Baudynamik und Zustandsanalyse Eine Einführung in die Baudynamik mit Mathematica ® Das vorliegende Skript wurde im Original mit dem Programmsystem MATHEMATICA® von WOLFRAM-Research [http://www.wolfram.com] geschrieben und erstmals auf den Webseiten der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden (University of Applied Sciences) [http://www.htw-dresden.de] veröffentlicht. Die Schrift trägt den Charakter eines Arbeitskonzepts, so dass ich für Hinweise und Anregungen aller Art, einschließlich zu Rechtschreibung, Grammatik und Druckbild sehr dankbar bin. Mit meinem Beitrag erhebe ich keinen Anspruch auf irgendeine Vollständigkeit bzw. Allgemeingültigkeit. Ich möchte einzig und allein an exemplarischen Problemstellungen der Baumechanik logisch einfache mathematisch-physikalische Lösungsmethoden zur Diskussion stellen. Mirko Slavik, Dresden ◼ 21 Beanspruchungen infolge Wind ◻ 21.1 Allgemeines 21.1.1 Als ich begann, mich intensiver mit der Problematik des Windes zu beschäftigen, fand ich die ersten wegweisenden Anregungen in den beiden ausgezeichneten Monographien von Rüdiger RACKWITZ [103, Teil: Einwirkungen auf Bauwerke, Abschnitt 6: Windlasten] und von Claës DYRBYE und Svend O. Hansen [95]. Die ursprüngliche Vorstellung, dass es ausreiche, einige wesentliche wissenschaftlich gesicherte Hintergrundinformationen auszuarbeiten, um die europäischen Windlastnormen [96] bzw. [97] zu verstehen, geriet alsbald zur Illusion. Der Lastfall Wind stellt ähnlich dem des Lastfalles Erdbeben ein Problemfeld dar, das wegen seiner sehr hohen Komplexität (siehe [59]) noch vieler Antworten bedarf. Manche Fragen werden womöglich für immer offen bleiben. 21.1.2 Unter Wind versteht man die Luftbewegung relativ zur Erdoberfläche. Ursache des Windes sind vor allem die durch eine unterschiedliche Erwärmung der Erdoberfläche hervorgerufenen Luftdruckunterschiede in der Atmosphäre. Diese bewirken Luftmassenbewegungen, die beim Auftreffen auf Hindernisse Kräfte erzeugen. Deren Berücksichtigung als Windlasten spielt für alle auf der Erdoberfläche errichteten Baustrukturen eine wichtige Rolle. 21.1.3 A.G. DAVENPORT [95] führte zwecks einer übersichtlichen Gliederung der Gesamtproblematik die sogenannte Windlast-Kette ein, der ein hierarchisches Verknüpfungsprinzip zugrunde liegt: 1. Kettenglied: Wind als globales Klimaelement. 2. Kettenglied: Wind in niedriger Höhe im Wechselspiel mit dem Terrain. 3. Kettenglied: Aerodynamische Wirkungen - Windlasten. 4. Kettenglied: Strukturdynamische Reaktionen auf den Wind. 5. Kettenglied: Windlastspezifische Entwurfskriterien und Normen. 21.1.4 Eine Kette ist immer so stark, wie ihr schwächstes Glied. So macht eine verfeinerte strukturdynamische Analyse wenig Sinn, wenn die zugrunde gelegten statistischen Extremwertverteilungen der Windlasten nicht mit den örtlich tatsächlich vorhandenen, natürlichen Windverhältnissen korrelieren. Man sollte sich auch bei der Windlastproblematik wieder der Stärke des zweckgebunden Ingenieurverstandes besinnen, der unter Ausnutzung einfacher Erwartungswertbetrachtungen robuste Strukturen schuf, die ohne größere Schäden über Jahrhunderte Bestand hatten. Anliegen des vorliegenden Skriptes ist es, die den Kettengliedern innewohnende Logik herauszuarbeiten und die ihr mitunter zuwiderlaufenden Auswucherungen der Vorschriftenwerke zu beschneiden. 21.1.5 Neben den statischen und dynamischen Windeffekten, die überwiegend einen Untersuchungsgegenstand im Grenzzustand der Tragfähigkeit (GZT) darstellen, sollten aber auch die Einflüsse des 2 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb Windes auf die Gebrauchstauglichkeit (GZN) von Bebauungen nicht vergessen werden. So spielt der Wind keine unwesentliche Rolle für das Bauklima eines Gebäudes. Er verbreitet zudem umweltschädliche Emissionen und kann Schwingungen induzieren, die von Menschen als unangenehm empfunden werden (vgl. hierzu Kapitel 18). Nicht zu unterschätzen sind die in Innenstadtbereichen anzutreffenden Kaminwirkungen. 21.1.6 Für die Nachweise im GZT interessieren den Bauingenieur vorrangig die extremen Windstärken. Jedoch treten einige spezielle Phänomene der Windeinwirkungen, wie die KÁRMÁNschen Querschwingungen oder die selbsterregten Flatterschwingungen schon bei geringeren Windgeschwindigkeiten auf. Sie führen dann zu Ermüdungsproblemen, die natürlich auch bei den durchschnittlichen mittleren Winden zu beachten sind. 21.1.7 Gemäß BACHMANN [80] und PETERSEN [78] lasssen sich die dynamischen Lastwirkungsprozesse des Windes in drei Hauptgruppen unterteilen: a) Windböeneffekte (gust actions/buffeting): Schwingungen in Richtung der mittleren Hauptströmung der Luftmassen infolge turbulenter Schwankungen des stationären Basiswindes (Absatz 21.3.12). b) Selbsterregte Schwingungen (galloping, flutter): Bestimmte Translations- und Rotationsbewegungen quer zur laminaren Hauptströmung des Windes können wechselnde Querkraftwirkungen hervorrufen, die eine resonante Vergrößerung dieser Bewegungen erzeugen. c) Wirbelablösungseffekte (vortex shedding): Schwingungen quer zur mittleren Hauptströmung der Luftmassen infolge turbulenter Schwankungen des stationären Basiswindes (Absatz 21.3.12). Die sich ausbildenden Wirbelstraßen erzeugen Querkräfte ohne synchronisierende Rückkopplungen und selbsterregte Kräfte mit synchronisierenden Rückkopplungen. 21.1.8 In der Einleitung des ersten Bandes von [117] findet sich eine sehr anschauliche Übersicht zu den notwendigen Wissensgebieten, die ursächlich mit dem Windingenieurwesen verknüpft sind. Bezogen auf das vorliegende Skript sind dies die Meteorologie Wind als meteorologisches Phänomen (Abschnitt 21.2); Wind in der atmosphärischen Grenzschicht (Abschnitt 21.3); Mittlerer Wind (Abschnitt 21.4); Stochastik Wind als Zufallsfeldprozess erfordert Kenntnisse der statistischen Dynamik; Grundlagen hierzu findet man in [60] sowie im Abschnitt 2.5 und im Kapitel 31; Strömungsmechanik Ein Abriß der Strömungslehre einschließlich der wichtigen Teilgebiete der Grenzschichttheorie und der Ablösungsproblematik wird im Abschnitt 21.5 gegeben; Schwingungslehre In den Kapiteln 11 bis 14 findet man die wesentlichen strukturdynamischen Berechnungsmethoden, insbesondere die der Modalanalyse, die sowohl für Voraussagen als auch messtechnische Untersuchungen bzw. Überwachungen (siehe Kapitel 29) außerordentlich leistungsfähig ist; Aerodynamik Wechselwirkung zwischen Schwingwegen und aerodynamischen Erregerkräften (Abschnitte 21.9 und baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 3 21.10). Auf die beiden nicht zu vergessenden Teilgebiete der Ermüdungsfestigkeit und der konstruktiven Gestaltung werden wir jedoch nur beiläufig eingehen. 21.1.9 Im Normenwerk zu den Windlasten [97] beanspruchen die aerodynamischen Beiwerte einen sehr umfangreichen Platz. Wenn eine Luftströmung auf ein Hindernis trifft, initiiert sie Luftkräfte. Diese sind dem Staudruck p, einer Bezugsfläche A bzw. einer charakteristischen Länge Lchar und den aerodynamischen Beiwerten proportional. Jeder umströmte Körper besitzt seine eigenen Profilwerte. Deshalb müssen die aerodynamischen Beiwerte in der Regel experimentell bestimmt werden. Das geschieht beispielsweise in Windkanalversuchen. 21.1.10 Die auf einen Körper wirkenden aerodynamischen Kräfte können in Widerstandskräfte (Druckund Reibungswiderstand) und Auftriebskräfte aufgeteilt werden. Daneben existieren aber auch Momente. Im Raum haben wir insgesamt drei Kräfte und drei Momente; In der Ebene zwei Kräfte und ein Moment. Das Bezugssystem ist frei wählbar. Üblich sind jedoch entweder ein auf den Körper oder auf die Strömung bezogenes System (Bild 21.1.10). In der Tabelle 21.1.10 sind die allgemein gängigen Bezeichnungen für zweidimensionale Problemstellungen angeführt. Strömungsbezogenes System Windrichtung Körperbezogenes System Windrichtung vchar L - Auftrieb z vchar R Körper Fz Körper R Fx x W - Widerstand Bild 21.1.10: Strömungs- bzw. körperbezogenes Bezugssystem in der 2D-Ebene (gemäß [117]) Kräfte, bezogen auf bezogen auf Momente die Srömung den Körper Widerstand W = cW p A Fx = cx p A Auftrieb L = ca p A Fz = cz p A Moment M = cM p A Lchar My = cM p A Lchar Tabelle 21.1.10: Aerodynamische Beiwerte in der 2D-Ebene (gemäß [117]) ◻ 21.2 Wind als meteorologisches Phänomen - meteorologische Winde 21.2.1 Wirkt auf die Luftmassen einzig und allein eine Kraft infolge der Luftdruckgradiente, dann entsteht der EULERwind, der von einem Hochdruckbereich direkt in eine Tiefdruckzone gerichtet ist 4 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb (vgl. Bild 21.2.4). Da die CORIOLISkraft formal keine Beachtung findet (siehe Absatz 5.2.23 ff.), ist das Modell des EULERwindes nur auf relativ kleinräumige Gebiete, bzw. auf äquatornahe Regionen beschränkt. Für großräumige außerhalb des Äquators liegende Gebiete ist jedoch der Einfluss der Erdrotation und damit auch der CORIOLISkraft zur Beschreibung der tatsächlichen Windströmungen unabdingbar. 21.2.2 Die Hinzuführung der CORIOLISkraft zur horizontalen Druckgradientenkraft erklärt uns den beobachtbaren Effekt der Ablenkung der Strömungsrichtung des EULERwindes in Richtung der Isobaren (vgl. Bild 21.2.4). Solange die Isobaren nur eine geringe Krümmung besitzen, spricht man von einem geostrophischen Wind. Stehen Druckgradientenkraft und CORIOLISkraft im geostrophischen Gleichgewicht, dann weht der Wind isobarenparallel. Diese Windart wird als gute Näherung von Winden in der Troposphäre, der untersten Luftschicht angesehen. Die Troposhäre erreicht an den Polen eine Höhe von 8 km und am Äquator von etwa 17 km und zeichnet sich dadurch aus, dass die Lufttemperatur wegen der adiabatischen Dekompression mit der Höhe abnimmt. 21.2.3 Die Isobaren stellen die Äquipotenzialflächen des skalaren Luftdruckfeldes p(x, y, z) dar. Aus diesem lässt sich ein Vektorfeld ableiten, das man den Gradient des Skalarfeldes nennt (vgl. hierzu Absatz 21.5.9): grad p ≏ dp / ds mit grad p - Betrag des Gradienten in Richtung des stärksten Anstieges von p(x, y, z) dp - infinitesimale Luftdruckänderung ds - infinitesimale Änderung des Ortsvektors in Richtung des stärksten Anstieges der Luftdruckänderung, der Gradientenrichtung (siehe Bild 21.2.4). ☺ Versteckte Zelle zur Abschätzung der Geschwindigkeit eines geostrophischen Windes. 21.2.4 Bei gekrümmten Isobaren, man sagt bei Radien kleiner als ein paar tausend Kilometern, treten Zentrifugalkräfte (vgl. Absatz 5.2.13) hinzu, die einen zu den Isobaren tangential wehenden Wind, den Gradientenwind bewirken (Bild 21.2.4a). Dieser ist dem realen Wind wirklichkeitsnäher als der geostrophische Wind. Um aber den natürlichen Wind in Bodennähe hinreichend genau beschreiben zu können, bedarf es der Beachtung der Boden- und Luftreibungskräfte, wobei die Zentrifugalkräfte dann aber wieder eine geringere Rolle spielen (siehe Bild 21.2.4b). Anmerkung: Die CORIOLISkraft ist der Druckgradientenkraft stets entgegengerichtet. Je nach Vorzeichen der relativ geringen Zentrifugalkräfte kommt es zu einer leichten Verstärkung oder Abschwächung der Resultierenden. Da die Gradientenrichtung folglich unbeeinflusst bleibt, weht der Wind auf der Nordhalbkugel stets so, dass der tiefe Druck links und der hohe Druck rechts der Windrichtung zu liegen kommt. Bei gekrümmten Isobaren erzwingt dies das Umströmen eines Tiefdruckgebietes entgegen dem Uhrzeigersinn. Eine Hochdruckzone wird im Uhrzeigersinn umfahren. Auf der Südhalbkugel sind die Verhältnisse genau umgedreht. baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 5 Höherer Druck Höherer Druck Zentrifugalkraft IS OBAR E N CORIOLISkraft vWind Reibungskraft CORIOLISkraft Windgeschwindigkeit vWind dp ds dp ds Druckgradiente Druckgradiente Tieferer Druck Tieferer Druck a) Gradientenwind b) Wind in der Grenzschicht Bild 21.2.4: Kräftegleichgewichte bei der Windentstehung 21.2.5 In Mitteleuropa treten sehr starke Windlasten insbesondere beim West-Ost-Durchzug von Tiefdruckgebieten mit sehr steilen Druckgradientenverläufen auf. Andere Ursachen von Starkwinden sind Gewitter sowie Wetterlagen bei denen u. a. Kleintromben (Staubhosen, einige Meter hoch) oder Tromben (Windhosen, einige zehn bis hundert Meter hoch) auftreten können. Großtromben, auch Tornados genannt, können hingegen über einige hundert Meter hoch sein und verursachen auf ihrer mitunter mehrere zehn Kilometer breiten Zugbahn gewaltige Verwüstungen. Sie sind in Mitteleuropa zum Glück sehr selten. 21.2.6 Weitere lokale Windphänomene sind an bestimmte orographische Bedingungen gebunden. Dazu gehören die Föhne sowie der Mistral und der Bora, die beide sehr turbulent sein können. 21.2.7 Da die Schwankungen der Windgeschwindigkeiten und Windrichtungen in Raum und Zeit zufällig sind, hat sich die Beschreibung der Winderscheinungen mit statistischen Parametern als eine erfolgreiche Annäherung an die Realität erwiesen. Die daraus resultierenden Windlastprozesse können als Zufallsfelder angesehen werden (vgl. hierzu Abschnitt 2.5.2). ◻ 21.3 Wind in der Grenzschicht 21.3.1 Die unterste, sich unmittelbar an die Erdoberfläche anschließende Schicht der Troposphäre bezeichnet man als Grenzschicht (atmosphärische Grenzschicht, planetarische Grenzschicht, engl. atmospheric boundary layer). Die Definition der Grenzschicht steht im engen Kontext mit der Erfassung verschiedener strömungsmechanischer Phänomene (vgl. hierzu u. a. auch die Absätze 21.5.57 f.) So besitzt die Bestimmung der vertikalen Profile von Wind, Temperatur und Feuchte einen hohen Stellenwert bei der Charakterisierung der Grenzschicht. In ihr finden die fundamentalen Wechselwirkungen 6 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb statt, die zwischen der Atmosphäre auf der einen Seite und Lithosphäre (feste Erdkruste), Hydrosphäre (Wasserflächen) und Kryosphäre (Eisflächen) auf der anderen Seite bestehen. Diese Vorgänge sind von gewaltigen, vorangig vertikalen Energie- und Masseaustauschprozessen geprägt. Anmerkung: Die Troposphäre, auch Wetterschicht genannt, repräsentiert die unterste Schicht der Erdatmosphäre. Sie misst am Äquator zirka 15 - 18 km und an den beiden Polen etwa 8 km (vgl. Absatz 21.2.2). 21.3.2 Unmittelbar am Boden, am Unterrand der Grenzschicht, muss die Windgeschwindigkeit wegen der Reibung fast gegen null gehen. Deshalb unterteilt man die Grenzschicht vertikal in eine wenige Millimeter dicke laminare, nicht turbulente Unterschicht und in die anschließende turbulente Grenzschicht, in der die vertikalen und horizontalen Windkomponenten oft von gleicher Größenordnung sind und die von starken tages- und jahreszeitlichen Schwankungen geprägt ist. 21.3.3 Die turbulente Grenzschicht wiederum wird in eine untere, bodennahe PRANDTL- und eine obere EKMANschicht unterschieden. Die nach dem deutschen Strömungsmechaniker Ludwig PRANDTL (1875 - 1953) benannte untere Schicht ist in der Regel ein zwanzigstel so hoch wie die gesamte, ein bis zwei Kilometer starke atmosphärische Grenzschicht. In ihr nimmt die Windgeschwindigkeit mit der Höhe zu. Hingegen kennzeichnet die auf den schwedischen Physiker und Ozeanograph Walfrid EKMAN (1874 - 1954) zurückgehende Schicht, den Übergangsbereich, bei dem der Einfluss der Bodenreibung auf die Windrichtungen immer mehr verschwindet. Die Windströmungen werden zunehmend horizontal homogenisiert, d. h. sie besitzen eine weitgehend einheitliche Geschwindigkeit und Richtung. 21.3.4 Der atmosphärische Druck sinkt mit zunehmender Höhe. Im Bereich ein bis zwei Kilometer über dem Meeresspiegel trifft man auf das Druckniveau p ∼ 850 hPa, das in der Meteorologie als sogenannte 850-mbar-Fläche zur Kennzeichnung des Endes des Bodenreibungseinflusses benutzt wird. Es gelten die vereinfachten physikalischen Gesetze des Gradientenwindes (siehe Absatz 21.2.4). Im Falle einer extremen Tiefdrucklage kann diese 850-mbar-Fläche auf eine Höhe von zirka einem Kilometer fallen. Hierbei zeigten bei Starkwinden ermittelte empirische Daten am Boden dieselbe Größenordnung der Böengeschwindigkeiten wie in der 850-mbar-Fläche. 21.3.5 In der Meteorologie erfasst man mit dem Begriff der Turbulenz die unregelmäßigen, kurzfristigen Schwankungen von Windgeschwindigkeit und Windrichtung innerhalb einer Luftströmung. Als Zeitfenster für deren Durchschnittsdaten werden an den Messpunkten in der Regel 10 s gewählt. Diese hochgradig irregulären, instationären Schwankungen erfolgen um einen meteorologischen Basiswind (EULER-, geostrophischer oder Gradientenwind, siehe Praxis als Abschnitt 21.2), der gemäß internationaler Zehn-Minuten-Mittel (mitunter auch als 1-Stunden-Mittel) ausgewiesen wird. Für diesen Zeitraum betrachtet man das Windfeld als stationär (siehe Abschnitt 2.5). Die Wahl des Zehn-MinutenMittels, das zwecks Vergleichbarkeit heute meistens in einer Höhe von zehn Metern über wenig gestörten Grund gemessen wird, steht im Kontext mit Langzeitmessungen in nichttropischen Breiten, die seinerzeit an unterschiedlichsten festen Punkten vorgenommen worden sind [108]. Das Spektrum der horizontalen Windgeschwindigkeiten des natürlichen Windes (Bild 21.3.5) zeigt im Bereich f ∼ 0,0167 0,167 min -1, was einer Wiederholungsperiode von T ∼ 60 - 6 min entspricht, ein Minimum, die sogenannte spektrale Lücke (spectral gap). Diese spektrale Lücke konnte sowohl für verschiedene Terrains als auch unterschiedliche großräumige Wettervorhersagegebiete nachgewiesen werden. Die unterhalb der sechsminütigen Wiederholungsperiode auftretende spektrale Spitze bei einer Periode von einer Minute gehört zum turbulenten Wind (Windböen). Der spektrale Hauptwert befindet sich bei einer 4- baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 7 Tage-Periode. Die dem Bild 21.3.5 zugrunde liegenden Daten, wurden zum einen als 5-Tage-Durchschnittsgeschwindigkeiten, deren Messungen sich über ein volles Jahr erstreckten, zum anderen als 2Sekunden-Durchschnittsgeschwindigkeiten, die eine Zeitspanne von einer Stunde umfassten, ermittelt. Weitere Messblöcke lagen dazwischen. Die Ordinatenwerte stellen übrigens das Produkt von Frequenz und einseitiger spektraler Leistungsdichte dar, womit die allgemein übliche Interpretationsphilosphie der Spektralfunktionen von Zufallsprozessen (vgl. hierzu u. a. Abschnitt 2.5 bzw. [64]) eine interessante Erweiterung erfährt (vgl. hierzu Absatz 21.6.12). [1s [ ( f G(f 6 m²s s² 5 4 3 2 [ [ 1 1 f h 0 0 0,01 0,1 0,2 0,5 2 5 10 20 50 100 200 500 1000 Bild 21.3.5: Horizontales Windspektrum aus [108] ☺ Versteckte Zelle zum besseren Verständnis des 10-Minuten-Mittels. 21.3.6 Die Turbulenz stellt man sich als eine Erscheinungsform vor, die aus verschiedenen Turbulenzelementen besteht, die sich in einer mittleren Luftströmung mitbewegen. Als ein Beurteilungskriterium zur Kennung ob eine Luftströmung als laminar bzw. als turbulent anzusehen ist, hat sich die kritische REYNOLDSzahl Rezahl nach dem britischen Physiker Osborne REYNOLDS (1842 - 1912) eingebürgert (siehe hierzu auch die Absätze 21.5.60 ff.), welche dimensionslos und wie folgt definiert ist: Rezahl = vchar Lchar ν = vchar ρ Lchar mit η vchar - charakteristische Geschwindigkeit einer Strömung L char - Größenskala der Bewegung oder charakteristische Länge (z. B. Durchmesser eines umströmten Körpers) ρ - Dichte [kg/m³] (Luftdichte ρ = 1,2919 kg m -3 im Normzustand mit einer Temperatur von T = 0°C und einem Druck von p = 101 325 Pa ≏ 1013 hPa ≏ 1bar) ν - kinematische Viskosität des strömenden Mediums (νLuft ≈ 1,532 10 -5 m 2 s -1 bei T = 20°C, p = 1,013 bar oder νLuft ≈ 1,348 10 -5 m 2s -1 im Normzustand) η - dynamische Viskosität [1 Poise ≏ 1 P ≏ 10 -1 N s m -2] Anmerkung: Die Viskosität ist eine stark temperaturabhängige Materialkonstante. Jedoch kann ihre Druckabhängigkeit bei niedrigen Drücken im Bereich p = 0,1 bar ... 10 bar vernachlässigt werden. 21.3.7 Die kritische REYNOLDSzahl muss stets experimentell ermittelt werden. Sie lautet für das ≈ 8 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb Medium Luft Rekrit,Luft ≈ 5000. Unter diesem Wert ist eine Windströmung laminar, darüber turbulent. Zum Vergleich beträgt der kritische Wert für Flüssigkeiten in einer glatten Röhre Rekrit,Rohr ≈ 1160. ☺ Versteckte Zelle zur besseren Beurteilung von Rekrit,Luft ≈ 5000, sowie zu den Dimensionen der Viskosität. 21.3.8 Die Entstehung der Turbulenzen beruht auf der Reibung zwischen Boden und Luft, aber auch zwischen den Luftschichten selbst, wenn diese unterschiedliche Strömungsgeschwindigkeiten besitzen. Letzteres nennt man eine Windscherung. Weitere Ursachen der Erzeugung turbulenter Zustände sind vertikale Luftumlagerungen (Konvektionen) infolge thermischer Vorgänge sowie die geometrischen Strömungshindernisse am Boden (siehe Bild 21.4.6). Beide bewirken eine Störung der laminaren Strömungen. 21.3.9 Das im Bild 21.2.4b ausgewiesene Kräftegleichgewicht in der Grenzschicht zeigt, dass der Reibungseinfluss zu einem Kreuzen der Windrichtung mit den Isobaren führt. Dieses Wegdrehen des geostrophischen bzw. Gradientenwindes variiert zwischen 15° bis 45°, je nach der Rauigkeit des Bodens und der atmosphärischen Stabilität. Als typische Größe wird ein Winkel von ∼ 20° angesehen. 21.3.10 Im Bild 21.3.10 ist der prinzipielle, globale Verlauf von Windrichtung und Windgeschwindigkeit in der Grenzschicht in Form einer räumlichen Darstellung der Geschwindigkeitsvektoren des Basiswindes aufgezeigt. Die Vertikale repräsentiert die Höhe z. In der EKMANschicht bildet sich die ungestörte Strömungsrichtung des geostrophischen Windes heraus. Infolge der Bodenreibung sind die resultierenden Geschwindigkeitsvektoren im unteren Höhenbereich gegenüber dieser EKMANströmung gedreht. g drichtun sche W in i h p ro t s Geo Grenzschicht Geschwindigkeitsvektor Isobare W in dr ic h tun g am B o d en Bild 21.3.10: Prinzipieller Verlauf der Vektoren der Windgeschwindigkeiten in der Grenzschicht (nach [95]) 21.3.11 Die im Bild 21.3.10 erzeugte Raumfigur bezeichnet man in der Fachliteratur als EKMANspirale. Im Kontext mit der Windlastanalyse für Bauwerke wird jedoch in der Regel auf die Berücksichti- baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 9 gung dieses Effektes verzichtet [95], um den mathematisch-physikalischen Aufwand in Grenzen zu halten. Einzig bei sehr hohen turmartigen Gebäuden muss die Windrichtungsänderung Beachtung finden. 21.3.12 Bei Windstärken größer 5 - 6 gemäß der nach dem britischen Admiral Francis BEAUFORT (1774 - 1857) benannten Skala wird die Grenzschicht als adiabatisch (ohne Wärmeaustausch) angesehen. Dieser Bereich entspricht dem Übergang von einer frischen Brise zum Starkwind und ist mit Windgeschwindigkeiten vchar > 10 m/s verbunden. Obwohl die Windentstehung thermischen Ursprunges ist, spielt die Temperatur in den weiteren Überlegungen keine Rolle. Die mathematische Beschreibung der Windgeschwindigkeiten lautet: vx,bas[z] + vx,tur[x, y, z, t] Vektor in x - Strömungsrichtung vy,tur [x, y, z, t] Vektor in y - Richtung , quer zur Strömungsrichtung vz,tur [x, y, z, t] Vektor in z - Richtung, vertikal zur Strömungsrichtung mit vx,bas (z) - mittlere Geschwindigkeit (Zehn-Minuten-Mittel) des stationären Basiswindes, die allein von der Höhe z abhängig ist vx,tur (x, y, z, t) - Turbulenzkomponentein x-Richtung, die von allen drei Raumrichtungen und der Zeit t abhängt vy,tur (x, y, z, t) - Turbulenzkomponentein y-Richtung vz,tur (x, y, z, t) - Turbulenzkomponentein z-Richtung Bild 21.3.12: Mögliche Verteilung der Windgeschwindigkeiten in Windrichtung zu einem festgehalten Zeitpunkt (Prinzipbeispiel) 21.3.13 Die mittleren Komponenten vy,bas und vz,bas des Basiswindes werden zu Null angenommen. Die stochastischen Turbulenzkomponenten vx,y,z,tur ≡ besitzen in einem bestimmten Punkt alle den 10 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb x,y,z,tur Erwartungswert ewv [vx, y, z,tur ] ≡ 0. Die mittlere Geschwindigkeit des Basiswindes vx,bas und ihre Fluktuationskomponente vx,tur liefern gewöhnlich den Hauptanteil bei der Windbeanspruchung von Baustrukturen, wobei der Basiswind vx,bas im Prinzip nur für die Untersuchung statischer Last- wirkungsprozesse geeignet ist. Hingegen dienen die Turbulenzanteile vx,tur , aber auch vy,tur und vz,tur sowohl den quasistatischen als auch den dynamischen Bauwerksanalysen (siehe Abschnitt 21.8). 21.3.14 Die Grundeigenfrequenzen sehr hoher schlanker Baustrukturen bewegen sich im Frequenzbereich f1 ∼ 0,1 - 2Hz ( ≏ 360 - 7200 h -1 ), womit sie in den oberen Erregerfrequenzbereich natürlicher Turbulenzen hineinreichen (siehe Bild 21.3.5). ◻ 21.4 Mittlerer Wind 21.4.1 In der nur wenige Millimeter dicken laminaren Unterschicht, worauf bereits im Absatz 21.3.2 hingewiesen worden ist, besteht ein Wechselwirkungszustand zwischen der Windströmung und der sie bremsenden molekularen Reibung. 21.4.2 Um die Reibung berechenbar zu machen, bedienen wir uns der Kenntnisse aus der Physik zur inneren Reibung. Mittels der z. B. in [37, S.191 ff.] beschriebenen phänomenologischen Methode, die sowohl für Flüssigkeiten als auch für Gase gilt, findet man für die innere Reibungskraft FR des Systems Boden - laminare Unterschicht die analoge Beziehung: FR = - ν A ∂z (ρ[z] vchar[z]) = - A (∂z η[z] vchar[z]) ⟹ τR = FR = ν ∂z (ρ[z] vchar[z]) A mit vchar(z) - charakteristische Geschwindigkeit einer Strömung, wie z. B. die mittlere Geschwindigkeit (Zehn-Minuten-Mittel) des Basiswindes vekvx,bas (z) vchar(zG ) - charakteristische Geschwindigkeit in der Gradientenhöhe zG ( ≏ Gradientengeschwindigkeit - vgl. Bild 21.4.6) ρ(z) - Dichte der Luft [kg/m³] ν - kinematische Viskosität des strömenden Mediums [m 2 s -1 ] η - dynamische Viskosität [N s m -2 ] τR - Betrag der Schubspannung [N m -2 ] 21.4.3 Im Unterschied zu der allgemein üblichen Formulierung für Flüssigkeiten müssen wir bei der Anwendung für die Atmosphäre beachten, dass die Luftdichte von der Höhe z abhängt, weshalb sie ebenfalls ein Bestandteil des Differenzialquotienten sein muss. Das Produkt ρ(z) vchar (z) stellt übrigens den massespezifischen Impuls des horizontal wehenden Windes dar. Da am Boden die Randbedingung vchar(z = 0) ≡ 0 gilt, erhält man für die laminare Schicht ein lineares Anwachsen der Strömungs- geschwindigkeit über die Höhe (vgl. hierzu auch den Absatz 21.5.44): DSolve[{τR ν ∂z (ρ[z] vchar[z]), vchar[0] 0}, vchar[z], z] vchar[z] z τR ν ρ[z] 21.4.4 In der über der laminaren Schicht liegenden bzw. sich aus ihr herauslösenden PRANDTLschicht baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 11 herrschen turbulente Strömungen vor, da die REYNOLDSzahl stets über dem kritischen Wert liegt: Rezahl > Rekrit, Luft = 5000. Die Turbulenzelemente stellen neue, qualitativ andersartige Strö- mungswiderstände dar. Es findet ein qualitativer Wechsel von der molekularen zur turbulenten Reibung statt, indem der Einfluss der Molekularkräfte vernachlässigbar wird, obwohl diese zum Teil selbst die Ursache der Turbulenzen sind. 21.4.5 Da an dieser Stelle auf die mathematisch-physikalische Darstellung der recht anspruchsvollen Grenzschichttheorie verzichtet werden soll, wird eine vereinfachte heuristische Herleitung gewählt. Möchte man detailliertere Aussagen erhalten, dann verweisen wir u. a. auf den Abschnitt 21.5, Strömungsmechanische Grundlagen der Grenzschichttheorie dieses Skriptes. Die Anfänge der Grenzschichttheorie gehen übrigens auf Ludwig PRANDTL zurück, der sie 1904 als Erster begonnen hatte zu entwickeln. 21.4.6 Wegen des Wegfalls der molekularen Reibung ersetzt man in der Gleichung (21.4.2) die kinematische Viskosität ν durch die turbulente Zähigkeit K, die ursächlich mit der möglichen Größenent-wicklung der Turbulenzelemente (z. B. Wirbel) im Zusammenhang steht, weshalb sie mit zunehmender Höhe größer wird. Man definiert deshalb: τR = K ∂z (ρ[z] vchar[z]) mit K = κ v* z wobei K - turbulente Zähigkeit [m 2s -1] κ ∼ 0,4 - dimensionslose KÁRMÁNsche Konstante; empirische Proportionalitätskonstante nach dem ungarischen Aerodynamiker Theodore von KÁRMÁN (1881 - 1963) v* = τR ρ (z) - Schubspannungs- oder Reibungsgeschwindigkeit [m/s] (siehe Tabelle 21.4.8a) - empirisch ermittelte Rauigkeitslänge [m] (siehe Bild 21.4.6 und Tabelle 21.4.8b) z0 ungestörte Strömung +z WI NDPR OFI L v char (zG ) vchar [m/s] z0 z 0 x - Windrichtung -z Bild 21.4.6: Heuristische Interpretation der Rauigkeitslänge z0 21.4.7 Die Rauigkeitslänge kann man sich als charakteristische Größe der kleinen, höherfrequenten 12 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb Bodenwirbel vorstellen, die infolge der Bodenhindernisse entstehen (siehe Bild 21.4.6). Der Wert z0 stellt folglich eine fiktive, virtuelle Höhe dar, bei der der Startwert der mittleren Windgeschwindigkeit vchar(z=z0) des Windprofils null gesetzt wird. Die im Bild 21.4.6 gestrichelt dargestellten großen, niederfrequenten Wirbel haben ihre Entstehung hauptsächlich der Reibung in den oberen Lagen der Grenzschicht zu verdanken. Die Reibungsgeschwindigkeit v* ist von der Stärke des geostrophischen bzw. Gradientenwindes und der thermischen Schichtung der Atmosphäre abhängig. 21.4.8 In den Tabellen 21.4.8a, b sind zu den beiden wichtigen Parameter v* und z0 der vertikalen Windprofile in der Grenzschicht beispielhaft einige Anhaltswerte für unterschiedliche Geländekategorien zusammengetragen worden. Die aus [104] entnommenen Schubspannungsgeschwindigkeiten v* der Tabelle 21.4.8a gelten für den Fall einer thermisch neutralen Luftmassenschichtung und eines geostrophischen Windes der Größenordnung vchar(zG ) = 10 m/s . Bei extremen Winden können die Reibungsgeschwindigkeiten Werte in der Größenordnung von v* ∼ 1-2 m/s erreichen [95]. Schubspannungsge - Geländekategorie schwindigkeit v* [m / s] 0.20 0.30 0.35 0.40 0.45 0.45 Wasser Grasland Buschland Wald Städte Gebirge Tabelle 21.4.8a: Schubspannungsgeschwindigkeiten v* bei unterschiedlicher Bodenbeschaffenheit und für vchar(zG ) = 10 m/s Rauigkeitslänge Geländekategorie z0 [m] 1 · 10-5 1 · 10-4 1 · 10-3 1 · 10-2 5 · 10-2 3 · 10-1 1 - 2 1 - 5 5 - 10 Eisfeld Wellenfreie offene See Küste, Wind landwärts Offenes Land, wenig Vegetation, einige Häuser Ländliches Gebiet, wenige Häuser, geringer Windschutz Dörfer und ländliches Gebiet mit viel Windschutz Städte Gebirge Großstadtregion Tabelle 21.4.8b: Rauigkeitslänge z0 bei unterschiedlicher Bodenbeschaffenheit (gemäß [95][104]) 21.4.9 Wenn wir als Geländeform ein Flachland voraussetzen, ist der Höheneinfluss bei der Luftdichte vernachlässigbar. Mit der Annahme einer über die Höhe konstanten Verteilung der Schubspannungsgeschwindigkeit, erhält man schlussendlich ein logarithmisches Windprofil (vgl. hierzu auch die Absätze 21.5.73 f.) : baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 13 K = κ v* z; τReibung = v* 2 ρ; DSolve[{τReibung K ∂z (ρ vchar[z]), vchar[z0] 0}, vchar[z], z] vchar[z] Log[z] v* - Log[z0] v* κ 21.4.10 In klassischer Schreibweise ausgedrückt, lautet die obige Beziehung der höhenabhängigen Geschwindigkeitsverteilung für den mittleren Wind im Flachland schließlich: vchar(z) = (v* /κ) ln(z / z0 ) . 21.4.11 Mit den Parametern aus den Tabellen 21.4.8 werden für zwei ausgewählte Fälle die Windprofile dargestellt (Bild 21.4.11). Als Geländeformen wurden eine glatte Wasserfläche (Index w) sowie ein Stadtgebiet (Index s) gewählt. Die erforderlichen Parameter sind den Tabellen 21.4.8 entlehnt. z0w = 1 × 10-4 , vw* = .2, z0s = 1 , vs* = .45, κ = 0.4, Δz = .5, maxz = 400; Bild 21.4.11: Logarithmische Windprofile über einer Wasserfläche (blau) und einem Stadtgebiet (rot) bei einem geostrophischen Wind der Größenordnung vchar(zG ) = 10 m/s 21.4.12 Wie bereits im Absatz 21.3.5 ausgesagt worden ist, basiert die Beurteilung der meteorologischen Windverhältnisse heute weitgehend auf der Messung der 10-Minuten-Mittel (Empfehlung der World Meteorological Organization). Zur Extremwertverteilung der Windgeschwindigkeiten und Windrichtungen existiert eine umfangreiche Literatur, auf die in diesem Skript nicht weiter eingegangen wird. Trotzdem sollte für die Abschätzung von Extrema für Zeiträume von 50 Jahren, die selbst auf der Basis mehrjähriger Aufzeichnungen vorgenommen werden, größte Sorgfalt an den Tag gelegt werden. Deshalb ist zu empfehlen, sich gegenüber der jeweils aktuellen Normung ein gesundes Maß an kritis- 14 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb cher Distanz zu bewahren. 21.4.13 Da das aktuelle Normenwerk sehr umfangreich und damit leider auch etwas unübersichtlich geworden ist, geben wir zwecks Orientierung eine Darstellung aus [103, S.189] wieder, die auf der DIN 1055 aus dem Jahre 1986 [114] beruht. Zur Charakteristik der Windverhältnisse hatte man für Deutschland vier Zonen eingeführt, denen alle die gleiche Rauigkeitslänge z0 = 0,03 m zugewiesen worden war. Die Zone IV umfasst beispielsweise die deutsche Nordsee einschließlich ihrer Inseln. Zone vchar[m / s] pcharkN m² v 5,10 [m / s] p 5,10kN m² v 5,5 [m / s] p 5,5 kN m² I 22.0 24.3 0.31 0.38 31.0 0.62 28.3 0.52 II 25.0 27.6 0.40 0.49 34.6 0.77 32.2 0.67 III 28.4 32.0 0.52 0.66 40.0 1.03 36.9 0.88 IV 32.1 35.1 0.67 0.80 44.7 1.29 42.0 1.14 Tabelle 21.4.13: Geschwindigkeiten und Staudrücke (Strömungsenergiedichten) nach DIN 1055, Teil 4 [114] (gemäß [103]) 21.4.14 Die in der obigen Tabelle 21.4.13 ausgewiesenen Werte haben folgende Bedeutung: vchar - Nenngeschwindigkeit des 10-Minuten-Mittels; auf zehn Jahre bezogen für 10 m über Grund; Klammerwert repräsentiert die 50jährige Wiederkehrperiode (vgl. hierzu [97]) pchar - zu vchar gehörender Nennstaudruck (Nennströmungsenergiedichte) mit ρLuft = 1,2923 kg/m³ (siehe Absatz 21.5.21) v5,10 - Nenngeschwindigkeit des 5-Sekunden-Mittels; auf zehn Jahre bezogen für 10 m p5,10 - zu v5,10 gehörende Nennströmungsenergiedichte v5,5 - Nenngeschwindigkeit des 5-Sekunden-Mittels; auf zehn Jahre bezogen für 5 m über Grund p5,5 - zu v5,5 gehörende Nennströmungsenergiedichte über Grund 21.4.15 Werden die Windeinwirkungen auf ein Bauwerk gemäß der Norm EN 1991-1-4:2005 (D) [97] berechnet, so stellen diese charakteristische Werte dar (siehe [61, Abschnitt 3.2]). Die Lastprozesse beruhen also auf Windgeschwindigkeiten bzw. Geschwindigkeitsdrücken, deren Basiswerte selbst charakteristische Größen sind. Diese stehen für eine jährliche Überschreitenswahrscheinlichkeit von 0,02 bzw. eine mittlere Wiederkehrperiode von 50 Jahren. 21.4.16 Es sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass es Überlegungen gab, statt der Nenn- geschwindigkeiten 10 m über dem Boden, die an jedem Messpunkt stets sehr viele spezifische örtliche Einflussparameter enthalten, als Referenzgeschwindigkeit die Geschwindigkeit des Gradientenwindes zu nehmen (siehe Absatz 21.2.4). 21.4.17 Die charakteristische Geschwindigkeit in der Gradientenhöhe zG, die uns bereits aus dem Absatz 21.4.2 als Gradientengeschwindigkeit vchar(zG ) bekannt ist, lässt sich unter Verzicht auf den Zentrifugalkrafteinfluss näherungsweise als geostrophischer Wind berechnen (siehe hierzu auch die versteckte Zelle nach dem Absatz 21.2.2): baudyn_21_1_bis_4_wind.nb dp 15 ≈ 2 ρ vbas ωErde Sin[α] = vbas ρ fc mit fc = 2 ωErde Sin[α] ds mit -2 dp N - Druckdifferenz [hPa] ≏ 1 [mbar] ≏ 100 [Pa] ≏ 100 [ m² ] ≏ 100 [ kg m2s ] ds - Längendifferenz [m] ρ - Dichte [kg/m³] vchar - charakteristische Windgeschwindigkeit [m/s] ωErde - Winkelgeschwindigkeit der Erde [rad/s] α - geographische Breite [rad] fc - CORIOLISparameter m Beispiel: Dichte der Luft ρ ∼ 1,292 ωErde = 2π 24 h Solve , Δp = 1020 hPa - 1013 hPa = 700 kg m s-2 m2 , Δs = 5 10 5 m, = 7,2722 10 -5s , α = 0,89 Δp Δs vchar vchar kg m3 == vchar ρ 2 ωErde Sin[α], vchar Δp Csc[α] 2 Δs ρ ωErde Δp Csc[α] 2 Δs ρ ωErde , fc 2 ωErde Sin[α] /. Δp 700, α .89, ρ 1.292, Δs 5 × 105 , ωErde 7.2722 × 10-5 {vchar 9.58757, fc 0.00011302} 21.4.18 Die höhenabhängige Geschwindigkeitsverteilung (21.4.9 f.) ist sowohl für sehr kleine als auch sehr große Höhen nicht hinreichend. Einerseits ist erst außerhalb der Rauigkeitsstruktur (siehe Bild 21.4.6) eine eindeutige Zuordnung der physikalischen Vorgänge möglich. Andererseits verliert die angenommene Konstanz der Schubspannungsgeschwindigkeit in großen Höhen ihre Gültigkeit (siehe u. a. Absatz 21.3.3). 21.4.19 In [95] bzw. [103] wird ein zur Beziehung (21.4.10) modifizierter Höhenansatz diskutiert, den wir zu Vergleichszwecken in den Berechnungsbeispielen des Absatzes 21.4.21 nutzen werden, ohne jedoch auf ihn selbst einzugehen. Eine Zeit lang wurde in der Fachwelt auch ein Potenzgesetz für die praktische Anwendung als geeigneter angesehen. Es lautet: vchar[z] = vchar[zR ] z n zR 21.4.20 Die Referenzhöhe zR wird entweder zu 10 m angenommen [114] oder aber der Gradientenhöhe zG gleichgesetzt [78]. In [97] findet sich hingegen wieder ein auf der logarithmischen Geschwindigkeitsverteilung basierender Ansatz, der aber im Entwurf zum nationalen Anhang aus dem 16 baudyn_21_1_bis_4_wind.nb Jahre 2008/2009 teilweise verändert worden ist [115]. Den Exponent n bezeichnet man in der Fachliteratur zu Ehren des deutschen Meteorologen Gustav HELLMANN (1854-1939), der ihn 1915 einführte, auch als HELLMANNexponent. HELLMANN - Gradientenhöhe zG [m] Gelände - z0 - Bereiche n kategorie s. Tab. 21 - 4 - 8 b 0.08 - 0.11 0.12 - 0.16 0.17 - 0.20 0.21 - 0.30 > 0.31 Wasser Grasland Buschland Wald Städte ∼ 10-5 - 10-3 ∼ 10-3 - 10-2 ∼ 10-2 - 10-1 ∼ 10-1 - 1 >1 exponent 300 - 400 400 - 450 450 - 550 550 - 600 > 600 Tabelle 21.4.20: Anhaltswerte für die Gradientenhöhe zG und den HELLMANNexponent n bei unterschiedlicher Bodenbeschaffenheit (gemäß [95] [103][104]) 21.4.21 Um im Kontext zu den Anhaltswerten der obigen Tabellen bleiben zu können, bereiten wir das Potenzgesetz (21.4.19) bezogen auf eine Referenzhöhe von zR = 10 m auf. Für den HELLMANNexponenten nutzen wir die Beziehung n = (3, 3 - 0, 9 ln (z0 )) -1 aus [103]. Die graue Linie beruht auf dem bereits im Absatz 21.4.19 erwähnten erweiterten logarithmischen Gesetz aus [95]. Variiert man in der unten ausgewiesenen manipulierbaren Grafik die Parameter und versucht anschließend die erzielten Ergebnisse mit den Aussagen in der Literatur zu verifizieren, erkennt man, wie außerordentlich schwierig es ist, zutreffende Windprofile hinreichend abzuschätzen. Die Verteilung der Windgeschwindigkeiten stellt ein so vielschichtiges komplexes System dar, dass sie eigentlich in keine Norm gepresst werden sollte. Anmerkung: Für das unten ausgewiesene, festgehaltene Musterbeispiel sind die Parameter z0 = 10 -3 m, v* = 0.25 m/s, vchar (zR = 10 m) = 6.5 m/s und maxz = 380 m ausgewählt worden. Die Zwischengrößen n und zG werden ebenfalls dokumentiert. In[4]:= {zR = 10, Δz = .05, κ = 0.4, fc = 0.000113}; baudyn_21_1_bis_4_wind.nb 17 vchar [zR =10] 6.5 z0 [m] 0.001 n [-] 0.105075 v* [m] 0.25 zG [m] 368.732 maxz [m] 380 Out[5]= 21.4.22 Wie bereits im Absatz 21.4.12 angemerkt worden ist, werden wir nicht auf die Problematik der Extremwertverteilung der Starkwinde eingehen. Dasselbe trifft auch auf die Fragen zu, die im Zusammenhang mit inhomogenen Geländeformen stehen. Hierzu verweisen wir auf die Literatur, wie z. B. [78], [95] und [103]. 21.4.23 Die dem mittleren Wind überlagerten turbulenten Windgeschwindigkeitsanteile können in einfachster Form mit einer Einhüllenden erfasst werden, die uns zum sogenannten Böenwindgeschwindigkeitsprofil führt. Ein solches liegt zum Beispiel den Werten der Tabelle 21.4.13 zugrunde. Die dort ausgewiesenen Staudrücke beinhalten die Spitzengeschwindigkeiten in Windböen. Bezogen auf die Spitzengeschwindigkeit einer 5s-Böe liegt deren Staudruckwert ungefähr 1,6mal höher als der des 10min-Mittels und zirka 1,8mal über dem des Stundenmittels [78]. Detailliertere Aussagen zur Turbulenzstruktur in der atmosphärischen Grenzschicht werden im vorgenommen. Abschnitt 21.6