein kann, sondern daß erst die Autonomie des Willens, oder das
transzendental-subjektive reine Denken im Sittlichen, die über jene Gegenständlichkeit von Erscheinungen überhaupt und mithin auch den Begriff des Guten und
Bösen als Gegenstandsvorstellung hinausgeht, den Willen a priori bestimmen kann.
Wenn nicht die Gegenständlichkeit als Inbegriff von Gegenständen überhaupt, sondern nur ein Teil der Gegenstände der Sinnenwelt als für den Grund der apriorischen Willensbestimmung ungeeignet zurückgewiesen werden sollte, so könnte
der Fall eintreten, daß hinsichtlich der Willensbestimmung ein Gegenstand als das
Gute dem Gesetz vorhergehe, welcher Fall aber dem obigen Paradoxon-Grundsatz
Kants zuwider läuft. Dieser Verstoß aber bleibt aus, wenn die Gegenstände überhaupt als apriorische Bestimmungsgründe des Willens im Bereich der Ethik formalistisch negiert werden. Demzufolge müßten auch die ,intellektuellen‘ Vorstellungen im gewöhnlichen Sinn, die aus den primären Gegenständen im Naturverlauf
durch den regulativen Gebrauch der Vernunftideen mittels der reflektierenden Urteilskraft zweckmäßig zustandekommen und demnach im Grunde empirisch sind,
als moralische Bestimmungsgründe des Willens ausscheiden. Das will sagen, sowohl die Gegenständlichkeit von Gegenständen, die die Willkür nur über das Gefühl der Lust und Unlust bestimmen können, welches man, solange man nur in
der Sinnenwelt ein Kriterium für die Willkürbestimmung auffinden will, als einziges Kriterium akzeptieren muß, als auch mithin die Sinnenwelt überhaupt sollten
um der moralischen Willensbestimmung willen einmal überwunden werden, damit
das transzendental-subjektive reine sittliche Denken, das keineswegs aus Gegenständen entspringt, sondern wenn es sich auf dieselben beziehen soll, umgekehrt
nur als konstitutive Bedingung ihrer Möglichkeit auftritt, ohne die Behinderung
durch empirische Bestimmungsgründe als Gesetz unmittelbar den Willen a priori
und demnach moralisch bestimmen kann. Die Gegenständlichkeit von Gegenständen, die auf der Gegenstandskonstitution der Verstandessynthesis beruht, ist daher
für die apriorische Willensbestimmung durchaus sekundär und steht hinsichtlich
derselben prinzipiell der intellektuellen Gesetzmäßigkeit des moralischen Gesetzes
nach. Unter diesem Gesichtspunkt kann selbst das Gute als ein Gegenstand, mag es
aus der Sinnlichkeit oder sogar aus der reinen praktischen Vernunft hervorgehen,
grundsätzlich gar nicht der Grund der moralischen Willensbestimmung sein, sondern ist nur Folge derselben. Das Gesetz also determiniert das Gute; dieses aber jenes nicht. Kurzum: Das transzendental-subjektive reine Denken als Vernunft- bzw.
Freiheitskausalität bestimmt den freien Willen a priori und mithin moralisch; das
Gute aber, so gut es auch immer erscheinen mag, vermag es paradoxerweise nicht,
weil ihm die Gegenständlichkeit der in der Sinnenwelt angetroffenen Gegenstände
164
attribuiert ist.579 Das Paradoxon ist also darin verankert, daß die von Raum und
Zeit determinierte Gegenständlichkeit von Gegenständen als die formale Gesamtstruktur der Sinnenwelt überhaupt für die Schaffung eines primären Grundes der
moralischen, demnach apriorischen Willensbestimmung ungeeignet ist. Aus ihrer
Untauglichkeit zur Moralität ergibt sich in der Grundlegung der Ethik eine gewisse
Beiseitelegung der für sie konstitutiven mit der transzendentalen Einbildungskraft
(als Vermögen der transzendentalen Schemata) verbundenen transzendentalen Apperzeption; die hat Kant zwar stillschweigend vollzogen, sich aber auf eine Erörterung ihrer Bedeutung nicht eigens eingelassen.
Aus dem Paradoxon-Grundsatz über die Gegenstände der reinen praktischen
Vernunft also, wenn man ihn nur folgerichtig durchdenkt und dabei auf die ihm
zugrundeliegende kognitive Deduktion der Freiheit in § 5 der Analytik der KpV
Rücksicht nimmt (cf. 1.4), läßt sich nach aller oben ausgeführten Argumentation
auch sagen, daß keine Bestimmungsgründe in der Idealität von Raum und Zeit,
sondern erst die Gesetze a priori in der vom Gesetz als Faktum aus deduzierten
Realität der Freiheit den Willen moralisch bestimmen können, damit wir richtig
leben können.580 Diese Konsequenz ist bei Kant auch entwicklungsgeschichtlich
schon vorprogrammiert. Denn erst auf die Realität von Gesetz und Freiheit in seiner moralischen Grunderfahrung hin, die auch zur Annahme der intelligiblen Welt
führt und an der er spätestens seit Mitte der sechziger Jahre festhält, ist vermutlich
im Jahre 1769 vom großen Licht auch die Idealität von Raum und Zeit konzipiert
worden,581 ohne die jene für empirisch bedingt gehalten werden müßte, und danach
konnten die Versuche der Auflösung der Dritten Antinomie folgen. Kurz: Die Idealität von Raum und Zeit beruht konzeptionell auf der Realität von Gesetz und Freiheit. Entwicklungsgeschichtlich also a limine zu rechtfertigen ist die Distanzierung
von der Gegenständlichkeit von Gegenständen um der moralischen Willensbestimmung willen in der KpV, d.h. daß die reine praktische Vernunft bzw. der reine
Wille eines Menschen sich von jenem transzendentalen System der Konstitution
der Gegenständlichkeit von Gegenständen entfernen muß, für das die Idealität von
Raum und Zeit wesentlich ist und dessen Schlußstein eben die mit der transzendentalen Einbildungskraft verbundene transzendentale Apperzeption ist. In dieser
moralisch-praktischen Distanzierung wird demnach das ganze transzendentale System von theoretischer Erkenntnis unter den intelligiblen Aspekt gestellt und als
Vgl. dazu Refl. 6983, XIX 219, ϕ? (1776–8?): „Sei für das Gute, nicht bloß vom Guten affiziert,
d.i. als Täter, nicht bloß als Zuschauer.“
580
Zu Idealität von Raum und Zeit und Realität der Freiheit vgl. exemplarisch Refl. 7316, XIX
314, ω4 (1796–98): „Wir haben aber auch noch ein Sollen a priori (das absolute) in uns vermöge
der Idee der Freiheit, welches ohne einen in unserem Willen vorhandenen kategorischen Imperativ
nicht möglich wäre. – Ohne die zum Grunde gelegte Idealität des Raumes und der Zeit, mithin der
Gegenstände als Erscheinungen, würden wir die Realität der Freiheit uns gar nicht praktisch denken
können, weil sonst das Sollen immer empirisch bedingt sein würde.“ Vgl. auch Fortschritte, XX 311
Z10–24; Refl. 6344, XVIII 669 Z3f, ω4 (1797), Refl. 6349, XVIII 672–675, ω4 (1797), Refl. 6353,
XVIII 679f, ω4 (1797).
581
Vgl. dazu Schmucker, J., Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und
Reflexionen, Meisenheim a. Gl. 1961, S. 388.
579
165
ideal, mithin nicht-real, angesehen. Daraus erhellt auch, warum Kant die Dinge in
der Sinnenwelt bloß als Erscheinungen bezeichnet.
Die die kritische Ethik kognitiv begründende Radikalisierung des formalistischen Verfahrens in der KpV, die auf der subjektiven Seite der Begründung der Moralität mit der Verlagerung der moralischen Triebfeder ins Gesetz zusammengeht,
vollzieht sich auf der objektiven Seite derselben durch die ausdrückliche Fernhaltung des Bestimmungsgrundes des Willens von der Gegenständlichkeit von Gegenständen überhaupt. Sowohl die Genese des moralisch Guten durch die Selbstobjektivierung des reinen Denkens im Sittlichen als auch die dadurch eingeräumte
neue intellektuelle Zwecksetzung ist aufgrund der formalistischen Distanzierung
von der Gegenständlichkeit von Gegenständen, nämlich aufgrund der intellektuellen Freiheit allein möglich. Erst durch die radikale formalistische Rückführung auf
die Freiheit als Autonomie der Vernunft ist für Kant jener Weg des Progressus eines
Menschen, nicht durch Zwecke den Willen zu bestimmen, sondern erst von diesem
aus jene ohne Verwendung des empirisch bedingten Zweck-Mittel-Verhältnisses
intellektuell zu entwerfen, d.h. der Weg zu einer Teleologie der menschlichen Vernunft aus Freiheit des Willens, freigelegt worden.
3.2.2 Die Genese des Guten als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft.
Der freie Wille soll also nicht durch das Objekt bzw. dessen Vorstellung als primären Grund bestimmt werden, sondern ist ein Vermögen in der umgekehrten
Richtung aus der Autonomie der Vernunft, sich eine Regel der Vernunft zum Bewegungsgrund einer Handlung zu machen, durch die ein Objekt verwirklicht wird;
d.h. er wird durchs Vernunftgesetz dazu bestimmt, etwas zu seinem Objekt zu
machen.582 In dieser Richtung von der Autonomie der Vernunft her auf das zu
verwirklichende Objekt hin wird nun der Begriff des Guten als eine übersinnliche Idee hergestellt durch die Projektion des Gesetzes auf die durch Handlungen
empirische Objekte tangierenden Maximen des Willens, d.i. durch die Selbstobjektivierung des sich auf die empirisch-objektive Dimension erstreckenden reinen
sittlichen Denkens bzw. durch die Ableitung vom vorhergehenden Gesetz.583 Wie
unten gezeigt wird (3.2.3, 3.2.4), ist er denotativ mit dem eines Zwecks wohl nicht
vollkommen identisch, deckt sich aber mit ihm funktionell ziemlich gut.
(a) In der Richtung auf Objekte der Sinnenwelt erstreckt584 sich das ethische
reine Denken von der Autonomie der Vernunft auf die Dimension der Objektivität
von Objekten; m.a.W., die reine praktische Vernunft macht sich etwas intellektuell zum Objekt. Dadurch entsteht in der Dimension der Objektivität der Begriff
Vgl. KpV, V 60 Z13–19 <A105>.
Vgl. zur ,Ableitung‘ KpV, V 58 Z10f <A101>.
584
Diese Erstreckung des reinen Willens auf die Dimension der Objektivität bei der Genese des
Guten stellt noch nicht genau die „Erweiterung“ (KpV, V 134 Z8–13 <A241>; Rel., VI 7 Anm. Z28–
30 <BXII>; Gemeinspruch, VIII 280 Anm. Z17–21; cf. 3.4.0.6) in der Kantischen Wortverwendung
dar, die sich auf die Setzung des Endzwecks bezieht.
582
583
166
des Guten (der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft), der aber nicht mit
einem realen Objekt gleich,585 sondern lediglich eine übersinnliche Idee586 in der
Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens ist. Da er in dieser Weise von der Autonomie der Vernunft durch die Freiheitskausalität gesetzt wird, so wird er als „die
Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit“587 bezeichnet.
(b) Mit dem Guten als Objekt sind konkret hauptsächlich Maxime, Handlung
und Person gemeint. (α) Das reine sittliche Denken vergegenständlicht sich, indem
es in der Maxime als Form der Allgemeinheit die Materie derselben bestimmt. Gut
ist dabei, näher gesehen, die Form der Maxime allein, in die die Aktualität des reinen sittlichen Denkens verlegt ist, doch kann auch eine solche Maxime im ganzen
gut heißen. (β) Aufgrund einer solchen Maxime vollzieht sich durch den Willen eine moralische Handlung, in der sich demzufolge die Aktualität des reinen sittlichen
Denkens kundgibt.588 Das Gute als der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft
zeigt sich daher in der „Beziehung des Willens auf die Handlung“,589 und gut ist
demnach die in der Autonomie der Vernunft gewollte moralische Handlung selbst.
Über diese Grenze einer moralischen Handlung hinaus kann sich in der Sinnenwelt
das reine sittliche Denken in seiner Reinheit nicht unmittelbar auswirken und ausdehnen und demzufolge etwas Gutes nicht alleine schaffen. Ob nämlich durch diese
Handlung ein Objekt, das ebenso gut wie sie sein soll, realisiert werden kann oder
nicht (die physische Mögichkeit desselben), das entscheidet nicht die Freiheitskausalität des reinen Denkens im Sittlichen, sondern die Naturkausalität aus sinnlicher
Erfahrung. (γ) Da also auch die Person, die als Sitz der Autonomie des Willens
und des Subjekts des moralischen Gesetzes durch dieses unmittelbar bestimmt und
demnach gut ist, auch als Gegenstand betrachtet werden kann, so zählen zum Begriff des moralisch Guten als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft „nur die
Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst“590
und keine außer dem Umkreis des guten freien Willens befindlichen empirischen
Objekte selber, die ihn in umgekehrter Richtung empirisch und demnach nicht aus
Pflicht bestimmen würden. (δ) Nun wird in der vorliegenden Arbeit auch der BeVgl. KpV, V 65 <A114>: „... so beziehen sie [sc. die Begriffe des Guten und Bösen] sich ursprünglich nicht (...) auf Objekte“. Der Satz „Die Begriffe des Guten und Bösen bestimmen dem
Willen zuerst ein Objekt“ (KpV, V 67 <A119>) besagt nicht die Identität des Guten mit einem realen Objekt, sondern daß der Begriff des Guten in der Richtung auf ein Objekt operiert.
586
Vgl. KpV, V 68 Z9 u. Z19 <A120>.
587
KpV, V 57 <A100>.
588
Die Handlung, woran die Vernunft unmittelbares Interesse nimmt, ohne an Gegenständen als
Bestimmungsgründen des Willens interessiert zu sein (GMS, IV 413f Anm. <B38>, 459f Anm.
<B122>), wäre mit den Erläuterungen des Aristoteles zur ἐνέργεια (lat.: actualitas) einmal zu vergleichen: „... bei dem aber, bei welchem es nicht neben der wirklichen Tätigkeit ein Werk gibt, ist die
wirkliche Tätigkeit in ihm selbst, z.B. das Sehen in dem Sehenden, das Denken in dem Denkenden,
das Leben in der Seele ...“ (Arist., Met., Θ. 8. 1050 a, in: Aristoteles’ Metaphysik, griech.-dt., in
der Übers. v. Hermann Bonitz, neu bearb., mit Einl. u. Kommentar hersg. v. Horst Seidl, Halbbd. 2,
Hamburg 1980, S. 127).
589
KpV, V 57 <A100>.
590
KpV, V 60 <A106>.
585
167
griff der einzelnen Pflicht, welche Maximen und Handlungen bestimmt und für
sie die repräsentative Rolle der Bonität spielt, wegen dieser Rolle als zum Begriff
des Guten gehörend behandelt. Es gibt jedoch aus ebendemselben Grund nur gute
Pflichten. Alle diese Begriffe nun können gegenüber dem einzigen höchsten Gut
als das einzelne Gute bezeichnet werden.
(c) Die Vergegenständlichung des reinen Denkens im Sittlichen als Ausdehnung desselben kann auch unter dem Aspekt der praktischen Realität des Verstandesbegriffs einer Kausalität aus Freiheit betrachtet werden. Die Betrachtung
wird in der theoretischen Vernunft der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe
entsprechen können. Während der Begriff eines empirischen Objekts, das durch
die sinnlich affizierte Willkür gewünscht oder ersehnt wird, damit noch keine objektive Realität hat, so hat der Begriff des an sich Guten als des Gegenstands der
reinen praktischen Vernunft für die apriorische Willensbestimmung und mithin die
moralische Handlung doch praktisch-objektive Realität und Bedeutung, weil das
moralische Gesetz, indem es das Verhältnis des Verstandes zum Willen a priori
bestimmt, dem Begriff dieses Verhältnisses objektive Realität verschafft.591 Der
reine Verstandesbegriff einer Kausalität der Freiheit (dessen modi die Begriffe des
Guten und Bösen als Folgen der Willensbestimmung a priori sind), der auf die
Bestimmung der freien Willkür geht und darum keine ihr korrespondierende Anschauung zur theoretischen Erkenntnis benötigt, hat statt der Form der Anschauung
die „Form eines reinen Willens“ in der Vernunft zu Grunde liegen, so daß die praktischen Begriffe a priori die Willensgesinnung selbst hervorbringen können; er ist
befugt, sich auf diese Weise in der moralischen Gesinnung praktisch-real durchzusetzen.592 Das reine sittliche Denken, das aus der Autonomie der Vernunft hervorgeht, gibt demzufolge dem von ihm gemachten Objekt praktisch-objektive Realität
und Bedeutung, indem es sich selbst im Willen ohne irgendwelche Anschauung
unmittelbar vergegenständlichen kann, um dadurch ein Objekt hervorzubringen.
(Cf. 3.4.0.5).
3.2.3 Die theoretische Schwierigkeit der obigen Lehre von der Genese des Guten: die Genese des Guten bei den vollkommenen, engeren,
unnachlaßlichen Pflichten und bei den unvollkommenen, weiteren, verdienstlichen Pflichten.
Mit der obigen Lehre von der Genese des bis zur aktualen Handlung gültigen intellektuellen Guten durch die Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens
(auf der ersten Stufe der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der ,moralischVgl. dazu KpV, V 138 Z6–11 <A249>. Dies gilt, wie unten betrachtet wird, freilich vollständig
von dem Guten, das die engeren, unnachlaßlichen Pflichten angeht, prinzipiell aber auch von dem
Guten, das die weiteren, verdienstlichen Pflichten anbelangt und sich demnach ausdrücklich auf den
Begriff eines Zwecks bezieht, weil immerhin das Gesetz auch für das letztere Gut ausschlaggebend
wirkt.
592
Vgl. dazu KpV, V 65 Z5 – 66 Z15 <A114–116>. Die „Form eines reinen Willens“ wird in
Refl. 7204 „die formale Einheit im Gebrauche unserer Freiheit“ oder „die Identität meines Wollens“
genannt, die in theoretischer Erkenntnis der „Identität der Apperzeption“ entspricht (XIX 283f).
591
168
teleologischen‘ Phase der Grundlegung) hat Kant, zusammen mit der neu festgelegten Triebfeder-Lehre im Triebfedern-Kapitel der Analytik der KpV, die Souveränität sowohl des moralischen Gesetzes als auch der menschlichen Freiheit nach
einem wohl mit der Deduktion der KrV vergleichbaren, jedoch wegen der unmittelbaren Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens viel einfacheren Deduktionsverfahren in einer eindeutigen vektorartigen Richtungsbestimmung nachgewiesen. Somit war die architektonische ,moralisch-teleologische‘ Grundlage für
die zwar formalistisch von der Autonomie der Vernunft transzendental-subjektiv
ausgehende, jedoch essentiell in der Erweiterung auf den Endzweck verankerte
Kantische Moral geschaffen. Eine Schwierigkeit aber dieser Theorie über die Genese des Guten befindet sich im von der Seite der Intellektualität her gesetzten
Berührungspunkt des reinen sittlichen Denkens als Freiheitskausalität mit empirischen Objekten in der Naturkausalität, wie etwa im Vorgang des reinen sittlichen
Denkens, in dem es in der Maxime als die Form derselben die Materie derselben
bestimmt.
(a) Die Genese des Guten und die engeren, unnachlaßlichen Pflichten.
Bei den vollkommenen, d.i. engeren, unnachlaßlichen Pflichten wie Suizidverbot
und Wahrhaftigkeit können Maxime und Handlung, die gut heißen, schlechterdings
durch die Ausdehnung bzw. Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens allein gestaltet bzw. ausgeführt werden. Es wird dabei im Grunde keine materiale Bedingung benötigt. Denn bei der Materie derartiger Pflichten handelt es sich
letzten Endes um die reine praktische Vernunft selber, die zugleich Subjekt dieser
Maximen und Handlungen ist, m.a.W., um die Aktualität des reinen Denkens im
Sittlichen selber, und erst im Gefolge davon werden um des Schutzes des Bestehens
derselben vor jeder empirischen Ver- und Behinderung willen auch materiale Bedingungen berücksichtigt. So erfordert der Anspruch auf die Erhaltung der schon
existierenden reinen praktischen Vernunft bzw. des reinen sittlichen Denkens durch
sich selbst beim Selbstmordverbot die Fortsetzung des Daseins der Person als ihres
Sitzes und beim Lügeverbot, das Pflicht sowohl gegen sich selbst593 als auch gegen andere sein kann, die Offenheit der aus ihr fließenden Tätigkeit, ohne die diese
behindert würde.
(α) Wenn es also bei jener Materie der Maxime, die durchs Gesetz bestimmt
werden soll bzw. auf die das sittliche reine Denkens sich projizieren will, um die
reine praktische Vernunft als Gesetzeslieferant bzw. das reine Denken im Sittlichen
selber zu tun ist, so heißt es, daß das Woraufhin der Anwendung des Gesetzes, d.i.
das Woraufhin der Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens nichts anderes ist als
dieses reine sittliche Denken selbst bzw. die reine praktische Vernunft. Die Identität
von Subjekt (die bestimmende Vernunft) und Objekt (die zu bestimmende Materie)
in bezug auf die Gestaltung der Maxime aber führt zur vollständigen Regentschaft
des formal-logischen Konsistenzprinzips in derselben. M.a.W.: Eine notwendige
593
Vgl. MS, VI 428–431.
169
Folgerung, in der etwas nur seine eigene Erhaltung zum Resultat haben soll, muß
jeden Widerstreit und Widerspruch von sich ausschließen. Daher kann bei diesen
Pflichten für ihre Formung und Beurteilung das negative Prinzip des moralischen
Gesetzes, das formal-logische Konsistenzprinzip, auf ihre Materie vollauf angewendet werden, ohne sonstige materiale Prinzipien mitwirken zu lassen.594 Das
Gute kann hier, um Ausdrücke der „Reflexionen“ zu verwenden, rein aus der ,Zusammenstimmung mit sich selbst als mit dem Gesetze‘ hergestellt werden.
(β) Aus dieser allgemeinen Feststellung erhellt, daß es bei den Pflichten dieser Art um eine Art des Selbstzwecks, die „Selbsterhaltung der Vernunft“595 geht.
Daher ist für diese Pflichten das Prinzip des Zwecks-an-sich-selbst unmittelbar anwendbar.596 Das Gute in ihnen wird demnach aus dem moralischen Selbstzweck
einer Selbsterhaltung der reinen praktischen Vernunft durch die Selbstidentität desselben hergeleitet.
Es ist nun aber zu bemerken, daß zu dieser Genese des Guten eine von reflektierender Urteilskraft angenommene zweckmäßige Ordnung nicht benötigt wird.597
In dieser Genese bestimmt die reine praktische Vernunft unvermeidlich sich selbst
nur dazu, sich selbst als das Gute zu ihrem Gegenstand zu machen. Ein ihr fremdes
Bestimmungselement kann in die Formung dieser Pflichten nicht hineingemengt
werden, weil es sich bei der Materie ihrer Maximen um nichts anderes als um die
reine praktische Vernunft bzw. das reine Denken im Sittlichen selber handelt. Die
Genese des Guten bei diesen Pflichten wird daher auch keinesfalls von einem gewöhnlichen Zweck der Handlung, einem Ziel als dem Wohin derselben, inhaltlich
determiniert, der auch mit dem Begriff des Zwecks-an-sich-selbst zunächst nichts
zu tun hat.
(b) Die Genese des Guten und die weiteren, verdienstlichen Pflichten.
Bei der Genese des Guten aber, das die unvollkommenen, d.i. weiteren, verdienstlichen Pflichten, wie etwa Talententwicklung, Kultur der Tugendgesinnung598 oder
594
Vgl. dazu GMS, IV 421 Z24 – 422 Z36 <B53–55>. Im vorliegenden Kapitel wird der zweite
Abschnitt der GMS nur in Hinsicht auf die Zwecksetzung aus der reinen praktischen Vernunft in
Betracht gezogen. Obwohl er von Kant zusammen mit dem ersten als analytisch bezeichnet wird
und hauptsächlich die formalistische Grundlegung beabsichtigt, stellt die Ableitung der Pflichten
aus dem Gesetz in ihm neben dem Begriff des Zwecks-an-sich-selbst, der sich auf die Idee des
Reichs der Zwecke bezieht, die ,moralisch-teleologische‘ Phase der Grundlegung der Ethik dar. Zu
dieser Ableitungsproblematik vgl. die didaktisch ausgezeichnete Standardarbeit von J. Ebbinghaus,
Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: G.
Prauss [Hrsg.], Kant, Köln 1973, S. 274–291.
595
Vgl. dazu Was heißt: S.i.D.or.?, VIII 147 Anm. An dieser Stelle aber verwendet Kant das Wort
lediglich in bezug auf Selbstdenken und Aufklärung. Vgl. aber auch Refl. 1509, XV 823, ψ1−2 (1780–
84): „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung.“ Vgl. zu dieser Thematik Sommer, M., Selbsterhaltung als rationales Prinzip, in: ders., Identität im Übergang: Kant, Frankfurt/M. 1988, S. 90–116.
Cf. 3.4.1.d und Fußnote 351 in 2.5.2.
596
Vgl. dazu GMS, IV 429 Z15 – 430 Z9 <B67f>.
597
Vgl. dazu H. J. Paton und M. Fleischer (cf. Fußnote 286 in 2.3.2).
598
Die Kultur der Tugendgesinnung, die auch als Erhöhung der eigenen moralischen Vollkommenheit bezeichnet wird und die moralische Asketik darstellt, ist dem Grade nach und zuletzt, im ganzen
170
Beförderung der Glückseligkeit anbelangt, geht es anders zu: Bei den Pflichten dieser Art bezieht sich die reine praktische Vernunft nicht bloß auf sich selbst, sondern
auf eine ihr fremde Materie. Sie muß bei ihnen zur Herstellung des Guten, bzw.
zur Beurteilung der moralisch richtigen Maxime als Wille über die Anwendung
des von der Einheit und Allgemeinheit des reinen sittlichen Denkens abgeleiteten
und die Beurteilung des Guten der engeren, unnachlaßlichen Pflichten für sich alleine bestimmenden logischen Konsistenzprinzips auf das reine sittliche Denken
selbst hinaus um einen Schritt weiter in die Dimension der empirischen Objektivität rücken und hier in äußeren Verhältnissen, in denen gerade Mangel waltet, die
materialen Bedingungen überhaupt, mithin auch das heraussuchen und auffinden,
was tatsächlich aus den von der in einer gewählten Maxime fundierten Willensbestimmung geleiteten Handlungen folgt, welches aber dann als vorausgesehene
Folge (als das erste) von dem Willen auch Zweck genannt werden kann. Ohne sich
nämlich in der empirisch-objektiven Dimension nach der Folge der Handlungen
aus der Willlensbestimmung, die auf einer gewählten Maxime basiert, umzusehen und darin etwas aufzufinden, was die moralische Richtigkeit dieser Maxime
bestätigen kann, kann sie diese Pflichten gar nicht hinsichtlich ihrer Richtigkeit
beurteilen, d.h. das Gute in ihnen herstellen.
(α) Für die Feststellung der weiteren, verdienstlichen Pflichten muß der reine
Wille einen Schritt weiter in die empirische Objektivität hineinrücken. Zur Erörterung dienen die Darlegungen der Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs in der GMS und der Typik der reinen praktischen Urteilskraft in der KpV.
Es kann mit der Anwendung des formal-logischen Konsistenzprinzips des Gesetzes (des Prinzips des Nicht-Widerstreitens) etwa auf das reine sittliche Denken
als Materie alleine nicht entschieden werden, ob die Maxime der Verwahrlosung
der Naturgaben und die der Teilnahmslosigkeit an der Not anderer mit dem Begriff einer Pflicht konform sein und somit gut heißen können oder nicht.599 Die
Naturbedingungen erheben hier ihren Anspruch. Von seiten der Natur, der, vom
absolut apriorischen, d.i. moralischen Aspekt her betrachtet, gewisse Kontingenz
einzuräumen ist, ist es durchaus möglich, daß beide Maximen doch als allgemeine Naturgesetze gelten.600 Denn die sogenannten „Südsee-Einwohner“601 mögen
ein Paradigma derer sein, die nach einem allgemeinen Naturgesetz der Verwahrlosung der Talente leben, und es könnte auch ein allgemeines Naturgesetz sein, daß,
„wenn er [sc. ein jeder] unbemerkt lieblos ist, nicht sofort jedermann auch gegen
ihn es sein würde“,602 oder daß jeder angesichts der Not anderer indifferent lebe.603
Die Materie (Gegenstände) des reinen Willens ist bei den weiteren, verdienstlichen
gesehen, eine der unvollkommenen Pflichten. Vgl. dazu MS, § 22 der Tugendlehre, VI 446f.
599
Vgl. GMS, IV 422 Z37 – 423 Z35 <B55–57>.
600
Im Gefolge davon sagt Kant: „... daher ist diese Vergleichung der Maxime seiner Handlungen
mit einem allgemeinen Naturgesetze auch nicht der Bestimmungsgrund seines Willens“ (KpV V 69
Z33 <A123>).
601
GMS, IV 423 Z9 <B55>. Das Beispiel läßt sich heute als sozial-diskriminierend ansehen.
602
KpV, V 69 Z32f <A123>.
603
Vgl. GMS, IV 423 Z23 <B56>.
171
Pflichten so fremd und variabel, daß er nicht mit dem logischen Konsistenzprinzip
allein passiv entscheiden kann, welche der Alternativen, d.i. welches der allgemeinen Naturgesetze als Typus des Sittengesetzes für moralisch richtige Maxime
und Handlung aufgenommen werden soll. Daher muß er auf der Ebene der empirischen Objektivität, in die er, um sein spontanes Allgemeinheitsprinzip auf empirische Objekte anzuwenden, m.a.W., seine Form („Form eines reinen Willens“) in
diese einzuprägen, tiefer hineinrückt, einmal sehen, was aus seinen beiden Maximen empirisch folgt. Dann stellt sich heraus, daß er beide Maximen, Verwahrlosung der Naturgaben und Teilnahmslosigkeit, als seine allgemeinen Naturgesetze
(Typen) unmöglich wollen kann,604 sofern dieses Wollen mit dem Allgemeinheitsprinzip verbunden, demnach das reine sittliche Denken ist. Denn wenn die Naturbedingungen, die ihren Anspruch erheben, näher betrachtet werden, so ist es eine
empirisch-objektive Tatsache, sei sie theoretisch-konstitutiv und direkt naturkausal
oder theoretisch-regulativ entstanden – sie muß nicht unbedingt teleologisch sein
–, daß alle Vermögen im Vernunftwesen zur Entwicklung bestimmt sind605 und
der Fall eintritt, daß ein Mensch anderer Liebe und Teilnehmung bedarf.606 Der
Wille umfaßt und bearbeitet mit seinem spontanen Universalitätsprinzip positiv
– d.h. er befaßt sich nicht bloß mit sich selbst passiv unter dem negativen Konsistenzprinzip – diese materialen Bedingungen,607 gestaltet dadurch intellektuell und
selbständig seine allgemeinen Naturgesetze (Typen), um sie in die Natur einzuprägen, und verläßt somit notwendig jene beiden Maximen. Er kann sie als allgemeine
Naturgesetze unmöglich wollen. Diese Erörterung wiederholt Kant auch später in
seiner Vorlesung über die Metaphysik der Sitten: „Ganz anders ist es mit den sogenannten unvollkommenen Pflichten. Hier hebt sich die Handlung durch das ihr
widersprechende Gesetz nicht geradezu von selbst auf; – sie beruhen auf bedingten
Maximen; – nur es kann nie der Wille des Menschen werden, daß die Handlung ein
allgemeines Gesetz werde, z. E. die Pflicht der Menschenliebe durch Wohltätigkeit
gegen Leidende: wollte man nach einer Maxime handeln, die Gleichgültigkeit gegen anderer Menschen Not und Bedürfnisse zum Grund hätte, so kann man nicht
sagen, daß ein solches Gesetz der moralischen Freiheit des Menschen widerspräche. Der Mensch könnte alle Absichten erreichen, nur nicht auf die Teilnehmung
anderer Ansprüche machen. Dies Letztere ist aber, da jedes Subjekt in eine gleich
bedürftige Lage kommen kann, der Grund, daß niemand wird diese Maxime zum
allgemeinen Gesetz machen wollen.“608
Noch einmal: Der Wille kann die beiden Maximen unmöglich wollen – und
er will die gegenteiligen Maximen annehmen, weil sein reines Denken als Spontaneität zusammen mit dem aus ihm stammenden Universalitätsprinzip sich in der
GMS, IV 423 Z11f und Z30 <B55 u. 56>.
IV 423 Z14f <B56>.
606
IV 423 Z32f <B56>.
607
Zur Bestimmung der Materie durch das bloß gesetzgebende Form vgl. z.B. KpV, V 34 <A61>:
„Also die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein,
diese Materie zum Willen hinzufügen“.
608
MS Vigilantius, XXVII 496f. Vgl. auch MS Tugendlehre § 30, VI 453.
604
605
172
empirischen Objektivität, d. i. in äußeren Verhältnissen umsieht, um etwas, was
sein Universalitätsprinzip in ihnen noch verarbeiten kann, aufzufinden, welches
alsdann als das Gute, der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, zustandekommt, im vorliegenden Fall die Pflichten von Talententwicklung und Beförderung der Glückseligkeit anderer. Die Konstellation also, in der bei den weiteren,
verdienstlichen Pflichten die Genese des Guten als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft vor sich geht, ist mit derjenigen, in der in Kants Überlegungen zum
höchsten Gut der moralische Zweck entsteht, beinahe identisch: Auch bei der Genese des letzteren, der sich gleich zum Endzweck maximiert, sieht der reine Wille
sich in äußeren Verhältnissen um, um etwas zu finden, „was zum Zweck für ihn
dienen und auch die Reinigkeit der Absicht beweisen könnte“,609 d.h. er muß in
die Ebene der empirischen Objektivität tiefer hineinrücken und sich dort umsehen,
um etwas zu finden, in dem sein Universalitätsprinzip noch positiv und total gelten
kann. Die Intentionalität des reinen Willens kommt bei beiden Konstellationen mit
der empirischen Objektivität, auch wenn noch in der Domäne des Denkens bleibend, gleichsam in Berührung und verschafft sich dadurch übersinnliche Ideen von
Moralität, Pflicht oder Zweck, die alsdann als allgemeine Naturgesetze in die Natur
eingeprägt werden. Auch die Genese des einzelnen Guten nimmt nämlich auf dasjenige Rücksicht, aus dem der Begriff vom Endzweck entspringt. Folglich lassen
sich unvollkommene Pflichten wie Talententwicklung und Glückseligkeit anderer
für Zwecke halten. Nur sind bei der Genese des moralisch-praktischen Endzwecks
bei Kant sowohl alle einzelnen Pflichten als auch die moralische Gesinnung als
ihr subjektiver Grund schon komplett parat, so daß reine praktische Vernunft nur
darauf sehen muß, worauf unser Rechthandeln sich auswirkt, das auf ihnen beruht.
Wegen der faktischen Gleichheit nun der Konstellation und der Vorgangsweise der
reinen praktischen Vernunft bei beiden Genesen handelt es sich bei jenen beiden
Momenten des höchsten Guts (Tugend und Glückseligkeit),610 den Inhaltselementen des praktischen Endzwecks, doch gerade um die unvollkommenen, weiteren,
verdienstlichen Pflichten. Dabei vermehrt jedoch die Idee des Endzwecks die Anzahl aller Pflichten nicht, sondern holt nur ihre nötigen Pflichten aus dem Vorrat
sämtlicher schon komplett paraten Pflichten, und dies muß so sein, weil die Bedingungen der intrinsischen Genese beider Zweckarten – einzelne unvollkommene Pflichten und Endzweck – faktisch gleich sind, obwohl die Bedingungen ihrer
Anwendung voneinaner verschieden sind. Eine ausdrückliche Identifizierung der
weiteren, verdienstlichen Pflichten mit dem Begriff eines Zwecks wird von Kant
erst in der Einleitung zur Tugendlehre der MS vorgenommen.611
Nun ist aber dabei zu beachten, daß der Entwurf des Guten als Formung der
Pflichten, selbst der weiteren, verdienstlichen, durch reine praktische Vernunft und
deren Prinzip (Gesetz) als Aktualität ihrer reinen Auswirkung vollzogen und nicht
primär durch empirische Objekte bedingt wird; sie hält sich zwar in der empirischRel., VI 7 Anm. Z23f <BXII>.
Vgl. dazu zunächst KpV, V 110f <A198f>. Cf. 3.3.2.a.
611
Vgl. MS, VI 382ff.
609
610
173
objektiven Dimension auf, jedoch nur, um sich darin umzusehen und sich für die
moralisch richtige Alternative (den Typus als ein allgemeines Gesetz) selbständig zu entscheiden, in der sich das Universalitätsprinzip noch überwiegend durchsetzen kann. Sie prägt ihre Gesetze in die empirische Objektivität ein und nicht
umgekehrt. Sollte nun daher eine zweckmäßige Ordnung, die durch reflektierende
Urteilskraft aus der empirischen Objektivität theoretisch-regulativ anzunehmen ist,
bei der Formung der weiteren, verdienstlichen Pflichten den Willen primär bestimmen, so würden die geformten Pflichten bloß zu hypothetischen, d.h. technischoder pragmatisch-praktischen, degradiert werden müssen, und der Geltungsbereich
der Autonomie der Vernunft und mithin der auf der empirisch-objektiven Ebene
aufzuzeigenden moralisch-praktischen Realität ihres reinen Denkens, d.i. substantiell des Gesetzes, würde demzufolge möglicherweise nur auf die engeren, unnachlaßlichen Pflichten eingeschränkt werden. Es ist nämlich um die rein moralischpraktische Zwecksetzung nicht derart bestellt, daß der diskursive Verstand ein Synthetisch-Ganzes theoretisch als Idee (Vorstellung) vergegenständlichte und es danach für die Praxis verwendete. In diesem Fall würde auch die Triebfeder zur
moralischen Handlung sicher nicht im moralischen Gesetz, sondern im vergegenständlichten theoretischen Zweck bestehen, und es würde darum in bezug auf die
pathologisch-praktische Lust auch zu fragen sein, ob hinsichtlich eines Zwecks
der Gegenstand seiner Vorstellung vorhergeht oder umgekehrt.612 Die moralischpraktische Zwecksetzung ist die reine unmittelbare Selbstäußerung des reinen sittlichen Denkens, d.i. des moralischen Gesetzes. Dieses bestimmt unmittelbar den
Willen bei seiner Zwecksetzung. Ausschlaggebend für die Herstellung des Guten
als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist daher jene Richtung ihres souverän bestimmenden reinen sittlichen Denkens von ihrer Autonomie (Freiheit) auf
die empirisch-objektive Ebene hin, welche ja den Sinn des Progressus eines Rechtschaffenen überhaupt als Selbstentwurf der Freiheit auf den Endzweck ausmacht.
Die Naturgesetz-Formel613 des kategorischen Imperativs in der GMS besagt demnach nicht, daß die Maxime des Willens allgemeine Naturgesetze der sinnlichen
Natur befolgen soll, sondern daß der freie Wille durch sein eigenes intellektuelles Prinzip ein moralisch richtiges allgemeines Naturgesetz als seine Maxime zur
moralischen Handlung selbständig hervorbringen soll; d.h. die Freiheitskausalität
soll die Naturkausalität bestimmen und dabei zur Vermittlung beider Kausalitäten
ein allgemeines Naturgesetz als Typus des moralischen Gesetzes für sich selbst
spezifizieren; die sinnliche Natur soll durch menschliche Handlungen lediglich
dem von der reinen praktischen Vernunft vorgeschriebenen allgemeinen Naturgesetz adaptiert werden. Diese wesentliche Implikation der Naturgesetz-Formel der
GMS artikuliert sich ausdrücklicher in der dieser Formel entsprechenden Typus-
612
Zu dieser Frage, was früher ist, der Gegenstand oder seine Vorstellung, die beinahe wie eine
Frage von ,Henne oder Ei¿ scheint, vgl. z.B. Reiner, H., Kants Beweis zur Widerlegung des Eudämonismus und das Apriori der Sittlichkeit, in: Kant-Studien, Bd. 54, 1963.
613
GMS, IV 421 <B52>: „... handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen
zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“
174
Formel614 in der KpV. Die vektorartige Richtung der Bestimmung als Progression
ist nun auch der Sinn davon, daß „die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als
ein Reich der Natur“ erwägt,615 d.h. daß in der moralischen Teleologie das erstere das letztere bestimmt, obgleich es als die intelligible Welt ursprünglich „nach
der Analogie mit“616 dem letzteren eingeräumt sein mag. Nun muß allerdings in
der Konsequenz der Theorie der Naturgesetz-Formel auch angenommen werden,
daß weitere, verdienstliche Pflichten, falls eine bisher unbekannte neue empirischobjektive Tatsache auftaucht, inhaltlich verändert werden könnten. Dies stellt wohl
eine Schwierigkeit der Kantischen Theorie über die Genese des apriorisch Guten
dar, wird jedoch daran nichts ändern, daß das reine Denken der reinen praktischen
Vernunft als reiner Wille durch den Typus (das allgemeine Naturgesetz) des Sittengesetzes selbst, sei er auch inhaltlich verändert, formal die sinnliche Natur bestimmt.
(β) Die Genese des Guten aus Freiheit als die Vergegenständlichung der Aktualität des Aktus der reinen praktischen Vernunft vollzieht sich nicht nur in der
objektiven Phase der Pflicht-Gestaltung durch das Prinzip der Allgemeinheit bzw.
des Nicht-Widerstreitens dieser Vernunft, sondern auch in der subjektiven Phase
derselben durch das Prinzip des Zwecks-an-sich-selbst als des Sitzes dieser Vernunft. Die letztere Phase der Pflicht-Gestaltung kündigt an, daß hinsichtlich des
Begriffs des Guten als des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft a limine
der Begriff eines moralischen Zwecks besteht. Der Begriff des Zwecks-an-sichselbst wird durch die Zurückweisung aller unter dem hypothetischen Imperativ
stehenden materialen Zwecke mittels des Kriteriums des absoluten Werts formalistisch gebildet.617 Als Zweck an sich selbst nun existiert der Mensch (sowie überhaupt jedes vernünftige Wesen), weil er vermöge der Autonomie seiner Freiheit,
auf die sich das heilige moralische Gesetz gründet, „das Subjekt des moralischen
Gesetzes“ ist.618 Der Begriff des Zwecks an sich selbst, der auf der Autonomie
des Willens beruht und demnach ursprünglich – d.h. kognitiv und formalistisch –
transzendental-subjektiv ist,619 wird dann in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung als eine zu realisierende Idee der Humanität in Richtung auf
die Ebene der empirischen Objektivität intellektuell objektiviert – er könnte wohl
somit in dieser Phase als moralischer Zweck auch dieselbe Funktion übernehmen, wie sie der Begriff des praktischen Endzwecks in der objektiven Phase der
,moralisch-teleologischen‘ Zwecksetzung bekleidet: Damit können weitere, verdienstliche Pflichten als das Gute durch die positive Zusammenstimmung zu diesem Humanitätsprinzip des Zwecks-an-sich-selbst, d.i. der Idee der Menschheit
614
Vgl. KpV, V 69 <A122>: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach
einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch
deinen Willen möglich ansehen könntest.“
615
GMS, IV 436 Anm. <B80>(cf. Fußnote 553 in 3.1.2). Vgl. auch IV 438 Z16 – 439 Z3 <B83f>.
616
GMS, IV 438 Z23f <B84>.
617
Vgl. GMS, IV 427 Z32 – 428 Z6 <B64>.
618
Vgl. KpV, V 87 Z18–21 <A155f>, 131 Z20 – 132 Z5 <A237>.
619
Vgl. dazu GMS, IV 431 <B70>: „... das Subjekt aller Zwecke aber ist jedes vernünftige Wesen,
als Zweck an sich selbst“.
175
in der Person, und nicht bloß durch das formal-logische negative Prinzip der Widerspruchslosigkeit bzw. des Nicht-Widerstreitens, angenommen werden.620 Kant
hätte nämlich in dem vom Typik-Abschnitt ergänzten Gegenstand-Kapitel der KpV
auch nach dem Begriff des Zwecks an sich selbst die Genese des Guten ausführen
können. Er hat es aber unterlassen – denn es würde das Gefüge der KpV sprengen
– und ihn seiner subjektiven Herkunft gemäß erst im Triebfedern-Kapitel der KpV
beiläufig eingeführt.621 Der Begriff nun des Endzwecks und der des Zwecks an
sich selbst sind zwar ursprünglich voneinander unterschieden: Während der erstere
moralisch erst in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase als Objekt des reinen Willens eingeräumt und zugleich auch auf die physische Teleologie bezogen wird, ist
im letzteren, der in der Argumentation der GMS formalistisch und transzendentalsubjektiv eingeführt wird, der allererste Ausgangspunkt der ,moralisch-teleologischen‘ Zwecksetzung zu sehen. Aber beide Begriffe haben auch eine gemeinsame
Implikation: Sie werden nämlich durch das Kriterium des absoluten Werts eingeführt, und es wird erfordert, zu ihnen als Zwecken positiv zusammenzustimmen.622
Ein verobjektivierter Begriff des Zwecks an sich selbst könnte wohl mit dem Begriff des Endzwecks funktionell identisch sein. So braucht denn auch die Zahl der
Pflichten, die sich bereits entweder in der objektiven Phase durch die NaturgesetzFormel oder in der subjektiven Phase durch die Zweck-an-sich-selbst-Formel vollständig ergeben können, nicht noch einmal durch Anwendung des Begriffs des
Endzwecks vermehrt zu werden.623 Die Erwägung dieser möglichen Verwandtschaft zwischen Zweck-an-sich-selbst und Endzweck führt zu der Annahme, daß
bei Kant der erstere konzeptionell in einer aus dem letzteren moralisch-teleologisch
zu entfaltenden, transzendental-objektiven intelligiblen Ordnung – nämlich der systematischen Einheit aller Zwecke – beheimatet ist.
3.2.4 Der Begriff des Guten als Zweck.
Das Gegenstand-Kapitel der KpV aber hat den Gegenstand der reinen praktischen
Vernunft nicht als Zweck bezeichnet. Dafür ließen sich zunächst zwei Gründe anführen. Der eine Grund ist bereits genannt worden (cf. 3.2.1.b): Der Zweckbegriff
ist im System der Kantischen Grundlegung der Ethik bereits anderen Bauelementen desselben als jenem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft zugewiesen:
zum einen transzendental-subjektiv dem Begriff des Zwecks an sich selbst als Subjekt des moralischen Gesetzes, zum anderen empirisch und pragmatisch-praktisch
durch die sinnlich bedingte praktische Vernunft dem Angenehmen, dessen Mittel dann mittelbar-gut heißt. Ein Begriff des an sich und unbedingten Guten als
eines Zwecks wäre in diesem Kapitel zuviel und würde nur Verwirrung heraufbeschwören. Denn es kann das Mißverständnis eintreten, daß er aus der empirischen
Objektivität abgeleitet werden sollte. Der andere Grund: Kant scheint in diesem
Vgl. GMS, IV 430 Z10–27 <B68f>.
Vgl. KpV, V 87 Z19 <A156>.
622
Vgl. dazu GMS, IV 430 Z12f <B69>, Rel., VI 5 Z6f <BVII>, Z23 <BVIII>.
623
Vgl. Rel., VI 5 Z23f <BVIII>.
620
621
176
Kapitel zu glauben, daß der Begriff des Guten in der Tat bloß durch die Ableitung
aus dem Gesetz selbst, oder sagen wir, durch die reine Vergegenständlichung des
reinen sittlichen Denkens formal hergestellt werden soll und kann, demnach ohne
materiale Bedingungen, die aus dem Mangel in äußeren Verhältnissen entspringen
und die deshalb auch den Begriff eines Zwecks erfordern. Die Einführung eines
Zweckbegriffs in die Genese des Guten hingegen wäre eher heikel, weil sie den
Eindruck erwecken würde, als ob das Gute erst von der empirischen Objektivität
abgeleitet werden könnte. Darüber hinaus scheint Kant zu denken, der Rechtschaffene bemühe sich bloß, die Gesetze zu befolgen und seine Pflichten zu erfüllen,
ohne sich dabei um einzelne Resultate seiner Handlungen Sorgen zu machen, die
als Zwecke vorgesehen würden, wobei er sich zwar auf der intellektuellen Bahn
des Progressus zum Endzweck (der wahren Glückseligkeit im Jenseits) befindet,
welcher aber in diesem Leben kaum erlangbar scheint (cf. 3.3.1.e).
Die Perspektive für die Genese des Guten, worin der zweite Grund verankert
ist, mag wohl für das Gute, das die engeren, unnachlaßlichen Pflichten anbelangt,
richtig sein, trifft aber jenes Gute nicht, das die weiteren, verdienstlichen Pflichten
angeht (cf. 3.2.3.b), die doch ebenfalls in der auf den Begriff des Guten bezogenen
Kategorien-Tafel624 stehen. Für die Herstellung nämlich des Guten der letzteren
Art sind sowohl die materialen Bedingungen auf der Ebene der empirischen Objektivität als auch die weitere Erstreckung der intellektuellen Intentionalität des reinen
Willens auf diese Ebene unentbehrlich, die die materialen Bedingungen verarbeitet und dadurch Zwecke herstellt. Daher ist dem Begriff des Guten dieser Art der
eines Zwecks im Sinne von finis in consequentiam veniens beizulegen; denn etwas
Gutes positiv zu wollen625 heißt, es sich zum Zweck zu machen, was aber beim
Guten der ersten Art zunächst nicht unbedingt der Fall sein muß (denn der Selbstzweck wird nur formal als Zweck bezeichnet und muß im Grunde nicht unbedingt
der Zweck im engeren Sinn sein). Der Begriff des Guten der zweiten Art impliziert
in sich einen Zweckbegriff. Der Rechtschaffene macht sich wohl nicht so sehr um
das Verwirklichtsein von Zwecken Sorgen, kümmert sich aber doch im Progressus
um die Verwirklichung des einzelnen Guten als Erfüllung der Pflichten, was den
Zweckbegriff bereits impliziert. Daher sollte eigentlich erst dadurch, daß dem Begriff des Guten der zweiten Art der Zweckbegriff ausdrücklich zugeschrieben wird,
auch dem des höchsten Guts, der als unbedingte Totalität des Guten überhaupt eingesetzt wird und dessen Momente sich aus dem Guten der zweiten Art rekrutieren,
ein Zweckbegriff, sei es der Endzweck oder ein anderer, beigefügt werden können. Da Kant das letztere vorgenommen hat, so hätte auch das erstere geschehen
müssen. Nur ist er darauf nicht eigens eingegangen. Das Gegenstand-Kapitel der
KpV antizipiert also in seiner Konsequenz einen neuen Zweckbegriff, ohne ihn
aber ausdrücklich zu nennen. Auch Kant selbst sagt: „Gut ist, was die Vernunft
als Gegenstand des Willens erkennt. Die Übereinstimmung mit einem Zwecke der
Vernunft.“626 Bei dem Guten als Gegenstand des Willens hat man es demnach mit
Vgl. KpV, V 66 Z36 <A117>.
Cf. 3.2.3.b.α und Fußnote 604.
626
Refl. 5246, XVIII 130, υ? (1776–78?). Vgl. auch Über den Gebrauch teleologischer Prinzipi624
625
177
dem Vernunftzweck zu tun.
Diese fundamentale Wiederherstellung eines Zweck-Begriffs in der Phase der
moralisch-praktischen Zwecksetzung soll noch gemäß Kants Analyse des Endzwecks expliziert werden. In seinen Argumentationsgängen zur Annahme des Endzwecks (des höchsten Guts) springt Kant immer wieder von der Entbehrlichkeit
einer Zweckvorstellung beim Gesetz selbst direkt auf die Notwendigkeit der Annahme des Endzwecks über. Es wird im vorliegenden Absatz versucht, durch sorgfältige Verwendung der Textstellen, die ursprünglich von Kant für den Begriff des
Endzwecks vorgebracht sind, einmal zwischen Gesetz und Endzweck ein Übergangsstadium für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer intellektuellen Zwecksetzung aus Freiheit überhaupt zu installieren. Die Zwecksetzung aus der Vernunftkausalität ist notwendig, weil es dem mit Vernunft versehenen Willen, der wohl
schon von den empirischen Bestimmungsgründen (Zwecken) befreit ist, doch unmöglich gleichgültig sein kann, was dann aus seiner Handlung herauskommt und
auf was für einen Zweck als Idee er sie richten kann, auch wenn ihm kaum die Fähigkeit zu dessen Verwirklichung zuzusprechen ist.627 Ohne einen solchen Zweck
kann die freie Willkür „zwar wie sie, aber nicht wohin sie zu wirken habe, angewiesen, sich selbst nicht Genüge tun“.628 Denn die reine praktische Vernunft bzw.
die Aktualität der Wirkung des Gesetzes muß unvermeidlich dem Empirischen in
der Welt und mithin „den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen“ begegnen, „sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg [sc. der Folge] aus denselben
umzusehen“.629 Sie muß und will in die Welt hinausgehen und sich dort positiv betätigen; zu solcher Betätigung gehört auch das Sich-Umsehen nach den Folgen der
Handlungen. Der freie Wille muß sich nämlich in faktischen äußeren Verhältnissen
mit den Gegenständen selbst befassen. Dabei ist das von Willen und Vernunft entworfene Wohin der moralischen Handlung als Gegenstand der Aktualität des reinen
sittlichen Denkens „in der Ausübung (nexu effectivo) zwar das letzte, in der Vorstellung aber und der Absicht (nexu finali) das erste“,630 indem es intellektualisiert
wird. Diese Vorstellung nun, die dadurch entsteht, daß nach der Eliminierung der
empirischen Bestimmungsgründe der Willkür das transzendental-subjektive reine
Denken in seiner Aktualität sich etwas intellektuell zum Gegenstand macht, indem
es der Materie Form gibt und dadurch eine Maxime herstellt, und die demnach in
en, VIII 182: „[D]ie Kritik der praktischen Vernunft zeigt, daß es reine praktische Prinzipien gebe,
wodurch die Vernunft a priori bestimmt wird, und die also a priori den Zweck derselben angeben.“
Damit wird der Begriff von den „Zwecken der Freiheit“ gegenüber den „Zwecke[n] der Natur“ eingeführt, welcher „eine reine praktische Teleologie, d.i. eine Moral“ ermöglicht, die bestimmt ist,
„ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen“ (VIII 182f). Er bezieht sich zwar zunächst nur auf das
höchste Gut (VIII 159 Z15), könnte aber auf den Vernunftzweck überhaupt als das Gute erweitert
werden.
627
Vgl. Rel., VI 5 Z1–7 <BVIf>.
628
Rel., VI 4 <BVI>. Das „wie“ im Satz ist in unserer Rekonstruktion eines moralischen Zwecks
überhaupt von ,nach den Pflichten‘ her in ,gemäß dem Gesetz‘ umzudeuten. Ebenso soll das Wohin
der Wirkung nicht sofort Endzweck, sondern zunächst ein moralischer Zweck sein.
629
Rel., VI 7 Anm. <BXII>. Cf. 3.3.1.e.
630
Rel., VI 7 Anm. <BXII>.
178
der Teleologie der Freiheit intellektuell das erste sein können soll, obwohl sie in der
sinnlichen Naturkausalität das letzte werden muß, ergibt dann allererst den Begriff
eines Zwecks („finis in consequentiam veniens“) für die konstitutive moralischpraktische Zwecksetzung der reinen praktischen Vernunft. So wird also gesagt:
„[O]hne allen Zweck kann kein Wille sein“;631 „ohne alle Zweckbeziehung kann
gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden“.632 Dieser durch Vernunft
vergegenständlichte, intellektuelle Zweck (d.i. das durch den Willen erneut entworfene Objekt als Folge des reinen Denkens im Sittlichen), der auch von dem Begriff
eines Naturzwecks für die physische Teleologie zu unterscheiden ist, bestimmt wesentlich den Begriff des Guten in der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der
,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung, was durch die Bestimmung der
Aktualität des reinen sittlichen Denkens sowohl in Maximen als auch zuletzt in intellektuellen Vorstellungen von moralischen Handlungen spezifisch ausgedrückt
wird.
In der Richtung von der transzendental-subjektiven Autonomie der Vernunft
zur Dimension der empirischen Objektivität hin läßt sich das Gute der weiteren,
verdienstlichen Pflichten als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, mit den
auch in den Druckschriften weiter verwendeten633 Worten der „Reflexionen“ ausgedrückt: aus der ,Zusammenstimmung mit sich selbst als mit wesentlichen Zwecken‘
herstellen. Es wird als Zweck tiefer als das Gute der engeren, unnachlaßlichen
Pflichten in die empirisch-objektive Dimension gesetzt, obwohl es noch eine übersinnliche Idee ist. Die Konstitution nämlich der moralisch-praktischen Zwecksetzung drängt sich der empirischen Objektivität sozusagen ,auf den Leib‘, während
es der bloßen Regulation bei den engeren, unnachlaßlichen Pflichten doch nur um
den Selbstzweck der reinen praktischen Vernunft geht.634 Das Gute als moralischer
Zweck bei den weiteren, verdienstlichen Pflichten zeigt sich alsdann einerseits in
beiden Momenten des höchsten Guts als Endzwecks, deren Verbindung die Postulatenlehre erfordert, und entwickelt sich auf der anderen Seite in der Einleitung
zur Tugendlehre der MS als „Zweck, der zugleich Pflicht ist“ weiter.635 Der Be631
Gemeinspruch, VIII 279 Anm.
Rel., VI 4 Z11–21 <BVf>. Vgl. auch Rel., VI 7 Anm. <BXII>: „... die Natureigenschaft des
Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen“.
Vgl. hierzu auch VI 7 Anm. Z20–24 <BXII>, 5 Z2–7 <BVII>.
633
Vgl. z.B. GMS, IV 430 Z12f, Rel., VI 5 Z7 etc.
634
Der Begriff des Guten in der regulativen Anwendung des Gesetzes läßt sich annehmen, ohne
daß dabei der Wille sich etwas mit ihm nicht Identisches zum Zweck setzen muß, d.h. ohne daß das
als Zweck gewollt werden muß. Denn das Gute wird in der Regulation durch den Selbstzweck der
reinen praktischen Vernunft hervorgebracht.
635
Während L. W. Beck den Zusammenhang des höchsten Guts mit dem Konzept vom ,Zweck, der
zugleich Pflicht ist‘ bestreitet (Beck, L. W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason,
Chicago 1960, S. 244: „In the Metaphysics of Morals, ..., the highest good, ..., is not among the ,ends
which are also duties‘.“), macht J. R. Silber eine Aussage, die den Zusammenhang andeutet: Vgl.
ders., Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische
Forschung, Bd. 18 1964 (Orig.: 1959), S. 386: „Der Wille ... wird jetzt mit Hilfe der Idee des höchsten Gutes dahin gelenkt, seine eigene moralische Vollendung und die Glückseligkeit der Anderen
als kategorisch verpflichtende Zwecke zu erstreben.“ Diese beiden Zwecke entsprechen eher den
632
179
griff des Guten als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft impliziert de facto,
wenigstens bei den weiteren, verdienstlichen Pflichten, den Begriff eines Zwecks.
Nachdem materiale Zwecke als Bestimmungsgründe des Willens in der formalistischen Phase der ethischen Grundlegung eliminiert worden sind, um das ethische
reine Denken als den einzigen Grund der moralischen Willensbestimmung festzulegen, werden in der moralisch-teleologischen Phase intellektuelle Zwecke als
Folge aus dem moralischen Gesetz wieder hergestellt.
Wie nun oben betrachtet (cf. 3.1.1.b), setzt die Bedeutsamkeit des Gesetzes den
Endzweck voraus. Dies ist auch darin verankert, daß in der intellektuellen Zwecksetzung überhaupt bereits die Geltungsmöglichkeit des Gesetzes mitenthalten ist.
Das reine Denken des Gesetzes dehnt sich auf den Zweck aus. Ohne die Genese
des Guten überhaupt ist demnach das Gesetz bedeutungslos. Das Gesetz ist mit
dem von ihm gesetzten intellektuellen Zweck korrelativ.
3.3 Die Hauptstufe der Theorie der moralisch-praktischen
Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der
Grundlegung der Ethik: Die reine praktische Vernunft macht
sich das höchste Gut zum Gegenstand; oder: Der reine Wille strebt den Endzweck an.
Erst nach der Bestätigung des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft als
des moralischen Zwecks in der Grundstufe der Theorie der moralisch-praktischen
Zwecksetzung kann deren Hauptstufe, die Stufe der Setzung des höchsten Guts
bzw. des praktischen Endzwecks als Maximierung des ersteren, eingeführt werden.
Die Möglichkeit und Notwendigkeit des höchsten Guts läßt sich in zwei Stadien differenziert thematisieren: (1) seine Annehmbarkeit636 und (2) seine Ausführbarkeit (Realisierbarkeit). Bei der ersteren handelt es sich um die Analyse der
Konstitution des höchsten Guts, bei der letzteren um die Deduktion der Postulate
für dasselbe, der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes. Jene betrifft
die zweite, diese die dritte Stufe der ,moralischen Teleologie in der ,moralischteleologischen‘ Phase der Grundlegung der Ethik. In diesem Kapitel (3.3) aber
wird allein die erstere behandelt, die letztere dagegen erst im nächsten (3.4).
In diesem Kapitel (3.3) wird erstens als Fortsetzung des letzten Kapitels die
moralisch-praktische Zwecksetzung bis zum höchsten Gut vorangetrieben (3.3.1).
Sodann werden seine zwei Bestandstücke, Tugend (Sittlichkeit) und Glückseligkeit, erläutert (3.3.2). Zum dritten wird Kants kontradiktorische Aussage erörtert,
Ausdrücken der Zwecke in der MS, die zugleich Pflichten sind, als denen der beiden Momente des
höchsten Guts in der KpV.
636
Statt der Annehmbarkeit des höchsten Guts kann wohl auch der Ausdruck „Denkbarkeit“ gestattet werden; doch verwendet ihn Kant auch schon für die Ausführbarkeit des höchsten Guts. Vgl.
hierzu KpV, V 119 Z5 <A214>: „als möglich denken“; V 126 Z4 <A227>: „denkbar“. Das Wort
Ausführbarkeit in der hier determinierten Bedeutung verwendet auch er in der KU manchmal, z.B.
V 455 Z7f <B432>, V 457 Z16 <B436>.
180
daß das höchste Gut auf der einen Seite kein Bestimmungsgrund des Willens ist,
andererseits aber doch ihn gewissermaßen bestimmen kann. Zur Lösung dieses Widerspruchs schlägt die Interpretation notgezwungen den noch erkenntniskritischen
Begriff einer intellektuellen Ausdehnung der moralischen Gesetzlichkeit zwischen
Freiheit und Endzweck vor, welcher Ausdehnung metaphysisch eine intelligible
Ordnung unmittelbar zugrundeliegt. Jene Ausdehnung ist essentiell diese Ordnung
selbst, jedoch erkenntniskritisch vom Subjekt des Gesetzes her konstituiert (3.3.3).
Zum Schluß des Kapitels wird sichergestellt, daß es sich beim Begriff des höchsten
Guts (summum bonum derivativum) um nichts anderes handelt als um die Idee
vom Reich Gottes, philosophisch die ebengenannte intelligible Ordnung (3.3.4).
Die Idee der intelligiblen Welt wird der Freiheit und Vernunft des Handlungssubjekts transzendental-subjektiv zugrundegelegt und zugleich auch von derselben als
das höchste Gut bzw. Endzweck objektiviert und hingestellt. Das letzte Ziel der
moralisch-praktischen Zwecksetzung sind ihre Annehmbarkeit im Jenseits und ihre
Realisierung in der Sinnenwelt, und dazu muß und kann sie objektiv konkretisiert
und charakterisiert werden, ohne auf den erkenntniskritischen ,bloßen Standpunkt
außer der Sinnenwelt‘ beschränkt zu sein.
3.3.1 Über die Notwendigkeit der Annahme des höchsten Guts bzw. des
Endzwecks.
In diesem Abschnitt (3.3.1) wird zuerst die Notwendigkeit der Annahme des höchsten Guts bzw. des Endzwecks diskutiert, weil sie auf den ersten Blick nicht eben
zwingend erscheint (a–d). Zweitens wird die Verbindung des höchsten Guts mit
dem Endzweck aller Dinge gestreift, aus der sich die moralische Teleologie entwickelt (c). Nach einer kurzen Erläuterung der gleichzeitigen Annahme der moralisch-praktischen Zwecksetzung überhaupt und des praktischen Endzwecks bei
Kant (e) wird der Grundzug der moralisch-praktischen Zwecksetzung und mithin
der Setzung des höchsten Guts, d.i. der Versuch einer Überwindung der Diskrepanz
zwischen Moral und Natur, dargestellt (f).
(a) Die Annahme des höchsten Guts durch die unendliche Maximierung des
Gegenstands der reinen praktischen Vernunft.
Durch die unendliche Maximierung, d.i. Verallgemeinerung und Purifizierung des
Begriffs des Guten als des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft läßt sich
der Begriff des höchsten Guts herstellen, wodurch auch die systematische Vereinheitlichung des einzelnen Guten (cf. 3.2.2.b) vollzogen wird. In der ersten, nicht
eben einleuchtenden Erläuterung637 dieses Begriffs in der KpV setzt Kant ihm zunächst einmal den Begriff eines auf Neigungen und Naturbedürfnis beruhenden,
praktisch Bedingten als Gegenpol entgegen, bei dem als einem Gegenpol sicher
nicht vom Begriff des Guten die Rede ist, da dieses schon durchs Gesetz, und nicht
637
Vgl. KpV, V 108 Z7–9 <A194>: „Sie sucht als reine praktische Vernunft zu dem praktischen
Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte“.
181
mehr primär durch Neigungen und Naturbedürfnisse bestimmt ist. Gegenüber diesem negativ angenommenen Antipol eines Bedingten läßt sich alsdann durch die
Negation dieser Beschränkung, d.i. durch die Abstrahierung von Neigungen und
Naturbedürfnis, die andere unendliche, äußerste Grenze eines begrifflichen Kontinuums, der Pol eines Unbedingten ansetzen, welches nun das höchste Gut heißt.
Der Begriff des einzelnen Guten müßte sich in dieser Erläuterung wohl zwischen
die beiden Pole plazieren. Erst durch diese Plazierung kann man annehmen: Er
wird unendlich maximiert, d.i. purifiziert und verallgemeinert, und dadurch wird
das höchste Gut als das purifizierte verallgemeinerte Maximum des Guten (eine
Vernunftidee), d.i. „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“638 hergestellt. Diese Totalität entpuppt sich, wie unten gezeigt
wird (cf. 3.3.4), als eine Welt.
(b) Philosophische Begründung der Notwendigkeit der Annahme des höchsten
Guts.
Kant scheint für die Notwendigkeit der Annahme des höchsten Guts gegenüber
dem einzelnen Guten, das, wie oben gezeigt (cf. 3.2), aus der Autonomie der
Vernunft ,moralisch-teleologisch‘ angenommen worden ist, kaum ausdrücklich eine philosophische Begründung abgegeben zu haben; diese Annahme dürfte ihm
selbstverständlich vorgekommen sein, weil bereits historisch sowohl die Antiken639
als auch die Christen, aber auch in der Neuzeit vor allem Leibniz (als die beste aller Welten), diesen Begriff aufgestellt haben. Er selbst vergleicht diese Notwendigkeit als moralisches Bedürfnis wohl theologisch mit der Nicht-Verschlossenheit der
Allgenugsamkeit der Gottheit.640 Eine philosophische Begründung ließe sich aber
nach Kant in zwei Punkten, nämlich hinsichtlich der reinen moralischen Intentionalität und des Ursprungs der Radikalität ihrer Reinheit und Spontaneität (Selbständigkeit) wie folgt angeben. (1) Das reine sittliche Denken bringt zwangsläufig das
reine unbedingte Gute als sein Objekt hervor: Denn gesetzt, das Gesetz (das reine
spontane Denken), das, so wie es im zweiten Punkt aufgewiesen wird, an und für
sich sowohl a priori rein und allgemein als auch spontan ist, habe an sich den intentionalen Grundzug der reinen formalen Objektsetzung aus Spontaneität als Selbstvergegenständlichung in äußeren Verhältnissen (cf. 3.2.1.a, 3.2.2.a), d.i. gesetzt, es
solle sich selbst durch die Spontaneität in äußeren Verhältnissen maximal-rein vergegenständlichen und dabei sein Allgemeinheitsprinzip durchsetzen: so muß der
dadurch hervorzubringende Gegenstand desselben als das Gute auch maximal rein
und allgemein sein können, und der heißt hier das höchste Gut. Folglich soll der
reine Wille sich intentional nicht lediglich auf das einzelne Gute, sondern auch
auf die Idee eines höchsten Guts erstrecken und mithin danach streben. Das reine
Denken im Sittlichen hat also die Kompetenz und Nezessität, sich die Idee eines
KpV, V 108 Z11f <A194>.
Vgl. dazu Refl. 6584, XIX 94–96, η (1764–68), die Kants frühe Überzeugung des höchsten Guts
mit Bezug auf die griechischen Schulen zeigt.
640
Vgl. Gemeinspruch, VIII 280 Anm.
638
639
182
höchsten Guts zum Ziel zu setzen. (2) Die Reinheit und Spontaneität des Denkens
im Sittlichen ist radikal: Ein reines Denken, das nur das einzelne Gute in seinem
Gesichtskreis erfaßt und das höchste außer acht läßt, ist für die Moralität nicht rein
und spontan genug. Denn das radikal reine und spontane Denken, das vor sich das
höchste Gut aufstellt, ist exekutiv erst nach der formalistischen Distanzierung von
allen empirischen Bestimmungsgründen der Willkür, durch die Umkehr zu äußeren Verhältnissen der Sinnenwelt, als reine Weisheit641 , die demnach durch das
Nichts des Empirischen hindurchgegangen ist, in der Gesinnung festgehalten worden. Daher ist es so rein, allgemein und spontan, daß es, solange es sich durch seine
Spontaneität auf äußere Verhältnisse der Sinnenwelt wendet, nicht umhinkann, sich
ein unbeschränktes umfassendes Gut zum Ziel seiner Intentionalität und Tätigkeit
zu setzen. Die reine praktische Vernunft also, die formalistisch auf der Fernhaltung
vom Empirischen basiert, bildet durch die Selbstvergegenständlichung eine reine
intellektuelle Ausdehnung auf das höchste Gut. Mit der Objektivierung der Radikalität der Reinheit des sittlichen Denkens als Einräumung der praktisch-objektiven
641
(641) Der Begriff der Weisheit bezieht sich bei Kant auf die Moralität und den Endzweck, die
allererst durch „die Wegräumung der inneren Hindernisse“ möglich werden, im Unterschied zu Geschicklichkeit und Klugheit, die in der Abhängigkeit vom Empirischen verankert sind. Sie ist demnach ein anderer Name des reinen Denkens im Sittlichen. Vgl. dazu Refl. 3643, XVII 172, κ? (1769?):
„Die Erkenntnis des Guten, dessen, was im ganzen gut ist (in aller wirklichen Beziehung), aus der
Idee des Ganzen als ein Grund der Wahl ist Weisheit“; Refl. 3644, XVII 172, µ–υ (1770–78): „Die
Weisheit geht auf das Gute. / Klugheit aufs Nützliche“; Refl. 3645, XVII 173, µ–υ (1770–78): „Das
Vermögen, das Verhältnis aller Dinge* zum höchsten Gute** zu erkennen, ist die Weisheit; zum
Guten in der Erscheinung, Partikularen: die Klugheit (nicht von Gott). / [Nachtrag υ:] Die Angemessenheit der Erkenntnis zum höchsten Gut und dessen Möglichkeit ist entweder bloß theoretisch –
Wissenschaft, oder moralisch: Weisheit. / * [Nachtrag ϕ–χ:] Das Vermögen der Erkenntnis der besten Mittel zu demselben ist Kunstweisheit; das Vermögen der Erkenntnis des Zwecks zugleich mit
dem Willen desselben: die moralische Weisheit. / ** [Nachtrag υ:] Entweder ihm selbst oder dem
abgeleiteten höchsten Gut. Jenes ist der Grund zu diesem, aber nur in dem göttlichen Verstande“ (vgl.
hierzu Theodizee, VIII 263f); Refl. 3646, XVII 173, ξ? (1772?): „Weisheit überhaupt ist die Vollkommenheit der Erkenntnis, sofern sie dem Ganzen aller Zwecke (entweder dem physischen oder
moralischen Ganzen) angemessen ist“; Refl. 3647, XVII 173, υ (1776–78): „Weisheit ist das subjektive principium der Einheit aller Zwecke nach der Vernunft, folglich Glückseligkeit mit Sittlichkeit
vereinigt“ (vgl. hierzu KrV, III 254 Z34f <B385>); Refl. 3651, XVII 175, υ–χ?; Refl. 1482, XV 659,
σ? (1775–77?): „Dreierlei Lehren, 1. die geschickt, 2. die klug, 3. die weise machen: scholastische,
pragmatische und moralische Kenntnis“; Refl. 1502a, XV 800, ω1 (1790–91): „Der Mensch wird
durch die Schule kultiviert (Geschicklichkeit), zivilisiert (Sitten), moralisiert (Tugend). (geschick –
klug – weise.)“ (in der MS wird Tugend als praktische Weisheit bezeichnet; vgl. dazu VI 405 Z28f);
Refl. 1508, XV 820, ψ1−2 (1780–84): „Geschicklichkeit besteht im Wissen und Können. / Klugheit
in der Art, Geschicklichkeit an den Mann zu bringen. / Weisheit* in der Endabsicht, wozu alle Klugheit zuletzt hinausläuft. * den wahren Wert der Dinge zu schätzen“ (vgl. zu dieser Trichotomie auch
Anthr., VII 201); Fried. i.d.Phi., VIII 418: „Weisheit aber ist die Zusammenstimmung des Willens
zum Endzweck (dem höchsten Gut); ... Weisheit für den Menschen [wird] nichts anders als das innere Prinzip des Willens der Befolgung moralischer Gesetze sein“; MS Tugendlehre § 14, VI 441:
„Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründenden Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der
Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu
allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens) und dann
die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens in ihm“; etc.
183
Realität des höchsten Guts nimmt aber die Kantische Überlegung eine objektivierte Thematisierung der religiösen Dimension vor. Bei der notwendigen Annahme
der Idee des höchsten Guts, die aus dem Begriff des Guten durch die unendliche
Maximierung entwickelt worden ist, handelt es sich nämlich um eine unerläßliche
Postulierung der Idee vom Reiche Gottes.
Dieser Versuch einer philosophischen Begründung für die Notwendigkeit der
Annahme des höchsten Guts stellt nur den ersten, ohnehin schon ungenügenden
Ansatz zum Versuch einer Lösung zu der Fragestellung etwa von K. Düsing dar:
Kant „zeigt eigentlich nicht, warum denn der endliche Wille, der nur bestimmte sittliche Zwecke realisieren kann und also nur die Möglichkeit solcher Zwecke
überhaupt erwarten muß, notwendig die Möglichkeit bzw. objektive Realität des
höchsten Gutes insgesamt, d.h. des besten Weltganzen postuliert.“642 Dem Problem der Möglichkeit der objektiven Realität des höchsten Guts und der Postulate
aufgrund der reinen intellektuellen Ausdehnung des moralischen Gesetzes ist unten
weiter nachzugehen (cf. 3.3.1.d und 3.4.0). Düsing zweifelt an der Notwendigkeit
der Annahme des höchsten Guts, weil er nicht zugleich die Relevanz des Formalismus für die Problemlage des höchsten Guts vor Augen hat, nämlich daß das moralische Gesetz erst dadurch subjektiv und exekutiv in der Gesinnung (Kants Ethik
ist im Grunde transzendental-subjektive Gesinnungsethik), demzufolge aber auch
praktisch-objektiv, festgehalten wird, daß praktische Vernunft durch das Nichts
des Empirischen (die Unabhängigkeit vom Empirischen, d.i. die negative Freiheit,
die an sich unbegreiflich ist) hindurchgegangen ist. Die radikale Negation mündet
sodann in die totale Position. Diese ist aber aus Wahrheit643 zustandezubringen,
bei Kant aus der moralischen Gesetzlichkeit. Denn das bloß Empirische (Naturgeschenk, Glück und Zufall) kann zu dieser Totalität nicht zusammenstimmen. Der
durchs Gesetz bestimmte gute Wille, der die Abhängigkeit vom Empirischen radikal abgelegt hat und demzufolge frei ist, erlegt sich, der Wahrheit des Gesetzes
gemäß, notwendig den maximal möglichen allgemeinen Zweck als sein Objekt auf,
indem er als reine praktische Vernunft die reine intellektuelle Ausdehnung zu diesem bildet. Das tut er auch deshalb, weil er sonst seine einzelnen Zwecke nicht insgesamt für moralisch-richtig halten könnte; denn die reine Vernunft als Vermögen
des Unbedingten verlangt auch im praktischen Bereich für ihre Gegenstände eine
unbedingte Totalität, um sie damit in der reinen intellektuellen Ausdehnung dieser
Totalität zu systematisieren und dadurch aufgrund dieser Ausdehnung insgesamt
für moralisch-richtig halten zu können; ohne die Totalität der reinen intellektuellen Ausdehnung auf das höchste Gut würde das einzelne Gute seinen vollen Sinn
verlieren.
Allerdings muß zugegeben werden, daß bei Kant sowohl der gute Wille als
642
Düsing, K., Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien,
Bd. 62, 1971, S. 41.
643
Kant verwendet in der Moralphilosophie das Wort ,Wahrheit‘ nur selten und beiläufig. Vgl. dazu
beispielsweise Refl. 7204, XIX 284 Anm.: „Aus dem Prinzip der Wahrheit“; Refl. 1020, XV 456 ρ?
σ? υ? (1773–75? 1775–77? 1776–78?): „praktische Wahrheit“. Vgl. auch Refl. 6642, XIX 122f, κ?
(1769?), Refl. 6637, 6719.
184
auch das höchste Gut idealistischen Charakter aufweisen. Das hängt wohl damit
zusammen, daß die ursprüngliche Freiheit bei Kant, die negative, an sich unbegreifliche, von der der Entwurf des reinen sittlichen Denkens auf den Endzweck,
mithin die moralisch-praktische Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘
Phase, ausgeht, in ihren Bedeutungen und Zusammenhängen nicht realiter erörtert
ist und daß das Gesetz, von realen Zusammenhängen ferngehalten und mithin in
einer besonderen Konfiguration formalisiert, a limine als kognitives Faktum der
Vernunft angesetzt werden muß.644
(c) Die Verbindung des Begriffs des höchsten Guts mit dem des Endzwecks.
Kant denkt nun bei der Explikation des höchsten Guts den Begriff eines moralischen Endzwecks stets mit und verwendet beide Begriffe, den moralischen Endzweck und das höchste Gut, voneinander untrennbar und austauschbar. Denn der
Begriff eines höchsten Guts läßt sich freilich auch aus dem Konzept eines Zwecks
definieren, weil ja bereits der Begriff eines Gegenstands der reinen praktischen
Vernunft, d.i. des Guten, aus dem er sich entwickelt, wie sich oben ergeben hat
(cf. 3.2), eben in der Perspektive der Zwecksetzung des Willens, der ethischen
Intentionalität desselben, zu determinieren ist. Das höchste Gut ist der maximal
verallgemeinerte und formalisierte, demnach unbedingte Zweck des Willens, der
alle einzelnen Zwecke desselben umfaßt.645
Diesen unbedingten moralischen Zweck als eine objektivierte Vollkommenheit
nun kann sich der durchs Gesetz bestimmte gute Wille als absolute Vollkommenheit (cf. 1.5), durch den nämlich allein das Dasein des Menschen absoluten Wert
haben kann,646 in seinem autonomen ,moralisch-teleologischen‘ Entwurf durch
das reine spontane sittliche Denken der reinen praktischen Vernunft setzen, auf
dem ja jener absolute Wert des menschlichen Daseins letztlich gründet. Er setzt
sich nun aus der Freiheit eines Begehrungsvermögens den absoluten moralischen
Zweck, während er als Mensch zugleich „nicht bloß genießt“, sondern, in eins
damit, daß sein Dasein absoluten Wert hat, „so unabhängig von der Natur zweckmäßig“ ,tut‘, „daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck
sein kann“.647 Daher verbindet sich der Begriff des höchsten Guts als des absoluten
moralischen Zwecks,648 der auf jenem sittlichen reinen Denken, das den absoluten
Wert verleiht, beruht und von dem aus die moralische Zweckmäßigkeit systematisiert werden kann, unabwendbar auch mit dem eines Endzwecks aller Dinge, der
sich auf die physische Teleologie bezieht.649 Den „Begriff von einem Endzweck,
644
Cf. 1.3 & 1.4.
Vgl. z.B. KpV, V 115 <A207>: „[D]as höchste Gut [ist] der notwendige höchste Zweck eines
moralisch bestimmten Willens“.
646
Vgl. dazu KU, V 443 Z10–13 <B412>.
647
KU, V 434 Anm. Z34–36 <B395>. Cf. Fußnote 360 in 2.5.3.
648
Das Wesentliche des Begriffs des „praktischen Endzwecks“ im Gegensatz zur „Zweckmäßigkeit
in der Natur“ (Refl. 8097, XIX 641 Z24, ω2 1792–94) liegt in diesem absoluten moralischen Zweck.
649
Als einen treffenden Satz über die Gleichsetzung des höchsten Guts mit dem Endzweck vgl.
z.B. Fortschritte, XX 204 Z20f: „Dieser Endzweck der reinen praktischen Vernunft ist das höchste
645
185
d.i. dem Unbedingten in der Reihe der Zwecke“ können nämlich „die physischteleologischen Lehren“ selber nicht „an die Hand geben“, sondern er „gilt“ ja erst
„in moralisch-praktischer Rücksicht als unumgänglich“.650 Denn die Moral allein
ist imstande, den erforderlichen absoluten Zweck mitsamt seiner (praktisch-)objektiven Realität zu liefern. Aus dem so festgestellten Endzweck und den ihm untergeordneten, subalternen Zwecken als Mittel zu ihm651 kann dann die ganze systematische Einheit aller wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft aufgebaut
werden, wobei der Endzweck aller Dinge „ein besonderer Beziehungspunkt der
Vereinigung aller Zwecke“652 ist und das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip
befaßt653 . So wird die moralische Teleologie gebildet,654 die a limine mit der physischen zusammenhängt. Der Begriff ,Endzweck‘ ist also primär in der Moralität
verankert und impliziert zugleich die Perspektive auf die physische Teleologie.
(d) Die notwendige Annahme des höchsten Guts (d.i. des Endzwecks) als Gebot des Gesetzes und die Beförderung desselben als Pflicht aus Gesetz.
Mit den bisherigen Darstellungen im letzten (cf. 3.2) und in diesem Kapitel ist die
Notwendigkeit der Annahme des Endzwecks bzw. des höchsten Guts in zwei Argumentationsstufen, nämlich (1) der Stufe der Notwendigkeit der moralisch-praktischen Zwecksetzung überhaupt und (2) der Stufe der Notwendigkeit der unendlichen Maximierung des moralischen Zwecks bzw. des Guten, stringent bewiesen
worden. Die Notwendigkeit der Annahme des höchsten Guts als eines Gegenstands
des reinen Denkens im Sittlichen ist demnach das Gebot des moralischen Gesetzes, in dem auch die Pflicht, das höchste Gut zu befördern, verankert ist.655 Sofern
Gut, sofern es in der Welt möglich ist“; aber auch KU, V 450 <B423>: „[E]s [sc. das moralische
Gesetz] bestimmt uns doch auch und zwar a priori einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns
verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt.“ Es erhellt
freilich aus der jeweiligen Umgebung, in der diese Formulierungen stehen, daß der Endzweck sich
auch auf die physische Teleologie bezieht.
650
Fortschritte, XX 294 Z10–19. Vgl. dazu z.E. auch KU, V 454 <B430f>: „Nun finden wir aber
in der Welt zwar Zwecke: und die physische Teleologie stellt sie in solchem Maße dar, daß, wenn
wir der Vernunft gemäß urteilen, wir zum Prinzip der Nachforschung der Natur zuletzt anzunehmen
Grund haben, daß in der Natur gar nichts ohne Zweck sei; allein den Endzweck der Natur suchen wir
in ihr selbst vergeblich. Dieser kann und muß daher, so wie die Idee davon nur in der Vernunft liegt,
selbst seiner objektiven Möglichkeit nach nur in vernünftigen Wesen gesucht werden. Die praktische
Vernunft der letzteren aber gibt diesen Endzweck nicht allein an, sondern bestimmt auch diesen
Begriff in Ansehung der Bedingungen, unter welchen ein Endzweck der Schöpfung allein von uns
gedacht werden kann.“ Vgl. auch KU, V 447 Z27–32 <B419>.
651
Vgl. z.B. KrV, III 543 <B868>.
652
Rel., VI 5 Z24f <BVIII>.
653
Vgl. Gemeinspruch, VIII 280 Z17f.
654
Zur moralischen Teleologie vgl. zunächst KU, V 444 <B414>, 447f <B419f>, 480f <B476>;
Fortschritte XX 307. Sie und ihr Zusammenhang mit der physischen Teleologie können in der vorliegenden Arbeit nicht weiter erörtert werden.
655
Vgl. KpV, V 129 Z30–32 <A238>: „Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche
Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstand alles Verhaltens zu machen“. Vgl. auch V 134 Z17f
<A242>; 125 Z25 <A226>; 122 Z4f <A219>; vgl. auch V 64 Z30–34 <A113f>; 142 Z18–21,
Z25–27; 124 Z17–19 <A224>.
186
das moralische Gesetz praktisch-objektiv gilt, insofern hat auch das höchste Gut
objektive Realität. (Cf. 3.4.0.)
(e) Die gleichzeitige Annahme des Begriffs einer moralisch-praktischen Zwecksetzung und eines Endzwecks.
Kant argumentiert für die Notwendigkeit der moralisch-praktischen Zwecksetzung
und die der Annahme des Endzwecks gleichzeitig in einem Zug.656 Die Argumentation für den Endzweck wird ausgeführt, ohne dem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ausdrücklich einen Zweckbegriff einzuräumen. Der Grund dafür
besteht vermutlich darin, daß es dem Rechtschaffenen ein besonderes Anliegen ist,
was aus seinem Rechthandeln endgültig herauskommt, während für ihn die jeweilige Erfüllung der partikularen Pflichten als der einzelnen Zwecke in seinem reinen
Bewußtsein irgendwie eine selbstverständliche Sache ist; der Zweckbegriff in den
Pflichten scheint ihm dementsprechend bei ihrer Erfüllung nicht extra bewußt zu
sein (cf. den 1. Absatz von 3.2.4).
(f) Der Einsatz des höchsten Guts bzw. des Endzwecks als Überwindungsversuch der Diskrepanz zwischen Moral und Natur.
Der Einsatz des höchsten Guts als Endzweck hängt mit dem Versuch zusammen,
die wesentliche Diskrepanz zwischen dem reinen sittlichen Denken und der sinnlichen Natur zu überwinden. Der Überwindungsversuch, der bereits bei der Genese
des Guten als Pflichten angesetzt hat, war so unzureichend, daß Kant ihn wieder
und diesmal endgültig mit Hilfe einer unendlichen Idee des Endzwecks bzw. des
höchsten Guts, die noch die oberste Weltursache notwendig postulieren muß, zur
Vollendung zu bringen versucht, wenn diese auch nur in der Hoffnung gesichert
werden mag. Die Eigentümlichkeit des Kantischen Lösungsversuchs der Diskrepanz zwischen sinnlicher Natur und reinem sittlichem Denken besteht darin, daß
er nicht am Ursprung der Moralität (negative Freiheit bzw. das Nichts des Empirischen) ansetzt, aus dem das letztere, das reine sittliche Denken, von der Naturkausalität getrennt entsteht – ohne dabei explizit einen neuen Natur- bzw. Weltbegriff
zu gründen, der die Genese desselben erklären könnte –, sondern erst in der Folge
der Moralität auf der objektivierten Dimension nach einer Idee teleologisch unternommen wird. Denn der Ursprung ist für Kant unerforschlich; folglich läßt sich in
der Realität die Diskrepanz prinzipiell nicht auflösen. Bei den Menschen bleibt nur
der unendliche Fortschritt zu einer idealistisch vorgestellten Einheit von Denken
und Natur übrig. (Cf. 3.4.2.c).
656
Vgl. Rel., VI 5 <BVII>, 7 Anm. <BXII>. Cf. den 3. Absatz von 3.2.4.
187
3.3.2 Über die Notwendigkeit der Annahme der Tugend und Glückseligkeit als Momente des höchsten Guts.
(a) Die beiden Momente des höchsten Guts: Tugend und Glückseligkeit.
Kant gibt als die konstitutiven Momente des formal eingeräumten höchsten Guts
nur Tugend (moralische Gesinnung, subjektive Sittlichkeit) und Glückseligkeit an.657
Es versteht sich wohl von selbst, daß die Tugend zum Element des höchsten Guts
als des Endzwecks des Willens eines endlichen menschlichen Vernunftwesens qualifiziert ist, weil dieses sich angesichts seiner realen „Seelenschwäche“658 , d.h. des
menschlichen Hangs zu Übertretung des Gesetzes, Unlauterkeit und Gebrechlichkeit, dazu veranlaßt sieht, das reine Denken im Sittlichen, die Aktualität des moralischen Gesetzes, in seiner Gesinnung uneingeschränkt durchzusetzen. Die Qualifizierung der Tugend zum Element des höchsten Guts ist darin fundiert, daß der
formale Selbstentwurf des reinen sittlichen Denkens auf die teleologisch objektivierte Dimension (das höchste Gut) dazu bestimmt ist, dieses Denken real und
materialiter in der subjektiven Gesinnung des auch sinnlich affizierten Willens eines endlichen Vernunftwesens zu verwirklichen, selbst wenn diese Verwirklichung
erst durch endlose Anstrengung möglich sein mag (cf. 3.4.1.a).
Warum aber das Moment der Glückseligkeit als des Zustandes eines Vernunftwesens in der Sinnnenwelt, dem „alles nach Wunsch und Willen geht“,659 für den
Begriff des moralisch höchsten Guts unentbehrlich sein soll, ist im Vergleich mit
dem Moment der Tugend nicht sofort klar. Ihre Unentbehrlichkeit geht nicht unmittelbar aus dem formalen Prinzip der Moralität hervor. Der Anspruch der Glückseligkeit, ein konstitutives Moment fürs höchste Gut zu sein, beruht auf der ausbalancierten Einsicht Kants in die menschliche Realität, nämlich darauf, daß er
im Gegensatz zur Stoa die menschliche Schwäche an sinnlichen Bedingungen, die
Stimme der eigenen Natur des Menschen, als für den realen Vollzug der Moralität
unignorierbar ansieht.660 Wenngleich nämlich die formale Sittlichkeit, die sich nur
formalistisch durch Abstrahieren von materialen Bestimmungsgründen des Willens nachweisen läßt, im Zuge dieser formalistischen Grundlegung zunächst den
materialen Neigungen der Sinnlichkeit, somit auch der Glückseligkeit, entgegenVgl. dazu beispielsweise Refl. 6584, XIX 95, η (1764–68): „Die Glückseligkeit und das Gute,
Sittlichkeit, machen zusammen summum bonum aus.“ Auch die Reflexion über das höchste Gut
gehört bei Kant schon zur früheren Periode.
658
KpV, V 127 Anm. Z26 <A229>.
659
Vgl. KpV, V 124 Z21–23 <A224>.
660
Vgl. dazu KpV, V 127 Z13–16 <A229>: „[I]ndem sie [sc. die Stoiker] es [sc. das zweite Element
des höchsten Guts, eigene Glückseligkeit] bloß im Handeln und der Zufriedenheit mit seinem persönlichen Werte setzten und also im Bewußtsein der sittlichen Denkungsart mit einschlossen, worin
sie aber durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinreichend hätten widerlegt werden können.“ (Kant
räumt aber diese analytische Genese der Glückseligkeit aus Tugend als Selbstzufriedenheit bei der
Stoa, wie unten betrachtet wird, wohl nicht als das Ziel des Willens, jedoch im jeweiligen Progressus
der menschlichen Handlung als Analogon der Glückseligkeit bzw. moralische Glückseligkeit ein.)
Vgl. auch KpV, V 25 Z12–15 <A45>, 110 Z27–31 <A199>; KU, V 449 Anm. Z25–29 <B422>,
V 452 Z22–30 <B428>; Rel., VI 135 Z2–4 <B203>: „... weil eine gänzliche Verzichtung auf das
Physische der Glückseligkeit dem Menschen, solange er existiert, nicht zugemutet werden kann“.
657
188
gesetzt wird, so schließt sie doch in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase, in der
sie in Richtung auf die Sinnenwelt thematisiert wird, die Glückseligkeit der endlichen Vernunftwesen überhaupt, die zwar nicht eigennützig ist, die aber auch die
Erfüllung der Bedürfnisse der Neigungen involviert, von ihrem Endzweck nicht
aus;661 die Glückseligkeit im allgemeinen ist das vom Begriff der Pflicht Bedingte
aller Zwecke, und ihre Förderung dementsprechend eine Pflicht. Selbst die Maxime, für die eigene Glückseligkeit zu sorgen, ist unter einem gewissen Aspekt
sogar indirekt Pflicht, weil einerseits ihr Mangel den Willen zur Übertretung der
Pflichten verführen, ihre Vorhandenheit auf der anderen Seite ihm zur Erfüllung
derselben verhelfen kann.662 Daher läßt sich annehmen, daß die je eigene Glückseligkeit auch im höchsten Gut mitenthalten sein muß,663 obwohl sie freilich durchs
Gesetz streng eingeschränkt664 bzw. zugleich auch auf die Glückseligkeit anderer
erweitert sein665 soll. Diese Anerkennung der Glückseligkeit als sittliches Element
basiert aber letztlich auf der religiösen Einsicht, daß Neigungen, an sich selbst
betrachtet, gut, d.i. nicht verwerflich sind, und daß das Sittlich-Böse und mithin
die ethische Gefahr vielmehr in der menschlichen Gesinnung selbst liegen.666 Daher muß der Hang zum Bösen in der Gesinnung ständig bekämpft werden, und
die Sittlichkeit als Moment des höchsten Guts muß demnach die Tugend, d.i. die
Gesinnung im Kampfe sein; die Glückseligkeit aber ist einzuräumen, solange die
Gesinnung gut ist.
Die Glückseligkeit im höchsten Gut ist nicht die im Naturverlauf zufällig bewirkte, sondern die durch Sittlichkeit zuwegezubringende, wahre (cf. 2.4.2 u. 2.6.2.a).
Sie darf bei Kant nicht zufällig, sondern muß notwendig hervorgebracht werden;
sonst wäre sie nicht wahr.
(b) Heiligkeit und Seligkeit als christliche, superlative Bestandstücke des höchsten Guts.
Die beiden Momente des höchsten Guts, Tugend (Sittlichkeit) und Glückseligkeit,
wenn sie gemäß dessen Grundbestimmung unendlich maximiert werden, heißen
661
Die allgemeine Glückseligkeit kann wohl der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sein,
jedoch nicht einmal zum Gesetz der Moralität befördert werden. Vgl. dazu KpV, V 36 <A63>: „Das
Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des
Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objekt machte.“
Kant denkt hier übrigens hauptsächlich in der kognitiv-formalistischen Phase der Grundlegung und
noch nicht unter der Dominanz der ,moralisch-teleologischen‘. Der Satz kann also nicht für das Argument gegen das höchste Gut als den Bestimmungsgrund des Willens (Vgl. KpV, V 109f) verwendet
werden. Die Differenzierung der Kantischen Grundlegung der Ethik in die formalistische und die
,moralisch-teleologische‘ Phase dient auch hier zum klaren Verständnis des Textes.
662
Vgl. dazu KpV, V 93 Z11–21 <A166f>, GMS, IV 399 Z3–26 <B11–13>, MS, VI 386 Z1–7,
388 Z17–30, Rel., VI 6 Anm. Z32f <BXI>.
663
Vgl. KpV, V 130 Z1 <A234>.
664
Vgl. KpV, V 130 Z2f <A234>.
665
Vgl. KpV, V 34f <A61>.
666
Vgl. dazu z.B. Rel., VI 57 Z18 – 58 Z8 <B68–70>, 58 Anm. Z26–31 <B69>, 34 Z18 – 35 Z9
<B31>.
189
Heiligkeit und Seligkeit,667 aus denen es in seinem äußersten Grad zusammengesetzt wird.
Die Heiligkeit als das eine äußerste Bestandstück des höchsten Guts ist in der
Religionsschrift die Idee von Jesus Christus als Inbegriff der moralischen Vollkommenheit. Die Annehmbarkeit („Realität“) dieser Idee ist „in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft“ verankert. Wir müssen ihr gemäß sein können, weil wir es
sein sollen. Denn das Gesetz gebietet unbedingt. Wenn ihre Möglichkeit bezweifelt
würde, so würde auch das Gesetz selbst Bedenken unterliegen.668 Die Explikation
in der Religionsschrift stimmt mit der Erläuterung zur Tugend als einem Element
des höchsten Guts in der KpV zusammen.
Während nun Heiligkeit, die dem endlichen Vernunftwesen zu Richtschnur und
Urbild seines Verhaltens in diesem Leben dient, ihm als solche stets präsent ist, ist
Seligkeit ein unerreichbarer indirekter Gegenstand der Hoffnung in der Ferne.669
Sie ist für das endliche Vernunftwesen zu fern, zumal sie erst durch eine auch an
sich schon schwierige Erlangung der Heiligkeit mittelbar zu realisieren ist. Im realen Progressus des endlichen Vernunftwesens, bei dem es ihm in erster Linie um
Konsolidierung und Verbesserung (allmähliche Reform) seiner moralischen Gesinnung (Tugend) geht, ist diesseitige Glückseligkeit kein vordringliches Anliegen,
und auch die Glückseligkeit im Jenseits, die sich sozusagen nur als ein Begleiteffekt der erlangten Tugendgesinnung einstellt, wird nicht uneingeschränkt erwartet.
So wird das höchste Gut, das nach seiner Grunddeterminierung als unendliches
Maximum aus Heiligkeit und Seligkeit bestehen soll, doch in endliche Form relativiert und nur als dasjenige Ganze charakterisiert, „worin die größte Glückseligkeit
mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit als in
der genausten Proportion verbunden vorgestellt wird“670 .
(c) Die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts bezieht sich auf die
physische Zufriedenheit.
Wie man unten sehen wird (cf. 3.5), bezieht sich die Glückseligkeit als Element
des höchsten Guts auf die physische Zufriedenheit des Menschen; diese soll als
Element des höchsten Guts durch die Tugendgesinnung notwendig hervorgebracht
werden, kann aber nicht in diesem Leben, sondern erst im Jenseits, im Reich Gottes, als Aussicht auch des kummervollsten Lebens in die Zukunft, erwartet werden.
Das aber, was im Jenseits der diesseitigen Glückseligkeit entspricht – es mag Seligkeit genannt werden –, könnte doch für sich nicht mehr physisch sein. Im Diesseits
nun nimmt die moralische Gesinnung eines endlichen Vernunftwesens bloß alle
Leiden und Übel des Lebens auf sich; sie trachtet nur nach der Heiligkeit, ohne
Zu Heiligkeit und Seligkeit vgl. zunächst KpV, V 122 Z9–12 <A220>, V 123 Anm. Z35–39
<A222>.
668
Rel., VI 62 Z12–25 <B76f>. Zum letzten Satz cf. 3.4.2.b.
669
Vgl. KpV, V 128 Z25 – 129 Z7 <A232>. Vgl. auch KpV, V 25 <A45>: „eine Seligkeit, welche
ein Bewußtsein seiner [sc. des vernünftigen aber endlichen Wesens] unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde“.
670
KpV, V 129 Z35–37 <A233f>.
667
190
dabei besonders die physische Glückseligkeit in diesem Leben zu erwarten. Doch
schon im ununterbrochenen, bloßen Vorwärtsgehen, das Leiden und Übel erträgt,
steckt noch eine andere Art der Glückseligkeit, die Selbstzufriedenheit der Gesinnung, die aus den dem Gesetz angemessenen moralischen Handlungen entsteht;
diese moralische Glückseligkeit im Diesseits (cf. 3.5.a) aber hat Kant in der KpV
als Analogon der Glückseligkeit gekennzeichnet und nicht zum höchsten Gut gezählt.
3.3.3 Die ethische Geisteslage als die intellektuelle intentionale Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens zum Endzweck: Zur Lösung des
Problems des höchsten Guts als des Bestimmungsgrunds des Willens.
Als Bestimmungsgrund des reinen Willens gilt allein das moralische Gesetz, und
nicht das höchste Gut, das erst durch seine Erweiterung zustandegebracht wird.
Kant sagt aber, daß auch das letztere ihn bestimmen kann. Wie kann man diesen
Widerspruch auflösen? Die Erweiterung des Gesetzes, wodurch das höchste Gut
zuwegegebracht wird, setzt stillschweigend eine intelligible Ordnung voraus, in
der mit den Worten der „Reflexionen“ die Zusammenstimmung des freien Willens
mit den Gesetzen als mit Zwecken stattfinden kann. Sie umfaßt als Weltbegriff den
reinen Willen und kann demzufolge als fähig gelten, für das ihn bestimmende, exekutive Prinzip der Moral zu sorgen. Sowohl das Gesetz als auch das höchste Gut gehören in diese intelligible Ordnung als systematische Einheit aller Zwecke. Daher
kann auch das letztere die Kraft haben, den Willen zu bestimmen. Jedoch vermag
das erkenntniskritische Verfahren der beiden Grundlegungsschriften, das vom Begriff der Pflicht bzw. vom Gesetz als Faktum der Vernunft ausgeht, nicht sofort und
explizit diese essentielle intelligible Ordnung zu antizipieren, die erst aufgrund des
praktischen Endzwecks durch die moralische Teleologie zu konstituieren ist. Eine
Lösung dieser Schwierigkeit könnte sich darin finden, die Erweiterung des Gesetzes zum Endzweck als eine homogene Ausdehnung der Gesetzlichkeit zwischen
beiden, m.a.W., als die feldtheoretische Geisteslage eines Handlungssubjekts auszulegen, die noch vom Gesetz her betrachtet wird, der aber die intelligible Ordnung unmittelbar zugrundeliegt, und ihr als Ausdehnung die exekutive Kompetenz
zu geben, den Willen zu bestimmen.
(a) Das höchste Gut ist kein Bestimmungsgrund des Willens.
Das höchste Gut, das als die Spitze der Zielhierarchie des reinen Willens im System
des Guten im allgemeinen durch zwei Verfahren hergestellt wird, nämlich (1) durch
die Vergegenständlichung des reinen Denkens im Sittlichen, d.i. der Aktualität des
moralischen Gesetzes, und (2) durch die unendliche Maximierung des durch das
erste Verfahren zustandegebrachten Guten im allgemeinen, ist demnach „der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft, d.i. eines reinen Willens“, und
nicht der „Bestimmungsgrund desselben [sc. des reinen Willens]“; „das moralische Gesetz muß allein als der Grund angesehen werden, jenes [sc. das höchste
191
Gut] und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum Objekte zu machen.“671
Denn es würde unvermeidlich nur „Heteronomie herbeibringen“ und das eigentliche moralische Prinzip verdrängen, nicht nur das höchste Gut, sondern auch schon
das Gute im allgemeinen als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft zum Bestimmungsgrund des Willens zu machen und daraus das oberste praktische Prinzip
abzuleiten; was bereits in der Analytik der KpV hinreichend nachgewiesen worden
ist.672 Aus diesem Verweis Kants auf die Analytik erhellt nun auch in umgekehrter
Weise, daß das höchste Gut nichts als ein unter dem Aspekt des Endzwecks des
reinen Willens betrachteter Sonderfall des Guten im allgemeinen als des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft ist, das sich in Maximen und Handlungen,
oder in konkreten Pflichten artikuliert und das lediglich Folge aus der Intentionalität des reinen Willens aufgrund des moralischen Gesetzes bzw. des Begriffs der
Pflicht ist.673 Es ist in der Analytik hinreichend begründet worden, daß der Begriff
des Guten und Bösen nicht der Bestimmungsgrund des Willens sein kann. Also
kann auch der Endzweck bzw. das höchste Gut nicht der Grund der Pflicht sein,674
und die „Idee [eines höchsten Guts] geht aus der Moral hervor und ist nicht die
Grundlage derselben; [sondern] ein Zweck, welchen sich zu machen, schon sittliche Grundsätze voraussetzt.“675 Folglich kann „die Lehre vom höchsten Gut“
„bei der Frage vom Prinzip der Moral“ „(als episodisch) ganz übergangen und beiseitegesetzt werden“.676 Der Satz aber enunciert nur: Bei der Konstatierung des
Moralprinzips als des formalen Gesetzes in der formalistischen Phase der Grundlegung der Ethik läßt sich die ,moralisch-teleologische‘ architektonische Problematik, nämlich die Frage nach dem höchsten Gut, noch nicht stellen.
Für H. Cohen aber legt dieser Satz Kants „die Ablehnung des ganzen Gedankens vom höchsten Gut als Konsequenz der Kantischen Ethik“ nahe.677 Die Auslegung Cohens, die mit Hilfe dieses von ihm mißverstandenen Satzes Kants Gedanken über das höchste Gut bestreiten will, ergibt sich daraus, daß er die Ethik Kants
vorwiegend auf den Formalismus und das diesen ermöglichende formalistische
Verfahren beschränkt und ihre andere Hälfte, die moralisch-praktische Zwecksetzung, als die ,moralisch-teleologische‘ architektonische Phase ihrer Grundlegung, nicht ernsthaft in Betracht zieht, sondern beide Phasen derselben nur als Widerspruch begreift. Daß Formalismus und formalistisches Verfahren erst zu jener
KpV, V 109 Z21–25 <A196>.
Vgl. KpV, V 109 Z28–33 <A197>. Bei der diesbezüglichen Textstelle in der Analytik der
KpV handelt es sich um die Argumentation über das methodische Paradoxon der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. V 63–65 <A110–114>). Das Wort ,Heteronomie‘ findet sich hier in V 64 Z18
<A113>.
673
Daher wird auch im Gegenstand-Kapitel auf das höchste Gut und den Dialektik-Teil hingewiesen. Vgl. dazu KpV, V 64 25–34 <A113f>. Cf. 3.2.0 (Fußnote 563).
674
Vgl. KU, V 471 Anm. Z9–12 <B461>.
675
Rel., VI 5 Z19–21 <BVIII>.
676
Gemeinspruch, VIII 280 Z5–8.
677
Cohen, H., Kants Begründung der Ethik, Berlin 2 1910, S. 352: „Es ist demnach nun Behauptung
und Festhaltung von Kants Grundgedanken, wenn hier die Ablehnung des ganzen Gedankens vom
höchsten Gut als Konsequenz der Kantischen Ethik vertreten wird.“
671
672
192
,moralisch-teleologischen‘ Systembildung der Ethik in bezug auf den Endzweck,
die Kants Hauptanliegen in seiner langjährigen moralphilosophischen Entwicklung
ausmacht, benötigt werden und daß die ausdrückliche Einführung des formalistischen Verfahrens in die Begründung des zur ,moralisch-teleologischen‘ Phase angesetzten Formalismus eher zur späten Phase der ethischen Überlegungen Kants
gehört (und erst im Grundsätze-Kapitel der Analytik der KpV ausdrücklich und
zusammenfassend formuliert wird), läßt sich leicht aus der Übersicht der gesamten Entwicklung seiner ethischen Überlegungen ersehen; eine solche aber kann
erst durch die Untersuchung der zur Zeit Cohens nicht zugänglichen moralphilosophischen „Reflexionen“ erworben werden. Darüber hinaus ist der ethische Formalismus, der für die moralische Willensbestimmung jede Materie (Objekte) außer
Kraft setzt, in der Geschichte der Philosophie sicher die Errungenschaft und Eigenart der Kantischen Ethik. Wohl aus beiden Gründen beschränkt sich Cohen auf
den Formalismus, der sich auf das formalistische Verfahren einer Abstrahierung
von der Materie gründet, und schätzt die eigentümliche Bedeutung der moralischpraktische Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘ architektonischen Phase der Grundlegung der Ethik relativ niedrig ein, in der der Wille vom festgehaltenen formalen Moralprinzip ausgehend sich auf die Materie (intellektuelle Objekte)
richtet, um somit für Ethik konstitutive Zwecke zu bilden. Er konnte daher Differenz und Zusammenbestehen von formalistischer und ,moralisch-teleologischer‘
Phase der Kantischen Ethik, die für diese wesentlich sind, nicht zum Prinzip seiner
Auslegung machen. (Cf. 3.4.2.b).
(b) Das höchste Gut ist doch der Bestimmungsgrund des Willens: die intentionale Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens zum Endzweck.
Nun kann aber das höchste Gut auch der Bestimmungsgrund des reinen Willens
sein.678 Diese Erwägung relativiert die obige primäre Determination, wonach es
ein bloßer Gegenstand des Willens sei. Der Grund, warum es trotz dieser Determination auch als den Willen bestimmend zu verstehen ist, liegt darin, daß in ihm
„das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist“.679
Die Involvierung des moralischen Gesetzes im höchsten Gut als dessen oberste
Bedingung, demnach als Tugend, welche allgemeine Glückseligkeit möglich machen kann, resultiert aus der Selbstvergegenständlichung des reinen Denkens im
Sittlichen angesichts der strukturellen Endlichkeit des menschlichen Daseins, nach
der der menschliche Wille auf irgendeine Objektivität gehen muß, und bezeugt
damit auch als die durch den Grundakt der Selbstvergegenständlichung geformte Teilstruktur diesen Grundakt der reinen praktischen Vernunft selbst. Der ganze
Zusammenhang ließe sich durch folgende Interpretationsversuche explizieren:
(1) Die Setzung eines Zwecks als finis in consequentiam veniens durch reine
Vgl. KpV, V 109f <A197>: „... daß ... das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein
Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei“.
679
KpV, V 109 Z34–36 <A197>.
678
193
praktische Vernunft heißt, daß das reine sittliche Denken sich selbst vergegenständlicht, was den elementaren Entwurf zur moralischen Teleologie ausmacht. Zugleich
mit dieser Selbstvergegenständlichung des Denkens wird nun zwischen dem diesen Akt ausübenden reinen Willen als Kausalität aus Vernunft und dem dadurch
hingestellten Objekt, dem höchsten Gut, intentional eine intellektuelle homogene
Ausdehnung des Bewußtseins (eine Geisteslage) gebildet, in der, weil sie aus homogener reiner Gesetzlichkeit besteht, überall, demnach auch sowohl beim Willen
als auch beim höchsten Gut, dasselbe moralische Gesetz als Formel dieser Gesetzlichkeit angetroffen werden kann. D.h.: Die Form des Gesetzes überspannt und
bestimmt intellektuell die ganze Materie der Willensbestimmung in der menschlichen Praxis und bildet dadurch eine intellektuelle Ausdehnung über die ganze Materie. Einen moralischen Zweck realisieren heißt in dieser Geisteslage eine Pflicht
aufgrund des Gesetzes erfüllen, wobei dieses als Form auch in jenem enthalten ist.
Ohne diese intellektuelle Ausdehnung könnte der menschliche Wille keinerlei konstitutiv orientierten Schritt zu moralischen Handlungen tun, weil sie sein Spielraum
für diese ist. Sie wird aber von Kant entweder bloß formelhaft als Gesetz bezeichnet, weil damals keine Idee der Feldtheorie wie heute680 entwickelt war, oder, der
Wolffschen Tradition gemäß psychologisiert und als „das Selbstbewußtsein einer
reinen praktischen Vernunft“ genannt, das mit dem Gesetz und zugleich auch mit
dem Bewußtsein einer positiven Freiheit identisch ist.681
(2) Die Notwendigkeit der Selbstvergegenständlichung des reinen sittlichen
Denkens (des Gesetzes) in der maximierten Form, der Setzung des höchsten Guts
(hier der Heiligkeit) als Endzweck des Willens, rührt zunächst daher, daß dadurch
der Mensch es im voraus darauf absehen kann, was durch seine moralischen Handlungen erreicht werden soll; er sucht die letzte Einheit der Folgen aus allen seinen
moralischen Handlungen zur Sinngebung für sein endliches Leben, und sie ist für
ihn primär die Idee der moralischen Vollkommenheit. Das bedeutet aber, daß jene
Notwendigkeit in der Endlichkeit des arbitrium liberum humanum verankert ist,
das auch sinnlich affiziert wird und demnach nicht vollauf dem heiligen moralischen Gesetz folgen kann; der auch sinnlich affizierbare reine Wille des endlichen
Vernunftwesens stellt sein ausdrückliches Strebungsziel in der Idee der vollständigen Angemessenheit mit dem Gesetz, der Heiligkeit (moralische Vollkommenheit),
680
Die Feldtheorie in der theoretischen Physik ist allgemein bekannt. Auch die Markt-Theorie in
der Micro Economic Theory läßt sich als eine Feldtheorie ansehen. Ebenso wird im philosophischen
Bereich verschiedentlich eine Feldtheorie versucht. Dazu trägt in europäischen Wissenschaften der
Fortschritt der Psychologie wesentlich bei, die sich zur Zeit Kants noch in primitivem Zustand befand. Bei der intellektuellen Ausdehnung des Gesetzes, die hier in die Interpretation der Kantischen
Ethik eingeführt wird, handelt es sich um einen Zustand des moralischen Geistes, eine moralische
Geisteslage, die aber nicht im subjektiven Bewußtsein verkapselt ist. Ebenso wie bei der Feldtheorie
in Physik und Wirtschaftswissenschaft das Feld durch mathematische Formeln dargestellt werden
kann, ebenso kann sich das ethische Feld auch durch moralische Grundsätze und deren Formeln
artikulieren.
681
Vgl. KpV, V 29 Z25–28 <A52>. Beim „Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft“
hat man es zunächst mit der Aktualität des moralischen Gesetzes, des reinen Denkens im Sittlichen,
zu tun; dieses Bewußtsein wird in unseren Interpretationsversuchen als Ausdehnung des sittlichen
Geistes begriffen.
194
auf, welche als Endzweck objektiviert und hingestellt wird. Diese Notwendigkeit
der Objektivierung des reinen sittlichen Denkens ist nun aber ein anderer Name für
die intellektuelle Ausdehnung zwischen freiem Willen und Endzweck, deren Medium dieses selbst ist. Das Ethos der Kantischen Ethik liegt in dieser Ausdehnung
der Freiheit zum Endzweck.
Dieser praktisch-realen Ausdehnung der reinen Gesetzlichkeit in der moralischpraktischen Zwecksetzung als der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung wird die Idee einer intelligiblen Welt unmittelbar zugrundegelegt, die aus der
ontotheologischen Überlieferung stammt und dementsprechend an sich transzendental-objektiv ist, die aber in Kants ethischen Überlegungen stets latent unterstellt
wird. Sie wird zuerst in der kognitiv-formalistischen Phase durch negative Freiheit
bloß als ein anderer Standpunkt außer der Sinnenwelt angenommen, dann aber in
der ,moralisch-teleologischen‘ Phase praktisch-real entworfen und durch mehrere
Eigenschaften charakterisiert. Aus ihr geht nach der immer noch in gewisser Hinsicht gültigen Übergangslehre von der Triebfeder (cf. 2.7.2) auch die Triebfeder
zur moralischen Handlung hervor; jene wird aber in der Postulatenlehre, die mit
der in der KpV neu determinierten Triebfeder-Lehre zusammengeht, objektiviert
und stellt sich als das höchsten Gut vor.
(3) Während nun diese Ausdehnung (Geisteslage) selber, in der und durch die
der menschliche Wille sich vorwärts bewegt und nach dem höchsten Gut strebt und
die an sich über die zwingende Kraft für die Bestimmung dieses Willens verfügt,
unscheinbar ist, ist das zu ihr gehörende höchste Gut, das als Zweck objektivierte
reine sittliche Denken, wie eben erläutert, für den endlichen Willen ein deutlich
zu erkennendes Anstrebungsziel, ebenso wie das moralische Gesetz als Formel
desselben Denkens in der Ausdehnung das kognitiv Frühere, demnach auch leicht
erkennbar ist. Sofern also die Ausdehnung des Gesetzes (die Geisteslage) an und
für sich den Willen bestimmt und sofern das Gesetz als Faktum der Vernunft sowie
das Gesetz im höchsten Gut sozusagen seine Exponate sind, insofern kann das
Gesetz im höchsten Gut und mithin dieses selbst ebenso der Bestimmungsgrund
des Willens sein, nach welchem er als Richtschnur streben kann, wie das Gesetz
als Ursprung der moralischen Intentionalität unmittelbar den Willen bestimmt.
(4) Wenn man aber das Kantische Gesetz unbedacht als die substantialisierte
Formel, die irgendwo in einem abstrakten Denkraum schwebt, d. h. als Buchstaben nimmt (und nicht als Geist begreift) und nur darin den Bestimmungsgrund des
Willens sieht (da es aber beim formalen Gesetz darauf ankommt, daß es nicht materiell ist, d.h. nicht zu den empirischen Gründen gezählt wird, so darf es in seiner
Aktualität nie wie ein empirischer Grund substantialisiert werden; Kant denkt das
Gesetz meistens in seiner Aktualität, d.h. in Verbindung mit der positiven Freiheit,
und räumt der letzteren in bezug auf die Begriffe des Guten und Bösen, wobei es
sich um das reine sittliche Denken, die Aktualität des Gesetzes, in ihrer Objektivierungsmöglichkeit handelt, die Kategorie der Kausalität ein und nicht die der
Substanz682 ), d.h. wenn man nicht innewird, daß das, was Kant mit dem morali682
Vgl. dazu KpV, V 65–67 <A114–119>.
195
schen Gesetz als synthetischem Satz a priori meint, nicht nur das principium diiudicationis, sondern auch das principium executionis moralis, nämlich ursprünglich
die Aktualität des Gesetzes (das reine Denken im Sittlichen) ist und daß es in der
,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung um die vektorartige Intentionalität dieses reinen sittlichen Denkens geht, die jene intellektuelle Ausdehnung (die
Geisteslage) bildet, die an sich und direkt für die Willensbestimmung zuständig
ist, so kann man niemals verstehen, warum das höchste Gut, dessen Synonym der
Endzweck ist und das erst aus dem Moment einer Folge der Willensbestimmung
geformt wird, doch auch der Bestimmungsgrund des Willens sein kann. Sollten die
formelhaften Buchstaben alleine den Willen bestimmen, so würde kein lebendiger
Geist des Gesetzes (die intellektuelle Ausdehnung als Geisteslage, der die intelligible Welt als Idee des Orts der moralischen Handlungen zugrundeliegt), geschweige
denn das höchste Gut in dieser Geisteslage, ihn bestimmen können.
(5) Beim Gesetz handelt es sich um die reine Aktualität des sittlichen Denkens,
die sich von jenem anderen Standort aus auf die Sinnenwelt auswirkt und die dadurch die intellektuelle Ausdehnung für den Willen bildet. Sie wird in der Ausdehnung der Intentionalität des reinen sittlichen Denkens angesichts der Endlichkeit
des menschlichen Willens vergegenständlicht und wird somit zum Endzweck. Das
höchste Gut, in dem das Gesetz situiert ist, ist die wegen dieser Endlichkeit in der
Geisteslage vergegenständlichte, zum Zweck gewordene Aktualität des Gesetzes
aus der Autonomie der Vernunft. Erst als solches verstanden, kann es ein Bestimmungsgrund des Willens sein.
(6) Das höchste Gut hat allerdings nur sekundär diese Funktion inne. Das Gesetz im höchsten Gut kann nämlich nur insofern der Bestimmungsgrund des Willens sein, als die Aktualität des Gesetzes in der Autonomie der Vernunft als der
Grund, sich das höchste Gut überhaupt erst einmal zum Objekt zu machen, sich in
demselben vergegenständlicht.
(7) Wie oben demonstriert wurde, schwankt die Position der moralischen Triebfeder zwischen Gesetz und Endzweck; es scheint zudem nicht bestimmt, wo die
Idee der intelligiblen Welt sich findet, im Ursprung der reinen praktischen Vernunft
oder in deren maximierten Gegenstand. Angesichts dieser schwierigen Unentschiedenheit, die gewiß aus der Sache selbst kommt, muß der Begriff einer intellektuellen Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens als Geisteslage des Rechtschaffenen
aufgestellt werden, die diese grundsätzliche Unbestimmtheit einräumen kann. Er
ist moralisch-teleologisch und bezieht sich auf die Idee der intelligiblen Welt als
Orts- bzw. Weltbegriff.
(c) Die negative Reaktion von L. W. Beck auf das höchste Gut als den Bestimmungsgrund des Willens.
L. W. Beck reagiert auf den Satz Kants, der Begriff des höchsten Guts sei der
Bestimmungsgrund des reinen Willens, in Anlehnung an die traditionelle Interpre196
tation seit H. Cohen, ziemlich negativ.683 Im Zuge seiner Fragestellung, ob das
höchste Gut der Bestimmungsgrund des moralischen Willens ist, sagt er: „Kant
simply cannot have it both ways. He cannot say that the highest good is a motive for the pure will, and then say that it is so only under the human limitation
that man must have an object which is not exclusively moral“.684 Er befürchtet,
daß die Anerkennung des höchsten Guts als Bestimmungsgrund des Willens die
Autonomie der Vernunft, die auf der Unabhängigkeit (Freiheit) von allen materialen Bestimmungsgründen der Willkür (empirischen Objekten) beruht, zunichte machen würde.685 Daher kann er nicht gern einräumen, daß das höchste Gut,
selbst unter der menschlichen Beschränkung, das Motiv für den Willen sein kann.
Er will die Bedeutung der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Kantischen Ethik,
also der moralisch-praktischen Zwecksetzung, nicht positiv billigen, daß nämlich
das formale Moralprinzip sich in seiner Richtungsnahme von der Freiheit hin zur
äußeren Objektivität vergegenständlicht und daß das dadurch hergestellte intellektuelle Objekt, das höchste Gut, welches das Gesetz involviert, die Fähigkeit zur Bestimmung des Willens, obzwar im sekundären Sinne,686 erhält. Diese Bedeutung
und mithin Kants obiger Satz aber sind unverständlich, wenn man die intellektuelle Ausdehnung des sich nicht bloß auf die Formel des Gesetzes beschränkenden
reinen sittlichen Denkens auf die Gegenständlichkeit, der die intelligible Welt als
moralisch-teleologischer Ort zugrundeliegt, nicht im Auge behält und nicht die
Tatsache sieht, daß das vergegenständlichte Gesetz im höchsten Gut als Teil dieser
Ausdehnung auch Gesetz ist und demnach für das endliche Vernunftwesen eine
gewisse Kraft zur Willensbestimmung haben kann. Traditionelles Mißverständnis
nun und daraus folgender Widerstand gegen den Satz Kants sind jedoch zu korrigieren, wenn man die „Reflexionen“ zur Moralphilosophie, das Kanon-Kapitel
der KrV und die Dialektik der KpV in eben dieser Reihenfolge systematisch und
entwicklungsgeschichtlich untersucht und dadurch den eigentümlichen Stellenwert
jener moralisch-praktischen Zwecksetzung des reinen sittlichen Denkens687 in der
683
Vgl. Beck, L.W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, Chicago 1960, S. 245:
„The two questions (p.242) must therefore be answered in the negative.“ Mit den beiden Fragen meint
er: „(1) Is it [sc. summum bonum interpreted as bonum consummatum] the determining ground of
the moral will? (2) Is there a moral necessity (duty) to seek and to promote it?“
684
Ibid., S. 244. Der Bestimmungsgrund des Willens kann übrigens unter allgemeinen Umständen wohl, wie Beck es tut, mit dem Begriff vom Motiv (Bewegungsgrund) für denselben beinahe
gleichgesetzt werden; der aber ist vom Begriff einer Triebfeder (elater) zu unterscheiden. Zu dieser Unterscheidung vgl. z.B. Refl. 6934, XIX 209, ϕ (1776–78): „obiective impellentia sunt motiva,
subiective elateres.“
685
Vgl. die eben zitierte Seite: „The theory of the Analytic requires him [sc. Kant] to deny that the
concept of the highest good provides an autonomous motive.“
686
Die Zweitrangigkeit des höchsten Guts als des Bestimmungsgrundes des Willens wird auch
von Beck hervorgehoben. Er behauptet aber gegen Kant, daß dieser sie nicht gern in ihrer vollen
Kraft konkludiert hat. Dabei behält Beck vor allem den eminenten Vorrang von Autonomie und
Formalismus im Sinn. Vgl. dazu ibid., S. 243.
687
Beck sammelt die wichtigen Belege für die moralisch-praktische Zwecksetzung in der
,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung in Fußnote 13 von S. 243 seines Kommentars,
ohne sie jedoch systematisch zu bewerten.
197
,moralisch-teleologischen‘ architektonischen Phase der Grundlegung der Ethik mit
Bezug auf die moralische Teleologie selber, um derentwillen das formalistische
Grundlegungsverfahren und die Grundbegriffe von Autonomie und Formalismus
erforderlich wurden, richtig einschätzen kann.
3.3.4 Das höchste Gut als das Reich Gottes.
Bei dem Begriff des höchsten Guts (genauer: des höchsten abgeleiteten Guts) hat
man es nun mit dem einer idealen Welt zu tun. Tugend und Glückseligkeit machen zusammen einmal individuell den „Besitz des höchsten Guts in einer Person“
aus,688 sodann aber auch durch die Verteilung der Glückseligkeit in ganz genauer Proportion der Sittlichkeit „das höchste Gut einer möglichen Welt“,689 bei dem
von dem Ganzen, dem vollendeten Guten, die Rede ist. Der Name „das höchste
Gut“ tritt häufig in Kombination mit dem Ausdruck „in einer Welt“ auf,690 was
zumindest anzeigt, daß es ein mit der Welt eng verbundener, gemeinschaftlicher
Begriff ist. Das „höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut“ wird tatsächlich mit einer „Welt“ identifiziert und ist als solche der Endzweck.691 Daß das
höchste Gut ein Weltbegriff ist, deutet darauf hin, daß Kants Ethik im Grunde als
eine Orts- bzw. Feldtheorie verstanden werden kann. Daher haben wir oben gerade
versucht, eine fundamentale Feldtheorie der moralischen Geisteslage zu entwerfen,
die auf der Freiheit beruht, deren Ursprung aber negativ und unbegreiflich ist; aufgrund dieser Feldtheorie kann eine Welttheorie der intelligiblen Welt konstituiert
werden.
Das höchste Gut als Weltbegriff (die beste Welt) bei Kant rührt unterdessen
vom Christentum her und verweist konkret auf das Reich Gottes.692 Kants Lehre
KpV, V 110 Z32 <A199>. Auch bei diesem Ausdruck ist die Terminologie Kants nicht konstant.
Hier rekrutiert sich „das höchste Gut in einer Person“ aus Tugend und Glückseligkeit, während „das
höchste Gut im Menschen“ in V 157 Z32f <A281>die Tugend allein zu bedeuten scheint.
689
KpV, V 110 Z35 <A199>. Vgl. auch KrV, III 528 Z14f <B842>: „das höchste Gut einer Welt“.
690
Z.B.: „Bewirkung des höchsten Guts in der Welt“ (KpV, V 122 Z4f <A219>); „das höchste
mögliche Gut in einer Welt“ (V 129 Z31 <A233>); „die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts“ (V 134 Z18 <A242>); „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (KU, V
450 Z8f <B423>); „das höchste in der Welt mögliche Gut“ (Rel., VI 7 Anm. <BXII>); „ein höchstes
auch durch unsere Mitwirkung mögliches Gut in der Welt“ (Gemeinspruch, VIII 279 Anm. Z30f).
691
Vgl. Gemeinspruch, VIII 280 Anm. Z17–19: „das Bedürfnis eines ... Endzwecks (eine Welt
als das höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut)“. Vgl. auch Refl. 6827, XIX 173, ϕ
(1776–78): „Summum bonum ist das Ideal der Vollkommenheit der Welt.“
692
Vgl. KpV, V 127f <A230f>: „Die Lehre des Christentums ... gibt ... einen Begriff des höchsten
Guts (des Reichs Gottes)“; V 130 Z23f <A235>: „der sich auf ein Gesetz gründende moralische
Wunsch, das höchste Gut zu befördern (das Reich Gottes zu uns zu bringen)“. Während die intelligible, moralische Welt, das Reich Gottes, als das höchste abgeleitete Gut bezeichnet wird, wird
mit dem höchsten ursprünglichen Gut das Ideal von Gott gemeint. Vgl. hierzu KpV, V 125 Z22–25
<A226>; KrV, III 526 Z19–22 <B838f>; Was heißt: S.i.D.or.?, VIII 139; KpV, V 128 Z24 <A232>,
131 Z6 <A236>; Refl. 7202, XIX 282 Z14–16, ψ (1780–89); Refl. 6113, XVIII 459, ψ2 (1783–84);
Refl. 6132, XVIII 464, ψ2−4 ? (1783–89?); Fortschritte, XX 307. Kant warnt vor einem Mystizismus, der ein unsichtbares Reich Gottes wirklich und nicht-sinnlich anschauen und das, was nur zum
Symbol dient, zum Schema machen würde. Vgl. dazu KpV, V 70f <A125>.
688
198
vom höchsten Gut ist nach seinem Begriff der Moral des Christentums zugeschnitten. Eben darum kritisiert er von der Position der letzteren her sowohl die Stoa als
auch den Epikureismus hinsichtlich der Lehre des höchsten Guts.693 Die Annehmbarkeit des Begriffs des höchsten Guts antizipiert von Anfang an seine Ausführbarkeit durch das christliche Gedankengut; er ist ohne dieses nicht konzipierbar; er ist
von vornherein von ihm historisch geprägt.
3.4 Die Postulatenlehre ergänzt die Lehre vom höchsten
Gut in der Theorie der moralisch-praktischen Zwecksetzung.
In diesem Kapitel (3.4) wird die dritte Stufe der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der ,moralisch-teleologischen‘ Phase der Grundlegung der Ethik, die
Postulatenlehre, die die Hauptlehre vom höchsten Gut ergänzt und vollendet, insoweit in Betracht gezogen, als sie die Übersicht über diese Phase vervollständigt. Dabei ist unser Gesichtspunkt jener Entwurf des freien Willens auf den Endzweck in der intellektuellen Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens a priori vor
dem Hintergrund der intelligiblen Welt, der die Grundlage der Kantischen moralischen Teleologie ausmacht. Er vollzieht sich als unendlicher Progressus zur Idee
der moralischen Vollkommenheit. Dementsprechend werden in diesem Kapitel (1)
der unendliche Progressus zur Idee der moralischen Vollkommenheit mitsamt dem
Postulat der Unsterblichkeit der Seele (3.4.1) und (2) das vollendete höchste Gut
mit Bezug auf den moralischen Gottesbeweis (3.4.2) dargestellt. Zuerst aber soll
unsere Interpretationsthese einer intellektuellen Ausdehnung des reinen sittlichen
Denkens auf den Endzweck in der Tragweite bis zur Postulatenlehre textgemäß
belegt werden (3.4.0).
3.4.0 Die Erweiterung der reinen intellektuellen Aktualität des moralischen Gesetzes auf das höchste Gut und dessen Postulate.
Die Untersuchung des Begriffs der moralischen Triefeder in den moralphilosophischen Reflexionen und des Begriffs des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft im Gegenstand-Kapitel der KpV sowie des Endzwecks (des höchsten Guts)
in der Dialektik der KpV, der Ethikotheologie in der KU und der Religionsschrift
führt unvermeidlich zur Annahme bzw. Hervorhebung einer intellektuellen Erweiterung bzw. Ausdehnung, die sich von der Freiheit über Gesetze auf den Endzweck
erstreckt. Diese Erweiterung bzw. Ausdehnung von Freiheit zum Endzweck, die
auch subjektiv als Geisteslage eines Handlungssubjekts verstanden werden kann,
besteht aus der reinen Aktualität des Gesetzes als Faktum der Vernunft und weist
auf den ontotheologischen Begriff einer intelligiblen Welt hin. Anlaß zu dieser An693
Vgl. dazu KpV, V 111 Z18 – 112 Z26 <A200–202>, V 126 Z14 – 127 Z16 <A227–229>, V
126f Anm. <A229f>.
199
nahme bzw. Hervorhebung ist neben den Schwankungen der Position der moralischen Triebfeder (auch in der ,kritischen‘ Ethik kann das Gesetz im höchsten Gut
der Bestimmungsgrund des Willens sein), daß Kant sich in der GMS die Idee der
intelligiblen Welt, die er transzendental-subjektiv der Verbindlichkeit des Gesetzes zugrundelegt, zugleich transzendental-objektiv vorzustellen und als Endzweck
hinzustellen scheint. Der gesamten sich von Freiheit zum Endzweck ausdehnenden Geisteslage eines Rechtschaffenen, der nach der Idee der moralischen Vollkommenheit seiner selbst trachtet, liegt immer diese Idee der intelligiblen Welt
zugrunde. Das Ethos der Kantischen Ethik beschränkt sich nicht auf Freiheit und
Gesetz, sondern liegt in der sich von Freiheit auf den Endzweck erweiternden intellektuellen Geisteslage des Rechtschaffenen mitsamt der von ihm stets gehegten
Idee der intelligiblen Welt als des Reichs Gottes.694
Der Begriff einer intentionalen Ausdehnung bzw. Erweiterung der reinen intellektuellen Aktualität des sittlichen Gesetzes auf das höchste Gut und dessen Postulate, der auch praktische Realität hat, ist für Kant so selbstverständlich, daß er für
ihn nur verschiedene gewöhnliche Ausdrücke verwendet, ohne einen besonderen
hervorstechenden Terminus festzulegen. Mehrere Beispiele dafür sind anzuführen.
(1) ,führen zu ...‘: „Das moralische Gesetz führte ... zur praktischen Aufgabe, ... nämlich der notwendigen Vollständigkeit ... der Sittlichkeit, und ... zum
Postulat der Unsterblichkeit. Eben dieses Gesetz muß auch zur Möglichkeit der
jener Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit, ... nämlich auf die Voraussetzung
des Daseins einer dieser Wirkung adquaten Ursache führen“.695 Dieses ,das Gesetz führt zu ...‘ besagt eben die Ausdehnung der reinen intellektuellen Aktualität
des moralischen Gesetzes auf das höchste Gut (Sittlichkeit und Glückseligkeit)
und dessen Postulate (Unsterblichkeit und Existenz Gottes), in der der ,moralischteleologische‘ Entwurf des freien Willens im unendlichen Progressus stattfindet.
(2) ,notwendig verbunden‘: „... (welches Objekt unseres Willens [sc. das höchste Gut] mit der moralischen Gesetzgebung der reinen Vernunft notwendig verbunden ist)“.696 Bei der „moralischen Gesetzgebung der reinen Vernunft“ handelt es
sich um das reine Denken im Sittlichen, d. i. die reine intellektuelle Aktualität des
moralischen Gesetzes aus der reinen praktischen Vernunft. Der Beleg will sagen,
die Intentionalität des Willens auf das höchste Gut als sein Objekt gehöre zur Ausdehnung bzw. Erstreckung des reinen sittlichen Denkens, und heißt konkret, das
Gesetz gebiete die Bewirkung des höchsten Guts.
(3) ,sich auf ... gründen‘: „Diese Pflicht [sc. die Pflicht, etwas (das höchste Gut)
zum Gegenstande meines Willens zu machen, wobei Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vorausgesetzt werden müssen,] gründet sich auf einem ... für sich selbst
apodiktisch gewissen, nämlich dem moralischen Gesetz“.697 Bei der Pflicht des
,zum-Gegenstand-Machens‘, d.h. der Vergegenständlichung, des höchsten Guts
694
Kant sagt z.B., die Moral sei die Philosophie über die ganze Bestimmung des Menschen, d.h.
den Endzweck. Vgl. dazu KrV, III 543 Z10–12 <B868>.
695
KpV, V 124 <A223f>.
696
KpV, V 124 Z17–19 <A224>.
697
KpV, V 142 <A257>.
200
mitsamt den Postulaten hat man es mit dem „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ zu tun. Jene und mithin auch dieses gründen sich, so heißt es, auf das moralische Gesetz. Auch dieses ,sich auf das Gesetz gründen‘ drückt eben die Ausdehnung der reinen intellektuellen Aktualität des moralischen Gesetzes auf das
höchste Gut und dessen Postulate aus, in der auch die Vergegenständlichung und
das Bedürfnis als Beziehungen auf dieselben zustandekommen können.
(4) ,auf ... gerichtet sein‘: Die fundamental-strukturelle Beziehung der reinen
praktischen Vernunft auf ihr Objekt, daß der Gebrauch derselben „auf die Existenz von Etwas, als Folge der Vernunft, gerichtet ist“, und daß sie demnach „von
dem obersten Prinzip ihres reinen praktischen Gebrauchs“, d.i. vom moralischen
Gesetz, „ausgehend ihr Objekt bestimmt“,698 heißt m.a.W., daß die reine intellektuelle Aktualität des moralischen Gesetzes aus der reinen praktischen Vernunft, d.i.
die reine intellektuelle Selbsttätigkeit, die sich als Allgemeingültigkeit artikuliert,
sich auf Etwas als ihr Objekt richtet und somit dieses bestimmt. Dabei ist von der
fundamental-strukturellen Beziehung des reinen sittlichen Denkens, d.i. der Aktualität des Gesetzes, auf die Welt der Objektivität die Rede. Das Etwas als Objekt
der reinen intellektuellen Aktualität des Gesetzes ist zunächst das Gute, läuft aber
zuletzt auf das höchste ursprüngliche Gut, Gott, hinaus. Die Notwendigkeit der
Annahme desselben zeigt sich in „der notwendigen Richtung des Willens auf das
höchste Gut“. Was also auf theoretischem Weg nicht geleistet werden kann,699 das
ist im praktischen Bereich möglich, weil die praktische Realität eines Objekts (hier
das Dasein Gottes) durch die reine intellektuelle Aktualität des moralischen Gesetzes gesichert werden kann. Die Sicherung der praktischen Realität bzw. Gültigkeit
aber kann nur dann dem Objekt zugesprochen werden, wenn die Aktualität des
Gesetzes sich auf dasselbe erweitert und somit bis zu ihm eine reine intellektuelle
Ausdehnung der praktischen Realität als Identität des reinen Willens bildet.
(5) ,Verhältnis des Verstandes zum Willen‘: Wenn das Verhältnis des Verstandes zum Willen, das durch das moralische Gesetz a priori bestimmt wird, eben
durch diese apriorische Bestimmung auch praktisch-objektive Realität erhält, so
wird auch dem Begriff des Objekts eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens, mithin auch dem vom höchsten Gut und dessen Postulaten dieselbe Realität
verliehen.700 D.h., die reine intellektuelle Aktualität des Gesetzes erweitert sich
durch ihre Bestimmung des Willens a priori auf das Objekt desselben, mithin auch
auf das höchste Gut und dessen Postulate, und gibt dadurch dem Woraufhin ihrer
Erweiterung praktisch-objektive Realität, die sie an und für sich besitzt. Die Freiheitskausalität, die in der Analytik der KpV „Bedeutung“ bekommt,701 gibt hier
in der Dialektik durch ihre Erweiterung dem höchsten Gut und dessen Postulaten
praktisch-objektive Gültigkeit. (Cf. 3.2.2.c).
(6) ,erweitern‘: Der reine uneigennützige Wille erweitert sich noch über die Beobachtung des formalen Gesetzes hinaus zur Hervorbringung eines Objekts (des
Vgl. KpV, V 139 Z10–17 <A250f>.
Loc.cit., Z2–10 <A250>.
700
Vgl. KpV, V 138 Z6–15 <A249>. Vgl. auch V 137 Z6–8 <A246f>.
701
KpV, V 65f <A114–116>.
698
699
201
höchsten Guts),702 indem eine Absicht, d.i. ein Zweck als Objekt des Willens a
priori gegeben wird, d.h., indem das Objekt des Willens durch das diesen unmittelbar bestimmende Gesetz praktisch-notwendig vorgestellt wird.703 M.a.W.,
„das Gesetz ... erweitert sich ... zu Aufnehmung des moralischen Endzwecks der
Vernunft unter seine Bestimmungsgründe“.704 Auch diese Erweiterungen wollen
besagen, daß die reine intellektuelle Aktualität des moralischen Gesetzes in der
fundamental-strukturellen Beziehung des durch sie bestimmten Willens auf sein
Objekt sich auf das höchste Gut ausdehnt.
(7) Auch der Begriff eines Interesses und der eines Bedürfnisses werden verwendet, um die Erweiterung bzw. Ausdehnung des reinen Denkens im Sittlichen
auf das höchste Gut und dessen Postulate auszudrücken.705 Vor allem zeigt die
Entgegensetzung des Vernunftbedürfnisses zum Bedürfnis der Neigung deutlich,
daß die reine intellektuelle Aktualität des Gesetzes sich auf das höchste Gut und
dessen Postulate erweitern bzw. ausdehnen und dadurch aus dem Bedürfnis der
intellektuellen Notwendigkeit die letzteren postulieren darf, d.h. ihnen praktischobjektive Realität geben kann, während ein Verliebter seine Idee von Schönheit
durch das Bedürfnis, das auf der Neigung beruht, doch nicht als theoretisch-real zu
postulieren vermag.706
Das Ethos der Kantischen Ethik liegt in dieser Erweiterung bzw. Ausdehnung
der reinen intellektuellen, aus der Freiheit erfließenden Aktualität des moralischen
Gesetzes auf das höchste Gut als Endzweck mitsamt dessen Postulaten. Es findet
sich nicht im substantialisierten Gesetz, sondern in der realen Wirkung (actualitas)
des Gesetzes. In dieser Ausdehnung als Geisteslage findet jeder Schritt des unendlichen kontinuierlichen Progressus eines endlichen Vernunftwesens in Richtung der
Verwirklichung der Idee vom Reiche Gottes statt.
3.4.1 Der kontinuierliche unendliche Progressus zur Realisierbarkeit
der Idee der moralischen Vollkommenheit als des Elements des höchsten Guts.
(a) Die Progression zur moralischen Vollkommenheit als allmähliche Reform
setzt die Revolution in der Gesinnung voraus.
Der unendliche Progressus der Gesinnung eines endlichen Vernunftwesens als die
allmähliche Reform der verkehrten Denkungsart im Sittlichen setzt die Revolution
in der Gesinnung desselben (die Aufnahme des moralischen Gesetzes als Triebfeder in ihre Grundmaxime durch die unerforschliche ursprüngliche Freiheit der
Vgl. Gemeinspruch, VIII 280 Anm. Z17–21. Vgl. auch KpV, V 120 Z3–10 <A216>.
Vgl. KpV, V 134 Z8–13 <A241>.
704
Rel., VI 7 Anm. <BXII>.
705
In der KpV vgl. zum ,Interesse‘ V 120 Z1–4 <A216>, 145 Z37 <A262>; zum ,Bedürfnis‘ V
142 Z5f <A255f>, 142 Z18 – 143 Z31 <A257–259>, 140 Z34f <A253>, 4 Z26f <A6>, 125 Z26–28
<A226>, 126 Z6–10 <A227>.
706
Vgl. KpV, V 144 Anm. <A259>. Vgl. auch V 142 Anm. <A256>.
702
703
202
Willkür707 ) voraus. Der Fortschritt seiner Gesinnung nämlich, der empirisch als
seine Tat ununterbrochen weitergeht, gründet darauf, daß jene Revolution in der
Gesinnung708 als Übergang zur Moralität (Sinnes- oder Herzensänderung, Gründung eines intelligiblen Charakters), durch die das moralische Gesetz als das gute
Prinzip in die Grundmaxime der Gesinnung aufgenommen wird, auf der intelligiblen Ebene bereits stattgefunden hat. Dementsprechend wird in dieser Progression als allmählicher Reform die Idee einer moralischen Vollkommenheit709 (der
völligen Angemessenheit zum Gesetz, d.i. der Heiligkeit) als Endzweck angenommen.
Wie diese dem Progressus als Reform vorausgesetze Revolution in der Gesinnung möglich ist, wäre mittels der Verknüpfung der formalistischen Grundlegung
der Ethik im Grundsätze-Kapitel der KpV mit der Lehre vom radikal Bösen im
ersten Stück der Religionsschrift wie folgt zu erläutern: Zur Revolution in der Gesinnung als der Aufnahme des Gesetzes in ihre Grundmaxime müßte die Loslösung
der reinen praktischen Vernunft von dem Prinzip der Selbstliebe, das sie empirisch
bedingt, folglich von der ihm dienenden pathologisch-praktischen Lust als Bestimmungsbedingung des Willens gehören, durch welche die Erscheinungen überhaupt
in der Sinnenwelt als materiale Bestimmungsgründe des Willens überstiegen werden (die Rückführung auf die „Freiheit im strengsten, d.i. transzendentalen Verstande“710 , nämlich auf die negative Freiheit als einen anderen Standpunkt außer
der Sinnenwelt); zugleich aber müßte sich – nicht dogmatisch, sondern sachlich
betrachtet – in dieser Freiheit, wo keine materialen Hindernisse dem Antritt eines nichtempirischen, rein intellektuellen Prinzips der Willensbestimmung in den
Weg gelegt sind, das reine sittliche Denken bzw. die transzendental-subjektive moralische Gesetzlichkeit (die positive Freiheit des Willens) bekunden,711 was sich
als die Aufnahme des Gesetzes in der übersinnlichen Gesinnung begreifen läßt,
insbesondere wenn jenes reine sittliche Denken in der philosophischen Religions707
708
Vgl. dazu zunächst Rel., VI 21 <B6–8>, 23f <B12>, 25 <B14>, 44 <B48>, etc.
Zur Revolution in der Gesinnung vgl. Rel., VI 47f <B53–56>; Str.d.Fak., VII 57, 59; Anthr., VII
294.
709
Zur moralischen Vollkommenheit vgl. KpV, V 123 Z7 <A221>; Rel., VI 3 Anm. <BIV>, 61f
<B74f>, 97 <B136>, 145 <B220>; MS VI 387, 392, 446.
710
KpV, V 29 <A51>. Cf. 1.4.b.
711
Die ursprüngliche Freiheit in der Tiefe des Herzens, die die Wahlfreiheit der intelligibel verstandenen freien Willkür betrifft, ob diese das gute Prinzip aufnimmt oder nicht (dabei wird das
arbitrium liberum zwiefach aufgefaßt: phänomenal und intelligibel, und nur die Wahl des ersteren ist
empirisch erkennbar), ist nach Kant intelligibel und unerforschlich (vgl. hierzu Rel., VI 21 <B6–8>,
21 Anm. <B7>, 25 <B14>, 41 <B42>, 43 <B46>, 44 <B48f>, 51 <B61>, 59 <B71>, 63 <B78>,
138 <B209>, 170 Anm. <B259f>; MS, VI 380 Anm., 392, 441 (§ 14); Anthr., VII 396f), während
die negative und die positive Freiheit etwa in der KpV nur mit Bezug auf die moralische Gesetzlichkeit betrachtet werden. Nicht dabei auszuschließen ist aber die Interpretationsmöglichkeit, daß die
negative Freiheit in der KpV als Unabhängigkeit von materialen Bestimmungsgründen des Willens
sich auf die ursprüngliche Freiheit in der Tiefe des Herzens bezieht, die auch sinngemäß negativ ist.
Positive Freiheit hingegen, die Freiheitskausalität des Willens aus Vernunft, wird in der späten Phase
des Denkens Kants dahingehend verstanden, daß der Wille, der Freiheit der Willkür entgegengesetzt,
an sich weder frei noch unfrei ist (vgl. hierzu MS, VI 226f, Vorarbeiten zu die Metaphysik der Sitten,
XXIII 248f, 256). Cf. Fußnote 188 in 1.4.
203
lehre als Gottes Gebot substantialisiert wird; somit ist nunmehr die Vernunft des
endlichen Vernunftwesens selbst gesetzgebend.712 Von daher kann konstatiert werden: Es handelt sich bei der Revolution in der Gesinnung als Umwandlung der
Denkungsart im Sittlichen um eine Umwendung in der formalistischen Phase der
Grundlegung, d.h. um die Umwendung von der Abstraktion von empirischen Bestimmungsgründen der Willkür bzw. von der Ablegung der empirischen Bedingtheit der praktischen Vernunft als Kritik derselben zur moralischen Gesetzgebung
der reinen praktischen Vernunft, die Umwendung der Freiheit. Obwohl sie sich als
solche und im ganzen nur auf der intelligiblen Ebene vollzieht, läßt sie sich doch
auch zeitlich als ein neuer Vorsatz, obzwar nicht vollauf empirisch feststellbar, gewahren.713 Zusammen mit ihrem Eintritt, d. i. mit der ,einzigen unwandelbaren
Entschließung‘714 in der ursprünglichen Freiheit, das Gesetz in die Grundmaxime
aufzunehmen und somit den obersten Grund der Maximen umzukehren (Gründung
eines intelligiblen Charakters715 ), und in und mit der durch sie eröffneten intellektuellen Geisteslage beginnt nun auch auf der empirischen Ebene die allmähliche
Reform der bis dahin verkehrten Denkungsart, die sich als kontinuierlicher unendlicher Progressus zum Endzweck vollzieht. Zum moralischen Wohlverhalten eines
Menschen als diesem Progressus zur moralischen Vollkommenheit seiner selbst ist
also eine Umwendung als einzige unwandelbare Entschließung, die Revolution in
der Gesinnung, erforderlich, die Kants ethische Grunderfahrung darstellt und die
sich auch in der praktisch-theoretischen Grundlegung des Grundsätze-Kapitels der
KpV niederschlägt (cf. 1.2, 1.3, 1.4).
Wir gehen nun der Postulatenlehre in bezug auf die moralische Vollkommenheit nach und erläutern einige ihrer Grundzüge: (1) die latente Postulierung der
Existenz Gottes in der Forderung der moralischen Vollkommenheit unter der Idee
vom Reich Gottes, (2) die Vorreligiosität des Postulats der Unsterblichkeit und (3)
dieses Postulat als Bedingung der Selbsterhaltung der Vernunft. Daraus ergibt sich,
daß Kants Theorie der moralisch-praktischen Zwecksetzung in der ,moralischteleologischen‘ Phase der Grundlegung durchaus von der Idee vom Reich Gottes
geprägt ist und daß sie von der Moralität auf der Basis reinen Denkens durchwaltet
ist.
712
Die Vernunft des endlichen Vernunftwesens kann das Gesetz für sich selbst nicht schaffen, sondern es wird ihr zuerst gegeben. Das ist der tiefste Sinn vom ,Faktum der Vernunft‘. Vgl. dazu Rel.,
VI 26 Anm. <B16>: „Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch
keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen“. Vgl. dazu auch Krüger, G., Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 2 1967, S. 68. Cf. 3.1.1.d.
713
Das ist zwar von Kant nicht ausdrücklich deklariert (denn grundsätzlich kann etwas Intelligibles
nicht zeitlich und empirisch erkannt werden), muß aber angenommen werden. Vgl. z.B. Rel., VI
68 <B87f>; Anthr., VII 294: „Vielleicht werden nur wenige sein, die diese Revolution vor dem
30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben“ (vgl. hierzu
Refl. 1518, XV 873 Z24, ψ).
714
Rel., VI 47f <B55>.
715
Zur ,Gründung eines Charakters‘ vgl. zunächst Rel., VI 48 <B55f>; Anthr., VII 294f; KpV, V
152 Z26f <A271>; Idee zu einer allgemeinen Geschichte, VIII 21 Z14 („einer Denkungsart“); GMS,
IV 396 Z33 <B7>(„eines guten Willens“); Pädagogik IX 487; etc.
204
(b) Das Dasein Gottes wird implizit auch der Realisierbarkeit der moralischen
Vollkommenheit als des einen Elements des höchsten Guts ohne Bezug auf die
Glückseligkeit vorausgesetzt.
Ist nun die Heiligkeit nur „in einer einzigen intellektuellen Anschauung“ „ganz anzutreffen“716 und demnach der Tat nach auf der empirischen Ebene nicht ganz zu
erlangen, so heißt das, daß sie, d.i. „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen
zum moralischen Gesetze“717 , nicht auf empirischer, sondern allein auf intelligibler
Ebene festzustellen ist. Daher wird ein Drittes, d.i. ein „Herzenskündiger“, erfordert, der den Progressus zur Angemessenheit mit dem Gesetz „in seiner intellektuellen Anschauung als ein vollendetes Ganze auch der Tat (dem Lebenswandel)
nach“ beurteilen kann.718 Dieser Formulierung in der Religionsschrift entspricht
der Satz in der KpV: „Der Unendliche, dem die Zeitbedingung nichts ist, sieht in
dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessenheit mit dem moralischen
Gesetze“.719 Dieses „Ganze“ in der KpV wird in der Religionsschrift ausdrücklich
als ,die übersinnliche Gesinnung720 im Zustande der Änderung721 ‘ aufgefaßt. Dadurch tritt die Diskrepanz zwischen übersinnlicher Gesinnung (einem neuen Menschen vor Gott) und empirischer mangelhafter Tat (kontinuierlichem Fortschritt,
bloßem Werden) deutlich in den Vordergrund, somit aber erst recht auch das Bedürfnis einer Relation zwischen den beiden. Erst unter der dieses Bedürfnis erfüllenden Voraussetzung eines Dritten, das die empirische Tat auf die intelligible
Ebene übertragen kann, kann auch die notwendige Bedingung (conditio sine qua
non) zur Realisierbarkeit der Idee der Heiligkeit als des einen Bestandstückes des
höchsten Guts postuliert werden, nämlich die Bedingung, daß der kontinuierliche
Progressus auf empirischer Ebene sich keinesfalls in diesem Leben abschließen
kann, sondern ins Unendliche gehen muß. Ohne die Voraussetzung einer intellektuellen Anschauung von Gott kann nämlich die „Unsterblichkeit der Seele“722 nicht
postuliert werden.
Die erwähnte Argumentation will also sagen, das Moment der Sittlichkeit setze
für sich allein auch schon das Dasein Gottes, das in der KpV erst von dem ganzen
höchsten Gut deduziert werden soll, als des Herzenskündigers hinsichtlich dessen
Allwissenheit723 implizit voraus,724 obwohl auf den ersten Blick das Anstreben
KpV, V 123 Z11–13 <A221f>.
KpV, V 122 Z6f <A219>.
718
Rel., VI 67 Z12–14 <B85>. Diese Stelle in der Religionsschrift befindet sich im Unterabschnitt
„c) Schwierigkeiten gegen die Realität dieser Idee [eines Gott wohlgefälligen Menschen] und Auflösung derselben“ (VI 66ff <B84ff>), der die Realisierbarkeit der Idee der Heiligkeit thematisiert,
während der vorige Unterabschnitt „b) objektive Realität dieser Idee“ (VI 62ff <B76ff>) ihre Annehmbarkeit erörtert.
719
KpV, V 123 Z7–9 <A221>, Vgl. auch V 123 Anm. Z34 <A222>.
720
Rel., VI 67 Z11 <B85>. Vgl. auch Ende a.D., VIII 334 Z16–25.
721
Rel., VI 73 Z19 <B96>.
722
KpV, V 122 Z19 <A220>.
723
Zur Allwissenheit Gottes vgl. KrV, III 529 <B843>, KU, V 444 <B414>, etc.
724
Auch L. W. Beck setzt in der von ihm neu formulierten Beweisführung für das Postulat der
Unsterblichkeit das Dasein Gottes voraus. Vgl. dazu Beck, L. W., op.cit., S. 269.
716
717
205
der moralischen Vervollkommnung und mithin die moralische Bildung eines Menschen als Person zunächst ohne dieses Dasein durchführbar scheinen.
Diese in die Postulierung der Unsterblichkeit der menschlichen Seele eingebrachte Argumentation für das Postulat der Existenz Gottes als Herzenskündiger
beruht auf dem Grundgedanken: Damit die Unendlichkeit des Progressus auf empirischer Ebene bestehen kann, muß der Begriff eines realen Ganzen auf intelligibler
Ebene angenommen werden, welches jener entsprechen soll. Eben diese Annahme
einer intelligiblen Realität mündet doch in die implizite Voraussetzung des Dasein
Gottes. Die praktisch-dogmatische Lösung des Problems der rationalen Psychologie, der Unsterblichkeit der Seele, antizipiert also die Lösung des Problems im
anderen Bereich der metaphysica specialis, des Problems des Daseins Gottes in der
Theologie.
Die Einschleusung des Daseins Gottes in die Argumentation zum Streben nach
moralischer Vollkommenheit und zum Postulat der Unsterblichkeit rührt aber zuletzt davon her, daß der Begriff des höchsten Guts überhaupt durch die christliche
Idee eines Reichs Gottes geprägt ist, auf das das Streben sich richtet. So ist der
unendliche Progressus nach der Heiligkeit denn auch nichts anderes als „das beständige ,Trachten nach dem Reiche Gottes‘“.725
Daß nun aber das Postulat der Existenz Gottes möglicherweise ohne das Moment der Glückseligkeit im höchsten Gut nur durch die Forderung des Strebens
nach moralischer Vollkommenheit angesetzt werden kann, hängt damit zusammen,
daß in der Ethik Kants das erstere, das Moment der Glückseligkeit, nur zweitrangige Bedeutung hat und daß ihr Ethos vielmehr im letzteren, im Erstreben der
moralischen Vollkommenheit, liegt und die Glückseligkeit in diesem Leben lediglich als Zufriedenheit mit sich selbst (cf. 2.4.1) gestattet, die aus diesem Streben
im unendlichen kontinuierlichen Progressus entsteht.
(c) Kants Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele ist vorreligiös.
Daß nun Kants Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele nur vorreligiös ist, beruht
darauf, daß er in der Dimension der Moralität verharrt; dies hängt damit zusammen,
daß bei ihm die Genese des moralischen Gesetzes nicht aus der Freiheit selber
erklärt werden kann (sondern erst in bezug auf den Endzweck und die intelligible
Welt; cf. 1.4.c, 3.1.1.b–d) und daß die ursprüngliche Freiheit der Willkür, nur von
der Moralität her betrachtet, unerforschlich ist.
Kants Beweis der Unsterblichkeit der Seele in der KpV ist nicht christlich.726
Ihre Vorstellung läßt sich vielmehr quasi als eine ewige zeitliche Wanderung über
dieses Leben hinaus verstehen, in der der Rechtschaffene mit der Idee einer intel725
Rel., VI 67 Z25f <B86>, Vgl. dazu Mt 6, 33 und Lk 12, 31. Vgl. auch Refl. 6876, XIX 197 Z20,
υ? (1776–78?).
726
Vgl. dazu Delekat, F., Immanuel Kant, Heidelberg 2 1966, S. 308: „Die Unsterblichkeit der Seele ist somit eine Fortsetzung der irdischen Existenz unter anderen Bedingungen. Der Vervollkommnungsprozeß der Persönlichkeit geht im Jenseits weiter. Das ist nicht christlich.“
206
ligiblen Welt, die ihm im Herzen gegenwärtig ist, stetig fortschreitet.727 Sie kann
somit zwar eine Vorbedingung der Religiosität, aber nicht diese selbst ausmachen
und demnach als vorreligiös bezeichnet werden. Die Zeitlichkeit der unbegrenzten
Existenz des Menschen steht mit der Idee einer künftigen Welt als einer intelligiblen, moralischen Welt im Widerspruch. Ein Grund dafür könnte darin liegen,
daß Kant die Sache der Religion vom Standpunkt der Moralität aus betrachtet; von
der Position der Religion selbst her gesehen würde sich selbst einem Menschen,
der sich so sündhaft weiß, daß er sieht, er könne auf Erden ungeachtet seines Strebens kaum einen Progressus nach der Angemessenheit mit dem moralischen Gesetz leisten, eben wegen dieses tiefen Schuldbewußtseins ohne den Erfolg eines
Progressus der Weg auf eine Errettung durch das Absolute eröffnen.728 Kant aber
hält die eigene Kraftanwendung, die sich an das reine Denken der Moralität hält,
für aktuell vorrangig gegenüber solcher Gnadenwirkung. Gerade diese Grundhaltung ermöglicht seine eigentümliche Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele.
Das reine Denken im Sittlichen fordert von der empirischen Gesinnung deren ewige Anstrengung.
Daß er bei der Begründung der gesamten Ethik mitsamt der Theologie überhaupt in der Dimension der Moralität verharrt, entspricht seiner Lehre vom Faktum
der Vernunft, derzufolge das moralische Gesetz und sein Bewußtsein nicht weiter
deduzierbar und hinterfragbar sind. Die Nicht-Hinterfragbarkeit des Gesetzes aber,
wenn die dogmatische Betrachtungsweise vermieden werden soll, beruht darauf,
daß er beim formalistischen Verfahren bereits mit dem Leitfaden des Begriffs der
Notwendigkeit operiert und dadurch die Gesetzlichkeit de facto vorwegnimmt; die
Vorwegnahme der Gesetzlichkeit hält den Versuch für unnötig, nach dem Sinn der
aus dem Gesetz deduzierten negativen Freiheit in ihrer transzendental-subjektiven
Sphäre weiter zu fragen, in der doch die Möglichkeit besteht, daß sowohl der Be727
R. Wimmer hebt den Vorrang der Realisierbarkeit des Ideals des vollendeten höchsten Guts
vor der des Ideals der moralischen Vollkommenheit hervor und schlägt aus diesem Gesichtspunkt
vor, die Postulierung der Unsterblichkeit der Seele durch die Explikation „von einem ,neuen‘ Leben
des ganzen Menschen“ (Wimmer, R., Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin 1990, S. 70) zu
ersetzen. „Kant hätte, statt die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu postulieren, die in seinem
Begriff vom höchsten Gut angelegten Momente der Leiblichkeit und der Gesellschaftlichkeit des
,neuen‘ Menschen lediglich zu explizieren brauchen“ (ibid., S. 71). Der Vorschlag, der mit dem, was
Kant mit einer künftigen Welt meint, konform sein mag, läßt aber die Relevanz des realen Strebens
der menschlichen Gesinnung nach moralischer Vollkommenheit im wirklichen Progressus in diesem
Leben außer acht, aus der ja das Postulat der zeitlich unbegrenzten Existenz des Menschen notwendig
abgeleitet wird. Die Hauptsache für einen Rechtschaffenen ist nicht die Glückseligkeit im Jenseits,
sondern die moralische Vollkommenheit im Diesseits. Kant sagt: „Allgemein führen wir noch an:
daß es ganz und gar nicht hier unserer Bestimmung gemäß ist, uns um die künftige Welt viel zu
kümmern; sondern wir müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden, und abwarten,
wie es in Ansehung der künftigen Welt sein wird. Die Hauptsache ist: daß wir uns auf diesem Posten
rechtschaffen und sittlich gut verhalten, und uns des künftigen Glücks würdig zu machen suchen“
(Met.L/1, XXVIII 300f).
728
Zum Unterschied des Gnadenbegriffs Kants vom christlichen vgl. Noack, H., Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants, in: Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,
Hamburg 8 1978, S. XLIV–XLVI. Vgl. auch Delekat, F., op.cit., S. 258–261. Kant scheint die Position
des ,praktischen Pietismus‘ (S. 261) eingenommen zu haben.
207
griff einer Gnade Gottes wie der Zusammenhang des Gesetzes (des reinen sittlichen
Denkens) mit der Natur ursprünglicher erörtert werden könnten. Der Ausfall einer
solchen Erörterung in der Umwendung der Freiheit bestimmt wesentlich die Kantische ,moralisch-teleologische‘ Architektonik der Ethik überhaupt, folglich auch
seine moralische Teleologie und Ethikotheologie, welche durchaus in der Dimension der intellektuellen Moralität bestehen, so auch das Postulat der Unsterblichkeit.
(d) Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele und die unnachlaßliche Pflicht
des Suizidverbots sind die Bedingung der Möglichkeit der Selbsterhaltung der
reinen Vernunft sowie ihrer intellektuellen Ausdehnung.
Beim Postulat der Unsterblichkeit nun beansprucht die Annahme des Daseins eines neuen Menschen auf intelligibler Ebene ein ewiges Leben desselben Menschen
über dieses Leben hinaus, ebenso wie bei der Pflicht des Selbstmordverbots das Dasein des Menschen auf intelligibler Ebene die Fortsetzung seines Lebens in der Sinnenwelt fordert. Sowohl jenes Postulat als auch diese unnachlaßliche Pflicht stellen in der Sinnenwelt die Konditionen dafür dar, daß reine Vernunft sich selbst und
ihre intellektuelle reine Ausdehnung der Moralität erhalten kann, während die Genese des Guten überhaupt zusammen mit der Annehmbarkeit des höchsten Guts als
Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens und die unnachlaßliche Pflicht
der Wahrhaftigkeit als Offenheit desselben Denkens die Struktur der zu erhaltenden
intellektuellen Ausdehnung aus Vernunft charakterisieren, in der jede Willensbestimmung im Blick auf den Endzweck vollzogen wird. In der Selbsterhaltung der
reinen Vernunft aber könnte man ein Prinzip der rationalisierten Selbstliebe sehen,
die verhüllt ist und demnach die letzte, größte Hürde für die Ethik darstellen dürfte
(cf. 3.2.3.a.β & 2.5.2); zu der Einsicht jedoch dieser möglichen Konsequenz aus
seiner Theorie ist Kants Grundlegung der Ethik niemals gelangt.
3.4.2 Die Realisierbarkeit des vollendeten höchsten Guts durch das Streben nach der moralischen Vollkommenheit im unendlichen Progressus.
Die bisher in der Lehre vom höchsten Gut festgestellten Grundzüge jener moralischpraktischen Zwecksetzung, auf der die moralische Teleologie beruht, finden in der
kompletten Postulatenlehre, die jetzt auch das Postulat der Existenz Gottes inkludiert, ihre abermalige Bestätigung: (1) die Relevanz der Erweiterung des Gesetzes
zum Endzweck als Geisteslage eines Rechtschaffenen; (2) die moralisch-praktische
Zwecksetzung als der Versuch, die Trennung zwischen sinnlicher Natur und reinem
sittlichen Denken praktisch-objektiv zu überwinden; (3) die Idee der intelligiblen
Welt (des Reichs Gottes) als Grundlage für die moralisch-praktische Zwecksetzung
und deren moralische Teleologie.
208
(a) Die Realisierbarkeit des ganzen, vollendeten höchsten Guts.
In der moralischen Geisteslage bestimmt das Gesetz (das reine sittliche Denken)
die gesamte Materie der Willensbestimmung. Daher nimmt es, mit Rücksicht auf
die Realität der materiell durch sinnliche Natur mitbedingten Willkür eines endlichen Vernunftwesens, auch dessen Glückseligkeit als Materie seiner allgemeinen
Bestimmung auf und stellt sie im Rahmen seiner unmittelbaren Selbstobjektivierung (Tugend) als Endzweck hin. Folglich wird die Realisierbarkeit des Begriffs
der Glückseligkeit, als des Pauschalzwecks des Willens, a priori auf die Realisierbarkeit der Idee der Sittlichkeit bzw. der Heiligkeit als des obersten Guts verwiesen,
die durch die Selbstobjektivierung des reinen sittlichen Denkens unmittelbar zum
Zweck gemacht wird. Dadurch wird das ganze, vollendete höchste Gut als Gegenstand der sich intellektuell erweiternden reinen praktischen Vernunft entworfen.729
Bei der Realisierung dieses ganzen vollendeten höchsten Guts wird die Möglichkeit, daß die Begierde nach Glückseligkeit die Maxime der Tugend bestimme,
a limine ausgeschlossen.730 Dieser Ausschluß ist bereits mit jener Annahme der
beiden Momente des höchsten Guts vollzogen, die ja die Bestimmung der Glückseligkeit durch Sittlichkeit voraussetzt. Er findet aber auch schon ursprünglich in der
formalistischen Grundlegung der Ethik (cf. 1.) statt, die nachgewiesen hat, daß die
Begierde nach Glückseligkeit, die auf der pathologisch-praktischen Lust beruht,
wohl eine Klugheitsregel, jedoch keine objektiv-gültige Gesetzlichkeit a priori für
die Moralität und mithin für die Maxime der Tugend liefern kann.
(b) Kants Ansicht, daß die Unausführbarkeit des höchsten Guts die Falschheit
des Gesetzes beweisen würde, und daß moralische Gesetze ohne die Postulate
leere Hirngespinste wären, bestätigt die Relevanz der intentionalen Erweiterung des Gesetzes zum Endzweck; Cohens Ablehnung.
Da nun das Gesetz gebietet, das höchste Gut zu fördern, d.h. da die Förderung
desselben in der intentionalen Erweiterung des Gesetzes (cf. 3.4.0.6) „ein a priori
notwendiges Objekt unseres Willens“ ist, so würde die Unausführbarkeit (Unrealisierbarkeit) des höchsten Guts auch die „Falschheit“ des Gesetzes beweisen müssen; dieses würde in diesem Fall „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke
gestellt, mithin an sich falsch sein“ müssen.731 In der Erweiterung des moralischen
Gesetzes, der die aus diesem als reinem sittlichen Denken rekrutierte praktische
Realität zukommt, versteht sich von selbst, daß das höchste Gut, das zur Erweiterung des Gesetzes gehört, so unbedingt ausführbar sein muß, daß andernfalls dieses
Gesetz, das sich in seiner praktischen Realität zum höchsten Gut notwendig erweitert, für falsch genommen werden müßte. Diese Erweiterung des Gesetzes kann als
729
Vgl. zum obersten (supremum) und vollendeten (consummatum) Gut KpV, V 110 Z12 – 111 Z5
<A198f>.
730
Vgl. KpV, V 113 Z26–29 <A204>(„wie in der Analytik bewiesen worden“), 114 Z27–29
<A206>.
731
KpV, V 114 Z1–9 <A205>. Kant ist dieser Ansicht nicht nur in der KpV, sondern auch in
anderen Schriften. Vgl. dazu z.B. Rel., VI 62 Z15–20 <B76f>.
209
Geisteslage eines Rechtschaffenen zum Endzweck, d.h. als Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens zwischen Freiheit und Endzweck, genommen werden, der
die aus dem Gesetz rekrutierte praktische Realität zukommt. In dieser Ausdehnung
der praktischen Realität können weder das Gesetz noch der Endzweck falsch sein.
Sie müssen deshalb praktisch durchführbar sein. Die Geisteslage des Rechtschaffenen, erstreckt zum Endzweck, stellt das Ethos der ganzen Kantischen Ethik dar.
Ohne die Weltbezogenheit, in der auch das höchste Gut zur Realisierung bestimmt
wird, wäre moralisches Gesetz ein Unding. Die Leugnung der Realisierbarkeit –
und nicht des Realisiertseins – des höchsten Guts würde das Ethos der Kantischen
Ethik, die Geisteslage zum Endzweck bzw. die Erweiterung des faktischen Gesetzes zum höchsten Gut und die darin geltende praktische Realität des Gesetzes in
Frage stellen müssen.
H. Cohen aber, der sein Augenmerk auf den Ursprung der Moralität richtet und
ihre Folge, d.i. die andere Hälfte der Kantischen Moralphilosophie weitestgehend
außer acht läßt, stellt diese der letzteren wesentliche Ansicht in Abrede: „Das ist
die Schädigung, mit welcher die selbständige Gewißheit des Sittengesetzes durch
die Komplikation mit dem höchsten Gute beeinträchtigt wird.“732
Nun werden aus der unbedingt notwendigen Realisierbarkeit des höchsten Guts
die Existenz Gottes und das Leben in einer künftigen Welt intellektuell abgeleitet
und ihretwegen postuliert. Würde diese Postulierung als unmöglich ausgeschlossen, so müßte die Vernunft auch „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste“733 , könnte sie also auch nicht als moralische Triebfedern (cf. 2.7.2) ansehen,
weil ohne diese Postulierung das in der Erweiterung aus den Gesetzen entworfene
und demnach sie in sich enthaltende höchste Gut unmöglich werden müßte. Auch
Kants Ausdruck „leere Hirngespinste“ weist Cohen aus seiner Sicht konsequent als
„mit den Grundgedanken durchaus unvereinbare Wendung“ zurück.734
Seine Ablehnung aber hat ihren Grund. Denn die Formulierung, die Unausführbarkeit des höchsten Guts und mithin die Unmöglichkeit der Postulate müßten
die Falschheit des Gesetzes beweisen, kann leicht auf den vereinfachten Ausdruck:
„ohne Gott kein Gesetz“ hinauslaufen. Um dieses Mißverständnis zu verhüten, ist
deshalb stets auf die Differenzierung der Grundlegung der Ethik in zwei Phasen
hinsichtlich des Gesetzes zu achten, in der es unter kognitivem Aspekt an seinem
Ursprung zunächst nur die negative Freiheit zugrundeliegen hat, unter essentiellem
Aspekt aber für seine Folge als den ausführbaren Endzweck notwendig das Dasein Gottes als die oberste Weltursache postuliert. Nur sofern unter dem ersteren
Aspekt das Gesetz aus der negativen Freiheit, die unerforschlich ist, als Faktum
angenommen wird, insofern kann und muß es auch unter dem letzteren Aspekt das
Dasein Gottes postulieren und dabei auch sich selbst als Gottes Gebot verstehen.
Dabei wird als Grundlage seiner Erweiterung (Ausdehnung) zum Endzweck auch
die Idee der intelligiblen Welt bzw. des Reichs Gottes angenommen. Erst diese aus732
Cohen, H., Kants Begründung der Ethik, S. 354f.
KrV, III 526 Z36f <B839>. Vgl. auch Refl. 6958, XIX 214, υ? (1776–78?): „[D]enn sonst hätte
die moralische Idee keine Realität in der Erwartung und wäre ein bloß vernünftelnder Begriff.“
734
Cohen, H., op.cit., S. 355.
733
210
gewogene Auffassung, die beide Phasen in der Ausdehnung des reinen sittlichen
Denkens als feldtheoretischer Struktur zusammenfaßt und die nicht dem Gesetz
allein, sondern seiner Erweiterung im ganzen, d.i. dieser Ausdehnung, Gewicht
beilegt, macht den Cohenschen Einwurf gegen Kant unnötig. (Cf. 3.3.2.a–b).
(c) Die Postulatenlehre steht für den Versuch ein, die Trennung zwischen sinnlicher Natur und reinem sittlichen Denken, die bei der kognitiven, formalistischen Phase der Grundlegung der Ethik entsteht, in der ,moralisch-teleologischen‘ architektonischen Phase derselben praktisch-objektiv zu überwinden.
Die spezifizierende Differenzierung des höchsten Guts in Sittlichkeit und Glückseligkeit basiert auf der Trennung von sinnlicher Natur und reinem sittlichen Denken
(Moralgesetz). Diese Trennung ist schon da, wenn das Gesetz kognitiv als Faktum der Vernunft angenommen wird. Dementsprechend bietet die Postulatenlehre,
die sich um das Dasein Gottes dreht, d.h. um die Realisierbarkeit (Ausführbarkeit)
des vollendeten höchsten Guts als synthetische Verbindung seiner unterschiedenen
Momente, nämlich der Sittlichkeit und Glückseligkeit (weil eine analytische Ableitung der einen aus der anderen bei Kant für nicht ausführbar gehalten wird735 ), die
letztmögliche Chance, diese Trennung zwischen Natur und Denken auf dem Wege der moralisch-praktischen Zwecksetzung mittels des unendlichen Strebens des
menschlichen Willens nach dem ersteren Moment des höchsten Guts, nämlich der
Idee der moralischen Vollkommenheit der Gesinnung, die vom Gesetz unmittelbar
als vorrangiges Ziel gefordert wird, aufzuheben und somit auch theoretische und
praktische Vernunft, die nur hinsichtlich ihres Gebrauchs voneinander verschieden
sind, unter dem Primat der letzteren wieder zu vereinheitlichen, indem die Postulate als praktisch objektivierte Garanten für die Realisierbarkeit des vollendeten
höchsten Guts einstehen. Die Möglichkeit der Aufhebung der Trennung findet sich
bei Kant erst in der objektivierten Dimension des reinen sittlichen Denkens, und
nicht im durch die kognitiv-formalistischen Grundlegung erörterten Ursprung desselben, der als ein bloßer Standpunkt außer der Sinnenwelt erkenntniskritisch unerklärbar ist. (Cf. 3.3.1.f).
(d) Die notwendigen Bedingungen der Realisierbarkeit des vollendeten Guts:
übersinnliche Tugendgesinnung und Gott; das vollendete Gut als die objektivierte intelligible Welt (das Reich Gottes).
Zur Realisierbarkeit nun der Idee des vollendeten Guts, d.i. zur notwendigen Hervorbringung der wahren Glückseligkeit durch die Tugendgesinnung, werden zwei
Hilfsbedingungen erfordert. (1) Sollte die Tugendgesinnung als die bloße Form
der empirischen Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet werden, so würde sie die
Glückseligkeit als Zustand der physischen Zufriedenheit eines endlichen Vernunftwesens in der Welt wohl zufällig, aber nicht notwendig hervorbringen können. Sie
735
Vgl. dazu sowie zu seiner diesbezüglichen Auseinandersetzung mit Stoa und Epikureismus KpV,
V 111–113 <A199–204>.
211
ist aber, wie oben gesehen (cf. 3.4.1.b), als übersinnlich und zugleich auch derart
anzunehmen, daß ihr als solcher die empirische Tat des nach moralischer Verbesserung strebenden Menschen in der Sinnenwelt, dem sie als übersinnliche innewohnt,
genau entsprechen kann. Durch die Annahme der Übersinnlichkeit der Tugendgesinnung wird die Möglichkeit eröffnet, daß sie in ihrem intelligiblen Status eine
notwendige, zumindest mittelbare, kausale Beziehung apriori auf die Glückseligkeit auf empirischer Ebene736 haben kann.737 (2) Da das moralische Gesetz, wie in
der formalistischen Grundlegung des Grundsätze-Kapitels der KpV erwiesen, als
ein Gesetz der Freiheit von der negativen Freiheit als Unabhängigkeit von Naturursachen herrührt, so kann die intelligible Tugendgesinnung als Angemessenheit mit
ihm nicht unmittelbar und alleine die zum Naturverlauf gehörende Glückseligkeit
auf empirischer Ebene hervorbringen.738 Das Gesetz indes gebietet, das vollendete
Gut zu realisieren.739 Gesetz und Natur sind voneinander getrennt, und es muß eine Brücke vom ersteren zur letzteren geschlagen werden. Also wird unvermeidlich
das Dasein einer obersten Weltursache postuliert, die die übersinnliche Tugendgesinnung, die für sich allein keine Glückseligkeit auf der empirischen Ebene hervorbringen kann, mit derselben kausal zu verbinden vermag.740 Der fundamentale
Dualismus von Gesetz und Natur in der Kantischen Moralphilosophie kann erst in
der ,moralisch-teleologischen‘ architektonischen Grundlegung durch die Einführung des Daseins Gottes überwunden werden.
Da nun sowohl die übersinnliche Tugendgesinnung als auch das Dasein Gotauf der intelligiblen Ebene eingeräumt werden, so kann mit der Festhaltung
beider Bedingungen für die Realisierbarkeit des vollendeten Guts auch die Annahme der intelligiblen Welt (Reich Gottes) gerechtfertigt werden.742 Sie ist ohnehin
schon so gedacht, daß sie dem moralischen Gesetz als exekutiver Grund seiner Verbindlichkeit zugrundeliegt,743 und ist bereits – aber latent – als Hintergrund der reites741
736
Im Hinblick auf die Realisierbarkeit des höchsten Guts als Verbindung von Sittlichkeit mit
Glückseligkeit macht Kant hauptsächlich die letztere auf der empirischen Ebene bzw. in der Sinnenwelt zum Gegenstand seiner Analyse. Die Glückseligkeit im Jenseits nämlich kann nicht Gegenstand einer sachlichen Analyse sein. Im Begriff des höchsten Guts ist bei Kant demzufolge immer
das sinnliche Element berücksichtigt. Vgl. hierzu Refl. 6876, XIX 189 Z5–7, υ (1776–78).
737
Vgl. KpV, V 114 Z29 – 115 Z8 <A206f>.
738
Vgl. KpV, V 124 Z25 – 125 Z1 <A224f>.
739
Vgl. KpV, V 125 Z1–4 <A225>. Vgl. auch z.B. KpV, V 129 Z30–32 <A238>, 122 Z4f <A219>,
V 124 Z17–19 <A224>, 134 Z17f <A242>, 142 Z18–21, Z25–27 <A257>etc.
740
Vgl. KpV, V 125 Z4–22 <A225f>; V 115 Z4 <A207>: „vermittelst eines intelligibelen Urhebers
der Natur“. Kant versucht das Postulat des Daseins Gottes auch aus dem gemeinschaftlichen Grund
zu deduzieren. Dabei ist die Leitidee der Deduktion wiederum die Idee vom Reich Gottes. Vgl. dazu
Rel., VI 97 Z17 – 98 Z12 <B135f>.
741
Vgl. dazu KpV, V 132 Z26–29 <A239>.
742
Der Begriff der intelligiblen Welt wird durch die Forderung der Realisierbarkeit des höchsten
Guts in Form der Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft, ebenso wie der Möglichkeit
der Auflösung der Dritten Antinomie der KrV, notwendig eingeführt. Vgl. dazu KpV, V 115 Z21
<A207>, 114 Z35 <A206>, aber auch V 107f <A193>.
743
Vgl. dazu den 3. Abschnitt der GMS (cf. 2.8), aber auch KpV, V 46 Z5–12 <A79>, 94 Z14–19
<A168>.
212
nen intellektuellen Erweiterung des moralischen Gesetzes regulativ antizipiert.744
Diese Rechtfertigung aber bedeutet: Neben den Ideen von Gott und Unsterblichkeit
erlangt auch die Idee der intelligiblen Welt statt der Idee der Freiheit, deren Realität
bereits durch die formalistische Deduktion in der Analytik der KpV erwiesen ist
und die schon die intelligible Welt eröffnet hat, den Status jener drei Vernunftideen,
die in bezug auf das höchste Gut praktische Realität für sich gewinnen, wobei sie
mit dem Reich Gottes identifiziert wird.745 Daher läßt sich die ganze Argumentation für die Annehmbarkeit des höchsten Guts, die oben (cf. 3.3) ausgeführt wurde,
auch als Beweisführung zur praktischen Realität der Idee einer intelligiblen Welt
als des Reichs Gottes begreifen. Kants Grundlegung der Ethik läßt sich demnach
als eine Orts- bzw. Welttheorie interpretieren, der die negative Freiheit zugrundeliegt und deren konstitutive Bedingungen die übersinnliche Tugendgesinnung des
einzelnen Vernunftwesens und das Dasein Gottes sind.
3.5 Die moralische Glückseligkeit beim kontinuierlichen Progressus zur moralischen Vollkommenheit und die physische
Glückseligkeit im Begriff des höchsten Guts.
In den Spätwerken der Kantischen Ethik treten zwei Arten der Glückseligkeit auf,
nämlich die moralische und die physische.746 Kants Ethik, die zwar nicht Glückseligkeitsethik ist, ist gleichwohl, wie oben betrachtet, wesentlich auch durch den
Anspruch des Menschen auf Glückseligkeit bestimmt.
(a) Die moralische Glückseligkeit als Selbstzufriedenheit ist für den Progressus zur moralischen Vollkommenheit in diesem Leben real.
Bei der moralischen Glückseligkeit handelt es sich um die Zufriedenheit mit der
eigenen Person und ihrem sittlichen Verhalten, demnach mit dem, was man tut,
die im immerwährenden Fortschritt der Gesinnung eines Rechtschaffenen durch
die Steigerung der eigenen moralischen Vollkommenheit generiert wird, mit einem
Wort um die Zufriedenheit mit sich selbst (cf. 2.5 und 2.6); sie ist Tugendlohn und
Seelenruhe (nicht mehr durch Neigungen belästigt und herumgetrieben) trotz aller
Leiden und Übel des Lebens und wird als moralische Lust neben dem Gefühl der
Achtung zum moralischen Gefühl gezählt; sie kann aber nicht die primäre moralische Triebfeder sein, weil sie nur auf die Vorstellung des Gesetzes folgt.747
744
Vgl. als darauf hinweisende Stellen, KpV, V 50 Z18–29 <A87f>, 86 Z34 – 87 Z12 <A154f>,
105 Z19 <A188>.
745
Vgl. KpV, V 137 Z1f <A246>.
746
Vgl. zu beiden Arten der Glückseligkeit Rel., VI 67 <B86>, 75 Anm. <B100>; MS, VI 387.
747
Zur moralischen Glückseligkeit vgl. Rel., VI 67 <B86>, 75 Anm. <B100>; V.e.vorn.Ton, VIII
395 Anm.; MS, VI 377f, 387, 399 Z25–27; Refl. 7311, XIX 309, ψ? ϕ? τ? (1780–89? 1776–78?
1775–76?): „Glückseligkeit ist das Bewußtsein einer immerwährenden Zufriedenheit mit seinem
Zustand. Nun kann man durch die Tugend an sich glückselig sein, wenn man das physische seines Zustandes für gleichgültig hält und im Bewußtsein seines moralischen Zustandes, sofern er ein
213
Der neue Mensch, der durch ,eine einzige unwandelbare Entschließung‘ (Wiedergeburt) sich intelligibel im Zustand der Sinnesänderung (Revolution in der Gesinnung) und empirisch im kontinuierlichen Werden zum Ideal der moralischen
Vollkommenheit (allmähliche Reform) befindet, nimmt alle Leiden und Übel des
Lebens „als so viel Anlässe der Prüfung und Übung seiner Gesinnung zum Guten
willig auf“; aus dieser Grundhaltung des neuen Menschen zum Leben entspringt
die Zufriedenheit, d.i. die moralische Glückseligkeit, „welche im Bewußtsein seines Fortschritts im Guten (...) besteht“.748 Das Fundiertsein des Progressus des
Rechtschaffenen in der beständigen Ausdehnung des reinen sittlichen Denkens
aus der Freiheit auf den Endzweck als die moralische Vollkommenheit und die
aus dieser zu erhoffende Glückseligkeit im Jenseits bringt ihm Zufriedenheit mit
sich selbst und Seelenruhe (Trost und Hoffnung) bei allen empirischen Lebensschwierigkeiten und selbst bei kummervollstem Leben (die intellektuelle Versicherung).749 Empirisch aber kann das Vertrauen zu diesem Fundiertsein „aus der
Vergleichung seines bisher geführten Lebenswandels mit seinem gefaßtem Vorsatze“750 bestätigt werden (die empirische Versicherung). Unter der moralischen
Glückseligkeit wird diese intellektuelle und zugleich empirische Versicherung „von
der Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung“751 verstanden. Diese für den kontinuierlichen Progressus der Gesinnung eines Rechtschaffenen in diesem Leben reale moralische Glückseligkeit als Selbstzufriedenheit bei allem Leid und Übel wird in der KpV lediglich als „Analogon der Glückseligkeit“ bezeichnet, weil der Name Glückseligkeit
bereits für die physische Glückseligkeit und somit für eines der beiden Elemente des höchsten Guts verwendet ist. Sie ist jedoch darum nicht, wie K. Düsing
meint, „systematisch bedeutungslos“,752 sondern in der Systematik der ,moralischteleologischen‘ Progression des realen Progressus bei allen Lebensschwierigkeiten
einzigartig relevant. Der reale unendliche Progressus der Gesinnung eines endlichen Vernunftwesens nach dem Ideal der moralischen Vollkommenheit stellt einen
der zentralen Begriffe im Ethos der Kantischen Ethik dar. Er würde, sachlich gesehen, in der theoretischen Philosophie Kants dem Fortgang der Verstandessynthesis
immerwährender Fortschritt zum bessern ist, den ganzen Wert seines Daseins setzt.“
748
Rel., VI 75 Anm. <B100>.
749
Vgl. dazu Religionslehre Pölitz, XXVIII 1090: „Das menschliche Glück ist nicht Besitz, sondern
Fortschritt zur Glückseligkeit. Aber volle Selbstzufriedenheit, trostvolles Bewußtsein der Rechtschaffenheit ist ein Gut, das uns nie geraubt werden kann, mag gleich unser äußerer Zustand von einer
Beschaffenheit sein, von welcher er immer wolle. Und in der Tat wird doch alles Erdenglück bei
weitem durch den Gedanken überwogen, daß wir, als moralisch gute Menschen, uns einer künftigen
ununterbrochenen Glückseligkeit würdig gemacht haben! Zwar wird uns diese innere Lust an unserer
eigenen Person [sc. die Selbstzufriedenheit] nie den Verlust eines äußern glücklichen Zustandes ersetzen, aber doch mit der Aussicht in die Zukunft, selbst bei dem kummervollsten Leben, aufrichten
können.“
750
Rel., VI 68 <B87>.
751
Rel., VI 67 <B86>.
752
Düsing, K., Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien
Bd. 62, 1971, S. 26.
214
in der Zeit753 entsprechen. Er ist der Sache nach Fortgang in absoluter Gegenwart754 schlechthin, aus dem das Gefühl der Zufriedenheit des Rechtschaffenen
mit sich selbst entspringt.
(b) Die physische Glückseligkeit ist für einen Rechtschaffenen erst in einer
künftigen Welt zu erwarten.
Unter der physischen Glückseligkeit, die sich aus der pathologischen Lust755 rekrutiert, wird „die Versicherung eines immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit
mit seinem physischen Zustand (Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen)“756 bzw. die Zufriedenheit „mit dem, was die Natur beschert,
mithin was man als fremde Gabe genießt“,757 verstanden. Wenn Glückseligkeit
als „die Lust an unserem gesamten Zustand“ gegenüber der „Lust an seiner eigenen Person“ bzw. „an seiner Freiheit“758 oder als „die Befriedigung aller unserer
Neigungen“759 definiert wird, so hat man es dabei mit der physischen Glückseligkeit zu tun, die der geistigen Zufriedenheit mit sich selbst entgegengesetzt wird.
Sie bezieht sich zunächst auf die obengenannte sinnliche, zufällige Glückseligkeit
in Refl. 6907 (cf. 2.4.2), die dem Naturverlauf untergeordnet wird. Zuerst nämlich gelangt das pathologisch-praktische Gefühl der Lust und Unlust als Wesenselement solcher Glückseligkeit unter dem Prinzip der Selbstliebe zum Status der
primären Bestimmungsbedingung der Willkür, worunter dann Erscheinungen, die
gemäß der Naturkausalität entstehen, als empirische materiale Bestimmungsgründe jeweils die Willkür bestimmen.
Der Begriff der Epigenesis der Glückseligkeit aus der Autokratie der Freiheit in
Refl. 6867 (cf. 2.4.4) und mithin der des höchsten Guts besteht in der Absicht, die
physische Glückseligkeit, die an sich wohl zufällig, aber nicht böse ist, durchs moralische Verhalten sicher und beständig, ja notwendig zu machen und somit in die
wahre zu transformieren, wozu, ebenso wie bei der moralischen Glückseligkeit,
die Überwindung der Selbstliebe, dementsprechend auf der Ebene der ethischen
Grunderfahrung die Revolution in der Gesinnung (Gründung eines Charakters),
auf der Ebene der ethischen Theorie aber die formalistische Grundlegung (Fundierung der Ethik in Gesetz und Freiheit) erfordert wird. Wegen dieser Herkunft
aus der physischen Glückseligkeit sieht man an der Glückseligkeit im höchsten
vollendeten Gut immer dasjenige, „was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber
Zum „Fortgang in der Zeit“ vgl. KrV, III 179 Z35 und 37 <B255>, 154 Z24f <B211>.
Cf. Fußnote 169 in 1.2.4.
755
Zur pathologischen Lust vgl. V.e.vorn.Ton, VIII 395 Anm.; MS, VI 378: „Die Lust nämlich,
welche vor der Befolgung des Gesetzes hergehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde, ist
pathologisch, und das Verhalten folgt der Naturordnung“. Vgl. auch Refl. 7320 (cf. Fußnote 310 in
2.4.3).
756
Rel., VI 67 <B86>.
757
MS, VI 387.
758
Religionslehre Pölitz, XXVIII 1089.
759
KrV, III 523 <B834>.
753
754
215
nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist“.760 Auch die
Definition der Glückseligkeit761 in der Dialektik der KpV wird im Zusammenhang
mit der moralisch-teleologischen Progression zum höchsten Gut angegeben, das in
sich die physische Glückseligkeit impliziert. Daher wird bei der Analyse der Realisierbarkeit des vollendeten Guts als Verbindung der Sittlichkeit mit der Glückseligkeit in der Dialektik der KpV die in der Sinnenwelt angetroffene Glückseligkeit
zu ihrem Gegenstand gemacht. Im Begriff der Seligkeit nun aber, an der man das
unbedingt maximierte Bestandstück des höchsten Guts zu sehen hat, wird sowohl
das Element der physischen Glückseligkeit762 als auch das der Selbstzufriedenheit
berücksichtigt.763
Der physischen Glückseligkeit, die in der Sinnenwelt an sich nur zufällig und
nicht sicher und beständig ist, kann der Rechtschaffene in diesem Erdenleben kaum
teilhaftig werden, zumal er sie durch sein moralisches Verhalten und seine Rechtschaffenheit aufopfern muß, sondern er kann sie als das höchste Gut, d.h. als die
Belohnung für seine Sittlichkeit, erst in einer künftigen Welt (im Reiche Gottes)
erhoffen, während er doch die moralische Glückseligkeit als Zufriedenheit mit
sich selbst aus seinem Wohlverhalten, obwohl sie nur negativ ist, schon in seinem kontinuierlichen Progressus zur moralischen Vollkommenheit im Erdenleben
real erhalten kann.764 „Was aber die Glückseligkeit betrifft, die den andern Teil
der unvermeidlichen menschlichen Wünsche ausmacht, so sagte er ihnen voraus:
daß sie auf diese [sc. die Glückseligkeit] sich in ihrem Erdenleben keine Rechnung machen möchten. Er bereitete sie vielmehr vor, auf die größten Trübsale und
Aufopferungen gefaßt zu sein; doch setzt er (weil eine gänzliche Verzichtung auf
das Physische der Glückseligkeit dem Menschen, solange er existiert, nicht zugemutet werden kann) hinzu; ,Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel
wohl vergolten werden‘.“765 Dieser Ansicht nach Mt 5, 11f entspricht auch die
760
KpV, V 111 <A199>. Vgl. auch Refl. 6876, XIX 189, υ (1776–78): „Das höchste Gut enthält
ein pathologisches (unmittelbar angenehm, aber nicht immer gut) und ein praktisch Gut.“ Cf. 3.3.2.a.
761
Vgl. KpV, V 124 Z21–25 <A224>. Kant steht auch einmal der moralischen Glückseligkeit und
der Seligkeit erkenntnistheoretisch skeptisch gegenüber: „Von der bloß moralischen Glückseligkeit
oder der Seligkeit verstehen wir nichts. Wenn alle Materialien, die die Sinne unserem Willen liefern,
aufgehoben werden: wo bleiben da Rechtschaffenheit, Gütigkeit, Selbstbeherrschung, welche nur
Formen sind, um alle diese Materialien in sich zu ordnen?“ (Refl. 6883, XIX 191, υ? 1776–78?).
Die gute Gesinnung nämlich und ihre Eigenschaften als bloße Formen brauchen ihre Materie. Auch
daraus ist ersichtlich, daß Kant einen theoretischen Grund hat, die physische Glückseligkeit nicht
außer acht lassen zu können.
762
Vgl. dazu z.B. KpV, V 25 Z12–20.
763
(763) Vgl. dazu z.B. Religionslehre Pölitz, XXVIII 1089: “‘Erstreckt sich diese Selbstzufriedenheit auf unsere ganze Existenz; so heißt sie Seligkeit.“
764
Vgl. dazu Bohatec, J., Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft“, Hamburg 1938, S. 487: „Kann man daher die moralische Glückseligkeit schon
in dieser Welt besitzen, wie man das Ideal des Gottesreiches vorwegnehmen darf als jenen innerlichen
Besitz in diesem Äon, so ist die physische Glückseligkeit als Befreiung von den Übeln Gegenstand
der Hoffnung und nur im Jenseits zu erwarten.“ Vgl. auch S. 479 und Anm. 73.
765
Rel., VI 134 <B203>. Vgl. auch Rel., VI 161 <B243>: „Was nun die dem Menschen sehr
natürliche Erwartung eines dem sittlichen Verhalten des Menschen angemessenen Loses in Ansehung
der Glückseligkeit betrifft, vornehmlich bei so manchen Aufopferungen der letzteren, die des ersteren
216
Exegese Kants zu Mt 6, 33 (Lk 12, 31), derzufolge „das beständige Trachten nach
dem Reiche Gottes“ sich auf die moralische Glückseligkeit bezieht, während es
die physische Glückseligkeit in einer künftigen Welt betrifft, „daß ihm das Übrige
alles zufallen werde“.766
[sc. des sittlichen Verhaltens] wegen haben übernommen werden müssen, so verheißt er [sc. der
Lehrer, der Stifter der ersten wahren Kirche] ([Matth.] V, 11. 12) dafür Belohnung einer künftigen
Welt“; Met.L/1, XXVIII 289: „Da ich nun aber sehe, daß ich dieser Glückseligkeit, der ich mich
würdig gemacht habe, in dieser Welt gar nicht teilhaftig werden kann, sondern sehr oft durch mein
moralisches Verhalten und durch meine Rechtschaffenheit vieles meiner zeitlichen Glückseligkeit
habe aufopfern müssen: so muß eine andere Welt sein, oder ein Zustand, wo das Wohlbefinden des
Geschöpfs dem Wohlverhalten desselben adquat sein wird.“
766
Rel., VI 67f <B86f>.
217
218
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