Störungen des Sozialverhaltens in der Kinder

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Vortrag bei der Tagung „Sozialverhaltensförderung in Therapie und
Pädagogik“, Neubrandenburg, 30.11. 2011
Störungen des Sozialverhaltens in der Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie –
Möglichkeiten und Grenzen
Dr. med. Emil Branik
Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Asklepios Klinik Harburg, Hamburg
Gliederung:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Fallvignette
Einteilung und Definition
Kritik am gängigen Verständnis der SSV, den
Leitlinien und der therapeutischen Praxis
Therapie von SSV (allgemein)
Therapie von SSV (stationär)
Exkurs: SSV und Persönlichkeitsstörungen
Resümee
„Therapie!!!“
„Therapie???“
SSV
SSV = psychische Störung + antisoziales Verhalten
Kindheit
Jugend
Erwachsenenalter
Störung des
Dissoziale
Aggressives
<50 % Sozialverhaltens 40 %
Persönlichk.-stör.
Verhalten
(in Anlehnung an
Stadler 2011)
Adoleszentäres
Dissoziale
antisoziales Verh. 5 % Persönlichk.-stör.
SSV – Einteilung und Definition I
Die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens
bezeichnet ein Verhaltensspektrum
angefangen von chronifizierten Konflikten mit
Regeln und Autoritätspersonen (trotzigoppositionelles Verhalten)
über anhaltende Verletzungen sozialer Normen
(Lügen, Stehlen, Weglaufen, Vertrauensbruch,
Schulschwänzen)
bis hin zu wiederholten ernsthaften Verletzungen
der Integrität anderer (Feuerlegen, Gewaltausübung,
Vergewaltigung, Vandalismus, Tiere quälen).
SSV – Einteilung und Definition II
Diagnostische Klassifikation nach ICD-10:
Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung
des Sozialverhaltens (F91.0)
Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden
sozialen Bindungen (F91.1)
Störungen des Sozialverhaltens bei vorhandenen
sozialen Bindungen (F91.2)
Trotzig-oppositionelle Störung (F91.3)
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und
der Emotionen (F92)
Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)
SSV – Einteilung und Definition III
Unterteilung nach der Art / Intentionalität und dem
zeitlichen Verlauf der Störung:
Dichotomie instrumentell vs. impulsiv
(Vitiello und Stoff
1997)
• instrumentell-dissoziales (proaktives) Verhalten
• impulsiv-feindseliges (reaktives) Verhalten
• intrinsisches ressentimentgeladenes Verhalten
(Sutterlüty 2002/2007)
zeitlich begrenzt vs. persistierend (Moffitt 1993) [DSM-IV]
• auf die Adoleszenz beschränktes antisoziales
Verhalten
• persistierendes antisoziales Verhalten
SSV – Einteilung und Definition IV - Kritik
Aggressives Verhalten ist extrem vielfältig.
Es ist kaum möglich, aggressives Handeln ausschl. auf
der Basis des registrierten Verhaltens zu typologisieren.
Erst die Betrachtung der bewussten und unbewussten
Absichten des Täters erschließt die Unterschiedlichkeit
gewalttätigen Handelns, die demjenigen verborgen
bleibt, der sich nur auf die Betrachtung des Verhaltens
selbst beschränkt.
SSV
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Krankheit an sich?
Sozialisationsdefizit?
Folge von schlechtem Einfluss der Umgebung?
Folge von Traumen und/oder Vernachlässigung?
Genetische Anlage / Disposition / neurobiologische
Dysfunktion?
Folge und/oder Bestandteil von anderen Störungen?
Bindungs-, Beziehungs-, Selbstwertstörung?
Defizit an Gewissen und Moral?
Normative Krise?
Komplexes Zusammenspiel genetischer,
individueller und allgemeiner Umweltfaktoren
SSV
Prävalenz:
Periodenprävalenz: 4–9 %
Kumulative Inzidenz: bis
zum 25. Lj. erfüllten 22,4
% einer repräsentativen
Stichprobe mind. einmal
die ICD-Kriterien von F91,
F92 oder F60.2
Anteil an stationären kjp.
Stichproben: < 35 %
Komorbidität:
24,7 % Depressionen
19,4 % Angststörungen
46,9 % HKS
„Komorbidität“
ist ein problematischer Begriff
ist die Folge der kategorialen Klassifikation von
psychischen Störungen
klammert ätiologische und pathogenetische Fragen
aus
klammert die Beziehung zwischen den Symptomen aus
klammert die Entwicklungshierarchie der Symptome
aus
die Komorbiditätsraten sind extrem hoch
emotionale, Verhaltens- und schulische Störungen
überlappen sich sehr häufig
hat Folgen für das therapeutische Vorgehen
„störungsspezifische Therapie“
• ist ebenfalls ein problematischer Begriff
• entstammt ebenfalls der kategorialen Klassifikation von
psychischen Störungen
• impliziert eine exakte Beziehung zwischen ICD-/DSMDiagnosen und Therapie, die mit klinischer Realität oft
wenig zu tun hat
• wirft eine Menge Fragen hinsichtlich Praktikabilität auf
• ignoriert wichtige Ergebnisse der (Psycho-)
Therapieforschung
• ignoriert den Unterschied zwischen Forschungsdesign
und klinischer Versorgungssituation („efficacy“ vs.
„effectivness“)
• protegiert pharmakologische und standardisierte
(„manualisierte“) Methoden
Therapie von SSV (allgemein) I
Es liegen zahlreiche positive (MST, Elterntrainings,
CBT), z. T. umstrittene Forschungsergebnisse vor
Unzureichender Transfer des Forschungswissens in die
klinische Praxis
Einseitige Empfehlungen der kjp. Leitlinien
(Ausblendung der Bedeutung von Bindungen,
Beziehungs- und Selbstwertstörung, Störung der
Repräsentanzen des Selbst und der Anderen)
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten besteht eine
Abhängigkeit von Kontextbedingungen (familiäre,
ökonomische, schulische, kulturelle Aspekte):
Ohne Kooperation mit dem Umfeld geht es nicht!
Ohne ein tragfähiges Arbeitsbündnis und den
Wunsch, etwas (auch bei sich selbst!) zu ändern,
geht ebenso wenig!
Therapie von SSV (allgemein) II
Der Pädagogik kommt ein hoher Stellenwert zu
Behandlung in homogenen Gruppen aus lauter
Verhaltensgestörten galt als ungünstig, es gibt aber
neuerdings auch gegenläufige Evaluationen (Grasmann
und Stadler 2011: VIA)
Spezialisierte Behandlungsprogramme und geeignete
Nachsorge sind erforderlich
Spezialisierte Behandlungsprogramme stellen hohe
Ansprüche
Realistische Ziele beugen vielerlei Enttäuschungen vor
Nur langfristige Behandlungen haben Erfolgsaussichten
Therapie von SSV (stationär) I
Im Indikationsprozess sollten immer auch die
Behandlungsvoraussetzungen beim Patienten und
seinen Versorgern berücksichtigt werden:
Passung zwischen dem Patienten mit einem bestimmten
klinischen Syndrom und den gegebenen stationärtherapeutischen Rahmenbedingungen
Motivation
Umfeld und Kontextbedingungen
Falls vorhanden, bisherige Erfahrungen des Patienten
bzw. der Familie mit therapeutischen Ansätzen erheben
Entlassungsperspektive
Therapie von SSV (stationär) II
(innerhalb allgemeiner kjp. Stationen selten sinnvoll)
Cave:
destruktives grenzüberschreitendes Verhalten
Missbrauch des therapeutischen Milieus
Gefährdung anderer Patienten
destruktive Beziehungsdynamik
Diskrepanz zwischen notwendiger Behandlungsdauer
der Störung an sich auf der einen und realistischen
Aufenthaltszeiten und oft fehlender geeigneter
Nachsorge auf der anderen Seite
neben den Symptomen der SSV spielen für den Verlauf
emotionale, zwischenmenschliche und kognitive
Defizite eine äußerst wichtige Rolle
Therapie von SSV (stationär) III
(innerhalb allgemeiner kjp. Stationen selten sinnvoll)
Cave:
Behandlungsfortschritte und das Gelernte können nicht
ohne weiteres auf die Lebenswirklichkeit draußen
generalisiert werden
Loyalitätskonflikte der Jugendlichen zwischen Eltern
und Klinik
Ohne soziale Perspektiven und einen geeigneten
Entlassungsrahmen ist die Klinikbehandlung – bis auf
psychiatrische Notfallinterventionen – kontraindiziert!
Keine „Psychiatrisierung“ sozialer Notlagen!
Therapie von SSV (stationär) IV
(innerhalb allgemeiner kjp. Stationen selten sinnvoll)
Krisenintervention und Diagnostik sind ggf. geboten
Die Heterogenität dieser Patientengruppe macht
individuelle Indikationsstellung / Behandlungsstrategie
unabdingbar!
Verlaufsvoraussagen sind trotz empirisch bekannter
Prädiktoren schwierig!
Häufigste „Therapie“ der Wahl: Errichtung von Grenzen,
Struktur und sozialer Perspektive!
Gemeinsamkeiten zwischen SSV und
Persönlichkeitsstörungen
Jeweils ein sehr heterogenes Patientenkollektiv
Bei Patienten mit SSV werden später gehäuft
Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert
SSV weisen in großem Umfang jene Merkmale auf, die
charakteristisch für Persönlichkeitsstörungen sind:
Tendenz zu chronischen Verläufen (bei SSV > 50 %)
Unflexibilität, schlechte Anpassung, rigide
Interaktions- und Verhaltensmuster, Kumulation von
Risikofaktoren
hohe Inanspruchnahme von kjp./psychosozialen
Diensten
hohe Anforderungen an therapeutische Konzepte
mehr oder weniger beeinträchtigte Fähigkeit, aus kurz
dauernden therapeutischen Angeboten (u. manchmal
überhaupt) zu profitieren
Viele Kinder mit schweren Persönlichkeitsstörungen zeigen
eine Blockade oder einen Verlust der Fähigkeit, einen
reflektierenden Standpunkt einzunehmen (trifft für einen
Teil dissozialer Menschen nicht zu!):
Sie erfassen schlecht die Bedeutung und den Zweck
von seelischen Zuständen bei sich und anderen.
Sie entfalten ein rigides Muster, nach dem sie ihre
Erfahrungen und Beziehungen organisieren.
Die Rigidität in ihrem Erleben und Verhalten ruft bei
Anderen Reaktionen hervor, welche die innere
Organisation dieser Kinder bestätigt und verstärkt.
Grundprinzipien der Behandlung I
Warum, was und mit welchen Zielen?
…wenn es denn zu einem Behandlungskontrakt kommt:
Schutz vor Destruktivität!!!
Formulierung eines integrativen Behandlungsfokus
Umfassende, d.h. multimodale Behandlung
Antizipation von Widerständen gegen die Therapie und
Veränderung überhaupt
Verständnis von Interaktionen
Vorwegnahme der zu erwartenden Beziehungsdynamik
Nutzung der Gegenübertragung, um die innere Welt des
Kindes/Jugendlichen und die charakteristischen
familiären Beziehungsmuster besser zu verstehen
Grundprinzipien der Behandlung II
…wenn denn ein psychotherapeutischer Prozess
angestrebt werden kann
Destruktive Verhaltenszirkel verunmöglichen sichere
Bindung und Reflexion
Grenzen setzen (und weiter nach dem Auslöser und der
Bedeutung der Krise suchen)!
Anhebung der Enttäuschungstoleranz
Sicherung der Zusammenarbeit mit den
Eltern/Versorgern
Vorwegnahme möglicher Probleme (z.B. der Angst der
Eltern, dass ihnen die Kinder weggenommen werden)
Hin zu einem Narrativ über die eigene Erfahrung und
Umwelt
Grundprinzipien der Behandlung III…
…wenn denn ein psychotherapeutischer Prozess
in Gang kommt
Dem eigenen Verhalten und jenem von Anderen
Bedeutung zuschreiben
Mehr über innere Zustände und Beziehungen als über
das Verhalten sprechen
Zu Anfang Themen wie Neid, Trauer, Verletzlichkeit,
Wut, Grandiositätsgebaren oder Verleugnung möglichst
nicht angehen
Möglichkeit und Erfahrung, mittels einer Beziehung zu
einer anderen Person Hilfe zu bekommen
Reflexionsfunktion entsteht im Kontext sicherer
Bindungen, des Vertrauens und der Zusammenarbeit
Diese Art von „Beziehungstherapie“ erfordert eine
ausreichende Zeit, Intensität und Frequenz
Grundprinzipien der Behandlung IV
z.B. rechtzeitiges Grenzen-Setzen
wirkt Eskalationsspiralen entgegen
gibt Orientierung, Sicherheit und Berechenbarkeit
dokumentiert für den Patienten Interesse, Involvierung,
Einsatzbereitschaft und Belastbarkeit seines
Gegenübers
ist häufig genau das, wonach der Patient sucht und was
er braucht
ermöglicht Kindern aus oft unzureichend strukturierten
Umfeldbedingungen die Erfahrung von Verlässlichkeit,
Berechenbarkeit und Unzerstörbarkeit des
Bezugssystems
sichert einen Rahmen, in dem (Psycho-)Therapie und
psychische Arbeit überhaupt eine Chance haben
dient dem Schutz von potentiell hilfreichen Beziehungen
ist daher keine rein pädagogische Maßnahme, sondern
ein Bestandteil des therapeutischen Settings
Grundprinzipien der Behandlung V
z.B. rechtzeitiges Grenzen-Setzen
„Wen ich laufend überrumpeln, aus der Rolle bringen,
entwerten, belügen, ausspielen usw. kann, ist zu
schwach, um mir zu helfen!“
ermöglicht eine Beziehung zu abgegrenzten Menschen,
die missbrauchende und fusionierende Beziehungen
vermeidenden können
fordert dazu auf, nicht mittels antisozialen Agierens zu
kommunizieren, sondern schwierige Gefühle und
Überforderung mit einem Gegenüber auf weniger
destruktive Art mitzuteilen (z.B. mittels Sprache)
ersetzt nicht die Suche nach (psycho-)therapeutischen
Ansatzpunkten
Therapie von SSV (stationär) - Resümeé
(innerhalb allgemeiner kjp. Stationen selten sinnvoll)
Allein aus den Diagnosen F91 oder F92 ist kein
therapeutisches Konzept ableitbar (du Bois 2006).
In den Jugendkrisen laufen zahlreiche
psychopathologische, dynamische und strukturelle
Tatsachen zusammen. Sie müssen alle berücksichtigt
werden (du Bois 2006).
Therapieangebote nicht nach dem Gießkannenprinzip!
Therapie von SSV (stationär) – Resümeé II
(innerhalb allgemeiner kjp. Stationen selten sinnvoll)
Zur Indikationsstellung einer stationären kjp. Therapie
gehören unbedingt:
die Prüfung der Behandlungsvoraussetzungen
die Prüfung, ob die Rahmenbedingungen für die
geplante Maßnahme geeignet sind
Die Klinik ist nicht primär der Ort der sozialen
Kontrolle, Disziplinierung oder Überwachung und auch
kein Lückenbüßer für strukturelle Defizite in der
Jugendhilfe
Therapie von SSV (stationär) – Resümeé III
(innerhalb allgemeiner kjp. Stationen selten sinnvoll)
Wenn es zu außerhäuslicher Betreuung kommen muss:
Eine tragfähige längerfristige sozialpädagogische
Betreuung in der Jugendhilfe ist in der Regel ein
geeigneter Rahmen, um bei entsprechender
Indikation von dort aus (ambulante)
therapeutische Hilfen in Anspruch zu nehmen.
Trotz aller Zahlen und Leitlinien:
es gibt Überraschungen (positive und negative)!
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