DIE RADIODOKTOR-INFOMAPPE Ein Service von: ORF A-1040 Wien, Argentinierstraße 30a Tel.: (01) 50101/18381 Fax: (01) 50101/18806 Homepage: http://oe1.ORF.at Österreichische Apothekerkammer A-1091 Wien, Spitalgasse 31 Tel.: (01) 404 14-600 Fax: (01) 408 84 40 Homepage: www.apotheker.or.at Österreichisches Bundesministerium für Gesundheit A-1030 Wien, Radetzkystr. 2 Tel.: (01) 71100-4505 Fax: (01) 71100-14304 Homepage: www.bmg.gv.at/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 1 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT Die Sendung Die Sendereihe „Der Radiodoktor“ ist seit 1990 das Flaggschiff der Gesundheitsberichterstattung von Ö1. Jeden Montag von 14.05 bis 14.40 Uhr werden interessante medizinische Themen in klarer informativer Form aufgearbeitet und Ö1- Hörerinnen und -Hörer haben die Möglichkeit, telefonisch Fragen an das hochrangige Expertenteam im Studio zu stellen. Wir über uns Seit September 2004 moderieren Univ.-Prof. Dr. Karin Gutiérrez-Lobos, Univ.-Prof. Dr. Manfred Götz, Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger und Dr. Christoph Leprich die Sendung. Das Redaktionsteam besteht aus Mag. Nora Kirchschlager, Dr. Nadja Kwapil, Martin Rümmele, Dr. Doris Simhofer, Dr. Michaela Steiner, Dr. Ronny Tekal und Dr. Christoph Leprich. Das Service Seit dem 3. Oktober 1994 gibt es das, die Sendereihe flankierende, Hörerservice, das auf größtes Interesse gestoßen ist. Die zu jeder Sendung gestaltete Infomappe mit ausführlichen Hintergrundinformationen, Buchtipps und Anlaufstellen wird kostenlos zur Verfügung gestellt und ist bereits am Sendungstag auf der Ö1-Homepage zu finden. Diese Unterlagen stellen in der Fülle der behandelten Themen ein MedizinLexikon für den Laien dar. Die Partner Ermöglicht wird die Radiodoktor-Serviceleiste durch unsere Partner: die Österreichische Apothekerkammer und das Österreichische Bundesministerium für Gesundheit. An dieser Stelle wollen wir uns ganz herzlich bei unseren Partnern für die gute Zusammenarbeit bedanken! Wir bitten um Verständnis, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit in dieser Infomappe zumeist auf die weiblichen Endungen, wie z.B. PatientInnen, ÄrztInnen etc. verzichtet haben. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 2 WAS GIBT’S HEUTE EIGENTLICH ZU ESSEN? – EINE KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Mit Dr. Christoph Leprich 5. August 2013, 14.05 Uhr, Ö1 Sendungs- und Infomappengestaltung: Mag. Nora Kirchschlager Redaktion: Dr. Christoph Leprich RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 3 INHALTSVERZEICHNIS INHALTSVERZEICHNIS WAS GIBT’S HEUTE EIGENTLICH ZU ESSEN? – 6 EINE KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG 6 AUF DER JAGD 7 DER MENSCH ALS KOCH 7 DER BEGINN VON ACKERBAU UND VIEHZUCHT – DIE NEOLITHISCHE REVOLUTION8 Keine Erfindung der Schweizer 8 Brei statt Brot 9 Luxusware Fleisch 9 OBST UND GEMÜSE Kraut und Rüben Würzige Zeiten Saisonale Raritäten 9 10 10 10 REVOLUTION AM EUROPÄISCHEN ESSTISCH Ein idealer neuer Hungerstiller Eine seltsame Knolle aus fernen Landen Unverzichtbarer Gemüsegenuss Wann kam der Reis nach Europa – und woher? Schokolade – eine Verführerin mit bewegter Vergangenheit Beginn einer süßen Ära Zwei tropische Vitaminspender 11 11 12 13 13 14 14 15 TRINKGEWOHNHEITEN Wasser Alkoholika Für Frauen verboten Muntermacher 15 15 16 16 16 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 4 INHALTSVERZEICHNIS HUNGER Hungerkatastrophen Auswege 17 18 18 INFOLINKS BUCHTIPPS INTERVIEWPARTNER/INNEN 20 22 23 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 5 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG WAS GIBT’S HEUTE EIGENTLICH ZU ESSEN? – EINE KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Über Hunderttausende von Jahren lebte der Mensch von dem, was er in seiner Umgebung fand, sammelte oder jagte. Er ernährte sich von Kräutern, Blättern, Wurzeln, wild wachsendem Getreide, von Obst und Pilzen sowie zunächst von kleinen Tieren - etwa Fischen, Vögeln, Insekten - und später von großen wie Wisenten, Nashörnern oder Mammuts. Vor rund 11.000 Jahren begann dann, ausgehend vom so genannten „fruchtbaren Halbmond“, einer Region, die vom heutigen Jordanien über Syrien, die Türkei und den Irak bis zum Iran reicht, eine erstaunliche und weitreichende Entwicklung: Der Mensch wurde sesshaft, begann Tiere zu domestizieren und Ackerbau zu betreiben. Getreide machte ihn unabhängig vom stets unsicheren Jagdglück und durch die Möglichkeit der Vorratshaltung hatte er nun dauerhaft zu essen. Mit der Sesshaftwerdung begann auch der Handel mit Nahrungsmitteln. Das meiste von dem, was wir heute im Supermarkt kaufen können, war ursprünglich nicht in Europa heimisch. Vieles stammt aus China - etwa Marillen und Orangen aber auch Karotten und Zwiebeln. Reis wiederum hat seinen Ursprung in Indien und zahlreiche Gewürze, darunter Pfeffer, Zimt und Ingwer haben die Kreuzritter im Mittelalter aus dem Orient mitgebracht. Eine wahre Revolution erlebte der europäische Esstisch mit der Entdeckung Amerikas. Als Christoph Kolumbus 1493 von seiner Expedition nach Amerika zurückkehrte, hatte er mehrere für uns mittlerweile unverzichtbare Gemüse- und Getreidesorten an Bord: Tomaten, Paprika, Mais und Kartoffeln. Dass letztere durchaus schmackhaft und außerdem ein idealer Hungerstiller ist, realisierten die Europäer übrigens erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch den Gaumenschmeichler schlechthin - Schokolade - würden wir nicht kennen, wäre Amerika nicht entdeckt worden. Begleiten Sie uns auf einem kulinarischen Streifzug vom Beginn der Menschheit bis ins 19. Jahrhundert! RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 6 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG AUF DER JAGD Jagdtechniken, um größere Tiere zu erlegen, entwickelten unsere Vorfahren vor rund 500.000 Jahren. Gejagt wurden alle Tiere, derer man habhaft werden konnte. Dazu zählten unter anderem Elche, Nashörner, Wisente und natürlich Mammuts. Eine Jagd bedeutete für die Menschen der Steinzeit eine äußerst aufwendige Angelegenheit. Zuerst musste man eine Herde oder ein einzelnes Tier zu Fuß verfolgen, eventuell Fallen ausheben und dann ging es natürlich darum, das Tier zu töten – eine enorm gefährliche Angelegenheit. Anschließend wurde die Beute mit den wenigen Werkzeugen, die man besaß, zerteilt. Eine erfolgreiche Jagd dürfte in der Steinzeit etwas nicht Alltägliches gewesen sein, meint Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Lehrender am Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg und Autor des Buches „Europäische Esskultur - Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute“. Fleisch zu essen war demnach etwas ganz Besonderes, glaubt auch Univ.-Prof. Dr. Jürgen König, Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften an der Universität Wien. Der Wissenschaftler fügt hinzu: „Da z.B. das Mammut zwischen vier bis sieben Tonnen wog, musste das Fleisch vor Ort verarbeitet und gegessen werden. Es gab ja noch keine effektiven Methoden der Haltbarmachung. Das heißt, Fleisch konnte man nur dann in größeren Mengen verzehren, wenn es einen Jagderfolg gegeben hat“. DER MENSCH ALS KOCH Über einen langen Zeitraum hinweg hat der Mensch Nahrungsmittel – so auch Fleisch - roh verzehrt. Wann der Urmensch erstmals begann, seine Nahrung zu erhitzen, ist unklar. Die älteste bekannte Feuerstelle, 2008 in Israel entdeckt, ist knapp 800.000 Jahre alt. Die dortigen archäologischen Funde zeigen aber nicht, ob dieses Feuer bereits zum Kochen genutzt wurde. Nahrungsmittel zu kochen oder zu braten war ein enormer evolutionärer Schritt mit vielen Vorteilen. Zum einen wurde das Fleisch dadurch leichter kaubar – mit der Folge, dass sich unser Mahlgebiss verkleinerte, filigraner wurde und so die Möglichkeit der Entwicklung der Sprache bestand. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 7 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Weiters wurden durch das Kochen von Nahrungsmitteln potentiell schädliche Keime, wie etwa Trichinen (Fadenwürmer), abgetötet. Fleisch und andere Nahrungsmittel lieferten dem Körper in gekochter Form auch mehr Kalorien, weil die Nährstoffe leichter verdaut und so vom Körper besser aufgenommen werden konnten. Auch für die Gehirnentwicklung unserer Vorfahren dürfte das Kochen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Manche Evolutionsbiologen sind der Ansicht, dass warmes Essen die Voraussetzung dafür war, dass Urmenschen wie der Homo erectus den Energiebedarf ihres wachsenden Gehirns decken konnten. Andere Forscher halten eine umgekehrte Reihenfolge für wahrscheinlicher: Erst entwickelte der Mensch ein größeres Gehirn, dann erfand er das Kochen. DER BEGINN VON ACKERBAU UND VIEHZUCHT – DIE NEOLITHISCHE REVOLUTION Dass der Mensch zu kochen begann, war ein bedeutsamer Schritt in der Evolution. Ebenso wie die Tatsache, dass unsere Vorfahren vor rund 11.000 Jahren im vorderen Orient nach und nach sesshaft wurden und begannen, Tiere zu domestizieren, zuerst Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine, später auch Hühner, Gänse und Enten. Mit der Tierhaltung kam ein neues Lebensmittel auf den Speiseplan: Milch – und bald darauf auch Butter und Käse. Milch spielte in der damaligen Ernährung aber eine geringe Rolle. Denn die frühen Tierrassen brachten im Vergleich zu heute noch sehr geringe Erträge. Ihre Milch benötigten sie zu einem Großteil für die Aufzucht ihrer Jungen. Zur Massenware wurde Milch erst vor rund 100 Jahren. Keine Erfindung der Schweizer Seit der Mensch größere Mengen an tierischer Milch zur Verfügung hat, also seit der Sesshaftwerdung, übt er sich auch in der Kunst des Käse-Machens. Wahrscheinlich bestanden die ersten Käsesorten aus Ziegenmilch, denn Ziegen wurden lange vor den Rindern domestiziert. Die älteste Beschreibung der Herstellung von Käse ist 5.000 Jahre alt und stammt aus Mesopotamien. Viele noch heute bekannte und beliebte Käsesorten – wie etwa Emmentaler, Edamer, Gouda und Appenzeller - wurden erstmals im Mittelalter hergestellt - und zwar hauptsächlich in Klöstern. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 8 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Ebenso lange wie Käse gibt es übrigens auch Butter. Brei statt Brot Neben der Viehzucht betreibt der Mensch seit etwa 11.000 Jahren auch Ackerbau. Besonders der Anbau von Getreide - von Weizen, Gerste und Roggen - führte zu einer einschneidenden Veränderung der Ernährung. Denn nun war man nicht mehr abhängig vom wechselnden Jagdglück, sondern konnte das Getreide lagern – hatte also dauerhaft zu essen. Am Beginn der Ackerbauära wurde Getreide zunächst einmal in Form von Brei gegessen. Brot gebacken wurde zum ersten Mal im dritten und vierten vorchristlichen Jahrtausend in den frühen Hochkulturen im Zweistromland. Kaum jemand konnte sich jedoch einen Ofen leisten, weshalb die typische Mahlzeit der ärmeren Bevölkerungsschichten bis ins späte 18. Jahrhundert Getreidebrei war. Brot aßen die Reichen. In diesen Kreisen war vor allem das aus Weizen hergestellte Weißbrot besonders beliebt. Luxusware Fleisch Das Luxuslebensmittel schlechthin war über den längsten Teil der Menschheitsgeschichte Fleisch. Nur sozial höherstehende Gesellschaftsschichten konnten sich diesen Leckerbissen leisten. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung aß über Jahrhunderte hindurch fast nur Getreidebrei, beziehungsweise Obst und Gemüse – beides war übrigens beim Adel verpönt. Dieser aß fast ausschließlich Fleisch und Weißbrot und trank viel Alkohol. Mit der Folge, dass zum Beispiel die Bewohner Amsterdams, im 17. Jahrhundert die reichste Stadt Europas, die niedrigste Lebenserwartung aufwiesen. Quellen der vorangegangenen Kapitel: Interview mit Prof. Dr. Gunther Hirschfelder und Univ.-Prof. Dr. Jürgen König Einführung und Geschichte zum Käse - http://www.kaesewelten.info/ Käse - http://de.mittelalter.wikia.com/wiki/K%C3%A4se OBST UND GEMÜSE Einige dieser vitaminreichen Nahrungsmittel sind in Europa immer schon gewachsen, also hier beheimatet. Äpfel zum Beispiel, Beeren und Wildgemüse wie etwa der Sauerampfer. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 9 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Die meisten Kulturpflanzen, die in unseren heutigen Gärten gedeihen, kamen aber ursprünglich aus Asien oder Afrika nach Europa – und zwar über den Wasserweg oder Fernhandelsrouten wie der berühmten Seidenstraße. Mit der Entdeckung Amerikas wird der europäische Speiseplan dann noch weitaus reichhaltiger. Doch dazu etwas später. Zuerst entführen wir Sie in Europas Gemüsegärten vor 1492. Kraut und Rüben „Das Rückgrat der vormodernen Ernährung sind sicherlich die Leguminosen – Linsen, Bohnen und Erbsen“, meint Prof. Dr. Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg. „Vor allem deshalb, weil diese Gemüsesorten einen so hohen Eiweißanteil aufweisen“. Beliebte Gemüsesorten im mittelalterlichen Europa waren auch Rüben aller Art, unterschiedliche Kohlsorten, Kraut, Zwiebel, Lauchgemüse, Pilze und Spinat. Würzige Zeiten Um Speisen geschmacklich zu verfeinern, verwenden wir die unterschiedlichsten Gewürze. Mediterrane Kräuter wie Salbei, Rosmarin, Thymian, Oregano und Basilikum wurden in unseren Breiten im 8. Jahrhundert durch die Bemühungen Karl des Großen eingeführt. Schon länger bekannt und beliebt waren Schnittlauch, Bärlauch und Petersilie. In einen wahren Gewürztaumel gelangte Europa, als die Kreuzritter mit völlig neuartigen Ingredienzien in ihren Taschen zurückkehrten. „Die mittelalterliche Küche ist unglaublich gewürzreich“, erzählt Univ. Prof.in Dr.in Birgit Bolognese-Leuchtenmüller vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Vor allem Pfeffer und Zimt seien in „abenteuerlichen“ Mengen allem und jedem beigemengt worden. Im Mittelalter besonders beliebt waren scharfe Gewürze mit wärmender Wirkung, wie eben Pfeffer oder auch Ingwer. Ihnen sprach man einen besonders positiven Effekt auf die Gesundheit zu, weshalb es sie auch in Pillenform zu kaufen gab. Saisonale Raritäten Natürlich haben unsere mittelalterlichen Vorfahren auch schon Obst gegessen. Obstsorten, die es in Europa wahrscheinlich schon immer gegeben hat, zuerst wild wachsend und dann kultiviert, waren Äpfel und Birnen. Erst viel später kamen Marillen und Pfirsiche hinzu. Die beiden stammen höchstwahrscheinlich aus China. Massenhaft verzehrt wurden im Mittelalter sämtliche Sorten von Beeren, die man im Wald findet. Aber auch Weintrauben, Kirschen und Zwetschgen – in Italien in einer besonders guten Qualität– gab es schon. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 10 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Fehlen noch Orangen und Zitronen. Beide Früchte stammen ursprünglich aus China und gelangen etwa im 8. Jahrhundert nach Persien und von dort nach Südeuropa. Die dortigen typischen Orangenhaine wurden im 13. Jahrhundert angelegt, die Zitronenhaine 100 Jahre später. Die meisten historischen Früchte kann man mit dem Obst, das wir am Markt oder im Supermarkt kaufen, nicht vergleichen. In der Regel waren sie weitaus kleiner und saurer. Dennoch wurden sie gerne gegessen, vielleicht auch deshalb, weil man sich nur einmal im Jahr an ihrem Geschmack erfreuen konnte, nämlich im Sommer, wenn sie reif waren. Obst konservieren wir heute durch Einkochen – und dazu brauchen wir Zucker. Im Mittelalter kannte man aber weder die Methode des Einkochens noch Zucker. Dieser wurde erst im 19. Jahrhundert zu einem Alltagsprodukt. Quellen: Interviews mit Prof. Dr. Gunther Hirschfelder und Univ.-Prof.in Dr.in Birgit Bolognese-Leuchtenmüller REVOLUTION AM EUROPÄISCHEN ESSTISCH Mögen Sie Pop Corn, Spaghetti arrabiata und Chips? Vor 600 Jahren wäre all dies in unseren Breiten nicht herstellbar gewesen – auch wenn es die Technik dafür gegeben hätte. Denn – die Zutaten wären in Europa nicht aufzutreiben gewesen. Christoph Columbus hatte unter anderem Paprika und Tomaten im Gepäck, als er nach der Entdeckung Amerikas 1493 in den Hafen der andalusischen Ortschaft Palos zurückkehrte. Zwei seiner bedeutendsten Mitbringsel aber waren die Kartoffel und der Mais, das „amerikanische Korn“, wie es damals von den Europäern bezeichnet wurde. Ein idealer neuer Hungerstiller Etwa ein halbes Jahrhundert nach seiner Entdeckung auf der karibischen Insel Hispaniola tauchte der Mais im Zuge der portugiesischen Expansion in Indien und China auf. Ende des 16. Jahrhunderts existierten bereits Plantagen in Kleinasien, von wo sich der Maisanbau bis ins 17. Jahrhundert in Richtung Zentraleuropa verbreitete. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, warum der Mais in Italien auch „grano turco“, also „türkisches Korn“ heißt. Auch in dem 1539 erschienenen „New Kreuterbuch“ von Hieronymus Bock wurde der Mais als „Türkisch Korn“ bezeichnet. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 11 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Der Schriftsteller und Journalist Egon Erwin Kisch schrieb dazu Jahrhunderte später: „Jene Turkey (…) liegt in Mexiko. Europa vermochte damals nicht über den Kontinent hinauszudenken und identifizierte sich selbst mit dem Weltall. Ferne, exotische Landschaften konnten nicht anderswo gelegen sein als in dem Grenzwinkel Europas: der Türkei.“ Ab dem 16. Jahrhundert wurde der Mais im Süden Spaniens sowie in Zentral- und Norditalien angebaut. Das wohlschmeckende Korn erwies sich bald als idealer neuer Hungerstiller und ersetzte der armen Bevölkerung den stets knappen Weizen. Der italienische Literaturhistoriker und Anthropologe Piero Camporesi schrieb dazu 1990: „Das Brot der Armen, der Bettler, der Arbeitslosen und vor allem derer, die es – selber Opfer einer ökonomisch und sozial paradoxen Situation – produzierten, nämlich die Bauern, ist ständig im Ausgehen begriffen und nicht richtig zu fassen – wie in einem endlosen Albtraum in Zeitlupentempo. In den schlechten Jahren wurde die Zeit der neuen Ernten, die Sommerzeit mit ihren Früchten, also die Jahreszeit, in der man den Geschmack des „neuen Brotes“ wieder kosten konnte, in sehnlicher Erwartung mit Beginn des Spätherbsts erträumt.“ Mais verdrängte auch bald die üblichen Hirsesorten und die typische Mahlzeit der verarmten Bauern wurde die Polenta. Der beinahe ausschließliche Konsum von Mais führte seit dem späten 17. Jahrhundert zu einer wahrhaften Plage in vielen mittel- und südeuropäischen Gegenden: der Pellagra. Die Krankheit war durch einen Mangel an Nicotinsäure, einem Vitamin aus dem B-Komplex bedingt und verursachte Hautausschläge, Durchfall und Demenz. Etwa 200 Jahre lang wurden die armen Bevölkerungsschichten regelmäßig von der Pellagra heimgesucht. Eine seltsame Knolle aus fernen Landen Die Kartoffel ist eine Kulturpflanze aus dem Andenraum, die zunächst, als sie nach Europa kam, wenige Anhänger fand. Der Grund war, dass man nicht wusste, wie man aus diesem harten, bitteren Etwas eine genießbare Mahlzeit kreieren konnte. Deshalb landeten die Erdäpfel mit ihren schönen weißen bzw. lilafarbenen Blüten zunächst einmal in den botanischen Gärten. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also dreihundert Jahre nach ihrer Ankunft in der alten Welt, erkannte man nach der Durchführung zahlreicher Experimente, dass die Kartoffel, lässt man sie nur richtig ausreifen, durchaus schmackhaft ist. Und nicht nur das: Sie stellte sich als idealer Hungerstiller heraus, der gut lagerbar und äußerst ertragreich ist. Außerdem können Erdäpfel in RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 12 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG kälteren bzw. höher gelegenen Regionen angebaut werden, was beim Weizen nicht der Fall ist. Angeblich soll es Kaiser Friedrich von Preußen gewesen sein, der den Kartoffelanbau unter den Bauern vorantreiben ließ. „Er hat sich eines Tricks bedient“, erzählt Univ.-Prof.in Dr.in Martina Kaller-Dietrich vom Institut für Geschichte der Uni Wien. „Und zwar hat er Kartoffelfelder von Soldaten bewachen lassen. Und das hat dann bei der Bevölkerung den Anschein erweckt, hier handle es sich um etwas ganz Besonderes und Begehrenswertes“. Kaiser Friedrichs Plan ging auf. Kurz zuvor noch heftig abgelehnt, war die Kartoffel Anfang des 19. Jahrhunderts plötzlich in breiten Bevölkerungskreisen äußerst beliebt. Unverzichtbarer Gemüsegenuss Von unserem Speiseplan nicht mehr wegzudenken ist neben der Kartoffel auch die Tomate, ebenfalls ein Nachtschattengewächs aus Südamerika. Die rote Knolle enthält reichlich Vitamin A und C sowie verschiedene Spurenelemente und ist die weltweit bedeutendste Salat- und Gemüsepflanze. Aus den Wildformen wurden im Laufe der Jahrtausende rund 10.000 Tomatensorten gezüchtet. Das Wort Tomate stammt übrigens vom aztekischen Begriff „tomatle“, der auf Deutsch übersetzt „Schwellpflanze“ heißt. Bereits im frühen 16. Jhdt. gelangte die Tomate nach Spanien, kurze Zeit später auch nach Italien. Anfangs wuchs sie als Zierpflanze in den Gärten der Oberschicht. Zu essen wagte man sie nicht, weil man glaubte, sie sei – ähnlich wie die Tollkirsche – giftig. Erst im 18. Jahrhundert kamen die Spanier und Italiener auf den Geschmack. Zum Glück, könnte man sagen, denn wer könnte sich Pasta und Pizza ohne Tomaten vorstellen!? Die Pizza ist übrigens eine Erfindung der Neapolitaner. Neapel war auch eine Zeitlang Pasta-Hauptstadt – und zwar im 18. Jahrhundert. Ob Nudeln jedoch erstmals von Italienern erzeugt wurden, ist umstritten. In Frage kommen auch die Chinesen und die Araber. Ebenfalls ein Mitbringsel von Christoph Kolumbus Amerika-Expedition sind Paprikagewächse wie Gemüsepaprika und Chili. Auch sie wurden zunächst in Spanien angebaut. Anschließend breiteten sie sich auch nach Indien und Südostasien aus. Besonders beliebt wurde die Paprika in Ungarn am Ende des 18. Jahrhunderts. Wann kam der Reis nach Europa – und woher? Der Reis stammt ausnahmsweise nicht aus Amerika, sondern aus Indien. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 13 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Im achten und neunten Jahrhundert wurde er von den Arabern kultiviert und anschließend nach Südeuropa gebracht. Außer in Italien, Spanien und Portugal fand der Reis aber in den kommenden Jahrhunderten wenig Anklang. Zum einen konnte er nicht überall angebaut werden und zum anderen hatte man deshalb Vorbehalte gegen ihn, weil er, ähnlich wie Fisch, nicht richtig satt machte. Zum Alltagsnahrungsmittel wird der Reis in unseren Breiten erst im 20. Jahrhundert. Schokolade – eine Verführerin mit bewegter Vergangenheit In Mittelamerika, wo die Schokoladenbohne heimisch ist, wurde Schokolade ursprünglich getrunken, und zwar versetzt mit scharfen Gewürzen, z.B. Chili. Das Getränk fand in dieser Form in Europa wenig Anklang. Beliebt war hier im 17. und 18. Jahrhundert, insbesondere in adeligen Kreisen, Schokolade gemischt mit heißem Wasser und Zucker. Bis Schokolade in Tafelform erhältlich war, dauerte es noch einige Jahrzehnte. Erst im 19. Jahrhundert gelang es, aus der Kakaopflanze, Kakaobutter zu extrahieren und Kakaopulver herzustellen. Dieses Pulver wurde mit einem industriellen Produkt – Trockenmilch – und mit Zucker vermengt, wodurch die Schokolade haltbar und nach und nach zum Alltagsprodukt wurde. Beginn einer süßen Ära Zucker, diesen wesentlichen Bestandteil von Schokolade und so vielen anderern modernen Lebensmittel, kannten die meisten Europäerinnen und Europäer bis ins 19. Jahrhundert nicht. Gesüßt wurde hauptsächlich mit Honig. Zucker war ein absolutes Luxusprodukt, das seit dem Mittelalter in geringen Mengen mit Gewürzen aus dem reichen Orient importiert wurde. Die ersten europäischen Kolonien zur Produktion von Zucker entstanden im 14. Jahrhundert auf Gran Canaria, Teneriffa und Madeira – und zwar unter spanischer und portugiesischer Herrschaft. Ab 1650 begann schließlich Großbritannien mit der Zuckerproduktion in der Karibik. Von dort und aus Brasilien wurde der Zucker auch noch im 19. Jahrhundert importiert, als Zucker in Europa langsam Massenware wurde. „Ohne Zucker wäre der Umbau zur industriellen Ernährungsweise nicht möglich gewesen“, sagt die Historikerin Martina Kaller-Dietrich. Denn dieses Produkt sei bis heute der wichtigste Konservierungsstoff für Nahrungsmittel. Erzählt man die Geschichte des Zuckers in Europa, darf ein Ereignis nicht unerwähnt bleiben. Und zwar der Krieg Napoleons gegen Großbritannien Anfang des 19. Jahrhunderts. Eine Folge davon war, dass die Briten ein ZuckerEinführembargo über Kontinentaleuropa verhängten. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 14 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Aufgrund der dadurch ausgelösten Zuckerverknappung versuchten Wissenschaftler ein Ersatzprodukt zu finden. Als ideal erwies sich dafür die europäische Zuckerrübe. Zwei tropische Vitaminspender Wie der Zucker sind auch zwei exotische Früchte aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken: Bananen und Ananas. Von letzterer nimmt man an, dass sie ursprünglich aus Brasilien stammt. Die Heimat der Bananen ist aber Südostasien. Hierzulande wurde die gelbe süße Frucht erst nach dem 2. Weltkrieg bekannt. Osteuropäerinnen und - europäer kamen übrigens erst ab 1989 in ihren Genuss. Zuvor gab es Bananen in unseren östlichen Nachbarländern kaum zu kaufen – denn sie symbolisierten Kapitalismus und westlichen way of life. Quellen: Interviews mit Univ.-Prof.in Dr.in Martina Kaller-Dietrich, Univ.-Prof.in Dr.in Birgit Bolognese-Leuchtenmüller und Univ.-Prof. Dr. Josef Nussbaumer „Mais – Ernährung und Kolonialismus“ – Artikel von Martina Kaller-Dietrich http://vgs.univie.ac.at/_TCgi_Images/vgs/20050630081505_HSK18KallerKolonialism us.pdf Die Geschichte der Tomate http://ipna.unibas.ch/archbot/pdf/2011_Jacomet_GeschichteTomate.pdf Nudeln http://www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit/essen/nudeln/ Paprika in der Geschichte http://www.gemuese-info.de/paprika/geschichte.html TRINKGEWOHNHEITEN Wasser Durstlöscher Nummer eins ist von Anbeginn der Menschheitsgeschichte Wasser. In jener hohen Qualität, wie wir es gewohnt sind, war es in der Vergangenheit aber nur selten verfügbar. Denn Brunnenwasser war seit jeher anfällig für Verunreinigungen, insbesondere in jenen Ländern und Zeiten, in denen es keine Kanalisation gab. Die ersten hochentwickelten Kanalisations-Formen Europas gab es bereits in der Antike. Berühmt ist insbesondere die Cloaca Maxima in Rom. Im Mittelalter ging das Wissen um die hygienische Bedeutung einer geordneten Abwasserentsorgung RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 15 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG weitgehend verloren. Erst mit dem Anwachsen der europäischen Städte im 19. Jahrhundert entwickelten sich moderne Kanalisationssysteme. Menschen haben sicherlich seit jeher gewusst, dass Abkochen von Wasser eine effiziente Methode ist, sich vor Darmerkrankungen zu schützen, meint die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Birgit Bolognese-Leuchtenmüller. Alkoholika Außerdem habe man über Jahrhunderte hinweg häufig Alkohol – Bier oder Wein – dem Wasser beigemengt, um etwaig vorhandene Keime abzutöten. Wobei diese Getränke mit denen, wie wir sie heute kennen, nicht vergleichbar sind. Wein war z.B. im Mittelalter viel schwächer, hatte höchstens achteinhalb Prozent Alkoholgehalt. Zudem war er oft recht sauer, sodass man Wein häufig gewürzt und erhitzt hat. Auch Bier unterschied sich stark von den heutigen Sorten. Es enthielt nur zwei bis drei Prozent Alkohol und keinen Hopfen, denn der wurde erst ab dem 14. Jahrhundert hinzugefügt. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es übrigens zwei verschiedene Formen von Bier. Bier und Rauschbier. Letzteres war mit Pilsenkraut, einem Halluzinogen, versetzt. „In eine wahre Drogenkrise stürzte Europa im 16. Jahrhundert“, meint Birgit Bolognese-Leuchtenmüller. Damals sei das Destillieren erfunden worden und die Menschen tranken Branntwein eine Zeitlang in ebenso großen Mengen wie Bier und Wein. Für Frauen verboten Man kann es sich als Europäerin des 21. Jahrhunderts kaum vorstellen, aber Frauen wurde zu gewissen Zeiten in der Vergangenheit auch hierzulande der Konsum von Alkohol verboten. Im Mittelalter durfte die Frau schon noch das eine oder andere Gläschen trinken. In der Reformationszeit änderte sich dann ihr sozialer Status dramatisch. Die Frau wird nach und nach aus dem öffentlichen Leben verdrängt, muss sich immer züchtiger kleiden und darf keinen Alkohol mehr konsumieren. Erst im 19. Jahrhundert ändert sich das wieder, als die Fabriksarbeiterinnen ihrem neuen Status als erwerbstätige Frauen mit dem Trinken von Alkohol Ausdruck verleihen. Alkohol – das war für sie gleichgesetzt mit Unabhängigkeit und Freiheit. Muntermacher Wenn Sie gerade gemütlich einen Kaffee trinken, während Sie diese Zeilen lesen, dann wird Sie wahrscheinlich die Geschichte des für viele von uns so unentbehrlichen Getränks interessieren. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 16 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Ursprünglich stammt der Kaffee aus dem arabischen Raum – und so hat der Mokka seinen Namen auch von der Stadt Mokha im südlichen Jemen. Nach Europa kam der Kaffee mit den Türken. Schon im frühen Mittelalter war das herb duftende Gebräu auf der iberischen Halbinsel bekannt, in der frühen Neuzeit dann auch in unseren Breiten. Damals wusste man zwar, was Kaffee ist, es handelte es sich aber um ein sehr rares, teures Produkt, weshalb es von der breiten Bevölkerung kaum konsumiert wurde, erzählt Dr.in Martina Kaller-Dietrich, Globalhistorikerin am Institut für Geschichte der Universität Wien. Doch nicht nur der Preis, auch die ungewohnte Geschmacksnote trug zu einer nur langsamen Verbreitung des Kaffees bei. Er schmecke „wie Ruß“, meinte etwas Liselotte von der Pfalz, die Schwägerin des „Sonnenkönigs" Ludwig XIV. Populärer wurde das dunkle Gebräu schließlich mit dem Aufkommen der Kaffeehäuser. Das erste europäische Kaffeehaus wurde 1643 in Paris eröffnet. Die Wiener Kaffeehaustradition wurde angeblich 1683, dem Jahr der zweiten Wiener Türkenbelagerung, begründet. Wirklich relevant wird der Kaffee für die breitere Masse, als er im 19. Jahrhundert in großem Stil auf den Plantagen Lateinamerikas angebaut und von dort auch nach Europa exportiert wird. Vor allem in den Fabriken wird der Kaffee – in Kombination mit Zucker – zum unentbehrlichen Getränk, dass in vielen Fällen bald die tägliche warme Suppe ersetzt. Besonders geschätzt wurde der Kaffee in den Fabriken wegen seiner - im Vergleich zu herkömmlichen Getränken (z.B. gewässerter Most oder Wein) aufmunternden Wirkung. Ein 16-Stunden-Arbeitstag war so leichter zu überstehen. Munter macht neben Kaffee bei ca. zwei bis dreiminütiger Ziehzeit auch Tee – Schwarztee, genauer gesagt. Kräutertees wurden in Europa so gut wie schon immer getrunken. Schwarzer Tee aus Asien kommt erst im 18. Jahrhundert in das Konsumsortiment der Bürgerinnen und Bürger. Er war übrigens eines der ersten Konsumprodukte, für die systematisch in Zeitungen geworben wurde. Quellen: Interviews mit Univ.-Prof.in Dr.in Martina Kaller-Dietrich, Univ.-Prof.in Dr.in Birgit Bolognese-Leuchtenmüller und Prof. Dr. Gunther Hirschfelder Gunther Hirschfelder: „Europäische Esskultur – Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute“, Campus Verlag 2005 HUNGER RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 17 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Unsere Welt ist voller Extreme – auch im Ernährungsbereich. In den Industrienationen essen die meisten zu viel und unausgewogen – mit gesundheitsschädigenden Folgen wie Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes oder eben Adipositas. Auf der anderen Seite hungern weltweit rund eine Milliarde Menschen, also ein Siebtel gesamten Weltbevölkerung. Das Gespenst Hunger wurde aus Europa vor etwa 60 vertrieben. Zuletzt mit Nahrung unterversorgt waren die Europäerinnen und Europäer in und nach dem ersten und zweiten Weltkrieg. In der Geschichte der Menschheit hingegen war und ist Hunger leider etwas völlig Alltägliches. Hungerkatastrophen Besonders schlimme Hungersnöte erlebte Europa im frühen Mittelalter. Ursachen waren der Zusammenbruch des weströmischen Reiches, Völkerwanderungen, der Verlust von rechtlichen und sozialen Strukturen sowie eine Klimaverschlechterung. Äußerst hart traf es auch die Europäerinnen und Europäer zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Jahre 1346 und 1347 waren extrem kalt, die Weintrauben erfroren und das Getreide verfaulte. Als dann 1347 die Pest in Europa zu wüten begann, waren viele Menschen durch den Hunger so geschwächt, dass der schwarze Tod leichtes Spiel hatte. Katastrophal war die Lage auch im 16. und 17. Jahrhundert, wo es ebenfalls zu einem klimatischen Einbruch kam und zusätzlich noch der 30-jährige Krieg wütete. Eine der letzten katastrophalen Hungersnöte wütete in Irland Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein bisher unbekannter, aus Amerika eingeschleppter Pilz ließ in den Jahren 1845 bis 1849 die Kartoffeln, die Lebensgrundlage der Iren, auf den Äckern verfaulen. Die Folge: Rund eine Million Hungertote. Auswege Um dem Hunger zu entkommen, wanderten die Menschen in andere Länder aus oder begannen ihrer Not Hunde, Katzen, Ratten, Mäuse und Gras zu essen. „In ganz schlimmen Fällen haben Hungersnöte querfeldein über den gesamten Globus immer in Kannibalismus geendet“, sagt Univ.-Prof. Dr. Josef Nussbaumer vom Institut für Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck. Erst kürzlich haben amerikanische Anthropologen auf dem Gelände von Jamestown, der 1607 gegründeten, ersten dauerhaften Siedlung in Nordamerika, die Knochen eines 14-jährigen Mädchens aus dem 17. Jahrhundert gefunden. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 18 KULTURGESCHICHTE DER ERNÄHRUNG Kriminaltechnische Untersuchungen legten den Schluss nahe, dass das Mädchen im Hungerwinter 1609/1610, als 80 Prozent der Kolonisten starben, von seinen Mitmenschen gegessen wurde. Viele effektive Strategien gegen den Hunger wurden erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Zum einen verbesserte Geräte für die Landwirtschaft und resistenteres Saatgut. Außerdem effektivere Konservierungstechniken. Die Konservendose habe mehr Menschen das Leben gerettet als die Caritas, formuliert es Josef Nussbaumer überspitzt. Nicht vergesse dürfe man, so der Hungerforscher, die Bedeutung der Eisenbahn. Erst durch sie konnte Getreide rasch von einem Ort zum anderen transportiert werden. Zuvor hatte es Monate gedauert, bis man Nahrungsmittel in entlegene, schwer erreichbare Regionen wie etwa Tirol bringen konnte. „Da hat es sein können, dass die Hungersnot in Tirol schon vorbei war, als das Getreide angekommen ist“, so Josef Nussbaumer. Quellen: Interviews mit Univ.-Prof.in Dr.in Birgit Bolognese-Leuchtenmüller und Univ.-Prof. Dr. Josef Nussbaumer RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 19 INFOLINKS INFOLINKS Geschichte der Ernährung – Meilensteine der menschlichen Entwicklung http://www.univie.ac.at/nutrigenomics/teaching/vo_kulturgeschichte/1_Einfuehrung. pdf Über den Tellerrand hinaus – Zur Globalisierung der Ernährung http://homepage.univie.ac.at/martina.kallerdietrich/PDF/Ernaehrung_Globalisierung.pdf Mais – Ernährung und Kolonialismus http://vgs.univie.ac.at/_TCgi_Images/vgs/20050630081505_HSK18KallerKolonialism us.pdf Die Geschichte der Tomate http://ipna.unibas.ch/archbot/pdf/2011_Jacomet_GeschichteTomate.pdf Nudeln http://www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit/essen/nudeln/ Paprika in der Geschichte http://www.gemuese-info.de/paprika/geschichte.html Einführung und Geschichte zum Käse http://www.kaesewelten.info/ Käse http://de.mittelalter.wikia.com/wiki/K%C3%A4se Von Jägern, Sammlern und echten Ernährungsproblemen http://ernaehrungsdenkwerkstatt.de/fileadmin/user_upload/EDWText/TextElemente/ Ernaehrungswissenschaft/Daniel_-_Evolution_der_Ernaehrung_Vortrag.pdf Domestikation von Tieren und Pflanzen http://ipna.unibas.ch/archbot/pdf/2011_PflanzenDomestikationSkript_komplettinklLi t_kompr.pdf RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 20 INFOLINKS Kochen machte unsere Vorfahren klüger http://science.orf.at/stories/1706790/ Zuckerrohr und Sklaverei http://www.deutsches-museum.de/bibliothek/unsereschaetze/gewerbegeschichte/achard/zuckerrohr-und-sklaverei/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 21 BUCHTIPPS BUCHTIPPS Martina Kaller-Dietrich Essen unterwegs – eine kleine Globalgeschichte von Mobilität und Wandel am Teller Verlag Bibliothek der Provinz 2011 ISBN-13: 978-3990280003 Gunther Hirschfelder Europäische Esskultur: Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute Campus Verlag 2005 ISBN-13: 978-3593379371 Josef Nussbaumer Hungernde, Unwetter und Kannibalen Studienverlag 2004 ISBN-13: 978-3706518314 Detlef Briesen Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert Campus Verlag 2010 ISBN-13: 978-3593391540 Klaus E. Müller Kleine Geschichte des Essens und Trinkens: Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine Verlag Beck 2009 ISBN-13: 978-3406583490 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 22 INTERVIEWPARTNER/INNEN INTERVIEWPARTNER/INNEN In der Sendung Radiodoktor – Medizin und Gesundheit vom 5. August 2013 sprachen: a.o. Univ.-Prof.in Dr.in Martina Kaller-Dietrich Universität Wien Institut für Geschichte Universitätsring 1 A-1010 Wien Tel.: +43/1/4277/40817 E-Mail: [email protected] Homepage: http://homepage.univie.ac.at/martina.kaller-dietrich/php/ Prof. Dr. Gunther Hirschfelder Universität Regensburg Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur Vergleichende Kulturwissenschaft Universitätsstraße 31 D-93053 Regensburg Tel.: +49/941 943/3631 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.uni-regensburg.de/sprache-literatur-kultur/vergleichendekulturwissenschaft/mitarbeiter/hirschfelder/index.html a.o. Univ. Prof.in Dr.in Birgit Bolognese-Leuchtenmüller Universität Wien Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Universitätsring 1 A-1010 Wien Tel.: +43/1/4277/41315 E-Mail: [email protected] Homepage: http://wirtschaftsgeschichte.univie.ac.at/mitarbeiterinnen/wissenschaftlichemitarbeiterinnen/bolognese-leuchtenmueller/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 23 INTERVIEWPARTNER/INNEN Univ.-Prof. Dr. Josef Nussbaumer Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Institut für Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte Fakultät für Volkswirtschaft und Statistik Universitätsstraße 15 A-6020 Innsbruck Tel.: +43/512/507 7402 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.uibk.ac.at/economics/personal/nussbaumer/index.html.de Univ.-Prof. Dr. Jürgen König Universität Wien Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften Althanstraße 14 (UZA II) A-1090 Wien Tel.: +43/1/4277/54991 E-Mail: [email protected] Homepage: http://nutrition.univie.ac.at/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 24