Die Hausordnung der Tora

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Franz Segbers
Die Hausordnung der Tora
Theologie in Geschichte und Gesellschaft 7
1
Franz Segbers
Die Hausordnung der Tora.
Biblische Impulse für eine
theologische Wirtschaftsethik
EDITION EXODUS
LUZERN 1999
2
Die Veröffentlichung dieses Buches wurde gefördert von der HansBöckler-Stiftung.
3
I NHALTSVERZEICHNIS
GELEITWORT VON BISCHOF PROF. DR. WOLFGANG HUBER
VORWORT
11
PROBLEMANZEIGE
14
Beispiel 1: Die Diskussion um den Sonntag
Beispiel 2: Gottes Sozialprogramm. Ein Brief aus Afrika
INTERESSE, ARBEITSWEISE UND METHODE
20
ERSTER TEIL
ZUM VERHÄLTNIS VON ETHIK UND ÖKONOMIE
1. VOM GARSTIGEN GRABEN
ZWISCHEN GALILÄA UND DEM GLOBALEN MARKT
1.1 Wirtschaftsethik als Krisenindikator
1.2 Die Bibel zu Rate ziehen?
33
1.2.1 Das Autoritätsargument der Bibel
35
1.2.2 Die historische Distanz zur Bibel
1.2.3 Motivationskraft biblischer Traditionen
1.2.4 Hebräische Bibel und christliche Ethik
1.2.5 Kontext der Bibel und Kontext der Gegenwart
2. ETHISCHE ZUGÄNGE ZUR W IRTSCHAFT
2.1 Ethik des Marktes
2.2 Ethik und Ökonomie: Zwei-Welten-Konzept
2.3 Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen
4
30
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36
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64
ZWEITER TEIL
W IRTSCHAFTSETHIK DER BIBEL:
W IRTSCHAFTEN AUS DER LOGIK DER HUMANITÄT
3. W IRTSCHAFTSETHIK AUS DER OPTION FÜR DIE ARMEN
70
3.1 Diskursethische Begründung von Wirtschaftsethik
3.2 Der spezifische Beitrag bibeltheologischer Aspekte
im wirtschaftsethischen Diskurs
3.2.1 Hermeneutischer Ausgangspunkt: Der Arme
3.2.2 Der kategorische Imperativ: Das Recht der Armen
76
3.2.3 Das absolute und das konkrete Kriterium der Ethik
77
3.2.4 Der kategorische Imperativ wirtschaftsethisch übersetzt
81
3.2.5 Orientierungspunkt: Gerechtigkeit
83
3.3 Kritischer Maßstab und Impuls für Gerechtigkeit:
Option für die Armen
70
73
75
87
3.3.1 Gerechtigkeit - Herstellung und Wahrung
lebensfreundlicher Verhältnisse für die Bedrängten
87
3.3.1.1 Unausgewogene Gerechtigkeit: Option für die Armen
89
3.3.1.2 Gerechtigkeit als Rechtsanspruch der Benachteiligten
91
3.3.1.3 Gerechtigkeit und Machtkritik
92
3.4 Gerechtigkeit und Option für die Armen als Problem
gegenwärtiger ökonomischer und sozialer Verhältnisse
94
4. TORA ALS GRUNDLAGE THEOLOGISCHER ETHIK
99
4.1 Ethik der Tora
4.1.1 Biblisch fundierte Ethik
4.1.2 Tora als Weisung zur Gerechtigkeit
4.1.3 Erinnerung an den Exodus und Gegenwartsweisung
4.1.4 Exodusdenken und Exoduspolitik
4.2 Tora-Ökonomie
99
99
105
107
108
112
5
4.2.1 Unterscheidung der Ökonomien:
Haushaltsökonomie oder Kapitalerwerbswesen
114
4.2.2 Die Politische Ökonomie der Tora: Das Haus Israel
4.2.2.1 Ökonomische Grundeinheit: Das Haus
4.2.2.2 Hausordnung der Tora
4.2.2.3 Ökonomie der Fülle
4.2.3 Die Tora-Ökonomie: Eine ökonomische Alternative
4.2.4 Leitlinien einer Haushaltsökonomie der Tora
117
118
121
123
127
140
5. OPTION FÜR DIE ARMEN:
BEZUGSPUNKT EINER BIBLISCH BEGRÜNDETEN
W IRTSCHAFTSETHIK
5.1 Arbeiten - biblische Einsichten
145
145
5.1.1 Arbeit und Zwangsarbeit - eine notwendige Differenzierung146
5.1.2 Gottes Arbeit und des Menschen Arbeit
151
5.1.3 Arbeit und Ruhe - ein ganzheitliches Verständnis
155
5.2 Menschenrecht auf Arbeit
5.3 Wirtschaftsethische Übertragung: Priorität der Arbeit
158
159
6. ANSÄTZE ZU EINER BIBELTHEOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG
VON W IRTSCHAFTSETHIK
166
6.1 Wirtschaftsethik in der Bibel
166
6.1.1 Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora
167
6.1.2 Sabbatordnung als Zentrum der Wirtschaftsethik der Tora
177
6.1.2.1 Der Sabbat
177
6.1.2.2 Sabbatjahr und Schuldenerlaß
185
6.1.2.2.1 Sabbatjahr (Ex 23.10f.): Brachjahr 185
6.1.2.2.2 Sabbatjahr (Dtn 15,1-11): Schuldenerlaß
187
6.1.2.2.3 Zinsverbot als Strategie gegen
Verarmung und Verelendung
192
(1) Zinsverbot (Ex 22,24)
(2) Zinsverbot (Dtn 23 20f.)
(3) Zinsverbot (Lev 25,35f.)
6.1.2.3 Jobeljahr (Lev 25,8-55):
Schuldenerlaß und Umverteilung
6
197
6.2 Die Wirtschaftsethik der Tora und ihre Wirkungsgeschichte
203
7. BIBEL IN DER W IRTSCHAFTSETHIK:
ZUR REZEPTION BIBLISCHER TRADITIONEN IN
KIRCHLICHLICHEN ERKLÄRUNGEN
208
7.1 Erklärung der United Church of Christ:
210
“Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit”
7.2 Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland
212
“Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln
in Verantwortung für die Zukunft”
7.3 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen
und sozialen Lage in Deutschland
“Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”
214
7.4 Zusammenfassung
220
DRITTER TEIL
ÖKONOMIEN IM W IDERSTREIT
8. MARKTWIRTSCHAFT IM PLURAL
8.1 Soziale Marktwirtschaft
226
232
8.1.1 Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft
232
8.1.2 Denkschrift
234
“Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur
Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den
politischen Nöten unserer Zeit” (1943)
8.1.3 Biblische Fundierung der Denkschrift
235
8.1.4 Konzeptionelle Entfaltung der Sozialen Marktwirtschaft
246
8.2 “Marktwirtschaft pur”:
Der Mythos, daß der Markt sich selber regelt
8.2.1 Der Markt als Garant des Gemeinwohls
8.2.2 Metaphysik des Marktes
8.2.2.1 KULT-Marketing
8.2.2.2 Umdeutung christlicher Ethik
255
255
261
261
269
7
8.2.2.3 Neoliberales Credo: Vertrauen auf den Markt
272
8.2.2.4 Neoliberale Glaubensgemeinschaft
275
8.2.2.5 Totaler Markt
285
8.2.3 Götzenkritik der Hebräischen Bibel im theologischen Erbe
286
8.2.3.1 Biblische Kritik an den Götzen
8.2.3.2 Götzenkritik in der theologischen Tradition
8.2.4 Religion des Marktes
286
289
297
VIERTER TEIL
W IRTSCHAFTSETHIK UND W IRTSCHAFTSPRAXIS
9. W IRTSCHAFTSETHISCHE IMPULSE
9.1 Erster wirtschaftsethischer Impuls:
Die Würde der menschlichen Arbeit achten
9.1.1 Arbeit ist keine Ware
9.1.2 Arbeit begründet Rechte
9.1.3 Recht auf Arbeit
9.1.4 Rechte aus Arbeit
9.2 Zweiter wirtschaftsethischer Impuls:
Solidarisch arbeiten
9.2.1 Gerechter Lohn
9.2.2 Arbeitsumverteilung
9.3 Dritter wirtschaftsethischer Impuls:
Mit der Schöpfung versöhnt arbeiten
304
309
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317
317
322
324
325
333
336
9.3.1 Logik der Nutzung
336
9.3.2 Regulierungen aus dem biblischen Schöpfungsethos
338
9.3.3 Soziale und ökologische Marktwirtschaft
346
9.4 Vierter wirtschaftsethischer Impuls:
Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen
347
9.4.1 Regulierung des Marktes in der Tora
348
9.4.2 An Gerechtigkeit und Partizipation gebundene Freiheit
356
9.5 Fünfter wirtschaftsethischer Impuls:
Sorgsam haushalten
8
361
9.5.1 Ökonomie als Haushaltsökonomie
9.5.2 Regulierung der Wünsche
9.6 Sechster wirtschaftsethischer Impuls:
Bereicherung begrenzen
362
369
375
9.6.1 Ökonomischer Paradigmenwechsel
9.6.2 Regulierungen für den sozialen Ausgleich
375
383
9.6.2.1 Schuldenerlaß
(1) Sabbatjahr und Erlaßjahr
(2) Sozialethischer Kern:
Recht auf einen Neuanfang
384
384
9.6.2.2 Umverteilung
(1) Zinsverbot und Jobeljahr
(2) Sozialethischer Kern:
Schutz vor ökonomischer Abhängigkeit
390
390
9.6.2.3 Machtkontrolle
398
386
392
10. ARBEIT VOR KAPITAL:
PERSPEKTIVE FÜR EIN
MITWELTGERECHTES W IRTSCHAFTEN
400
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
406
LITERATURVERZEICHNIS
406
SACHREGISTER
SCHRIFTSTELLENVERZEICHNIS
VORWORT
9
Das vorliegende Buch steht in einem Kontext. Wie eine gewaltige Grippewelle wandert eine Wirtschafts- und Finanzkrise um den Globus. Nach
Überzeugung der Welthandels- und Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNCTAD) steht die globale Wirtschaft 1998 “am Rande
des Abgrunds”. Von den Ländern Südostasiens lernen, war ein Rat, der
noch vor nicht allzu langer Zeit den kränkelnden Volkswirtschaften Europas gegeben wurde. Doch nur innerhalb weniger Monate werden aus
dem Wirtschaftsmusterknaben ein sterbenskranker Patient. Ökonomische Zukunftsträume schwinden dahin. Verarmung, Hunger und Elend
grassieren. Millionen sind ohne Arbeit. Währenddessen klettern die Aktienkurse in Frankfurt und an der Wall Street von Rekordmarke zu Rekordmarke. Arbeitslosigkeit, die Krise des Sozialstaates und Verarmung
im Weltmaßstab begründen eine ganz andere Globalisierung als jene
vielgepriesene der Märkte und Finanztransaktionen. Kaum ist der real
existierende Sozialismus in sich zusammengefallen, da stürzt der vermeintliche Sieger im Westen in eine schwere Krise.
Nach einer Ökonomie zu fragen, die dem Leben dienlich sein kann, ist
angesichts dieses Kontextes beileibe keine akademische, sondern eine
lebensnotwendige Frage. Das sich abzeichnende Scheitern des neoliberalen Konzeptes von Ökonomie hat eine neue Nachdenklichkeit selbst
bei den bisherigen Verfechtern hervorgerufen. Wie kann eine Ökonomie
aussehen, die menschengerecht und sachgemäß ist? Die vorliegende
Arbeit nimmt sich vor, einen Beitrag in diese Debatte um eine neue Ordnung der Ökonomie einbringen. Sie tut dies unter einer Fragestellung,
die gar nicht selbstverständlich scheint. Sie fragt nämlich: Läßt sich aus
dem Umgang der Bibel mit der Ökonomie ihrer Zeit etwas lernen für den
Umgang mit der Ökonomie unserer Zeit? Jahrtausende liegen dazwischen. Die bäuerliche Ökonomie in dem kleinen Land der Bibel am Mittelmeer scheint wie durch einen tiefen Graben von der globalen Ökonomie unserer Tage getrennt. Die Frage ist deshalb nur zu berechtigt: Können ethische Einsichten und Kategorien aus der Welt der Bauern und
Händler zur Zeit der Bibel überhaupt irgendeine Weisung für den globalen Kapitalismus der Gegenwart geben? Sich dieser Frage aussetzen,
hat mir gezeigt: Auf die Ökonomie unserer Tage einen Blick zu werfen,
der durch das Lesen der Bibel geschärft worden ist, kann erhellend sein.
Die vorliegende Arbeit geht auf eine Habilitationsschrift zurück, die im
Wintersemester 1998/1999 vom Fachbereich Evangelische Theologie
10
der Universität Marburg angenommen. Für die Drucklegung wurde sie
besonders im Hinblick auf neuere Literatur überarbeitet. Mein herzlicher
Dank, der sich an alle Mitglieder des dortigen Fachbereichs richtet, gilt in
erster Linie Prof. Dr. Dr. Siegfried Keil, Prof. Dr. Wolfgang Nethöfel und
Prof. Dr. Rainer Kessler, die durch Ratschläge und Anregungen die Arbeit gefördert und das Gutachten angefertigt haben. Zu danken ist dem
Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Marburg dafür,
einem alt-katholischen Theologen die Möglichkeit zur Habilitation im
Fach evangelische Sozialethik eröffnet zu haben. Ohne das Wohlwollen
und die Unterstützung vieler Menschen hätte ich diese Arbeit nicht
schreiben können. Sie wäre nicht zustande gekommen ohne die zahlreichen Gespräche mit Gewerkschaftern, Unternehmern und anderen Interessierten an der Evangelischen Sozialakademie Friedewald. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich für die anregenden Gespräche mit Prof.
Dr. Günter Brakelmann, der unermüdlich Sozialethik mit Blick auf die
Realitäten der Arbeitswelt treibt. In den letzten Jahren ist mir die Grundsatzfrage immer dringlicher geworden: Was haben Theologie und Kirche
als ein Spezifikum einzubringen, das eben nicht nur verdoppelt, was vernünftigerweise an anderen Stellen auch vertreten wird? Was können
Theologie und Kirche in Fragen einer menschenwürdigen Gestaltung der
Ökonomie beitragen? Meine Frau Victoria hat sich das Manuskript zugemutet und mit mancher kritischen Hilfe weitergeholfen. Unseren Kindern David und Teresa will ich auf diesem Weg für ihr Verständnis danken, daß sie mich öfter als sonst entbehren mußten, da ich vor Büchern
am Schreibtisch und Computer saß. Zu danken ist auch Hildegard
Kipping für die sorgfältige und kompetente Betreuung der Endgestalt des
Textes und Lic. phil. et theol. Hubert Huppertz für die Mühe der Endkorrektur.
Der Hans-Böckler-Stiftung möchte ich danken, die durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß die Veröffentlichung der Arbeit ermöglicht
hat. Zu den vorrangigen Aufgaben einer gewerkschaftsnahen Studienund Forschungsförderung gehört es zweifelsohne nicht, theologische
Publikationen zu fördern. Gleichwohl jedoch macht die Förderung Sinn:
Gerechtigkeit und Solidarität bilden den Kernbestand der christlichjüdischen sozialethischen Orientierung und gehören zu den zentralen
Überzeugungen, die Kirchen und Gewerkschaften verbinden und für die
sie auf je eigene Weise eintreten.
Die Diagnose, daß die Modernisierung zu einer Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer führt, ist ein inzwischen alter, aber leider
noch immer richtiger Befund. In ihrem Wirtschafts- und Sozialwort Für
eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit beklagen die Kirchen: “Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wert-
11
schätzung.” Doch Gerechtigkeit ist der Schlüsselbegriff christlicher Orientierung. Sie macht die Mitte einer in Jahrhunderten gewachsenen Sozialkultur aus, die sich zutiefst Impulsen christlich-jüdischer Traditionen verdankt. Nicht wenige meinen, Gerechtigkeit wie einen übriggebliebenen
Restbestand vergangener Zeiten beiseite legen zu können. Sie tauge
nicht als Maßstab zur Beurteilung ökonomischer und gesellschaftlicher
Verhältnisse.
Kirchen und Gewerkschaften sind auch heute noch Orte der alten Visionen und der verdrängten Worte wie Recht und Gerechtigkeit für alle,
Würde des Menschen, Empörung über Unrecht, Wahrnehmung der Welt
aus der Perspektive der Schwächeren. Die aktuellen Herausforderungen
erinnern an die alten Themen: die neue Massenarbeitslosigkeit an die alte Sehnsucht nach Gerechtigkeit; die neuen Risse zwischen Wohlstand
und Armut an die Solidarität der Starken mit den Schwachen; die neue
Armut an Erbarmen und Barmherzigkeit. Vielleicht kann diese Arbeit dazu beitragen, unverdrossen an den alten Aufgaben, die nach wie vor
nicht erledigt sind, weiterzuarbeiten und Solidaritäten für eine Modernisierung in und durch Gerechtigkeit zu stiften.
12
PROBLEMANZEIGE
Beispiel 1: Die Diskussion über den Sonntag
Angesichts der rasanten Ausweitung der Sonntagsarbeit in den letzten
Jahren haben die Kirchen sich mit einer solchen Anzahl von Erklärungen
und Verlautbarungen geäußert wie zu kaum einem anderen gesellschaftlichen Thema. In ökumenischen Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Verlautbarungen der EKD-Synode und von Landessynoden oder kirchlichen
Sozialverbänden haben die Kirchen versucht, gegen den Trend der Ausweitung der Arbeitszeit auf den Sonntag Argumente aus der kirchlichen
und biblischen Tradition zur Geltung zu bringen. Die Erklärungen stimmen in einem Aspekt überein: in der Wiederentdeckung des biblischen
Sabbat.
In der Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und
des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 25.1.1988 Unsere Verantwortung für den Sonntag heißt es: “Der Sonntag steht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit dem Sabbat. (...) Wenn der
Mensch am Sonntag von all seiner Arbeit innehält und diesen Tag als eine für Gott geheiligte Zeit achtet, sich Gott seinem Schöpfer und Erlöser
zuwendet, auf sein Wort hört und Orientierung und Kraft schöpft für die
Aufgaben, die vor ihm liegen, erfährt er etwas von der Freiheit, Würde
und Menschlichkeit, die Gott schenkt. Der Mensch darf nicht in seiner
Arbeit aufgehen. (...) Die Sonntagsruhe ist ein Zentralwert unserer Kultur.
(...) Produktion und ebenso ein erfolgreiches Wirtschaften sind wichtig,
dürfen aber nicht auf Kosten einer humanen Lebensgestaltung, auf die
1
uns das Gebot Gottes verweist, gehen.”
1
DBK u. EKD, Unsere Verantwortung für den Sonntag. Gemeinsame Erklärung, EKD-Texte 22,
Hannover 1988, 5-8.
13
Die Kirchen unterstellen eine Analogie zwischen dem biblischjüdischen Sabbat und dem christlichen Sonntag. Zur Begründung des
Sonntag nehmen sie eine in die frühesten Traditionsschichten der Hebräischen Bibel zurückreichende Institution in Anspruch. Die wohl älteste
Fassung des Gebotes einer zyklischen Arbeitsruhe am siebten Tag
stammt vermutlich aus dem 8. Jahrhundert v.Chr. (Ex 34,21). Die selbstverständliche Bezugnahme der Kirchen auf diese mehr als zweieinhalbtausend Jahre alte Einrichtung wirft jedoch einige Fragen auf:
Das Arbeitsruhegebot am Sabbat entstammt einer bäuerlichen Kultur.
Kann es für die industrielle Arbeitsgesellschaft, die einem Transformationsprozeß in eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft unterliegt,
immer noch gelten?
Das Sabbatgebot ist Teil des biblischen Gesetzeswerkes.
Hat nicht Jesus selber Kritik an der rigiden Sabbatpraxis seiner Zeit geübt (Mt 12,1-8.9-14; Mk 2,23-28; 3,1-6; Lk 6,6-11; 14,1-6 u.ö.)?
Die Arbeitsruhe am Sonntag ist Ergebnis einer Übertragung des Sabbat der Bibel auf den Sonntag als Tag der Auferstehung. Die Kirchen unterstellen eine ungebrochene Traditionsverbindung zum biblischen Sabbat. Immerhin haben die Reformatoren den Tag nicht durch Arbeitsruhe
geheiligt sehen wollen. In der Confessio Augustana heißt es: “Denn es irren diejenigen sehr, die meinen, es sei die Ordnung des Sonntags anstelle des Sabbat als (heils)notwendig eingeführt worden. Denn die Heilige Schrift hat den Sabbat abgetan und lehrt, daß alle Zeremonien des
alten Gesetzes (des Mose) nach der Eröffnung des Evangeliums unter2
lassen werden können.” Ruhezeit und Zeit für den Gottesdienst sind
nach Martin Luther in seinem Großen Katechismus “nicht so an bestimmte Zeiten wie bei den Juden gebunden, daß es eben dieser oder jener
Tag sein müsse. Denn es ist an sich selbst keiner besser als der andere,
3
sondern das sollte wohl täglich geschehen.” Die Arbeitsruhe am Sabbat
ist hier von Luther theologisch entlegitimiert.
Mit welcher Begründung beziehen sich die Kirchen, zumal die Kirchen
der Reformation, nun auf ein biblisches Sabbatgebot, um gegen eine
Ausweitung der Sonntagsarbeit zu argumentieren? Sind die kritischen
Vorbehalte gegenüber ethischen Indikativen und Imperativen nicht ein
unaufgebbares Erbe der Reformation?
2
3
Confessio Augustana. Zit. nach: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. vom Lutherischen Kirchenamt, 2. Aufl. Gütersloh 1987, 115f.
Martin Luther, Der Große und der Kleine Katechismus, ausgew. von K. Aland und H. Kunst, Göttingen 1983, 15. An anderer Stelle heißt es bei Luther: “Ist Christus unser, so können wir leicht
Gesetze aufstellen und alles recht richten. Ja, selbst neue Dekaloge werden wir dann machen,
(...). Und diese Dekaloge sind klarer als der des Mose, gleichwie Christi Angesicht klarer ist als
das des Mose” (WA 39, 1; 47).
14
Beispiel 2: Gottes Sozialprogramm. Ein Brief aus Afrika
Von seinem Partnerkirchenkreis in Muku/Kongo erhielt der evangelische
Kirchenkreis Altenkirchen / Westerwald 1997 zum Tag der Partnerschaft
eine Lesepredigt, die in einer beeindruckenden Weise die eigene soziale
Realität und die der Bibel zusammensieht:
An diesem Tag der Partnerschaft zwischen unseren Kirchen in Afrika und
denen in Deutschland legen wir Wert darauf, unsere Kirchen daran zu erinnern, daß sie den schwierigen Auftrag haben, den Armen, den Unterdrückten, den Waisen, den Fremden (...) kurz, den Schutzlosen, deren
Zahl wächst, Hilfe zu leisten und Schutz zu geben. (...) Niemals haben so
viele Menschen unter der Herrschaft des totalen Elends, der Unterdrückung und Gewalt leben müssen. So drängt sich die Frage auf: “Von
wo soll Hilfe für uns kommen?”
Diese Frage ruft die Verantwortung der Kirche in Erinnerung gegenüber
denen, die leiden und schutzlos sind. Wir wollen antworten mit einer Meditation über Psalm 146.
Der Psalmist beginnt mit dem negativen Aspekt der Frage, er kritisiert
nämlich die Menschen dafür, daß man sich nicht auf sie verlassen kann,
wenn man Hilfe und Schutz sucht.
Verlaßt euch nicht auf Fürsten,
auf Menschen, bei denen es doch keine Hilfe gibt (Ps 146,3).
So wird uns klar gemacht, wie vergeblich es ist, sich auf die Großen dieser
Welt zu verlassen.
Positiv zeigt der Psalmist auf, daß Gott die Quelle der Hilfe ist. Er ist der
einzige Förderer der Gerechtigkeit (Ps 103,6), der einzige Schutz und Halt
(Ps 101). Von wem bekommen Menschen Hilfe?
Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist,
und der seine Hoffnung
auf den Herrn, seinen Gott, setzt (Ps 146,5).
In zwölf Aussagen skizziert der Psalmist das Sozialprogramm oder Hilfsprogramm Gottes für diejenigen, die schutzlos sind, die keine Stimme haben, die Vergessenen dieser Erde (...).
Recht verschafft er den Unterdrückten,
den Hungernden gibt er Brot;
der Herr befreit die Gefangenen.
Der Herr öffnet den Blinden die Augen,
er richtet die Gebeugten auf.
Der Herr beschützt die Fremden
und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht.
Der Herr liebt die Gerechten,
doch die Frevler leitet er in die Irre (Ps 146,7-9).
15
Diese Aussagen beschreiben das Sozialprogramm Gottes. Um dieses
Programm zu realisieren, greift Gott auf den Menschen zurück, dieser ist
das Werkzeug, der Gottes Programm in die Tat umsetzen soll. Und damit
ist klar, daß die Kirche sich Jahwes großes Sozialprogramm für die „ohne
Schutz‟ zu eigen macht. Für die Kirche kann es nicht darum gehen, bloß
zuzuschauen.
An diesem Sozialprogramm ist die Kirche beteiligt, sie ist Mitarbeiterin Gottes. Ihre Mitwirkung beruht auf einer Dynamik, in der es nicht auf Reichtümer ankommt, sondern auf die Menschen, die von dem lebendig gehalten
werden, der die Quelle der Hilfe schlechthin ist.- (Gekürzt)
Die Auslegung des Psalms und die Begründung der Arbeitsruhe am
Sonntag stellen zwischen den sozialethischen Aussagen der Bibel und
gegenwärtigen Herausforderungen eine Verbindung her. Mit Argumenten
aus der biblischen Überlieferung wird die eigene Notlage im Kongo zur
Sprache gebracht. Das Elend im Kongo und die Situation, die hinter dem
Psalm steht, scheinen einander so nah, daß sie sich gegenseitig interpretieren können. Der Kontext in dem vom Bürgerkrieg geschüttelten
Land und der Text des Psalms legen sich wechselseitig aus.
Es gibt einen Aufbruch zu einer neuen Lesart der Bibel, die sich ganz
wesentlich der Theologie der Befreiung verdankt. Die Bibel wird wiederentdeckt. Die konkreten Erfahrungen mit Armut, Unterdrückung und
Elend werden zum Spiegel der Bibellektüre - und umgekehrt. Kaum beachtete Traditionen der Bibel werden gelesen, wiederentdeckt und in die
Auseinandersetzung um mehr Gerechtigkeit und Würde eingebracht.
Diese Lesart der Bibel ist nicht abstrakt. Sie kommt aus der Praxis und
ist auf sie hingerichtet.
Diesen Aufbruch zu einer neuen Art der Bibellektüre gibt es auch in
Deutschland. Anders als früher garnieren die Kirchen ihre Erklärungen
nicht mehr nur mit assoziativen Bibelzitaten. Die Wirtschaftsdenkschrift
Gemeinwohl und Eigennutz(1991) und das Gemeinsame Wort Für eine
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit(1997) sind markante Beispiele für
eine Wiederentdeckung des biblischen Arguments in der Ethik. Auch die
Begründungen für den Erhalt des Sonntags belegen diesen Lernprozeß
der Kirchen, hatte doch die EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen noch 1982 ohne Gedanken
an den Sonntag reine Wochenendschichten, also über den Sonntag hin4
weg, vorgeschlagen.
4
Gütersloh 1982, 53. - Dort heißt es: “... besondere Arbeitsplätze für das Wochenende bei vollkontinuierlichem Betrieb anzubieten,...; hier muß also allerdings die Gefahr einer vermehrten
Schichtarbeit bedacht werden.” - Kein Hinweis auf das Problem des gesellschaftlichen Ausschlusses oder auf die Frage nach dem Erhalt des Sonntags.
16
Der Konflikt um die Geltung der Arbeitsruhe am Sonntag hat exemplarische Bedeutung. Angesichts des Aufeinandertreffens von ökonomischer Logik und ethischen Orientierungen wird mit dem Sabbat eine
normative Entscheidung zugunsten einer “humanen Lebensgestaltung”
getroffen, wie es in der Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Sonntag heißt. Die Kirchen orientieren sich an einer jahrtausendealten Tradition, die den biblischen Sabbat als Garanten einer “humanen Lebensgestaltung” betrachtet. Er stehe für eine “Freiheit, Würde
und Menschlichkeit, die Gott schenkt.” Doch diese unmittelbare Orientierung der Kirchen am biblischen Sabbatgebot trügt. Der heutige Sonntag
ist nämlich keineswegs der direkte Erbe des biblischen Sabbat. Der Sabbat durchlief immer schon einen Prozeß der Anpassung. Unter den sehr
verschiedenen sozio-ökonomischen Verhältnissen in der frühen Agrarkultur und Stadtkultur im Alten Israel wurde der Sabbat keineswegs einheitlich gehalten. Auch durch die Geschichte des Christentums zieht sich
eine vielschichtige Traditionslinie im Erbe des Sabbat. Es gibt eine bewußte Distanzierung von der biblischen Sabbattradition und eine Geschichte der Neuanpassung des biblischen Gebots an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse. Das Gesicht des biblischen Sabbat hat sich
verändert, wie sich auch das des christlichen Sonntags. Gibt es eine
Kontinuität? Die Kontinuität besteht in einem doppelten Anliegen: zum
Wohl des Menschen und der Schöpfung die Arbeit zu unterbrechen und
den ökonomischen Anspruch auf die ganze Zeit zu begrenzen. Der
Rückbezug auf die biblische Tradition ist allerdings nicht unproblematisch, wie unterstellt wird, sondern stellt Fragen, die im Folgenden angesprochen werden sollen.
Die Hebräische Bibel kennt ein Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht.
Kann jene kreative Aneignung der biblischen Traditionen, wie sie die
Kirchen bei der Begründung der Arbeitsruhe am Sonntag mit dem samstäglichen Sabbat vollziehen, in ähnlicher Weise auch für andere biblische
Weisungen der Tora gelten? Kann das biblische Sozialrecht irgendeine
Bedeutung für eine konstruktive Gestaltung einer menschengerechten
Ordnung der heutigen Wirtschaft haben?
Jesus hat Kritik am Gesetz geübt. Paulus betont die Freiheit gegenüber
dem Gesetz.
Deuten die torakritischen Aussagen der neutestamentlichen Schriften
auf einen Gegensatz zwischen Jesus und der neutestamentlichen Tradition einerseits und der Tora andererseits? Oder sind diese torakritischen
Aussagen im Horizont des innerjüdischen Ringens um die Geltung der
Tora und deren rechtes Verständnis zu verstehen? Zeichnet sich in den
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neutestamentlichen Schriften ein eigener, selektierender, interpretierender, kreativ-neuschaffender Umgang mit der Toraüberlieferung ab?
Den Sabbat verstehen die Kirchen in ihrer Erklärung als Symbol einer
“humanen Lebensgestaltung”.
Gibt es wie beim Sabbat einen bleibenden Kern oder wertentscheidende Normen, an denen die Tora bei aller Dynamisierung festgehalten
hat? Enthält die Tora Vorstellungen von einem guten Leben, von denen
wir uns - auch in anderer Hinsicht - inspirieren lassen können?
Ökonomie in einen Zusammenhang mit Ethik zu bringen, ist das Anliegen des wirtschaftsethischen Diskurses.
Welche Impulse zu einem sozial und ökologisch gerechten Wirtschaften lassen sich aus der Tora gewinnen? Wie kann eine kreative und dynamische Aneignung der biblischen Traditionen für heutige wirtschaftliche Herausforderungen gelingen? Wo liegen die Grenzen?
Die Bibel stammt aus einer fremden Kultur, einer fremden Ökonomie und
Gesellschaft.
Gibt es Weisheiten, Einsichten, Kategorien oder Orientierungen der
biblischen Tradition, die gerade dadurch, daß sie einer fremden Zeit entstammen, einen neuen Blick auf unser Haus “Erde” erlauben, unsere
Plausibilitäten durchbrechen und die Fähigkeit zu utopischem Denken
wecken können?
18
INTERESSE, ARBEITSWEISE UND METHODE
Die Ausgangshypothese der vorliegenden Arbeit bildet die Aussage des
Alttestamentlers Frank Crüsemann: “Christliche Wirtschaftsethik wird
sich wie jede Form protestantischer Theologie letztlich an der Bibel zu
5
orientieren haben.” In seiner Monographie über die Tora präzisiert er
diese Aussage zu einer Forderung an die Sozialethik, wenn er sagt, “daß
unbeschadet des historischen Abstandes allein die Tora die Grundlage
6
einer biblisch orientierten christlichen Ethik sein kann.” Frank Crüsemann begründet diese kritische Anfrage an die theologische Ethik mit der
Beobachtung, daß wirtschaftsethisch relevante Traditionen der Bibel
kaum bekannt seien und in der Ethik nicht rezipiert würden. Seine Anfrage an die Ethik soll als eine Hypothese aufgenommen werden, die einer
kritischen Prüfung unterzogen wird.
Die vorliegende Arbeit greift die Forderung des Alttestamentlers Frank
Crüsemann auf, die Tora als Grundlage der christlichen Ethik zu verstehen und fragt danach, ob die Tora Impulse und Orientierungen enthält,
die für den wirtschaftsethischen Kontext von heute fruchtbar gemacht
werden könnten. Tora meint im engeren Sinn die Gesetzestexte der
Hebräischen Bibel, darüber hinaus aber auch den Pentateuch, und wurde später ausgeweitet zur Bezeichnung des ganzen biblischen Kanons.
Umstritten ist die Geltung und Reichweite biblischer Grundlagen einer
Sozialethik. Wirtschaftsethik soll in dieser Arbeit mit der Exegese so in
einen Zusammenhang gebracht werden, daß die Toratradition mit ihren
5
6
F. Crüsemann , “... wie wir vergeben unseren Schuldigern.” Schulden und Schuld in der biblischen Tradition, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 90.
F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 424f.
19
Einsichten, Orientierungen, Wertüberzeugungen und Kategorien zur Geltung kommt und einen konstruktiven, inspirierenden Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten Ordnung der Ökonomie leisten kann.
Die Hebräische Bibel enthält eine ethisch gehaltvolle und politisch
wirksame Erinnerung, die auf Ägypten und dortige Verhältnissen des Unrechts inmitten einer Hochkultur zurückverweist. Diese Erinnerung
durchzieht wie ein roter Faden die ganze Hebräische Bibel. Wirksam
wurde diese Erinnerung, indem sie ein Ethos entfaltete, das die Lebensverhältnisse im Alten Israel gestaltete. Die Vergangenheit wird erinnert,
um eine Rückkehr in ägyptische Verhältnisse abzuwehren und eine andere, eine gute Zukunft zu gewinnen. Ethisch ist nicht die Frage vorrangig bedeutsam, was historisch tatsächlich gewesen ist. Das historische
Argument kann zwar dem ethischen ein zusätzliches Gewicht geben,
doch es begründet noch keine Normativität.
Die vorliegende Arbeit bezieht sich hauptsächlich auf die Hebräische
Bibel, berücksichtigt aber auch neutestamentliche Traditionen, soweit
diese ausdrücklich wirtschaftsethische Aspekte ansprechen. Zwei Gesichtspunkte seien an dieser Stelle vorab in aller Kürze genannt: Das
Neue Testament gehört erstens in den Horizont der Tora und setzt sie
voraus; es setzt sie nicht außer Kraft, sondern radikalisiert sie eher, als
daß es sie relativiert. Zweitens hatte die Tora eine mehrhundertjährige
Zeit zur Traditionsbildung zur Verfügung, in der sie sich mit den sozioökonomischen Verhältnissen auseinandersetzen und eigene Rechtssysteme zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse entwickeln konnte,
während das Neue Testament in nur wenigen Jahrzehnten entstand. Aus
diesen Gründen ist es angemessen, die ganze Bibel aus Tora und den
neutestamentlichen Schriften zur Grundlage einer theologischen Wirtschaftsethik zu machen.
Wenn nach der Relevanz biblischer Traditionen für gegenwärtiges
Wirtschaften gefragt wird, soll nicht unterstellt werden, daß die Bibel die
einzige ethische Erkenntnisquelle für den Christen darstellt oder darstellen kann, auch wenn sie sehr wohl einen Vorrang vor anderen Erkenntnisquellen einnimmt. Bruce C. Birch und Larry L. Rasmussen betonen
deshalb in ihrem Buch über Bibel und Ethik im christlichen Leben als
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, daß “christliche Ethik nicht gleich7
bedeutend mit biblischer Ethik” sein könne. Theologisch reicht die Bibel
keineswegs aus, aber sie ist norm- und formgebend für die Ethik. Neben
biblischen
Gesichtspunkten
sind
auch
die
Beiträge
der
Christentumsgeschichte gerade angesichts der weithin zu beobachtenden Traditionsvergessenheit zur Herausbildung einer Sozialethik heran-
7
B.C. Birch u. L.L. Rasmussen, Bibel und Ethik im christlichen Leben, Gütersloh 1993, 15.
20
zuziehen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit können allerdings nur
punktuelle Hinweise gegeben werden.
Dieses Arbeitsvorhaben muß sich auf einen exemplarischen Ansatz
beschränken, der lediglich verdeutlichen kann, ob die Ausgangshypothese, die sich auf die Anfrage von Frank Crüsemann an die Ethik bezieht,
überhaupt tragfähig ist. Eine Wirtschafts- und Sozialethik, die sich dieser
Forderung von seiten der Exegese stellen will, steht in einem doppelten
Zusammenhang: zum einen mit der Exegese, deren Forschungsergebnisse sie wahrnehmen und rezipieren muß, zum anderen mit den Sozialund Wirtschaftswissenschaften. Deren Sachfragen und Erkenntnisse
wird sie gleichfalls rezipieren müssen. Sie befindet sich somit in einer
doppelten Vermittlungsfunktion. Diese kann sie nur wahrnehmen, wenn
sie sich über das hermeneutische Problem der Vermittlung exegetischer
Ergebnisse in bezug auf gegenwärtige wirtschaftliche Fragestellungen
Rechenschaft gibt. Die entscheidende Frage lautet: Welche Wege gibt
es, den garstigen Graben zwischen Galiläa und dem globalen Markt zu
überwinden?
Argumentativer Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist der Standort an der Seite derer, die nicht Teil des gesellschaftlichen Systems und
seiner Rationalität sind. Eine Sicht von deren Standort aus entwickelt eine andere Sicht auf die Realität. Diese andere Realität ist die Welt jener,
die aus der herrschenden Logik und Rationalität ausgeschlossen sind:
Es ist nicht die Welt der Rationalisierungsgewinner, sondern die der Rationalisierungsverlierer sowie derer, die keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben, in existentiellen Arbeitsplatzängsten leben oder trotz Arbeit
über ein so geringes Einkommen verfügen, daß sie als arm gelten. Den
Ausgangspunkt bildet also eine biblisch begründete Option für die Armen. Sie betrachtet das Wirtschaftsleben nicht aus der Perspektive der
Modernisierungsgewinner und der herrschenden Akteure, sondern vielmehr aus der Sicht jener, die Opfer oder Leidtragende gesellschaftlicher
und ökonomischer Entwicklungen sind, und räumt ihnen einen argumentativen Vorrang ein. Sie fragt, wer für wen welche Werte schafft. Wer hat
davon einen Nutzen? Wer trägt die Kosten? Die Option für die Armen
bedeutet für die Wirtschaftsethik, einen perspektivischen Standort an der
Seite der Anderen, der Armen und Schwächeren einzunehmen und von
dort her perspektivisch die Wirtschaftsfragen in den Blick zu nehmen,
Themenauswahl sowie Themenstellung zu bestimmen und nach den
Auswirkungen ökonomischer Sachverhalte auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zu fragen. Der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter
Ulrich rückt in seinem neuesten Buch Integrative Wirtschaftsethik.
21
8
Grundlegung einer lebensdienlichen Ökonomie in den Mittelpunkt: Nicht
die möglichst effiziente Schaffung von Marktwerten soll “das entschei9
dende Mass der Wirtschaft”
sein, sondern vielmehr deren
Lebensdienlichkeit. Wie es dem Menschen und besonders den armen
Anderen in einem System ergeht, ist das zentrale sozialethische und
theologische Kriterium zur Beurteilung eines jeden Wirtschaftssystems.
Indem eine theologische Wirtschaftsethik dieses Kriterium anlegt, präzisiert sie, was die Lebensdienlichkeit der Ökonomie bedeutet.
Wer kann im Kontext der Bundesrepublik Deutschland und anderer Industriegesellschaften analytisch und theologisch mit jener biblisch fundierten Option für die Armen gemeint sein? Hat jede Gesellschaft zeitund kontextunabhängig ihre Armen? Wer ist ausgeschlossen? Die vorliegende Arbeit versucht darzulegen, daß die sozialethische und theologische Option für die Armen auf eine Situation reagiert, die jener der abhängigen Arbeit in kapitalistisch verfaßten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen wenigstens in ihren grundlegenden Aspekten entspricht. In der real existierenden Marktwirtschaft besteht ein Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit. Der Faktor Arbeit befindet
sich in einer Position der Unterlegenheit. Die vorliegende Arbeit knüpft an
diesem Tatbestand an und fragt nach einer wertenden Analyse des Ungleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit. Reagiert die biblische Option
für die Armen auf ein vergleichbares Machtgefälle, wie es sich auch in
der Unterlegenheit der Arbeit gegenüber dem Kapital zeigt? Bringen die
ethische Option für die Armen und die Option für den Vorrang der Arbeit
vor dem Kapital ein vergleichbares Anliegen zur Sprache?
Die grundlegende Frage lautet: Bedarf eine theologische Wirtschaftsethik überhaupt einer biblischen Fundierung? Eckart Müller sieht in seiner Arbeit über Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft das unterscheidende Merkmal evangelischer Sozialethik “in einem inhaltlich bestimmten Grundverständnis von Welt und Mensch (...),
wie es sich aus den Grundaussagen des christlichen Glaubens nach
8
9
Bern/Stuttgart/Wien, 2. durchges.Aufl. 1998.
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 204. Schlüsselbegriff der integrativen Wirtschaftsethik ist
die Lebensdienlichkeit der Ökonomie. Peter Ulrich ist einer vernunfts- und diskursethischen
Begründung von Wirtschaftsethik verpflichtet, während ich auf biblische Traditionen zurückgreife. Die Argumentationen gehen trotz des unterschiedlichen Begründungsansatzes passagenweise parallel und überschneiden sich teilweise. Beide Ausarbeitungen erfolgten zeitlich parallel
und in wechselseitiger Unkenntnis. Diese Nähe empfinde ich als Bestätigung meines wirtschaftsethischen Ansatzes. Für die Druckfassung der Habilitationsschrift habe ich die Ausführungen von P. Ulrich berücksichtigt.
22
10
evangelischem Verständnis ergibt.” Wie wird das inhaltliche Grundverständnis begründet? Eckart Müller verzichtet jedenfalls auf eine biblisch
begründete Argumentation für das, was er das evangelische Grundverständnis von Welt und Mensch nennt. Sein Ansatz kann geradezu als
Beleg für eine theologische Ethik gelten, die meint, ohne expliziten
Rückbezug auf Einsichten der exegetischen Wissenschaften zu einem
sozial- oder wirtschaftsethischen Urteil kommen zu können. Mit zehn Optionen markiert er inhaltliche Voraussetzungen für eine sozialethische
und theologische Wirtschaftsethik. Doch keine dieser Optionen wird ausdrücklich biblisch begründet. Müller verzichtet darauf, seine Optionen
theologisch oder biblisch zu qualifizieren. Inhaltlich sprechen sie nicht
mehr als das an, was in der gegenwärtigen wirtschaftsethischen Debatte
zur Diskussion ansteht und vernünftigerweise sowieso thematisiert werden sollte. Meine These ist, daß Müller sich die Chance nimmt, das Spezifikum einer theologischen Wirtschaftsethik zur Sprache zu bringen, gerade weil er auf einen biblischen Rückbezug verzichtet. Diese theologische Wirtschaftsethik nennt keinen Gesichtspunkt, der nicht auch im rationalen Diskurs ohne das Attribut “theologisch” berücksichtigt würde. Die
Optionen spiegeln also nur die allgemeine gegenwärtige Diskussionslage.
11
Ganz anders argumentiert der Ethiker Eilert Herms. Er gehört zu den
wenigen Ethikern, die darauf bestehen, daß eine Wirtschaftsethik erst
dadurch zu einer theologischen Wirtschaftsethik werde, wenn sie auf die
biblische Tradition zurückgreife. Seine These lautet: Christliche Ethik sei
genau daran zu erkennen, daß sie sich auf biblische Quellen beziehe. Er
erwartet also von einer theologischen Wirtschaftsethik, daß sie spezifische Begründungen einbringt, die nur biblische sein können. Bibel und
christliche Traditionen können dabei allerdings nicht autoritativ und deduktiv vorgebracht werden, sondern können immer nur verbindliche
Maßstäbe oder verbindliche Begründungsinstanzen für ethische Vorzüglichkeitsurteile über einzelne in konkreten Situationen wählbare Ziele und
Wege sein, die jeweils von den Entscheidungsträgern selbst gefunden
12
werden müssen. Die Verantwortung des ethischen Subjekts kann sich
also nicht mit dem Rückbezug auf eine Autorität biblischer Kriterien be10
11
12
E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft und die Möglichkeiten ihrer Rezeption durch eine evangelische Wirtschaftsethik, Neukirchen-Vluyn 1997, 201.
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik. Das Problem ihrer bibeltheologischen Begründung
und ihres spezifischen Beitrags zum wirtschaftsethischen Diskurs, in: Bilder der Gerechtigkeit,
hg. von ESG und KDA, Vorlesungsreihe an der Universität Konstanz, Wintersemester 1990/91,
Konstanz.o.J. (als Manuskript gedruckt) 81-109. Auch abgedruckt in: Baadtke, Günter u. Rauscher, Anton (Hg.), Wirtschaft und Ethik (Kirche heute, Bd. 5), Graz 1991, 31-69.
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 105.
23
gnügen. Der Ansatz von Eilert Herms ist für den weiteren Gang der hier
vorliegenden Untersuchung von systematischer Bedeutung. Jüngst hat
Traugott Jähnichen eine theologische Wirtschaftsethik vorgelegt, die sich
vornimmt, “jenseits prinzipieller Behauptung oder Abweisung der Geltung
und Aktualität der alttestamentlichen Wirtschaftsgesetze” nach den biblischen Grundlagen einer ethischen Urteilsbildung in einer “offenen, heu13
ristischen Perspektive” zu fragen. Er weiß sich dabei den lutherischen
Einwänden gegen eine autoritative Geltung der Tora verpflichtet. Das
Schwergewicht seiner Argumentation liegt dabei in ethischen Traditionslinien der Christentumsgeschichte.
Wolfhart Pannenberg registriert, daß die aus christlichen Wurzeln erwachsenen ethischen Anschauungen nach Ablösung von ihren Wurzeln
ihre prägende Kraft verloren hätten. Deshalb bedürfe es heute für die
Christenheit dringend einer Erneuerung ihrer ethischen Urteilsbildung
14
aus der Kraft des Glaubensbewußtseins. Die Arbeit will einen Beitrag
dazu leisten, indem sie nach der normgebenden Kraft der biblischen
Ethos für wirtschaftsethische Problemstellungen fragt. Dabei braucht der
Anspruch auf humane Allgemeingültigkeit keineswegs aufgegeben werden, auch wenn eine Allgemeinverbindlichkeit von Normen christlicher
Ethik wohl kaum erreicht werden kann. Diskursiv ist vielmehr mit anderen
wirtschaftsethischen Entwürfen und Begründungen um die Plausibilität
dessen, was gelten soll, zu ringen. Das ethische Argument, das sich biblischen Perspektiven verdankt, muß darüber hinaus in einer Vermittlung
mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verantwortet werden. Der
Sozialethiker Arthur Rich hat auf diese Verschränkung des Ethischen mit
dem Sachgemäßen hingewiesen und betont, “daß nicht wirklich menschengerecht sein könne, was nicht sachgemäß ist, und nicht wirklich
15
sachgemäß, was dem Menschengerechten widerstreitet.” Die bloß formale sozialethische Forderung nach einer menschengerechten Ordnung
der Wirtschaft ist in ihrer Unbestimmtheit wohl allgemein zustimmungsfähig. Kontrovers jedoch wird es zugehen, wenn die formale Kategorie
des Menschengerechten material bestimmt wird. Die vorliegende Arbeit
nimmt sich vor, einen Beitrag zur Bestimmung des materialen Gehaltes
des Menschengerechten für eine theologische Wirtschaftsethik zu leisten, indem sie auf biblische Traditionen zurückgreift und diese mit wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Einsichten verbindet. Meine zent-
13
14
15
24
Jähnichen, T., Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur. Sozialethische Studien
zu grundlegenden anthropologischen und institutionellen Bedingungen ökonomischen Handelns,
Münster 1998, 49.
W. Pannenberg, Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen,
1996, 100.
A. Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1, Gütersloh 1984, 81.
rale These lautet daher: Die Hebräische Bibel, die Tora oder allgemeiner:
die Biblischen Schriften stehen für eine material bestimmte Traditionslinie, die konkretisieren kann, was die Wertkategorie “menschengerecht”
bedeutet. Wie ein roter Faden durchzieht die Bibel eine normative Logik
der Humanität, die in Auseinandersetzung mit der Ökonomie ihrer Zeit
entstanden ist. Die Tora enthält eine eindeutige Vorzugsregel: Die Logik
der Humanität erhält einen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Ansprüchen.
Die ethischen Einsichten und normativen Wertüberzeugungen der
Toratradition und das Sachgemäße der Ökonomie sollen kritisch so integriert werden, daß das Sachgemäße dem ethischen Argument und das
ethische Argument den Ansprüchen der Sache genügen kann. Zentral
für die wirtschaftsethischen Überlegungen ist die Frage nach dem, was
eigentlich Wirtschaften ist. Die gängigen Definitionen verstehen Wirtschaften als Umgang mit Knappheit. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen sollen so genutzt werden, daß ein Höchstmaß an Gütern und
Dienstleistungen geschaffen werden kann. Aus dieser Definition ergeben
sich ökonomische Ziele und Verhaltensweisen mit wirtschaftsethischen
Implikationen. Dieser geläufigen Definition von Wirtschaften soll eine
Vorstellung von Wirtschaften in den Abschnitten 4.2 sowie 9.5 gegenübergestellt werden, die aus der ökumenischen Debatte stammt und biblische Anhaltspunkte hat: Wirtschaften in diesem Sinn ist nicht ein Umgang mit Knappheiten, sondern mit Vertrauen auf die Fülle der Schöpfung Gottes. Beiden Konzeptionen von Ökonomie liegen zwei unterschiedliche normative Logiken zugrunde. Deshalb stellt die ToraÖkonomie nicht eine bloß vor-moderne und insofern überholte Ökonomie
dar. Sie verwirklicht vielmehr eine andere, eine alternative Ökonomie, die
auch einer anderen normativen Logik folgt. Das Studiendokument des
Ökumenischen Rates der Kirche Der christliche Glaube und die heutige
Weltwirtschaft (1992) trägt einen Titel, der diesen anderen ökonomischen Wertbegriff zum Ausdruck bringt: Leben und volle Genüge für al16
le . Handlungsprinzip dieser Sicht von Wirtschaften ist dann nicht die Ef17
fizienz, sondern die Suffizienz, eben eine “Ökonomie des Genug” . Kann
eine Rückbesinnung auf die ökonomische Wertüberzeugung der Tora für
die moderne globale Ökonomie eine Entwicklungsperspektive sein? Interessant wäre es, diesen ökonomischen Wertbegriff für eine evangelische
Wirtschaftsethik durchzubuchstabieren, die das reformatorische Ver16
17
ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben und volle Genüge
für alle”, in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992.
Eine Ökonomie des Genug als ein neues ökonomisches Paradigma ist entfaltet in: B.
Goudzwaard u. B. de Lange, Weder Armut noch Überfluß. Plädoyer für eine neue Ökonomie,
München 1990. Weitere Ausführungen in Abschnitt 9.5.1.
25
ständnis von Rechtfertigung für Fragen des Wirtschaftens auslegt. Zwischen einer Ökonomie als Umgang mit Vertrauen auf die gute Schöpfung Gottes und dem reformatorischen Verständnis des Glaubens als
Vertrauen oder der Rechtfertigung, die um das unverdiente Geschenk
des Lebens und der Gnade weiß, ließen sich viele Bezüge herstellen.
Der alleinigen Ausrichtung einer Ökonomie auf Machbarkeit, Produktionssteigerung, Wachstum, Leistung und Effizienz könnten Aspekte einer
reformatorisch begründeten Grundhaltung gegenübergestellt werden, die
das Evangelisch-reformatorische einer theologischen Wirtschaftsethik
akzentuieren könnte. Diese Aspekte werden im Abschnitte 9.5 kurz ausgeführt, müßten jedoch stärker systematisch ausgearbeitet werden. Diese Aufgabe sei an dieser Stelle nur genannt. Sie systematisch zu bearbeiten, kann nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen sein.
Die vorliegende Arbeit geht in folgenden Schritten vor: Nachdem im 1.
Abschnitt hermeneutische Vermittlungswege zwischen der Welt der Bibel
und gegenwärtigen Wirtschaftsfragen dargestellt worden sind, sollen im
2. Abschnitt die verschiedenen ethischen Zugänge zu Wirtschaftsfragen
diskutiert werden. Wie lassen sich Ethik und Ökonomie vermitteln? Im 3.
Abschnitt sollen daraufhin die hermeneutischen und argumentativen Ansätze von Clodovis Boff und Enrique Dussel aufgegriffen werden, die eine Anfrage von unten oder von außen an das Wirtschaftssystem sozialethisch qualifizieren. Hier ist auch der Ort, die politische Ökonomie als
eine ethisch gehaltvolle und politisch praktikable Alternative darzustellen.
Diese Ansätze treffen sich im 3. Abschnitt mit der innerbiblischen dynamischen Hermeneutik unter dem Gesichtspunkt einer Option für die Armen. Die Abschnitte 4, 5 und 6 befragen die Toratradition nach den einzelnen Elementen ihrer Wirtschaftsethik. Welche wirkungsgeschichtlichen Folgen hatte die Toratradition? Wie beerben die Kirchen diese wirtschaftsethisch relevanten Traditionen in ihren Verlautbarungen und Erklärungen? Ökonomie und Ethik sind immer schon real vermittelt; sie
müssen nicht erst im nachhinein vermittelt werden. Welche impliziten
Ethiken finden sich in den Wirtschaftskonzepten und Wirtschaftspolitiken? Welche sollten verstärkt, welche zurückgedrängt werden? Wie
diese Vermittlung von Ethik und Ökonomie in der Theorie zweier alternativer marktwirtschaftlicher Konzepte erfolgt, soll im 8. Abschnitt dargestellt werden. Am Beispiel der Begründungen des Wirtschaftsstils der
Sozialen Marktwirtschaft wird herausgearbeitet, daß ausdrücklich eine
ethische, ja sogar explizit biblische Fundierung dieses Wirtschaftsstils
gesucht wurde. Das Gegenkonzept in Gestalt der neoliberalen Marktwirtschaft bedient sich ebenfalls in auffallender Weise theologischer und religiöser Begriffe. Im 9. Abschnitt werden sechs wirtschaftsethische Impulse dargestellt, die wirtschaftsethische Einsichten der Toratradition mit
26
gegenwärtigen Wirtschaftsfragen in Beziehung setzen und Umrisse einer
lebensdienlichen Ökonomie beschreiben. Jeder einzelne der wirtschaftsethischen Impulse hätte es verdient, zum Gegenstand einer Einzeluntersuchung gemacht zu werden, eine solche detaillierte Behandlung jedoch
konnte nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit sein.
27
28
ERSTER TEIL
ZUM VERHÄLTNIS VON ETHIK UND ÖKONOMIE
29
1. VOM GARSTIGEN GRABEN ZWISCHEN GALILÄA
UND DEM GLOBALEN MARKT
1.1 Wirtschaftsethik als Krisenindikator
Gegenwärtiges Wirtschaften ist zum Problem geworden. “Die Utopie, von
der die Industriegesellschaften
seit zwei Jahrhunderten zehrten, geht in
18
Stücke.” Das schrieb André Gorz im Epochenjahr 1989. Aber sein Urteil bezieht sich nicht auf den Niedergang des real existierenden Sozialismus. Gemeint war vielmehr von André Gorz jene dem Kapitalismus
wie dem Sozialismus gleichermaßen zugrundeliegende Vorstellung der
Arbeitsgesellschaft, in der alle auf der Basis von Erwerbsarbeit Anteil am
Wohlstand haben können. Diese Utopie der Moderne hat sich blamiert.
Die zentralen Herausforderungen, denen sich die Menschheit zum Ende
des 2. Jahrtausends gegenübergestellt sieht, resultieren zu einem nicht
geringen Teil aus menschlichem Handeln. Wenn national und weltweit
weiter so gewirtschaftet wird wie bislang, steht ein ökologischer, aber
auch ein sozialer Kollaps bevor. Die Schere zwischen Arm und Reich
geht innerhalb Deutschlands, zwischen Ost und West und erst recht zwischen Nord und Süd rasant auseinander. Die ökonomische und soziale
Polarisierung verläuft längst nicht mehr entlang der Grenzen zwischen
dem globalen Norden und dem globalen Süden, sondern quer durch die
Gesellschaften im Norden und im Süden. Aus dem Traum der Moderne
von Fortschritt, Entwicklung und naturwissenschaftlicher Beherrschung
der Welt wird ein Alptraum: Die Grundlagen der Existenz selber stehen
auf dem Spiel. Der Soziologe Ulrich Beck charakterisiert die fortgeschrittene Moderne als eine “Risikogesellschaft”, denn die gesellschaftliche
Entwicklung in der Moderne geht “systematisch einher mit der gesell19
schaftlichen Produktion von Risiken.” Die ärgste Not droht nun mitten
18
19
A. Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin 1989, 23.
U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, 25.
30
in einer Welt, die bis in die natürlichen Grundlagen hinein ein Werk von
Menschenhand ist.
Angesichts des sozialen und ökologischen Desasters, in das die fortgeschrittene Moderne geraten ist, verwundert es nicht, daß die Frage
nach der Ethik des Wirtschaftens gestellt wird. Otfried Höffe spricht von
20
“Moral als einem Preis der Moderne” . Doch diese allgemeine geistesund kulturgeschichtliche Signatur der Zeit allein drängt noch nicht zur
Suche nach einer Ethik des Wirtschaftens. Es sind vielmehr auch die bis
in die Alltagswelt hineinreichenden Krisenerfahrungen, die nach der Ethik
des Wirtschaftens fragen lassen. Das Unbehagen an einer Wirtschaft
ohne Moral und auch an einer Wirtschaftswissenschaft, die sich ethik21
und wertneutral glaubt, wächst.
22
So steigt die Nachfrage nach Wirtschaftsethik. Karl Homann deutet
das wachsende Interesse an Wirtschaftsethik im Lexikon der Wirtschaftsethik folgendermaßen: “Die moderne Wirtschaftsethik läßt sich
als Reflex des wachsenden Verlangens verstehen, das wirtschaftliche
Handeln wieder stärker an moralischen Idealen wie Humanität, Solidari23
tät und Verantwortung zu orientieren.” Ökonomisches Handeln hat sich
demnach zunehmend von humanen und sozialen Werten abgekoppelt.
Das Anliegen von Wirtschaftsethik ist es deshalb, Ökonomie erneut in
einen engeren Zusammenhang mit Ethik zu bringen.
In der Wirtschaftsethik überschneiden sich die sozialethische Dimension, die nach der strukturellen Ordnung fragt, und die individualethische,
20
21
22
23
O. Höffe, Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt,
Frankfurt 1993.
Nach einer Untersuchung der WirtschaftsWoche hatten im August 1994 noch 53% eine gute
Meinung vom Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft, Ende 1996 waren es gerade
noch 40%. Spiegelbildlich stieg die Zahl derer, die keine gute Meinung vom System hatten, von
23% auf 29%. Die WirtschaftsWoche spricht von einem “besorgniserregenden Ergebnis” ( WirtschaftsWoche Nr.4 vom 16.1.1997, 25ff.). Vgl. die Ausführungen in: F. Segbers, Rheinischer
Kapitalismus oder amerikanischer Kapitalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit den
Abschied geben.” in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen, Bochum 1997, 11-16.
Vgl. u.a. F. Hengsbach, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1988, 127-150; ders., Wirtschaftsethik. Aufbruch - Konflikte - Perspektiven, Freiburg
1991; A. Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1, Gütersloh
1984; ders., Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Bd. 2, Gütersloh 1991; Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis, Göttingen 1994; H. Dieffenbacher u. E. Müller, Wirtschaft und Ethik. Eine kommentierte Bibliographie (Texte und Materialien der FEST), Heidelberg Bd. 1, 1992; Bd. 2, 1994; K. Homann, F.
Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen, 1992, vgl. den Literaturbericht:
E. Stübinger, Wirtschaftsethik I., in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 148ff.; II. in:
Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 226ff.;
K. Homann, Art. Wirtschaftsethik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik, hg. von G. Enderle u.a.,
Freiburg 1993, Sp. 1287.
31
die nach der ethischen Verantwortung der Akteure fragt. Sozialethische
Gesichtspunkte rücken zwar in den Vordergrund, ohne jedoch individualethische zu verdrängen. Wirtschaftsethik reflektiert das Handeln der Akteure innerhalb der Wirtschaftsordnung und die Gestaltung der Wirtschaftsordnung durch die Akteure. Die ethische Frage wird überall dort
gestellt, wo sich das Handeln oder auch der Zustand von Institutionen
nicht mehr unbefragt von selber versteht, sondern nach seiner Legitimation befragt wird.
Wirtschaftsethik reflektiert das Aufeinandertreffen von strategischer
Rationalität der Ökonomie und ethischer Vernunft. Welche Rationalität
gibt in diesem Konflikt den Ausschlag? Können beide Rationalitäten zum
Zug kommen? Arthur Rich versteht die Wirtschaftsethik als eine Anwendung sozialethischer Fragestellungen, Gesichtspunkte und Prinzipien auf
24
die wirtschaftlichen Probleme. Ohne Sachkenntnis jedoch verliere die
Ethik jede Legitimität, zur Sache zu reden. Doch das Spezifikum der
Wirtschaftsethik bestehe gerade darin, “bei aller Sachbezogenheit beharrlich und unerbittlich nach dem Menschengerechten im Sachgemä25
ßen zu fragen” . Das Sachgemäße darf nicht das leitende oder einzige
Prinzip sein, sondern ist an das Menschengerechte zu binden. Arthur
Rich nennt die Wirtschaftsethik deswegen auch das ihrer Bedeutung und
Komplexität nach “wohl wichtigste und auch schwierigste Teilgebiet der
26
Sozialethik.”
In den Wirtschaftswissenschaften und den Unternehmen selber wird
die Frage nach ethischer Orientierung gestellt. Mit dem Austreten der
Ökonomie aus dem Gehäuse der Praktischen Philosophie und der
Herausbildung als selbständiger Wissenschaft während des Übergangs
vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die sozialethische Frage nach dem
gerechten Wirtschaften ausgeklammert. Als autonome Wissenschaft
glaubte die Ökonomie nur zu lange, daß Ethik nicht zum Thema der
Ökonomie gehöre. Wirtschaften wurde allein auf seine Effizienzfunktion
reduziert.
Die Akteure der Wirtschaft selber befinden sich in einer Legitimationskrise. Sie erleben nicht selten leidvoll den Zwiespalt zwischen jenen
Normen und Werten, die im familiären, privaten oder gesellschaftlichen
Bereich Geltung besitzen, und denen, die in Betrieb und Unternehmen
27
funktional sind und eingefordert werden. Von Wirtschaftsethik zu spre-
24
25
26
27
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 67.
Ebd. 73.
Ebd. 67.
Vgl. P. Ulrich u. U. Thielmann, Wie denken Manager über Markt und Moral? In: J.Wieland,
Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1993, 54-91; R.N. Bellah u. R. Madsen
u.a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Ge-
32
chen, hat zur Voraussetzung, daß es überhaupt einen verantwortbaren
Bereich wirtschaftlichen Handelns gibt, und geht von Wirtschaften als einem wertenden Entscheiden aus, das wie alles Urteilen nicht ohne Kriterien auskommt. Der Philosoph Otfried Höffe hat im Zusammenhang seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie sittlicher Urteilsfin28
dung von Heinz Eduard Tödt zu Recht erklärt: “Mit der Art der höchsten
Prinzipien und Kriterien entscheidet es sich, ob es tatsächlich um sittliche
und nicht um wirtschaftliche, rechtliche oder andere Urteilsfindung
29
geht.” Welche Prinzipien und Kriterien sind es aber, die eine wirtschaftliche Entscheidung oder Urteilsfindung zu einer ethischen machen? Wie
lassen sich wirtschaftliche Probleme als ethische behandeln? Zusätzlich
muß eine theologische Ethik fragen: Welche ethischen Prinzipien, Kategorien und Kriterien machen eine ethische Urteilsfindung zu einer spezifisch theologischen?
1.2 Die Bibel zu Rate ziehen?
Das Menschengerechte an das wirtschaftlich Sachgemäße zu binden, ist
30
nach Arthur Rich das Spezifikum einer Wirtschaftsethik. Das Menschengerechte ist eine normative Kategorie, die zur Sprache bringen will,
wie etwas sein oder sich verhalten müßte, damit es nicht nur sachgemäß
und mithin praktikabel ist, sondern auch dem Menschen gerecht werden
kann. Die formale Wertkategorie menschengerecht reicht jedoch nicht
aus. Sie ist mit einem materialen Gehalt zu bestimmen und zu konkretisieren. Welchen Beitrag kann der Rückgriff auf die biblische Tradition in
der wirtschaftsethischen Reflexion für die Klärung dessen leisten, was
eine menschen- und sachgerechte Ordnung der Wirtschaft genannt werden könnte? Oder anders gefragt: Läßt sich aus dem Umgang der Bibel
mit der Ökonomie ihrer Zeit etwas lernen für den Umgang mit wirtschaft31
lichen Fragen des gegenwärtigen globalen Marktes?
28
29
30
31
sellschaft, Köln 1987; F.X. Kaufmann u. W. Kerber u. P. Zulehner (Hg.), Ethos und Religion
bei Führungskräften, München 1986.
H. E. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21-48.
O. Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt
1979, 401.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 76-104.
K. Füssel und ich haben einen Sammelband herausgegeben, der wirtschaftsethisch relevante biblische Traditionen behandelt. K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern, Salzburg 1995. In einem Schlußbeitrag habe ich versucht, Folgerungen aus den exegetischen Untersuchungen für eine biblisch grundgelegte Wirtschaftsethik zu formulieren. Die vorliegende Arbeit nimmt diesen
Ansatz auf. F. Segbers “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” (Jes 26,9) Bibel -
33
Auch wenn die Bibel nicht die einzige Erkenntnisquelle für den Christen darstellt, ist sie dennoch norm- und formgebend für die christliche
Ethik. James M. Gustafson beschreibt den Ort des Schriftarguments in
der theologischen Ethik: “Die Schrift allein ist nie endgültige Berufsinstanz der christlichen Ethik, (...) bietet jedoch die grundlegende Orientie32
rung für bestimmte Urteile.” Wie kann sich der Prozeß zwischen Bindung an die Schrift und Reaktion auf neue Situationen vollziehen? Die
biblischen Traditionen erzählen, daß die Humanität als Gottes Gebot und
Angebot mit dem zusammenfällt, was sich ganz allgemein mit dem Begriff des Menschlichen verbindet: Hungernde speisen, Dürstende laben,
Fremde beherbergen (vgl. Mt 25). Arthur Rich zieht aus dieser Beobachtung die Folgerung: “Und insofern, das heißt jetzt unter dem Aspekt der
normativen Konkretisierung gesehen, gibt es keine spezifisch christliche,
33
sondern nur eine menschliche Humanität.”
Ja, lohnt es sich dann überhaupt, nach den Einsichten der Bibel für
den Umgang mit Ökonomie zu fragen, zumal das Evangelische Soziallexikon die lapidare Auskunft gibt: “Wesentliche Themen wie Wirtschaft
34
und Kultur fehlen im NT ganz.” Ob aber vielleicht die Hebräische Bibel
für eine wirtschaftsethische Urteilsbildung hilfreich sein könnte, fragt man
bezeichnenderweise erst gar nicht.
Bis auf wenige Ausnahmen ist die bibeltheologische Begründung der
Wirtschaftsethik kein besonders behandeltes Thema. Hingewiesen sei
auf zwei Ansätze, die zu gegenteiligen Folgerungen gelangen: Nach Eilert Herms ist ein positiver und unabdingbarer Begründungszusammenhang zwischen biblischer Tradition und theologischer Wirtschaftsethik gerade für eine theologische Wirtschaftsethik spezifisch und
35
notwendig. André Habisch hingegen lehnt einen unmittelbaren Geltungsanspruch biblischer Begründungen in seinem Beitrag ab, in dem er
im Rahmen einer interdisziplinären Methodologie der Wirtschaftsethik
nach dem Beitrag einer christlichen Sozialethik fragt, die sich biblisch
begründet. “Wo etwa die Grundaxiome biblisch-christlicher Sozialtheorie
als unmittelbarer Gestaltungsanspruch interpretiert und gegen bestimmte
gesellschaftliche Entwicklungen in Stellung gebracht werden, da fällt min-
32
33
34
35
Ökonomie -Ethik, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreis Gerechtigkeit.” 287-330.
J. Gustafson, Der Ort der Schrift in der christlichen Ethik. Eine methodologische Studie, in: H.G.
Ulrich (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 279.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1,127.
G. Jeremias, Art. Bibel, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. Stuttgart, 1981, Sp.178.
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 103.
34
36
destens ein wichtiger Vermittlungsschritt aus.” Können diese Vermittlungsschritte geleistet werden oder stehen ihnen grundsätzliche Bedenken entgegen?
Der Weg der Vermittlung von der biblischen Tradition zur wirtschaftsethischen Urteilsfindung ist keineswegs eindeutig. Zur Diskussion steht
zunächst, ob überhaupt ein Rückbezug zur biblischen Tradition möglich
und nötig sei. Hans G. Ulrich unterstreicht zwar die Bedeutung biblischer
Perspektiven für die Identität christlicher Ethik. “Zur Praxis evangelischer
Ethik gehört paradigmatisch der Gebrauch der Schrift. Er ist für sie in
vielfältiger Weise prägend und leitet ihre Geschichte in der Weise, daß
die evangelische Ethik im Schriftgebrauch immer wieder die Freiheit ih37
res Urteils vollzieht, die ihr zukommt.” Ein auch nur oberflächlicher Blick
in die theologischen Wirtschaftsethiken belegt, daß dieser “paradigmatische Gebrauch der Schrift” tatsächlich kaum erfolgt. Biblisch begründete
Argumentationen oder Urteilsbildungen sind in den Wirtschaftsethiken
38
selten, allenfalls begegnet man einem “Biblizismus höherer Ordnung” ,
wie Trutz Rendtorff anmerkt. Man wehre sich sogar - so Christofer Frey “gegen eine prophetische und auch biblische Kurzschlüssigkeit in der
39
Ethik.” Falls biblische Bezüge herangezogen werden, ist die Schriftstellenauswahl häufig genug tendenziös und allenfalls durch Stichworte geleitet. Die Bewertung der biblischen Texte sieht fast ausnahmslos von
sozialgeschichtlichen Zusammenhängen ab. Nicht selten werden zufällige sozial- und wirtschaftsethisch relevante Aussagen der biblischen Tradition zudem in einer exegetisch nicht zu verantwortenden Weise systematisiert und harmonisiert. Die theologischen Ethiker beziehen sich entgegen einer oft gehegten Vermutung in ihren Begründungen gar nicht so
häufig auf die biblische Tradition. Zwischen dem normativen Anspruch
auf Schriftgemäßheit und der faktischen Verfahrensweise in der theologischen Ethik besteht eine Kluft.
1.2.1 Das Autoritätsargument der Bibel
36
A. Habisch, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade der Moderne? Theologische Grundlegung und interdisziplinäre Methodologie, in: M. Heimbach-Stein, A. Lienkamp, J. Wiemeyer
(Hg.), Brennpunkt Sozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden, Festschrift für Franz Furger,
Freiburg 1995, 211.
37
H.G. Ulrich, Zur Einführung: Theologische Verständigung über Ethik, in: ders. (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 23.
38
So T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Ihr Verhältnis im Zusammenhang
des neuzeitlichen Christentums, in: H.J. Birkner, D. Rößler (Hg.), Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, 85.
39
Chr. Frey, Vernunftbegründung in der Ethik. Eine protestantische Sicht, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 37 (1993) 22.
35
Die Frage nach der Bedeutung biblischer Traditionen und biblischer Kategorien für heutige Fragestellungen der Ökonomie hat entscheidend mit
dem Problem der Übertragbarkeit zu tun. Biblische Texte entstammen
einer fremden Gesellschaft, Ökonomie und Kultur. Wie kann die Kluft
zwischen der Gesellschaft des Alten Israels und der heutigen Gesellschaft überbrückt werden? Zwei grundsätzlich verschiedene Positionen
lassen sich unterscheiden. Die eine Position besteht in einem Biblizismus, der glaubt, daß die Bibel ohne weiteres einen verläßlichen Wegweiser bei Fragen der Wirtschaftsordnung abgeben kann. In der Oxford
Erklärung - Christlicher Glaube und Wirtschaft (1990) heißt es: “Wir erklären, daß die Heilige Schrift, das Wort des lebendigen und wahren Gottes, unsere höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und Handelns ist. Deshalb wenden wir uns an sie als einen verläßlichen Wegweiser bei Fragen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens. Als
Ökonomen und Theologen wollen wir Theorie und Praxis dem Urteil der
40
Heiligen Schrift unterwerfen.”
In der Oxford-Erklärung stellen evangelikale Ökonomen und Theologen ein “Ausmaß an Einigkeit in den komplexen Wirtschaftslagen unserer Zeit, das durch unser gemeinsames Bekenntnis zum Glauben an un41
seren Herrn Jesus Christus ermöglicht wurde” , fest. Zwischen Bibel
und neuzeitlicher Ökonomie besteht nach ihrer Überzeugung kein Widerspruch. Falls es zu Spannungen kommt, dann sei es richtig, sich an
der Bibel zu orientieren. Die Bibel ist höchste Autorität und gilt deshalb
auch als ein “verläßlicher Wegweiser”. Auf welche Fragestellungen und
Probleme weist der “Wegweiser” hin, und welchen Beitrag zur Lösung
dieser Herausforderungen gibt er? Der Verweis auf die Autorität der Bibel
verdrängt das entscheidende hermeneutische Problem lediglich, löst
deshalb nicht die Frage nach der Relevanz. Das Autoritätsargument ersetzt das Sachargument.
1.2.2 Die historische Distanz zur Bibel
Die Aussagen zu Wirtschaft und Arbeitswelt seien antiquiert, lautet die
Gegenposition. Enttäuscht mußte der sozial engagierte Theologe Friedrich Naumann nach einer Palästinareise resümieren: “Ich habe vor der
Palästinareise das Neue Testament mit den Augen eines Deutschen für
42
Deutschland gelesen, es gehört aber nach Galiläa.” “Wir wollten Jesus
40
41
42
Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, EMW - Information Nr. 88 vom August
1990, 3. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: H. Sautter, M. Volf, Gerechtigkeit, Geist und
Schöpfung. Die Oxford-Erklärung zu Fragen von Glaube und Wirtschaft, Wuppertal 1992, 8.
Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, Präambel, 7.
F. Naumann. Brief über Religion, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Köln 1964, 547.
36
einfach als hohen und obersten Anwalt moderner Wirtschaftsbestrebungen verwenden. Jedesmal aber, wenn wir nur ernstlich versuchten, bestimmte Forderungen aus dem Evangelium abzuleiten, versagte es. Das
43
Evangelium war eben galiläisch.” Ernst Troeltsch spricht von einer eher
ökonomischen Dürftigkeit des Evangeliums: “Das wirtschaftliche Leben
wird mit einfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages be44
trachtet, wo man Gott für den kommenden Tag sorgen lassen will.”
Falk Wagner registriert ebenfalls eine tiefe Kluft zwischen der sozialen
Welt der Bibel und der heutigen Gesellschaft. Es herrsche ein tiefer Abstand, den Theodor W. Adorno so beschrieben hat: “Der Begriff des täglichen Brotes, erzeugt aus der Erfahrung des Mangels in einem Zustand
ungewisser und unzureichender materieller Produktion, läßt sich nicht
einfach übertragen auf die Welt der Brotfabriken und der Überproduktion,
in der die Hungersnöte Naturkatastrophen der Gesellschaft sind und
45
eben keine der Natur.” Die normative Forderung, eine Theologie
schriftgemäß zu konzipieren, erweise sich deshalb als faktisch undurchführbar, weil entscheidende sozialethische Themen in den biblischen
Schriften fehlten. Es bestehe also eine “Kluft zwischen der geforderten
Normativität des Schriftgebrauchs und ihrer faktischen Undurchführbar46
keit” .
Die neutestamentliche Ethik schließe bereits vom Ansatz her die hermeneutische Frage nach der Übertragbarkeit biblischer Normen aus, so
der Sozialethiker und Neutestamentler Hans-Dietrich Wendland: Das Urchristentum hätte kein Interesse an gesellschaftlichen Gestaltungsfragen
gehabt, sondern in der Naherwartung aus einer “eschatologischen
47
Ethik” gelebt, welche Fragen über die politische und gesellschaftliche
Gestaltung vernachlässigt habe. Der jüdische Autor J. Lewkowitz kann
deshalb gerade auf dem Hintergrund einer positiven Wertung von Arbeit
und Wirtschaft im Judentum über das Christentum sagen: “Im Evangelium herrscht die Erwartung des Weltuntergangs; damit ist alles Erwerbsleben des Menschen und jede berufliche Tätigkeit bedeutungslos
48
geworden.”
43
44
45
46
47
48
Ebd. 608.
E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Bd. 1, Tübingen
1994, 46.
Th.W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: ders., Stichworte. Kritische Modell 2, Frankfurt
1969, 27f., zit. in: F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in:
ders., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 79.
F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 79.
H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments, NTD-Ergänzungsreihe 4, Göttingen 1970, 5.
J. Lewkowitz, Arbeit, in: S. Bernfeld, Die Lehren des Judentums nach den Quellen, Berlin 1929,
Bd.V, 177, zit. in: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel. Eine Grundlegung evangelischer Ethik, Stuttgart 1954, 12.
37
Eine weitere Variante, die sich auf eine wenn auch andere Art von
Antiquiertheit bezieht, ist mit der sozialethischen Argumentation der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie angesprochen. Alfred de Quervin geht
von dieser Eigengesetzlichkeit der Welt aus, wenn er “zwischen Gottes
Gebot und dem Gesetz der Arbeit, dem Gesetz des wirtschaftlichen Le49
bens” unterscheidet. Darin komme eine Profanisierung des Staates und
des gesellschaftlichen Lebens, aber auch ein Schutz vor der Profanisierung des Wortes Gottes zum Ausdruck. “So ist das profane, eigengesetzliche Denken geboren aus der Furcht vor der Profanisierung des
50
göttlichen Rufes, des Gebotes Gottes.” Angesprochen ist das, was Alfred de Quervin “die Furcht vor der Theokratie” nennt. Die Befreiung des
Staates, des gesellschaftlichen Lebens und auch der Ökonomie von der
Dominanz göttlicher Gebote, oder konkret: die Ablösung der Ökonomie
von der Ethik, ist geschichtlich gewiß als ein Fortschritt zu werten. Mit der
Ablösung der Ökonomie aus ethischen Vorgaben kam es zu einer Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme und gleichzeitig auch zu
einer wachsenden Bedeutung des Subsystems Wirtschaft. Diese Befreiung der Ökonomie führte zweifelsohne zu einem historisch einmaligen
Wachstum von Produktion und Reichtum, von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt. Die Kehrseite dieses Emanzipationsprozesses
jedoch ist ebenfalls unübersehbar: Ökonomie meinte ethikfrei sein zu
können. Die Folgen ethikfreien Wirtschaftens sind unübersehbar: Diese
Art zu Wirtschaften gefährdet mittlerweile die natürlichen Lebensgrundlagen selbst. Deshalb ist die Ablösung der Ökonomie von der Ethik allenfalls nur ein relativer Fortschritt. Wie kann eine “Reethisierung der Öko51
nomie” aussehen, die nicht hinter den erreichten Stand der Autonomie
zurückfällt? Welche Art von Autonomie aber muß revidiert werden? Wie
kann eine Reethisierung der Ökonomie über den erreichten Stand der
Autonomie so hinausführen, daß die positiven Effekte der Trennung von
Ethik und Ökonomie nicht zurückgenommen, die negativen Effekte aber
zurückgedrängt werden?
Die bislang genannten Äußerungen kommen zu diesem Schluß: Die
moderne Industriegesellschaft und die antike Gesellschaft des Alten Israel sind Kulturen und Gesellschaften, die so weit voneinander getrennt
sind, daß der “garstige Graben”, der Ökonomie und Gesellschaft des Alten Israel von modernen Industriegesellschaften trennt, nicht übersprungen werden kann. Aber nicht nur dieser Tatbestand des gesellschaftli49
50
51
A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn und Eigentum. Ethik II, 3. Bd., Zollikon-Zürich 1956,
148.
Ebd. 148.
P. Ulrich, Transformation ökonomischer Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft, 3. Aufl. Bern - Stuttgart - Wien 1993, 343.
38
chen und ökonomischen Abstandes, eben jene Antiquiertheit, spricht
nach der Meinung der genannten Autoren gegen einen Rückbezug auf
biblische Traditionen. Darüber hinaus sei zu fragen: Gibt es überhaupt
Inhalte der biblischen Ethiktradition, die relevant sind für Fragestellungen
und Herausforderungen der Gegenwart?
1.2.3 Motivationskraft biblischer Traditionen
Eine Position wendet sich gegen einen inhaltlichen Rückbezug auf die
biblische Überlieferung überhaupt: Der Glaube motiviere zum Handeln,
und materialethische Normen seien nicht deduktiv aus der biblischen
Überlieferung abzuleiten, sondern nur aus der Vernunft zu begründen. In
seinem Beitrag zu den Strukturen einer neutestamentlichen Ethik hat
Georg Strecker ausgeführt, daß eine materialethische Erwartung an die
Bibel überhaupt nicht gestellt werden dürfe. Seine These lautet, daß die
“Frage nach der „Christlichkeit‟, d.h. nach dem „proprium‟ der neutestamentlichen Ethik nicht durch einen materialethischen Vergleich zu be52
antworten” sei. Spezifisch christlich sei nur die “christliche Motivation”,
welche “die vergebende und befreiende Kraft von Kreuz und Auferste53
hung Jesu Christi zugleich als Ermutigung zu neuem ethischen Tun”
lebendig werden lasse. Martin Honecker unterstreicht ebenfalls, daß ein
Proprium evangelischer Sozialethik “nicht in den Gehalten sozialen Han54
delns und in gesellschaftlichen Entwürfen zu suchen ist.” Er begründet
diese Auffassung mit einem Verweis auf Jesus, der “nicht eine Gesinnung erwecken wollte, sondern sein Tun und Handeln realisierte den
55
Schalom” . Proprium christlich-ethischen Verhaltens sei es deshalb,
56
“den Schalom exemplarisch zu konkretisieren” . “Das Proprium evangelischer Sozialethik ist damit zurückgenommen in die Motivation - der
57
Christ handelt aus Glaube, Liebe, Hoffnung.” Die Sache der evangelischen Sozialethik sieht Martin Honecker in der Aufgabe, “Anwalt des
Menschen gegen gesellschaftliche Zwänge und gesellschaftliche Inhu58
manität zu sein.” Normen seien geschichtlich geworden und müßten
mit Hilfe allgemeinerer Normen geprüft werden. Christofer Frey teilt diese
Argumentation, wenn er sagt: “Die sog. biblische Begründung läßt sich
52
53
54
55
56
57
58
G. Strecker, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche
75 (1978) 136.
Ebd. 146.
M. Honecker, Konzept einer sozialethischen Theorie, Tübingen 1971, 53.
Ebd. 60.
Ebd. 64.
Ebd. 67.
Ebd. 192.
39
damit als biblisch-theologische Perspektivierung von Normensystemen
59
erkennen.” Bereits Martin Dibelius mußte angesichts der wirtschaftlichen Nöte der Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik ein
Schweigen der neutestamentlichen Schriften konzedieren: “Das Evange60
lium ist nicht soziale Botschaft, aber es wirkt als soziale Forderung.” Einen zentralen Anspruch jedoch erhebe das Evangelium an die gesell61
schaftlichen Ordnungen, nämlich den, daß “Gerechtigkeit zu sein” habe. Christofer Frey wendet sich ebenfalls dezidiert gegen eine biblische
Begründung protestantischer Ethik durch eine Deduktion materialer sittlicher Normen aus biblischen Aussagen. Martin Honecker fordert Vernunft
als Sachkriterium und Maßstab christlichen Weltverhaltens ein. Der Verzicht auf biblische Überlieferungen oder Einsichten gilt nicht selten geradezu als Beweis aufgeklärter Vernunft. In neueren Veröffentlichungen
betrachtet Martin Honecker Vernunftargumente in der Ethik kritischer und
62
bezieht biblische Perspektiven ein. Diese Positionen gehen allesamt im
Kern davon aus, daß der Glaube wohl zum Handeln motiviere, aber die
Vernunft diskutiere und entscheide, was zu tun sei. Arthur Rich hat darauf hingewiesen, daß auch ausgehandelte Normen letztlich rational nicht
begründbar seien, weil sie sich immer an letzten Glaubensüberzeugun63
gen orientieren. Vernunft könne also keine Letztbegründung leisten.
1.2.4 Hebräische Bibel und christliche Ethik
Georg Wünsch, der nach einer Relevanz der biblischen Tradition für
wirtschaftsethische Fragestellungen suchte, mußte in seiner 1927 veröffentlichten Evangelischen Wirtschaftsethik eher ernüchtert das Fazit ziehen: “Die Quelle für eine direkte christliche Wirtschaftsethik fließt also im
NT sehr spärlich. Von einer Problematik der Produktion oder Verteilung
64
hören wir überhaupt nichts.” Festzuhalten ist, daß das Urteil von Georg
Wünsch sich ausschließlich auf die neutestamentlichen Schriften bezieht. Die Hebräische Bibel wurde von ihm zur theologischen Urteilsbildung nicht herangezogen.
Der Alttestamentler Eckart Otto spricht zwar von einer “Wirtschafts65
ethik des Alten Testaments” . Doch er meint, daß es der zeitliche Ab59
60
61
62
63
64
65
Chr. Frey, Vernunftbegründung in der Ethik, 29.
M. Dibelius, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: Kirche, Bekenntnis und Sozialethos.
Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1934, 11.
Ebd. 22.
M. Honecker, Einführung in die theologische Ethik, Berlin 1990, bes. 357ff.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 170.
G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927, 284.
E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt 1994, 279 - 289.
40
stand nicht erlaube, eine Verbindung zwischen dem Umgang der Bibel
mit ökonomischen Fragen ihrer Zeit und unseren heutigen Wirtschaftsfragen herzustellen. “Die historische Distanz verbietet eine normative
Applikation alttestamentlicher Handlungsanweisungen auf die heutige
66
Gesellschaft.”
Trotz dieses Einwands weist Eckart Otto der Ethik des
Alten Testamentes eine wichtige Funktion im gegenwärtigen universalen
Diskurs um die heutige Lebensführung zu. “Dafür spricht, daß die Wurzeln der Rationalität moderner Gesellschaften in der rationalisierenden
Pragmatik des israelitischen Gottes- und Weltverständnisses zu suchen
67
sind.”
Max Weber hatte den ökonomischen Rationalismus als ein
Kennzeichen des Okzidents und des Kapitalismus ausgemacht, der sich
68
aus der Rationalisierung der jüdischen Religion speist. Eckart Otto
schließt sich Max Weber an, wenn er die entscheidende ethische Frage
darin sieht, “wie die Rationalität des Marktes mit der Forderung der Ge69
rechtigkeit zu vermitteln sei.”
Nicht unmittelbare Handlungsanweisungen könne eine Ethik des Alten Testamentes also ergeben, wohl
aber “die Perspektiven der kulturhistorischen Bedeutung des alttesta70
mentlichen Ethos als Wurzelgrund des Geistes der Moderne eröffnen.”
Über den garstigen Graben zwischen der Welt der Bauern, Fischer und
Landarbeiter in Palästina, der antiken Agrarordnung mit ihren Sklaven
und Sklavinnen, den Tagelöhnern und kleinen Handarbeitern, den Händlern und den Nutznießern der römischen Besatzung und der Welt des
modernen, globalen industriegesellschaftlichen Kapitalismus sieht aber
auch Eckart Otto keine gangbare Brücke.
Welche Folgerungen lassen sich aus diesen Positionen ziehen? Es
zeigt sich erstens eine allgemeine Ernüchterung im Umgang mit biblischen Traditionen in der Ethik. Daß diese Traditionen zu den Quellen
ethischen Urteilens gehören, wird zwar als Erwartung und Anspruch formuliert, doch zugleich wird mit Bedauern konstatiert, daß diese Quelle
angesichts neuzeitlicher Fragestellungen - besonders auch der Wirtschaftsethik - versiege oder allenfalls als Perspektive bei einer rationalen
Normenbegründung möglich sei. Fatal wirkt sich dabei zweitens aus, daß
vornehmlich prophetische Traditionen der Bibel nach ihrer Relevanz für
eine theologische Ethik befragt werden. Sie gelten als utopisch, sehr direkt und zeitgebunden. Das erschwert zusätzlich eine Übertragung auf
andere Verhältnisse. Andere biblische Traditionen wie die Gesetzestradi-
66
67
68
69
70
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 11.
Ebd. 11.
Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1922, 1 - 12, 4262, 243ff.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 11.
Ebd. 12.
41
tion der Tora mit ihren Weisungen zu Recht und Gerechtigkeit werden
dagegen kaum befragt oder rezipiert. Doch gerade diese biblischen Traditionen der Tora waren formuliert worden, um mit ihnen Staat und Ökonomie zu machen.
In vier Grundmodellen läßt sich der Bezug der christlichen Ethik auf die
71
Tora und die Hebräische Bibel vereinfachend darstellen:
Das erste Modell ist das antithetische. Das Neue Testament steht in
einem Gegensatz zum Alten. Die Hebräische Bibel gilt lediglich als Vorläuferin des Evangeliums. Der Beitrag von André Habisch Christliche
Wirtschaftsethik - eine Jeremiade der Moderne? kann als ein symptomatischer Ansatz für dieses antithetische Grundmodell gelten. So macht er
einen fundamentalen Gegensatz aus: Mit der Hebräischen Bibel sei zwar
“Staat zu machen”, mit der Bergpredigt jedoch nicht. Aber gerade weil
die christliche Botschaft keine Sozialordnung und keinen normativen Gehalt des alttestamentlichen Gesetzes kenne, eigne sie sich zu einer normativen Orientierung jeglicher Sozialordnung und erhalte gerade dadurch eine universale Geltung. Die Hebräische Bibel gilt als zeitgebunden, das Neue Testament dagegen als überzeitlich und deshalb gegenwartsrelevant. Wichtig erscheint ihm, daß “durch die Bewegung von der
Thora zur Bergpredigt, durch die Transformation von „sozialordnungsfähiger‟ in eschatologische Normativität eine entscheidende Differenz zwi72
schen Theologie und Sozialordnung eingetragen wird.” Diese Scheidung zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Tora und Bergpredigt formuliert einen Gegensatz, der theologiegeschichtlich zwar auf
eine lange, jedoch längst überwunden geglaubte Tradition verweisen
kann: Die Tora ist nur partikular, das Evangelium aber universal.
Das zweite Grundmodell führt die Überbietungsargumentation des ersten Modells weiter und versteht das Neue Testament als eine Erfüllung
des Alten. Im Neuen Testament komme das Alte erst zu seiner vollen
Klarheit. Im Neuen Testament jedenfalls sei etwas qualitativ Neues gegenüber dem Alten zu erkennen. Eine sozialethische Argumentation, die
sich auf dieses Grundmuster bezieht, bekommt folgerichtig nur die neutestamentlichen Schriften in den Blick, wenn nach dem Proprium christlicher Ethik gefragt wird. Als typisch für diese Argumentation kann Dietz
73
Lange in seiner Ethik in evangelischer Perspektive gelten. In Jesus
Christus sei Gott den Menschen in einer solchen Weise nahegekommen,
daß der alttestamentliche Bundesgedanke aufgehoben sei. Mit diesem
Bundesgedanken sei die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und auch die
71
72
73
Vgl. K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer
Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch, Heidelberg 1999, 41-66.
A. Habisch, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade der Moderne? 203.
D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992.
42
Befolgung ethischer und kultischer Gebote als Bedingung für die Teilhabe an der Gottesherrschaft verbunden. Deshalb gelte: “Diese grundlegende Veränderung im Verständnis des Gottesverhältnisses läßt als unmittelbaren biblischen Bezugspunkt einer christlichen Ethik nur das Neue
74
Testament zu.” Falk Wagner will die Spannung zwischen dem normativ
geforderten und dem faktisch praktizierten Schriftgebrauch durch eine
Theorie des Christentums überbrücken. Gemeint ist darin eine deutliche
Abgrenzung von der Hebräischen Bibel für die Erfassung des spezifisch
Christlichen. Das Festhalten an der kanonischen Geltung des Alten Testaments sei deshalb “problematisch, weil auf diese Weise das spezifisch
Neue und Eigentümliche des christlichen Grundgedankens eher verstellt
75
als erhellt wird.” Vorausgesetzt ist eine deutliche Scheidung der beiden
Testamente. Diese Ethikbegründung ist christozentrisch, löst allerdings
Jesus von Nazareth aus seinem jüdischen Ursprung und blendet kategorisch das Ganze der Bibel aus.
Das dritte Modell des Rückbezugs auf die Hebräische Bibel geht selektiv mit der biblischen Tradition um. Das Neue Testament ist der Maßstab zur Beurteilung des Alten: Enthält die Hebräische Bibel Traditionen,
die sich mit dem Neuen Testament gut verbinden lassen, dann wird die
Tradition gern aufgenommen. Doch keineswegs kann die Tradition der
Hebräischen Bibel eine Korrektur oder Ergänzung des Neuen Testaments sein. Jürgen Becker bestätigt in seinem Beitrag Das Problem der
Schriftgemäßheit der Ethik im Handbuch der christlichen Ethik die Aneignung des Alten Testamentes unter christlichem Vorverständnis: “Die Orientierung christlicher Ethik am AT setzt also das Glaubensverständnis
76
des Christentum voraus.”
Die Hebräische Bibel enthält dann kaum
Traditionen oder Einsichten, die aus sich heraus auch für ein christliches
ethisches Urteil bedeutsam sein könnten.
Das vierte Grundmodell des Rückbezugs auf die biblische Tradition
respektiert die Bedeutung des Referenzrahmens der ganzen Bibel mit ihren beiden Testamenten für das ethische Urteil und erfordert hermeneutische Übersetzungen. Diese gesamtbiblische Orientierung enthält eine
Entscheidung zugunsten der Sozialtraditionen, die der Hebräischen Bibel
eigen sind. Diese Sozialtraditionen stehen hier nicht unter einem antithetischen oder auswählenden Vorzeichen durch die neutestamentlichen
Schriften, sondern sie sind für sich auch für eine christliche sozialethische Urteilsbildung relevant. Die Hebräische Bibel hält mit ihren Sozial74
75
76
Ebd. 273f.
F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 86.
J. Becker, Das Problem der Schriftgemäßheit der Ethik, in: A. Herz u. W. Korff u. T. Rendtorff
u. H. Ringeling (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, 2. Aufl. Freiburg, Basel, Wien
1979, 243f.
43
traditionen eine spezifischen Beitrag bereit, der um seiner selbst willen
sozialethisch bedeutsam ist und nicht erst durch neutestamentliche
Schriften begründet und legitimiert werden muß. Die gesamtbiblische
Orientierung erinnert die christliche Ethik an den Ursprung des Christentums in Israel. Klaus Müller wendet sich ausdrücklich gegen einen enteignenden Umgang mit den Traditionen der Hebräischen Bibel, sind diese doch dem Judentum zunächst eigen. “Den anderen, die andere Tradition zu hören, ausreden zu lassen und in ihrem Selbstverständnis nicht
als defizitär zu beschreiben, sondern anzuerkennen - das sind die Koor77
dinaten einer neuen Weise christlichen Umgehens mit Israels Tora.”
Diese gesamtbiblische Orientierung findet sich wenigstens in Ansätzen in
neueren kirchlichen Äußerungen wie etwa der Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für
78
die Zukunft und im Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutsch79
land Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit . In der Denkschrift
der EKD Gemeinwohl und Eigennutz heißt es: “Die Bibel ist (...) kein Rezeptbuch, aus dem unmittelbare Anweisungen für bestimmte Maßnahmen in Wirtschaft und Politik entnommen werden können” (Ziff. 106).
Trotzdem gilt: “Einsichten und Überzeugungen, die sich in der Auslegung
der Bibel gebildet haben, sollen in das Gespräch über Verantwortung in
der Wirtschaft aufgenommen werden und Perspektiven für das gemeinsame Leben nach Gottes Willen öffnen” (Ziff. 105). Die Denkschrift der
EKD will mit “biblische Motiven und Richtungsimpulsen” (Ziff. 103ff.) Ansätze zur Vermittlung zwischen der Bibel und heutigen Wirtschaftsfragen
herstellen. Auch das Wirtschafts- und Sozialwort hat diese biblischtheologische Argumentationslinie aufgenommen. Beide kirchlichen Äußerungen können deshalb als Durchbruch angesehen werden. Sie betrachten die alttestamentlichen Sozialtraditionen als integralen Bestandteil der einen Bibel aus den beiden Testamenten. Unten im Abschnitt 7.
soll dieser Ansatz ausführlich dargestellt werden.
Dieser hermeneutische Ansatz findet einen Rückhalt in der Argumentation, die der Ökonom Hans Christoph Binswanger vorgelegt hat. Er
verweist auf eine Bedeutsamkeit antiker, auch biblischer Einsichten für
den Umgang mit heutigen ökonomischen Fragestellungen. Wie Eckart
Otto sieht er einen Zusammenhang zwischen der modernen Marktwirtschaft und der Ökonomie der Antike. Doch während Eckart Otto wegen
der zeitlichen Distanz keine Möglichkeit sieht, inhaltlich Bezüge für die
77
78
79
K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum, 77. - Diesen Anspruch hat K. Müller eingelöst, indem er den judaistischen Erklärungen der sozial relevanten Traditionsinhalte Vorrang
einräumt.
Gütersloh 1991.
Hannover, Bonn 1997.
44
Ethik auszumachen, betont Hans Christoph Binswanger gerade die
Chancen, die mit den antiken Wurzeln der gegenwärtigen Ökonomie gegeben sind. “Wollen wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen,
müssen wir daher zu ihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnanten und scharfsinnigen Analysen und Vorschlägen der damaligen Zeit zurückgehen, um auch von dort Richtlinien für unser eigenes Handeln zu
80
gewinnen.” “Die Bibel ist in ökonomischer Hinsicht modern, weil die
Wirtschaft, die sie beschreibt, eine Marktwirtschaft ist bzw. sich immer
stärker in marktwirtschaftlicher Richtung ausbildet. Die Grundlagen dieser Marktwirtschaft sind wie heute: das private Eigentum an den Produktionsmitteln, insbesondere am Boden, und ein weiträumig zirkulierendes
Geld, das Waren aus den verschiedensten Gebieten an zentrale Handelsplätze zusammenbringt und austauschbar macht, sowie die Kreditvergabe gegen Zins (die allerdings gemäß der Bibel unter „Brüdern‟ d.h.
unter Juden, aber auch nur unter ihnen, verboten war). (...) Die Modernität der biblischen Wirtschaft gewinnt zusätzlich an Relief, wenn wir ihr die
griechische, insbesondere die athenische Wirtschaft an die Seite stel81
len.”
Bei aller Verschiedenartigkeit zwischen der Ökonomie der Antike und
der des globalen Marktes liegen demnach bereits in der Antike wenigstens im Ansatz jene ökonomischen Marktmechanismen bereit, die auch
gegenwärtiges Wirtschaften in seinen Grundvoraussetzungen prägen.
Binswanger sieht darin den gemeinsamen Nenner der marktwirtschaftlich
organisierten Ökonomien seit ihren Anfängen in der Antike: “Die Grundstruktur der Wirtschaft ist aber seit der Antike die gleiche geblieben: Es
ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirtschaft, deren
82
Triebfeder das Gewinnstreben ist.” Die Rezeption biblischer Tradition
verschafft nach Binswanger also einen Erkenntnisgewinn und vermittelt
80
81
82
H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike. Zu den ökonomischen Lehren der griechischen Philosphie, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises
Gerechtigkeit.” 34. Binswanger stellt die ökonomischen Theorien von Aristoteles, Platon und
Xenophon vor.
Ebd. 23. Binswanger teilt offensichtlich die Meinung der sog. “Modernisten”, die mit M.I.
Rostovtzeff u.a. davon ausgehen, daß die moderne Entwicklung des Kapitalismus sich von der
römisch-antiken Welt nur quantitativ, nicht aber qualitativ unterscheide. Vgl. dazu weitere Ausführungen unten in Abschnitt: 4.2.
Ebd. 34. Traugott Jähnichen lehnt es ab, wirtschaftshistorische Parallelen zwischen den Anfängen der Martkallokation in der antiken Wirtschaft und der gegenwärtigen Situation herzustellen,
da die Agrarproduktion in der antiken Wirtschaft nur bedingt mit der kapitalistischen Marktwirtschaft vergleichbar sei. Ders., Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 48.
Binswanger jedoch hat einen anderen qualitativen Vergleichspunkt, der die Ökonomie der Antike mit jener der Moderne verbindet: Die Triebfeder des Gewinnstrebens, welche die Marktwirtschaft dynamisiert. Nähere Ausführungen dazu unten in den Abschnitten: 4.2.3; 8.2.1; 9.4.1;
9.6.1.
45
Ansatzpunkte für eine materialethische Orientierung an den Analysen
und Vorschlägen aus der Zeit antiker Ökonomie. Der Umgang der Bibel
mit der Marktökonomie ihrer Zeit könne für den heutigen Umgang mit
Ökonomie bedeutsam sein.
Bei Arye Ben-David findet sich ein ähnlicher Zugang zu Schriften aus
antiker Zeit. Er sieht in der talmudischen Ökonomie eine Modernität, die
eine Beziehung mit modernen Wirtschaftsfragen durchaus erlaube, auch
wenn dies nicht sein Forschungsinteresse als Historiker sei. In seiner
Talmudischen Ökonomie, die sich auf einen Zeitraum vom 2. Jh. v. Chr.
bis ins 4. Jh.n. Chr. bezieht, macht er einen Gegenwartsbezug aus, der
sich aus nicht unähnlichen ökonomischen Strukturen ergebe: “Alle in der
talmudischen Literatur erwähnten wirtschaftlichen Tatsachen, Vorgänge
oder Folgerungen stehen niemals im Widerspruch zu Grundregeln und
Gesetzen unserer modernen Volkswirtschaftslehre des 20. Jahrhunderts,
ja noch mehr, sie bestätigen das Wirken der modernen volkswirtschaftlichen Gesetze bereits in der Periode der Mischna und des Talmuds vor
rund 1 500 bis 2 000 Jahren. (...) Es kann als feststehende Regel, aufgrund der hier vorgelegten Untersuchung die Behauptung aufgestellt
werden, daß im Munde der Gelehrten der Mischna und des Talmud geäußerte, volkswirtschaftliche Tatsachen oder Erscheinungen betreffende
Äußerungen, immer und wann auch immer und wo auch immer in der
talmudischen Literatur überliefert, ausnahmslos mit den Erkenntnissen
83
und Gesetzen der modernen Volkswirtschaft übereinstimmen.”
Arye Ben-David bezieht sich nicht explizit auf die biblische ToraTradition, wohl aber die Mischna- und Talmud-Tradition, die in der rabbi84
nischen Theologie als mündliche Tora und Dynamisierung der Tora gilt.
Arye Ben-David legt Wert darauf zu betonen, daß die Ökonomie des
Talmuds hinsichtlich Darstellung und Erkenntnis des Wirkens nationalökonomischer Gesetze ausgesprochen fortschrittlich gewesen sei. Er will
die Ökonomie des Talmuds als eine Ökonomie legitimieren, die hinter
der Ökonomie der Moderne nicht zurückbleibe. Zur Untermauerung seiner Position bezieht sich Arye Ben-David auf den berühmten Ökonomen
Adolf Damaschke (1865-1935), der in seiner Geschichte der National83
84
46
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit der Mischna und des Talmud, Bd. 1, Hildesheim, New York 1974, XIX.
Über die Entstehungszeit des Talmud gibt es abweichende Angaben. Nach A. Ben-David entwickelte sich der Talmud als “mündliche Tora” aus ersten Anfängen in der Zeit von 175 v. bis
225 n. Chr. (A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 11). Als talmudische Zeit im engeren Sinn
versteht er die Jahre von 175 v. bis 135 n. Chr. Zum Abschluß kam der Talmud im Jahre 429 n.
Chr. (ebd. 13). Das RGG sieht den Abschluß des Talmuds im 3./4. Jahrhundert (für den
palästinenischen Talmud) und im 3.-6. Jahrhundert (für den babylonischen Talmud). Der Talmud setzt sich aus den älteren Teilen Mischna und Gemara zusammen (E.L. Dietrich, Art. Talmud, RGG 3. Aufl. Bd. IV, Sp. 607-609).
ökonomie die Gesetzbücher der Bibel die wichtigste und “bis zum heutigen Tag” in ihrer Bedeutung nicht erschöpfte volkswirtschaftliche Lehre
85
des Altertums nennt. Otto Weinberger spricht noch ganz unter dem
Eindruck des Nationalsozialismus eher apologetisch von der Tora und
nennt sie eine Wirtschaftsverfassung, “von der man mit Recht sagen
kann, daß sie bereits alles das auf eine bewunderungswürdige Weise
vorweggenommen hat, was die moderne ethische Nationalökonomie
86
mühsam und vielfach noch unklar zu erreichen strebte.”
Mit den Ausführungen von Hans Christoph Binswanger, Arye BenDavid und Otto Weinberger liegen uns Positionen aus ökonomischer und
wirtschaftshistorischer Sicht vor, die Möglichkeiten materialethischer Bezüge sehen. Die antiken, biblischen und nachbiblischen Texte bieten geradezu eine hermeneutische Chance, da die antike Ökonomie im Keim
bereits das enthält, was sich in der modernen Marktwirtschaft entfaltet
darbietet. Ob wirklich von einer Modernität der wirtschaftlichen Anschauungen der Tora und des Talmuds die Rede sein kann, soll im weiteren
Gang der Untersuchung dargestellt werden.
Ulrich Duchrow hat schließlich ein Interesse an einer handlungsorientierten Hermeneutik. Er verweist er auf die bibelimmanente Hermeneutik,
die immer durch Rückerinnerungen an frühere Geschichte versucht, gegenwärtige Praxis und Strukturen mit der Erinnerung an Befreiung und
87
Solidarität in Einklang zu bringen. Er rezipiert eine biblische Hermeneutik, die in der Option für die Armen ihren Ausgangspunkt findet. Aber er
beläßt es bei diesen methodischen Hinweisen und Schritten. Leider gibt
er keine Transformationsregeln an, die verdeutlichen könnten, ob eine
Übertragung materialer Normen aus dem biblischen Ethos auf Fragen
gegenwärtigen Wirtschaftens möglich wäre. Ihm liegt mehr an einer Beurteilung des ökonomischen Systems aus den ethischen Ressourcen der
Bibel.
Es gibt aber noch einen anderen “garstigen Graben”. Er besteht in einem Abstand zu Themen der ökonomischen und sozialen Verhältnisse
selber. Dieser Abstand aber ist kein historischer und auch keiner der unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen. Es ist vielmehr ein Abstand, der in
einer Fremdheit besteht. Die biblischen Texten spiegeln eine Wirklich-
85
86
87
A. Damaschke, Geschichte der Nationalökonomie, 8.Aufl. Jena, 1916, 6, zit. in: A. Ben-David,
Talmudische Ökonomie, 1.
O. Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testamentes, Wien 1948, 74.- Mit Verweis
auf: G.Ruhland, System der politischen Ökonomie, Neudruck, 3. Aufl. Goslar, Bd. 1, 1941,
229-230.
U. Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedohenden Ökonomie, Gütersloh, Mainz 1994,
193.
47
keit, die “die da unten” auch heute noch kennen, die jedoch nicht wenigen in Theologie und Kirche eher fremd ist.
48
1.2.5 Kontext der Bibel und Kontext der Gegenwart
88
Die Studie des ÖRK Christlicher Glaube und Weltwirtschaft nimmt dieses hermeneutische Problem auf und verweist auf die besonderen
Chancen derer zum Verständnis der Bibel, die Wirtschaft von unten erleben. Diese Perspektive vermag eine Brücke über den garstigen Graben
zwischen Galiläa und der Moderne zu schlagen. Dabei geht die Studie
des ÖRK davon aus, daß jedes Erkennen durch Erfahrungen bereits
vorgeprägt ist, und empfiehlt, den Standort einzunehmen “bei den bescheidenen Fischern, Frauen, Armen und in unseren Tagen: Flüchtlingen, Alleinerziehenden ohne Unterstützung, Landarbeitern ohne Grund
89
und Boden, Slumbewohnern und so vielen anderen.” Diese Hermeneutik des Perspektivenwechsels erlaubt es, die biblischen Texte selber in
einem Kontext zu lesen: Die Armen, Landarbeiter, Fischer von damals
und die Arbeitslosen, Arbeiter und Arbeiterinnen, die Verlierer der Modernisierung und Globalisierung von heute sind der hermeneutische
Schlüssel. “Denn indem wir die Welt so erfahren, wie sie es tun, können
90
wir lernen, welches die beherrschenden „Mächte dieses Zeitalters‟”
sind. In diese Hermeneutik geht eine Sichtweise ein, die - nach einer
91
Formulierung von Jorge Pixley - ein “erkenntnistheoretisches Privileg”
der Armen und Unterdrückten aufnimmt. Diese hätten aufgrund von Lebensumständen, die mit denen in der Bibel geschilderten durchaus vergleichbar seien, einen besonderen Zugang zur biblischen Überlieferung.
Die sozio-ökonomische Realität selber bietet demzufolge also eine hermeneutische Hilfestellung.
Interessant ist, daß die Kirchen in Deutschland mit der Wiederentdeckung des biblischen Arguments für die Sozialethik jenen hermeneutischen Ansatz aufnehmen, den der ÖRK auch wahrnimmt. Das Sozial92
und Wirtschaftswort der Kirchen in Deutschland wählt einen Zugang zur
biblischen Tradition, den ich eine “Hermeneutik des Zusammen-Lesens”
nennen möchte: “Wenn die Christen das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausforderungen zusammenlesen, gewinnen sie nicht nur ethische Orientierungen für das eigene Handeln; es ergeben sich vielmehr
auch ethische Einsichten, die sich auf den institutionellen Rahmen der
Gesellschaft beziehen. Dazu gehört vor allem der Begriff der Gerechtigkeit.” (Ziff. 108) Das biblische Zeugnis soll mit den gegenwärtigen Herausforderungen zusammengelesen werden. Dieser Ansatz kommt jenem
88
89
90
91
92
ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben und volle Genüge
für alle”, in: epd-Dokumentation 40/1992.
Ebd. 12.
Ebd. 12.
J. Pixley, Hosea. Ein Lesevorschlag aus Mittelamerika, in: Evangelische Theologie 51 (1991) 80.
Nähere Ausführungen unter Abschnitt 7.2.
49
nahe, den der brasilianische Befreiungstheologe Clodovis Boff entwickelt
93
hat. Wenn die Kirchen in Deutschland diesen Ansatz aufnehmen, wollen sie eine biblische Hermeneutik der Theologie der Befreiung auf europäische Verhältnisse übertragen. Clodovis Boff nennt diese Hermeneutik
94
eine “Korrespondenz der Relationen” . Der Kontext derjenigen, die die
biblischen Texte hervorgebracht haben, wird in Beziehung zum gegenwärtigen Kontext gestellt. Die Identität besteht dann nicht auf der Ebene
der Botschaft als solcher, sondern auf der Ebene der Relationen zwischen Kontext und Botschaft. Clodovis Boff wendet sich entschieden gegen die Anschauung, daß die Bibel etwas anbieten könne, das einfach
nur zu kopieren sei: “Was sie uns anbieten kann, sind Orientierungen,
Modelle, Typen, Richtlinien, Prinzipien, Eingebungen, kurz, Elemente, mit
deren Hilfe wir uns selbst eine „hermeneutische Kompetenz‟ erwerben
können, weil sie uns die Möglichkeit geben, für uns selbst „im Geist
Christi‟ oder „im Einklang mit dem Hl. Geist‟ die neuen und unvorhergesehenen Situationen zu beurteilen, mit denen wir heute ständig konfrontiert werden. Die christlichen Schriften geben uns kein etwas, sondern
95
ein wie: eine Art, einen Stil, einen Geist.”
Das biblische Zeugnis und die gegenwärtigen Herausforderungen sind
zwei “Texte”, die zusammengelesen werden sollen. Text der Bibel und
Kontext der Zeit legen sich wechselseitig aus und interpretieren sich gegenseitig. Die Texte der Bibel sind in dieser Lesart nicht nur für die Lebenspraxis der Glaubenden relvant; die Lebenspraxis selber ist auch für
das deutende Verstehen jener Texte relevant. Diese Vorgehensweise
verdankt sich hermeneutischen Impulsen der Theologie der Befreiung
und wird mit dem spanischen Terminus “relectura” bezeichnet. Hermeneutischer Ausgangspunkt ist die Option für die Armen. Dabei wird eine
93
94
95
Die nichtveröffentlichten Vorarbeiten für das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in
Deutschland verdeutlichen diese Hermeneutik des Zusammenlesens noch klarer. Im Entwurf
vom 12. September 1995 heißt es: “Christen deuten die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen im Licht der Bibel und lesen zugleich die überlieferten christlichen Texte im Lichte
ihrer aktuellen Erfahrungen. Dabei enthält die Bibel Erzählungen, Gleichnisse und Visionen sowie Vorbildhandlungen und Maximen, die für die Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten der
Mitmenschen sensibel machen, zur Gewohnheit gewordene Verhaltensweisen infragestellen und
die soziale Phantasie anregen” (Ziff. 56). Die drei biblischen Leitbilder “Einheit von Gottes- und
Nächstenliebe”, “Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” und “Bewahrung der
Schöpfung” werden in drei sozialethische Leitbegriffe zur Orientierung für die Gestaltung einer
zukunftsfähigen Gesellschaft analog übersetzt und dadurch auch säkular kommunikabel. Korrespondierend zu den biblischen Leitbildern lauten die ethischen Leitbegriffe “Gerechtigkeit”
(Einheit von Gottes- und Nächstenliebe), “Solidarität” (Option für die Armen) und “Nachhaltigkeit” (Bewahrung der Schöpfung).
C. Boff, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie der Befreiung, München-Mainz 1983, 241ff.
Ebd. 244.
50
allzu kurzschlüssige Aufnahme biblischer Bezüge vermieden. Deswegen
versteht C. Boff die Methode der “relectura” als einen Bezug auf die biblischen Texte, die “einer schöpferischen Erinnerung gleichkommen, und
96
ihre Lektüre muß eine produktive Lektüre sein.” Die Beziehung Schrift Politik ist nicht nur als ein “Anwendungsfall” zu verstehen, sondern als
97
ein Modell “der lebendigen Erinnerung und der schöpferischen Treue” .
Nicht anders macht Wolfgang Nethöfel in seiner Theologischen Hermeneutik ein “Ineinander von Bruch und Kontinuität (...) als Identitätsprinzip
98
der Traditionen und der Traditionsbildung im Alten Testament” aus.
Traditionsbruch wird zu einem Traditionsprinzip. Dadurch kann in einem
kreativen Prozeß im Kontext des Traditionsbruchs Neues entstehen.
Clodovis Boff betont mit dieser Spannung von Erinnerung und schöpferischer Treue, daß beim Rückgriff auf die biblische Tradition die Bibel als
orientierender Kontrollrahmen für die Ethik fungiert. Durch die Lektüre
des Textes der Bibel und des “Textes” der Gegenwart entsteht in einem
kreativen Prozeß etwas Neues. Anzumerken bleibt noch die Tatsache,
daß sich Clodovis Boff in seiner Hermeneutik ausdrücklich nur auf neu99
testamentliche Schriften bezieht.
J. Severino Croatto hat in einer Studie die Hemeneutik der “relectura”
ausführlich begründet. Ausgangspunkt ist eine Kritik der historischkritischen Methode. “Den objektiven, historischen Sinn des biblischen
100
Textes zu fixieren, ist Illusion.” Die Bedeutung biblischer Texte ist mit
ihrer Entstehung nicht ein für allemal festgelegt, sondern erschließt sich
nur unter Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation neu. Ein ursprüngliches Ereignis weitet sich in
seiner Bedeutung bei einem späteren Lesen aus. Croatto nennt deswegen auch jede Lektüre eine “Sinnerzeugung”, die “von einem Standort
101
oder aus einem Kontext heraus”
stattfindet. Um einen biblischen Text
zu verstehen, sei es nötig, die “semantischen Achsen” zu suchen. “In der
Bibel wird das „Gedenken‟ an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei in allen möglichen literarischen Gattungen und durch alle Epochen
hindurch erhalten. Aber es ist niemals eine Wiederholung des ursprüngli102
chen Exodus, sondern eine Ausschöpfung seines „Sinnvorrats‟.”
Croatto sieht in Begriffen wie “Gerechtigkeit”, “Befreiung” usw. semanti96
Ebd. 248.
Ebd. 353.
98
W. Nethöfel, Theologische Hermeneutik. Vom Mythos zu den Medien, Neukirchen - Vluyn
1992, 92.
99
C. Boff, Theologie und Praxis, 241. 353.
100
J. S. Croatto, Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik, München 1989, 61.
101
Ebd. 62.
102
Ebd. 51.
97
51
sche Achsen, die verschiedene begriffliche Inhalte im Gesamtzusammenhang der Erzählung ordnen. “Aus dem Abstand heraus muß unsere
relecture erneut beim Zustand der Bibel als einer neuen Intratextualität
ansetzen, damit wir ihre neuen semantischen Achsen wiederentdecken
und sie von unserem Lebenszusammenhang aus wiederlesen kön103
nen.” Diese Methode der Hermeneutik ist nicht einfach eine “Aktualisierung” der Bibel. Sie macht ernst mit der Einsicht der historischkritischen Methode, daß der Text selber ein Produkt der Zeit und ihrer
Umstände ist. Gleichzeitig dokumentiert der biblische Text, daß die
Wahrnehmung Gottes sich in der Geschichte vollzieht. “Die Bibel selbst
führt uns zur Lektüre Gottes in den Ereignissen der Welt, und sie lehrt
uns, ihn gerade so zu erkennen, wie er sich jetzt manifestiert, und nicht
104
als Wiederholung von Vergangenem.” Um die Bibel verstehen zu können, muß man die großen Sinnachsen wahrnehmen. “Da die Wirklichkeit
der Menschen stärker von Leiden, Unglück, Sünde und Unterdrückung
geprägt ist, ist es nicht schwer zu erkennen, daß die Armen und Unterdrückten die besten Voraussetzungen haben, das Kerygma der Bibel zu
begreifen; sie gehört ihnen, und sie betrifft sie. Sie gehört vor allem ihnen. (...) Zudem stehen die Bedürftigen der Erde in einem
Verstehenshorizont, der ihnen das biblische Kerygma zuspricht, da des105
sen Entstehungshorizont ihnen entspricht.”
Jede Erfahrung mit Leid
und Unterdrückung, Befreiung und Hoffnung wird gedeutet als eine fortgesetzte Erfahrung der Menschen seit Ägypten und dem Exodus aus
ägyptischen Verhältnissen. Croatto kann deshalb sagen: “das, was wirklich die relecture der Bibel hervorruft und ihr die Richtung gibt, sind die
106
fortgesetzten Erfahrungen.”
Diese Erfahrungen der Unterdrückung,
des Leidens, aber auch der Befreiung und der Gnade reichen von den
Zeiten der Bibel bis in die Gegenwart.
Clodovis Boff und J.Severino Croatto vertreten eine Hermeneutik, die
deutlich Bezüge zwischen dem Text der biblischen Tradition und dem
“Text” der gegenwärtigen Verhältnisse herstellen wollen. Beide haben ein
praktisches Interesse. Die biblische Tradition soll zur Sprache gebracht
werden, um eine Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse zu bewir107
ken. Clodovis Boff liegt an einem “hermeneutischen Geist” , der Christen für eine Praxis in den je neuen politischen Situationen zurüstet und
zu einem Handeln befreit, das nicht verkürzt als mechanische Anwendung der Bibel auf gegenwärtige Verhältnisse verstanden werden darf.
103
104
105
106
107
52
Ebd. 72.
Ebd. 87.
Ebd. 75f.
Ebd. 77.
C. Boff, Theologie und Praxis, 354.
Ein solcher Umgang mit der eigenen Tradition ist auch der Bibel nicht
fremd. In seiner Monographie Die Tora hat Frank Crüsemann darauf hingewiesen, daß auch die Tora eine innerbiblische Rezeption der
Toratradition kennt, bei der es inhaltlich um Fortführung, Aktualisierung,
108
Nivellierung, Ergänzung von Themen und Fragen geht.
Das, was
Clodovis Boff mit der Spannung von der “lebendigen Erinnerung und der
109
schöpferischen Treue” bezeichnet, widerspricht keineswegs jenem innerbiblischen hermeneutischen Prinzip im Rezeptionsprozeß der eigenen
Tradition, sondern entspricht ihm vielmehr. Dieser hermeneutische Ansatz soll auch in der vorliegenden Arbeit aufgenommen werden.
Die Erinnerung an die aus fremder Zeit und Kultur überkommene biblische Überlieferung kann gerade durch ihre Spannung zwischen “be110
stürzender Aktualität und historischer Abständigkeit”
die Definitionsgewalt gegenwärtiger Mehrheitskulturen über die gemeinsame Wahrnehmung der Wirklichkeit in Frage stellen. Erinnernd kann die aus einer
fremden Welt und Kultur stammende biblische Tradition Fragestellungen
entwickeln, die vor dem Horizont der Gegenwart sehr wohl fremd wirken.
Diese Fremdheit jedoch kann eine Horizonterweiterung erwirken, denn
sie kann Plausibilitäten des zeitgenössischen wirtschaftsethischen Diskurses durchbrechen, indem sie Fragestellungen zur Sprache bringt, die
Einsichten, Kategorien und Weisheiten der Tora bedenken. Die Tora
enthält ein jahrtausendealtes Wissen von Humanität und Gerechtigkeit,
das seit der Moderne der letzten beiden Jahrhunderte nicht einfach obsolet geworden ist, sondern auch für unsere Zeit von bleibender Bedeutung
sein kann. Die Erinnerung an die biblische Tradition kann also in einer
produktiven Ungleichzeitigkeit ethische Probleme geradezu erst schaffen, wo andere, die von dieser Tradition nicht beeinflußt sind, vielleicht
gar kein Problem wahrnehmen. Der Rückgriff auf vorkapitalistische
Wertüberzeugungen kann freilegen: Anderes als Gegenwärtiges ist möglich. Ein Begründungskurzschluß läßt sich verhindern, der darin besteht,
daß eben jene Normen, die in der modernen Ökonomie gelten sollen,
selber wiederum dem modernen Marktdenken entnommen sind. Gegen
dieses ökonomistische Zirkeldenken hatte schon Oswald von NellBreuning eingewendet, daß die “Maßstäbe, nach denen die Wirtschaftspolitik sich auszurichten hätte, nicht aus der Wirtschaft selbst gewonnen
111
werden können.”
Der Rückbezug auf vormoderne oder vorkapitalistische Wertüberzeugungen kann einer lebensdienlichen Ordnung der
108
109
110
111
F. Crüsemann, Die Tora, 421.
C. Boff, Theologie und Praxis, 353.
F. Crüsemann, Die Tora, 12.
O. von Nell-Breuning,, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und
Gesellschaft heute, III. Zeitfragen 1955 - 1959, Freiburg 1960, 96.
53
Ökonomie gerade dadurch zur Orientierung dienlich sein, insofern sie
sich an Werte bindet, die sie nicht aus sich selber konstituiert. Die Wertüberzeugungen entstammen einer jahrtausendealten biblischen Wertetradition. Peter Ulrich nennt die Lebensdienlichkeit das “entscheidende
112
Mass der Wirtschaft” . Das sozialethische Kriterium
der
Lebensdienlichkeit wird eine theologische Wirtschaftsethik präzisieren,
wenn sie aus einer Option für die Armen fragt. Eine an biblischen Kategorien
orientierte
theologische
Wirtschaftsethik
versteht
Lebensdienlichkeit nicht subjektlos. Sie verbindet dieses wirtschaftsethische Kriterium der Lebensdienlichkeit aus der biblisch begründeten Option für die Armen mit einer unbedingten Achtsamkeit auf die Zukurzgekommenen, die Machtlosen, die Verlierer und Opfer - jene also, die die
biblische Rede von den Armen meint. Gerade ihnen gegenüber muß sich
erweisen, wie lebensdienlich ökonomische Prozesse sind. Eine theologische Wirtschaftsethik kann dadurch einen eigenständigen theologischen
Beitrag in den wirtschaftsethischen Diskurs einbringen. Dieser Ansatz
zeigt, daß ethisch weit Wichtigeres zur Debatte steht nur als die altbekannte Fundamentalalternative Kapitalismus oder Sozialismus. Wirtschaftsethisch geht es um eine lebensdienliche Ökonomie, zu deren humane Gestalt biblische Traditionen und biblisch-ethische Überzeugungen
mit ihren Vorstellungen und Bildern vom guten und gerechten Leben Bedeutsames beizutragen haben. Allein dieser Maßstab der
Lebensdienlichkeit, nicht aber eine abstrakte Debatte um Wirtschaftsmodelle ist deshalb sozialethisch von Belang.
Die Wiederentdeckung des biblischen ethischen Arguments ist Teil einer ethischen Urteilsbildung, die verkürzt mit dem Dreischritt “SehenUrteilen-Handeln” skizziert werden kann. Der erste Schritt besteht darin,
die Wirklichkeit zur Geltung kommen zu lassen (= Sehen). Der zweite
Schritt des analytischen Urteilens will zum einen zu einer kritischen Erkenntnis und zum andern zur Aufhellung der Situation im “Licht des
Evangeliums” führen (= Urteilen). Beide Schritte sind auf einen dritten,
der auch der wichtigste ist, ausgerichtet: das Handeln. Die Lektüre der
biblischen Tarditionen steht zwischen der erlebten Realität und einer
Praxis, die auf Veränderung dringt.
Das methodische Grundmuster mit dem Drei-Schritt “Sehen-UrteilenHandeln” entspricht in der formalen Abfolge durchaus der ethischen
Theorie sittlicher Urteilsfindung, wie sie Heinz Eduard Tödt vorgelegt
113
hat.
Doch in einem entscheidenden Punkt weichen beide Konzeptionen deutlich voneinander ab: Biblische Orientierungen, Kategorien
112
113
54
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 204.
H.E. Tödt, Sittliche Urteilsfindung, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988,
11-96.
oder Einsichten spielen bei Heinz Eduard Tödt überhaupt keine Rolle.
Sein ethisches Konzept besteht vielmehr in der kritischen Klärung und
Prüfung der in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinverflochtenen
Normen. “Wenn dieses die Aufgabe der Normenprüfung ist, so wird es
oft nicht darum gehen, unter vorgegebenen Normen (in denen sich Erfahrungen niederschlagen) eine auszuwählen, sondern gegebenenfalls
im Urteil eine neue zu gewinnen - so wie Luther einmal erklärt hat, Christen seien im Glauben ermächtigt, auch neue Dekaloge zu entwerfen, die
114
klarer seien als der des Mose (s. WA 39 I,47).”
Außer diesem einen
und zudem auch noch eher indirekten und negativen Hinweis auf die Bedeutung der ethischen Traditionen der Bibel gibt es bei Heinz Eduard
Tödt in seiner Theorie der ethischen Urteilsfindung keinen Rückbezug
auf die Bibel oder ihre Tradition.
Durch die ganze Geschichte hindurch zieht sich der universale Tatbestand, daß Menschen sich die Dinge und Güter des Lebens besorgen
und beschaffen müssen. Das ließ sie zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Umständen fragen: Was sollen wir essen und trinken, wie
sollen wir uns kleiden? Dazu gehört aber auch: Wie erarbeiten wir, was
wir zum Leben brauchen? Wie verteilen wir die Güter? Der Nobelpreisträger und Ökonom Paul A. Samuelson hat auf eine ökonomische Universalie hingewiesen, wenn er sagt, daß alle Gesellschaften es letztlich
immer mit drei ökonomischen Grundproblemen zu tun haben, die sich zu
allen Zeiten unabhängig von unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen
stellen, jedoch unterschiedlich beantwortet werden:
1. Was soll in welchen Mengen produziert werden? Das heißt, welche alternativen Güter und Dienste sollen in welchen Mengen hergestellt
werden? Nahrungsmittel oder Bekleidung? Viel Nahrungsmittel und
wenig Bekleidung oder umgekehrt? Heute Butter und Brot oder heute
Brot und Erdbeerpflanzen und dafür im nächsten Jahr Brot und Marmelade?
2. Wie sollen die Güter produziert werden? Das heißt, wer soll sie mit
welchen Produktionsfaktoren und mit welcher Technik produzieren?
Wer jagt, wer fischt? Soll Elektrizität durch Dampf, Wasserkraft oder
Atomenergie erzeugt werden? Wollen wir Einzelfertigung oder Massenfertigung an Fließbändern? Wenn von allem etwas, wieviel dann
von jedem?
3. Für wen sollen die Güter produziert werden? Das heißt, wer soll in
den Genuß der bereitgestellten Güter und Dienstleistungen kommen?
114
Ebd. 39.
55
Oder anders ausgedrückt: Wie soll das gesamte Sozialprodukt unter
die einzelnen Individuen und Familien verteilt werden? Wollen wir einige Reiche und viele Arme? Oder bescheidenen Wohlstand für die
meisten? Sklaven und freie Bürger? Gleichberechtigung der Geschlechter und Rassen? Hohe Belohnung für Körperkraft oder Intelligenz? Sollen egoistische Streber alles bekommen? Sollen die Faulen
115
gut essen?
Diese drei fundamentalen ökonomischen Fragen nach dem Was, Wie
und Für-wen nimmt auch der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich auf. Welche
Werte sollen für wen geschaffen werden? Diese ökonomische Frage hat
eine ethische Dimension. Die Effizienz der Wirtschaft wird in eine Beziehung zu den ethischen Aspekten des individuellen Sinns und der sozialen Gerechtigkeit gesetzt. Während es bei der Frage nach dem Sinn des
Wirtschaftens um dessen Bedeutung für das gute Leben geht, spricht die
Frage nach der Legitimität die Bedeutung der Wirtschaft für das gerechte
Zusammenleben der Menschen an. Die Sinnfrage durchbricht dabei eine
auf Nutzenmaximierung verkürzte Sicht des Wirtschaftens; die Frage
nach dem gerechten Wirtschaften nimmt Rücksicht auf die Ansprüche
anderer Menschen und fragt deshalb nach den Möglichkeiten für ein gutes Leben aller. “Ist unser Wirtschaften uns selbst zuträglich? Ist unser
116
Wirtschaften gegenüber allen vertretbar?” Gefragt wird also: Wie wollen wir leben? Wie sollen wir zusammenleben?
Die hier vorliegende Arbeit nimmt sich vor, folgende Fragen zu bearbeiten: Wie beantwortet die Tora diese ökonomischen Grundfragen nach
dem Was, Wie und Für-wen? Welche Vorstellungen und Wertüberzeugungen eines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens erinnert
die biblische Tradition? Und was könnte der Umgang der Tora mit den
Wirtschaftsfragen ihrer Zeit für die Lösung gegenwärtiger Wirtschaftsprobleme bedeuten? Diese Fragen aus der Perspektive der biblischen
Arbeiter, Bauern und Fischer und der heutigen Arbeiter und aller, die “unten” stehen, zu stellen, ist der hermeneutische Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Im nächsten Abschnitt soll zunächst nach dem ethischen Zugang zur Ökonomie, im darauf folgenden nach dem Zugang der
Tora zur Ökonomie gefragt werden. Durch diese beiden Schritte soll geklärt werden, ob aus dem Umgang der Tora mit den Wirtschaftsfragen
ihrer Zeit etwas für den Umgang mit den Wirtschaftsfragen am Ende des
20. Jahrhunderts zu lernen ist.
115
116
56
P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Köln 1981, 33f.
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 205.
2. ETHISCHE ZUGÄNGE ZUR WIRTSCHAFT
2.1 Ethik des Marktes
Die gängige Definition von Wirtschaften lautet: Wirtschaften bedeutet im
Kern, die Knappheit der Güter rational mit den menschlichen Be117
dürfnissen in Übereinstimmung zu bringen. Wirtschaften hat es nach
dieser Definition zentral mit Knappheit zu tun. “Könnten alle Bedürfnisse
unterschiedslos erfüllt werden, so bestünde keine Notwendigkeit zum
Wirtschaften . (...) Damit aber tritt die von Ökonomen immer wieder gestellte Frage in den Vordergrund, wie bei gegebenen Wünschen der Individuen oder Gruppen und bei vorhandenen begrenzten Gütervorräten
und Produktionsmitteln wie Arbeit, Boden, Naturschätzen, Gebäuden und
Maschinen eine möglichst weitgehende, ja optimale Erfüllung dieser
118
Wünsche erreicht werden kann.”
In 1. Abschnitt habe ich bereits auf
die ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen?) hingewiesen, wie
sie der Ökonom Paul A. Samuelson formuliert hat. Er geht davon aus,
daß alle ökonomischen Prozesse letztlich immer mit drei Grundproblemen zu tun haben, die sich zu allen Zeiten und unabhängig von den unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen stellen, jedoch unterschiedlich beantwortet werden: Wo immer Menschen zusammen leben und arbeiten,
müssen diese drei Grundprobleme gelöst und organisiert werden, die in
der ökonomischen Fachsprache als das Produktions-, das Allokations119
und das Distributionsproblem bezeichnet werden.
Das Was, Wie und Für-Wen wäre kein Problem, wenn die Produktionsmittel und Ressourcen unbegrenzt vorhanden wären. Dann würden
sich diese ethischen Fragen erst gar nicht stellen. Knappheit an Gütern
ist deshalb das Hauptthema des Wirtschaftens. Aus dem Sachverhalt
117
118
119
K. Häuser, Volkswirtschaftslehre, Frankfurt 1974, 34.
P. Bernholz , F. Breyer, Grundlagen der politischen Ökonomie, Tübingen 1984, 11.
P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, 33f.
57
der Knappheit jedoch ergibt sich die Gerechtigkeitsfrage. An welchen
Maßstäben orientiert sich die Beantwortung dieser scheinbar rein ökonomischen Grundfragen? Die Antwort auf diese Frage enthält allemal
Werturteile, mögen diese reflexiv entfaltet oder auch nur implizit vorhanden sein. Jede ökonomische Frage ist also zugleich auch eine ethische.
Denn alle Ökonomien bringen in der je unterschiedlichen Beantwortung
der ökonomischen Grundfragen auch spezifisch normative und ethische
Orientierungen zum Ausdruck, auch wenn sie diese nicht ausdrücklich
thematisieren. Die ökonomischen Grundfragen haben deshalb zwei Di120
mensionen: Sie sind ökonomisch und ethisch zugleich.
Wie beantwortet das Marktsystem die ökonomischen Grundfragen?
Im Marktsystem werden nach Paul A. Samuelson die ökonomischen
Grundfragen folgendermaßen beantwortet:
1. Was zu produzieren ist, wird durch Stimmzettel der Verbraucher
determiniert, wobei die Stimmzettel Geldscheine sind. ..
2. Wie die Güter zu produzieren sind, wird durch die Konkurrenz der
verschiedenen Produzenten entschieden. (...)
3. Für wen die Güter produziert werden, bestimmen
Angebot und
121
Nachfrage auf den Produktionsfaktormärkten. (...)
Wie der Markt die Verteilungsfrage beantwortet, stellt Paul A. Samuelson
an einem Beispiel dar: “Die Güter bekommen die Leute, die die meisten
Dollarstimmen abgeben können. Die Katzen der Reichen bekommen
möglicherweise die Milch, die die Kinder der Armen dringend benötigen.
Woher kommt das? Etwa daher, daß der Marktmechanismus schlecht
funktioniert? Unter ethischen Gesichtspunkten könnte man das sagen,
aber nicht, wenn man die Qualität der Funktionsweise des Marktmechanismus an seiner eigentlichen Aufgabe mißt. Der Markt kann nur das,
wozu er geeignet ist: er läßt die Güter in die Verfügung derjenigen gelan122
gen, die das meiste dafür bezahlen können.”
Die Beantwortung der
ökonomischen Grundfragen erfolgt also nicht über Bedürfnisse, sondern
über Wünsche, die mit Geld ausgestattet sind. Paul A. Samuelson räumt
ein, daß es sich bei diesem Modell um ein theoretisches Konstrukt handelt, das in der Wirklichkeit nicht funktioniere; doch selbst wenn es funktionieren würde, wäre es nicht unbedingt als ideales System anzusehen.
Zur Begründung führt er bezeichnenderweise nicht einen ökonomischen,
sondern einen ethischen Aspekt an, wenn er fragt: Welche gesellschaftlichen Folgen aber hat die Beantwortung der Verteilung nach dem Markt120
121
122
58
Vgl. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 132 - 139.
P. A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 65.
Ebd. 68.
modus, wenn “Katzen die Milch anstelle der Kinder” bekommen? Was
bedeutet das für entwickeltere Industriegesellschaften, was für ärmere
123
Gesellschaften? Es zeigt sich also, daß das Marktparadigma die ökonomischen Grundfragen nach dem Was, Wie und Für-wen unter Vernachlässigung sozialer oder ökologischer Dimensionen ausschließlich
mit “Geld” beantwortet.
Dieser Sachverhalt der Marktökonomie produziert jenen Problemüberhang, der nach der Ethik dieser Wirtschaft fragen läßt. Dabei hatte sich
die Wirtschaft in einer Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Ethik eingerichtet, nachdem sie im 18. Jahrhundert aus dem gemeinsamen Gehäuse ausgewandert war. Fortan galt wirtschaftliches Handeln als eigengesetzlich und wertfrei, allein einer Sachzwanglogik unterworfen. Nach
Ethik zu fragen, erscheint im Rahmen einer solchen Arbeitsteilung belanglos, ja sachfremd. Für Ethik gibt es nach Max Weber in einem Marktsystem keinen Platz. Er beschreibt den Markt als eine Institution, die jedem wertrationalen Verhalten gegenübersteht. “Arbeitsmarkt, Geldmarkt,
Gütermarkt, „sachliche‟, weder ethische noch antiethische, sondern einfach anethische, ja jeder Ethik gegenüber disparate Erwägungen bestimmen das Verhalten in den entscheidenden Punkten und schieben
zwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen. Diese „herrenlose Sklaverei‟, in welche der Kapitalismus den Arbeiter oder Pfand124
briefschuldner verstrickt, ist nur als Institution ethisch diskutabel.” Max
Weber nennt den Kapitalismus hier eine “herrenlose Sklaverei”. Mit dieser Bewertung des Kapitalismus gilt er als Gewährsmann einer ökonomischen Theorie, die sich nicht nur von jeglicher humanen Ethik abgekoppelt hat. Von der Sache her habe Ökonomie nichts mit Ethik zu tun. Ethik
und Ökonomie in einen Zusammenhang zu bringen, sei unsachgemäß,
denn Ökonomie folge nicht ethischen Vorgaben und Orientierungen. Sie
habe vielmehr ihre eigenen Rationalitäten. Ökonomie und Ethik ständen
deshalb auch in einem unüberbrückbaren Gegensatz.
Diese Trennung bei Weber beruht auf einer Unterscheidung zwischen
Sachurteilen und Werturteilen. Die empirischen Erfahrungswissenschaften können nur zweckrationale Urteile formulieren. Zu wertrationalen Urteilen haben sie dagegen keinen Zugang. Es zeigt sich, daß Max Weber
zwar diese Trennung zwischen Sachurteilen und Werturteilen in seiner
Wirtschaftssoziologie zur Geltung bringen will, sie aber nicht durchhalten
kann, da sich Sachurteile und Werturteile im Verlauf seiner Argumentati-
123
124
Vgl. dazu A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 136-139.
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1980, 709.
59
125
on immer wieder durchdringen. Er beschreibt den Markt zweckrational
und gelangt zu wertrationalen Urteilen: “Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur das Ansehen der Sache, kein
Ansehen der Person, keine Brüderlichkeitsethik, keine Pietätspflichten,
keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen mehr. (...) Der freie, d.h. der durch ethische Normen nicht gebundene Markt mit seiner Ausnutzung der Interessenkonflikte und Monopollage und seinem Feilschen gilt jeder Ethik als
126
unter Brüdern verworfen.”
Das Sachurteil über den Markt vermischt
Max Weber mit einem Werturteil. Er verbleibt analytisch nicht bei einem
Sachurteil, wie er vorgibt, sondern beschreibt zugleich die am Markt
herrschende Ethik, wenn er zu dem normativen Urteil kommt: Es
herrscht am Markt eine Ethik, die “unter Brüdern verworfen” ist. Der
Markt mit seiner ihm eigenen normativen Ethik steht also in einer ausdrücklichen Spannung zur christlichen Ethik; er ist “jeder Verbrüderung in
127
der Wurzel fremd.” Weber will die formale Zweckrationalität des Marktes als eine formale Rationalität beschreiben, die jeder ethischen Rationalität entgegengesetzt ist. Doch dabei entgeht er nicht der Tatsache,
daß eben dieser zweckrationale Markt eine implizite Ethik hat. Kuno Füssel zieht aus dieser Beobachtung die Folgerung: “Seine manichäische
Trennung von formaler und materialer Rationalität, Sachurteilen und
Werturteilen wird unvereinbar mit den Ergebnissen seiner eigenen Ana128
lyse des Marktes.”
Auch die Sachlogik der Ökonomie ist ethisch
129
durchdrungen. Weber spricht selber von einem “Inhalt der Marktethik” .
Zu fragen ist deshalb: Gelten dann nicht im Kapitalismus wenigstens jene
normativen Gehalte, die eben eine “Marktethik” ausmachen? Was ist
damit gemeint? In seiner berühmten Abhandlung Die protestantische
Ethik und der Geist des Kapitalismus spricht Max Weber von einer
“Ethik” des Kapitalismus, die er jedoch nur in einem eher uneigentlichen
Sinn als Ethik kennzeichnen will. Deshalb schreibt er, daß es sich beim
Markt und dem Kapitalismus um etwas anderes als nur um eine Verbrämung rein egozentrischer Maximen handele: “Sondern vor allem ist das
„summum bonum‟ dieser „Ethik‟ (sic! F.S.): der Erwerb von Geld und im130
mer mehr Geld (...) so rein als Selbstzweck gedacht.”
Weber nennt
125
126
127
128
129
130
60
Anregungen zu den folgenden Ausführungen verdanke ich dem Beitrag: K. Füssel, Perspektiven
einer theologischen Kapitalismuskritik, in: Orientierung 55 (1991), 169-176. Dieser Beitrag
liegt meiner Argumentation zugrunde.
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 382f.
Ebd. 383.
K. Füssel, Perspektiven einer theologischen Kapitalismuskritik, 173.
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 383.
M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte
Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I., 2. Aufl. Tübingen 1922, 35.
diese Lebenshaltung eine “eigentümliche „Ethik‟” und “ein Ethos, welches
sich äußert.” Und er fügt hinzu: “ ... und in eben dieser Qualität interes131
siert es uns.” Je mehr eine Wirtschaft ihren immanenten Eigengesetzlichkeiten folge, desto unverträglicher würde sie mit “einer religiösen Brü132
derlichkeitsethik” . Der Kapitalismus enthält nach Weber eine Ethik.
Diese Marktethik mit ihren Werten und Normen ist es also, die den Gegenpart zu einer Brüderlichkeitsethik ausmacht. Die formale Zweckrationalität des Marktes verdeckt ihre höchst „unbrüderliche‟ Ethik. Der Gegensatz besteht nicht zwischen einer Sachlogik oder anethischen Rationalität des Marktes, der jede Ethik fremd ist, und einer ethisch gehaltvollen Brüderlichkeitsethik. Vielmehr hat die “Marktethik” genauso wie die
“Brüderlichkeitsethik” ihre je spezifischen ethisch-normativen Gehalte.
2.2 Ethik und Ökonomie: Zwei-Welten-Konzept
Wie kommen Ethik und Ökonomie mit ihrem jeweiligen Zugang zur Wirklichkeit zu ihrem Recht? Wilhelm Röpke, einer jener Ökonomen, welche
die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt haben, hat sich
deutlich gegen eine Arbeitsteilung oder Antinomie von Ökonomie und
Ethik ausgesprochen, wenn er sagt: “Nationalökonomisch dilettantischer
Moralismus ist ebenso abschreckend wie moralisch abgestumpfter Öko133
nomismus.” Angesichts vermeintlich harter Fakten der Ökonomie wird
der Ethik im Zusammenhang des Wirtschaftens nur zu gern das argumentative Recht abgesprochen. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich
spricht deshalb von einem “Zwei-Welten-Modell von ökonomischer Rati134
onalität und außerökonomischer Moralität” . Dieses “Zwei-WeltenModell” ist in die Kritik geraten. Immer häufiger wird nach Ethik gefragt.
Verbunden mit diesem Ethikdiskurs geht auch die Entdeckung und Thematisierung des moralischen Handelns des Menschen einher, das für die
eigene Fachdisziplin und Wirklichkeitskonstruktion bislang als irrelevant
erachtet wurde. Die neuere Diskussion über Wirtschaftsethik ist aus der
Erfahrung heraus entstanden, daß ethische Orientierungen und Werte
mit ökonomischen Erfordernissen in Konflikt geraten. Handeln im ökonomischen Feld kollidiert nur zu oft mit moralischen Vorstellungen oder
Idealen der wirtschaftlich tätigen Personen. Ethik und Ökonomie stellen
131
132
133
134
Ebd. 33.
M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I., 2. Aufl. Tübingen 1922, 544.
W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich 1966, 161 (kursiv
im Original).
P. Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, 181.
61
Anforderungen an menschliches Handeln, die jedoch nicht deckungsgleich sind. Wirtschaftsethik befaßt sich deshalb mit der Frage, wie Normen in der Ökonomie und im Handeln derer, die ökonomische Verantwortung wahrnehmen, zur Geltung gebracht werden kann. Wie läßt sich
verantwortlich wirtschaften?
Der Wirtschaftsethiker Karl Homann unterscheidet grundsätzlich vier
mögliche Varianten in der Verhältnisbestimmung von Ethik und Ökono135
mik:
135
62
K. Homann, Ethik und Ökonomik, in: E.Kappler u. T. Scheytt, Unternehmensführung - Wirtschaftsethik - Gesellschaftliche Evolution. Annäherungen an eine verantwortungsbewußte Führungspraxis, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1995, 179f.
1. Ethik und Ökonomik stehen unverbunden nebeneinander.
Ethische Anforderungen in die Wirtschaft einzubringen, ist geradezu
unsinnig. Bezugnehmend auf den Systemansatz von Niklas Luhmann
versteht Karl Homann diesen Argumentationstypus als einen Ansatz,
der das Problem der Wirtschaftsethik wegdefiniert. Er kritisiert, daß
diese Art der Verhältnisbestimmung die Gestaltungsabsicht von Sozialwissenschaften preisgibt.
2. Hierarchiemodell I:
Die Ethik dominiert die Ökonomik, normative Forderungen haben Vorfahrt vor ökonomischen Gesichtspunkten. Als Vertreter dieses Typus
nennt Karl Homann u.a. christliche Theologien und die neuere Frankfurter Schule. Sein Urteil: “Dieses Paradigma befriedigt nicht, weil man
aus der Ökonomik für die Ethik nichts lernen kann und weil die Ethik
136
für die Praxis abstrakt, unfruchtbar bleibt.”
3. Hierarchiemodell II:
Die Ökonomik dominiert die Ethik, saugt sie auf. Karl Homann distanziert sich von dieser Position: “Man kann in diesem Paradigma aus der
137
Ethik für die Ökonomik nichts mehr lernen.”
4. Ökonomik und Ethik durchdringen sich gegenseitig.
Auch diese Konzeption lehnt Karl Homann ab, da sie “zu willkürlichen
138
und eklektischen Mixturen der Forderungen einlädt.”
Diese verschiedenen Ansätze verbleiben allesamt in einem Dualismus,
den der Wirtschaftsethiker Karl Homann vom Ansatz her vermeiden will.
Er will deswegen eine Ethik entwerfen, die das ökonomische Eigeninteresse oder die ökonomische Rationalität in Marktwirtschaften ethisch so
zuläßt, daß ein Dualismus aufgehoben ist. Das Grundproblem einer modernen Wirtschaftsethik beschreibt er folgendermaßen: “Ein Unternehmen, das unter harten Wettbewerbsbedingungen aus moralischen Gründen kostenträchtige Vor- und Mehrleistungen erbringt, droht in Wettbewerbsnachteil zu geraten und langfristig vielleicht sogar aus dem Markt
ausscheiden zu müssen. Moral, die etwas kostet, ist im Wettbewerb unmöglich von einzelnen Akteuren zu realisieren. Die Ausbeutbarkeit mora139
lischen Verhaltens im Wettbewerb ist das Problem.”
Wie lassen sich
dennoch ökonomische Rationalität und ethisches Handeln vermitteln?
136
137
138
139
K. Homann, Ethik und Ökonomik,180.
Ebd. 181.
Ebd. 181.
K. Homann, Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zum Parlament B21/1997, 14.
63
Wettbewerb und moralisches Verhalten scheinen unversöhnbar zu
sein, wenn wettbewerbliches Handeln ein Handeln belohnt, das grundlegenden moralischen Vorstellungen nicht entspricht. Karl Homann sucht
aus diesem Dilemma einen Ausweg, indem er in Anlehnung an Adam
Smith eine Unterscheidung zwischen Spielregeln und Spielzügen vornimmt. Die politische und rechtliche Rahmenordnung gibt die Spielregeln
vor, nach denen agiert wird. Innerhalb der vorgegebenen Spielregeln
nehmen die wirtschaftlich Handelnden Spielzüge vor. Ort der Moral ist
nicht mehr das individuelle Handeln. Deshalb formuliert Karl Homann die
Grundthese seines Ansatzes für eine Überwindung des Dualismus von
Ethik und Ökonomie: “Der systematische Ort der Moral in einer Markt140
wirtschaft ist die Rahmenordnung.”
Moral und wirtschaftliche Effizienz
sind jeweils auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. “Die Effizienz in
den Spielzügen, die Moral in der Spielregeln. (...) Unter diesen Bedingungen der modernen Wirtschaft (...) ist die Moral nicht (mehr) in den
einzelnen Handlungen, also nicht in den Spielzügen zu finden. (...) Wenn
man moralische Werte geltend machen will, muß man folglich an den
141
Rahmenordnungen, also an der Wirtschaftsordnung, ansetzen.”
Karl Homann erachtet nur das als ethisch gerechtfertigt, was in der
ökonomischen Axiomatik an Werten vorhanden ist. Dieses wirtschaftsethische Konzept entsorgt das ethische Handeln als solches. Eine Differenzierung zwischen Spielregeln und Spielzügen übersieht, daß auf den
beiden Ebenen, der Spielregeln in der Rahmenordnung und der Spielzüge im Handeln, jeweils sehr wohl Ethik angesiedelt ist. Ordnungsethik
und Handlungsethik sind nicht auf zwei Ebenen unverbunden und getrennt angesiedelt, sondern aufeinander angewiesen. Sie müssen wohl
unterschieden, dürfen jedoch nicht getrennt werden. Karl Homanns These vom systematischen Ort der Ethik in der Rahmenordnung läßt sich mit
guten Gründen gänzlich umdrehen: Der systematische Ort der Moral liegt
in den Handlungen der Menschen - auch in der Marktwirtschaft und auch
bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen. Der systematische Ort der
Ethik wechselt tatsächlich ständig: Akteure handeln aus ethischen Motiven und gestalten die Rahmenordnung; die von ihnen gestaltete Rahmenordnung wird selber zu einem Ort der Ethik. Die Rahmenordnung jedoch ist nicht ein für allemal fertig, sondern wird in einem andauernden
geschichtlichen Prozeß gestaltet und verändert. Wirtschaftlich verantwortliches Handeln hat damit zu tun, daß die handelnden Personen sich
selber als Teil eins Systems begreifen, in dem sie verantwortlich aktiv
sind. Der Manager einer Düngemittelfabrik ist für die Folgen seiner Ent140
141
64
K. Homann u. F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, 35 (kursiv im Original).
Ebd. 35f.
scheidungen verantwortlich wie der Betriebsrat oder der Personalchef für
seine Entscheidungen. Diejenigen, die wirtschaftliche tätig sind und die
Lebens- und Arbeitsverhältnisse gestalten, handeln ethisch.
Zwischen Ethik und Recht zu unterscheiden, ist gerade ein Ergebnis
der Moderne, das nicht rückgängig gemacht werden darf. Karl Homann
selber erläutert seine Grundthese vom Ort der Ethik in den Ordnungen
bezeichnenderweise genau dadurch, daß er zu den Rahmenbedingungen Elemente der Rechtsordnung aufzählt: “Verfassung, Gesetze, Wirtschaftsordnung, Wettbewerbsordnung, Steuergesetze, Justizapparat,
142
(...):”
Daß diese Rahmenordnung jedoch Ergebnis des politischen
Handelns aus ethischen Motiven ist, kommt bei Homann nicht in den
Blick.
Zwei Momente begründen nach Karl Homann die moralische Qualität
der Marktwirtschaft. Zum einen belohne sie den, der das Wohl der Mitmenschen fördere; zum anderen baue das Wettbewerbsprinzip systema143
tisch Machtpositionen ab.
Es mache geradezu ein Merkmal der Moderne aus, daß die moralische Qualität den Institutionen und eben nicht
dem Verhalten des Individuums zukomme. “Damit erhält das Selbstinteresse - Moralisten reden von Egoismus - eine ökonomisch-funktionale
144
Begründung für die Ethik.” Der Eigennutz kann dann zu einem respektablen moralischen Verhalten avancieren.
Von diesen Voraussetzungen aus kommt Karl Homann zu einem moralischen Urteil über die Vorzugswürdigkeit ökonomischer Systeme.
Marktwirtschaft ist an sich moralisch qualifiziert und wird es nicht erst
durch eine an ethischen Zielvorgaben orientierte Gestaltung. “Wir verbieten uns den verbreiteten, theoretisch aber unhaltbaren Ausweg, die moralische Qualität der Marktwirtschaft in den sozialen Korrekturen und Abfederungen dieser Marktwirtschaft zu sehen. Es geht uns um die moralische Qualität der Marktwirtschaft als solcher. .. Die moralische Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft liegt darin, daß sie das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen dar145
stellt.”
Diese Denkhaltung sucht Ethik dadurch in einen Zusammenhang mit wirtschaftlichen Prozessen zu bringen, daß Ethik dabei nicht
gegen die Wirtschaft zur Geltung gebracht wird. “Moralische Intentionen
können nicht gegen die moderne Wirtschaft realisiert werden, sondern
146
nur in ihr und durch sie.” So läßt sich dann von einer “Moral der Märk-
142
143
144
145
146
K. Homann, Individualisierung: Verfall der Moral? 14.
K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 50
K. Homann, Verfall der Moral? In: WirtschaftsWoche Nr. 38 vom 12.9.1996, 39.
K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 49.
K. Homann, Wirtschaftsethik. Die Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft, in:
J.Wieland (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1993, 39.
65
147
te”
sprechen. Die Marktwirtschaft selber - nicht einmal mit einem Adjektiv “sozial” versehen - ist ethisch. Ihre Ethik ist ihre Effizienz. Und des148
halb: “Wohlstand ist Ermöglichung von Freiheit.” Die ökonomische Rationalität begründet die Wert- und Normvorstellungen. Referenzrahmen
dieses Ansatzes ist eine Konzeption, die sich selber “ökonomischer Im149
perialismus” nennt. Die entscheidende Schwäche der Konzeption von
Karl Homann liegt darin, daß er alle sozialen Beziehungen auf ökonomisch rationales Handeln zurückführen will. Diese Konzeption aber verkennt die tatsächlich vorhandenen solidarischen Strukturen in einer Gesellschaft, wenn sie meint, daß Gesellschaften allein durch die Nutzenmaximierung der je einzelnen ihren Zusammenhalt und die solidarischen
Beziehungen sichern können.
Karl Homann will Ethik dadurch mit der Ökonomik versöhnen, daß
Ethik ihren systematischen Ort allein in der Rahmenordnung erhält. In einer solchen Versöhnung von Ethik und Ökonomik kommt jedoch Ethik
als eigener Zugang zur Wirklichkeit nicht selber zur Sprache. Ethik steht
nämlich für das Bemühen, gerade wegen aller systemlogischen Einschränkungen und fachlichen Ausdifferenzierungen dennoch zu einer
fachübergreifenden Verständigung beizutragen und die verschiedenen
Zugangsweisen zur Wirklichkeit, die Ökonomik und Ethik kennzeichnen,
miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Spannung löst Karl Homann
auf, indem er den spezifischen Zugang zur Wirklichkeit, welcher der
Ethik zu eigen ist, nicht zuläßt. Die Folge ist: Die Ökonomik kann dann
gerade nichts von der Ethik und umgekehrt auch die Ethik nichts von der
Ökonomik lernen.
Karl Homann blendet aus, daß Menschen moralisch handeln, wenn
sie wirtschaftlich tätig sind. Indem er dieses moralische Handeln aber
ausblendet, trägt er zu einer Erosion eben jener Moral bei, deren jede
Marktwirtschaft für ihr Funktionieren bedarf, denn wenn nur noch zweckrationales Verhalten prämiert wird, gilt am Ende auch nur noch die
“Marktethik” als einzige Ethik. Die Entsorgung der Ökonomie von Ethik
bestätigt eine Ökonomie, in der das moralische Handeln des Menschen
ausgeschlossen ist. Eine solche Ökonomie-Ethik bringt wohl Ethik und
Ökonomie zur Deckung, aber um den Preis, daß sie nicht mehr leistet,
als daß sie ein bestehendes ökonomisches System auch noch mittels
147
148
149
66
W. Weimer, Das Teilen und die Moral der Märkte. Wirtschaftsleitartikel, in: FAZ Nr. 299 vom
24.12.1993, 9; so auch K. Homann, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, in: J. Gründel (Hg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs der Moral, Bd. 2, Düsseldorf
1992, 70-116.
K. Homann, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 98.
G.S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Verhaltens, 2. Aufl. Tübingen 1993.
Ethik überhöht. Deshalb unterbleibt die interdisziplinäre Verständigung,
die sie eigentlich wollte.
Nach dem Niedergang der sozialistischen Systemalternative kann sich
diese Denkhaltung zudem bestätigt fühlen. Nicht allein der Sozialen
Marktwirtschaft wird nunmehr eine “moralische Qualität” bescheinigt; der
so lange diskreditierte und verpönte Begriff Kapitalismus wird rehabilitiert. Rehabilitiert wird aber nicht allein der Begriff - auch die Sache selber, nämlich eine Marktwirtschaft, die sich aller Attribute entledigt hat. So
kann der Wirtschaftsethiker Peter Koslowski in der nach 1989 erfolgten
Neuauflage seines Buches zur Ethik des Kapitalismus sagen: “Die bisher
als selbstverständlich vorausgesetzte pejorative Bedeutung des Begriffs
150
Kapitalismus gilt nicht mehr.” Marktwirtschaft wird nicht nur als alternativlos, sie wird quasi als Ergebnis eines geschichtlichen Selektionsvorgangs angesehen und nunmehr als „naturgemäß‟ verteidigt. Sie braucht
deshalb auch keine Ethik als Wertorientierung, die von außen und nicht
aus der Ökonomie selber kommt. Eine Begründungsfigur stellt ganz offen eine Entsprechung zwischen der Qualität der Marktwirtschaft und ei151
nem biologischen Motiv her. Das ökonomische Gewinnmotiv entspreche dem biologischen Selbsterhaltungstrieb. Deshalb könne sich dieses
ökonomische Gewinnmotiv als eine quasi naturgemäße Triebkraft der
Ökonomie ausgeben. “Eine Unternehmer-Ethik, die den natürlichen
Selbsterhaltungstrieb nicht bekämpft, ihn vielmehr umlenkt zum Nutzen
und im Dienst des Ganzen, zur Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt - eine solche Ethik verdient Respekt.” Eine Marktökonomie, die sich
als naturgemäß begründet und gegen kritische Infragestellungen immunisiert, unterliegt einem fatalen naturalistischen Fehlschluß. Sie schließt
von geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf einen evolutiven Vorgang.
2.3 Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen
Die Ökonomie hatte sich lange in einer Arbeitsteilung eingerichtet: Ethik
wurde nicht in einen Zusammenhang mit Ökonomie gebracht und umgekehrt. Ökonomie galt als ethikneutral und allein Sachgesetzen und ihren
Zwängen unterworfen. Ein solches arbeitsteiliges Denken zwischen
Ökonomie und Ethik ist unter Druck geraten. Sind es doch genau jene
von der Wirtschaft selbst hervorgerufenen Probleme, die diese ethische
Unbekümmertheit in Frage stellen. Während die Logik des Sachzwangs
wirtschaftlichen Handelns zwar ein getrenntes Nebeneinander von Ethik
150
151
P. Koslowski, Ethik des Kapitalismus, 4. Aufl. Tübingen 1991, 10.
W. Weimar, Das Teilen und die Moral der Märkte.
67
und Wirtschaft behauptet, faktisch jedoch die Ethik der Wirtschaft unterordnet, so bringt der Ansatz von Karl Homann wohl Ethik und Wirtschaft
zur Deckung - doch um den Preis, daß Ethik in Ökonomie aufgeht. Welcher Maßstab gilt aber für moralisches und welcher für wirtschaftliches
Handeln? Auf diese Frage kennen beide Argumentationen keine Antwort.
Sie verorten die Zugänge zu ethischen Fragen im Zusammenhang des
Wirtschaftens abstrakt und abseits konkreter gesellschaftlicher Strukturen, Prozesse und Auseinandersetzungen. Darin zeigt sich eine eigentümliche Arbeitsteilung zwischen denen, die theoretisch Ethik konstituieren und denen, die in der Praxis ökonomisch handeln. Ethische Normen
sind jedoch nicht im Elfenbeinturm zu Hause. Sie entstehen überall dort,
wo um mehr Humanität, um mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit gerungen wird.
Friedhelm Hengsbach hat deshalb die Arbeitsteilung zwischen Ethik
und Ökonomie, aber auch die zwischen Spielregeln und Spielzügen (Karl
Homann) einer Kritik unterzogen. Seine Gegenthese lautet: Bezugspunkt
der Wirtschaftsethik ist zwar die Rahmenordnung der Wirtschaft als Ort
der Ethik, doch diese Rahmenordnung ist ihrerseits bereits institutionell
geronnenes Ergebnis ethisch bedeutsamer politischer Praxis. Politische
Praxis findet jedoch nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb dieses
Rahmens statt. Ort der Ethik in der Marktwirtschaft ist nicht allein die
Rahmenordnung, sondern auch das Handeln innerhalb des Rahmens.
Der Ort, an dem Ethik und Ökonomie bereits vermittelt sind, ist die politische Öffentlichkeit, in der sich das politische und soziale Handeln vollzieht. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat eine “Wirtschaftsethik
152
sozialer Bewegungen”
vorgelegt, die Ökonomie und Ethik nicht abstrakt vermittelt, sondern die Beiträge der politisch-öffentlichen Debatte
über die Rahmenordnung der Wirtschaft und die Praxis zur Veränderung
der Rahmenordnung aufnimmt, in der ethische und ökonomische Aussagen immer schon miteinander verbunden sind. Sein Ansatz einer “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” ist nicht abseits gesellschaftlicher
Prozesse angesiedelt. Deshalb stellt der Sozialethiker Friedhelm
Hengsbach auch Wirtschaftsethik in einen Zusammenhang mit einer
verändernden Praxis. Er versteht Wirtschaftsethik als einen Reflexionsprozeß, bei dem das Kräftespiel der Interessengruppen im politischen
Entscheidungsprozeß reflektiert und die fortwährende Reform des Wirt-
152
68
F. Hengsbach, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften,
Münster 29 (1988) 127-150; ders., Arbeitsethische Innovationen durch alte und neue soziale
Bewegungen, in: B. Bievert, M. Held (Hg.), Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie.
Eigentum, Verträge, Institutionen, Frankfurt 1989, 156-188; ders., Wirtschaftsethik, 66-80;
ders., Art. Soziale Bewegungen, in: G. Enderle u.a. (Hg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 963-968.
schaftssystems durch ethische Impulse, die von sozialen Bewegungen
ausgehen, kritisch und sympathisch begleitet wird. “Wirtschaftsethik ist
innerer Bestandteil und Resultat gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse und Konflikte, die ganz erheblich von sozialen Bewegun153
gen reflektiert und getragen wurden.”
Die von Friedhelm Hengsbach vorgelegte Vermittlung von Ökonomik
und Ethik weigert sich, ökonomisches Handeln und ethisches Urteilen
oder Handeln gleichsam auf zwei verschiedene Welten zu verteilen.
Ethik ist nicht allein angesiedelt in einem ethisch bedeutsamen Ordnungsrahmen, der wiederum selber alles ökonomische Handeln innerhalb dieses Ordnungsrahmens ethisch entlastet, wie es bei Karl Homann
heißt. Die Orte und die Subjekte der Wirtschaftsethik rücken deswegen
154
in das Zentrum.
Friedhelm Hengsbach sieht in den sozialen Bewegungen Subjekte der
Wirtschaftsethik. Der herkömmliche wirtschaftsethische Diskurs betrachtet dagegen vornehmlich Unternehmensleitungen, Manager und unternehmerisch tätige Funktionsträger als wirtschaftsethisch relevante Subjekte, die kommunikative Prozesse oder Organisationsprozesse in Unternehmen initiieren oder eine corporate identity des Unternehmens verstärken. Es waren auch Unternehmensleitungen, die vor zwei bis drei
Jahrzehnten Ethik “entdeckten” und sich ethische Unternehmensrichtlinien (code of ethics oder code of conducts) gaben, in denen sie Werte
formulierten, die für das Unternehmen Geltung gegenüber Kapitalgebern,
Mitarbeitern, Kunden, allgemein gegenüber der Gesellschaft haben sollten. Betriebsräte, Vertrauensleute oder andere Organe der Betriebs- und
Unternehmensverfassung dagegen sind bezeichnenderweise keine Sub155
jekte von Wirtschaftsethik.
Die “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” hat demgegenüber einen
anderen sozialen Ort. Sie entsteht aus einer Betroffenheit über Ungerechtigkeiten, die als strukturell bedingt wahrgenommen werden. Mögliche Humanität wird vorenthalten, Lebenschancen werden ungleich verteilt. Gegen diese leidvollen Erfahrungen setzen sich Menschen zur
Wehr. Das Leiden an einer konkreten Lage bringt Leitbilder für eine an153
154
155
F. Hengsbach, Wirtschaftsethik, 168, vgl. auch 66f.
So F. Segbers, Die Praxis der Gewerkschaftsbewegung reflektieren. Zu einer Wirtschaftsethik
am Ort der Arbeit, in: kda. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt. Zeitschrift für evangelische
Arbeitnehmer, Bad Boll Nr. 1 / Februar 1990, 15f.
Vgl. dazu exemplarisch: J. Wieland, Die Ethik der Wirtschaft als Problem lokaler und konstitutioneller Gerechtigkeit, in: ders. (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt
1993, 7-31.; K.- W. Dahm, Management of Values. Ethikseminare für Führungskräfte, Teile IIII, Teile IV - V, in: Forum Wirtschaftsethik 1 (1993) 4-9; Forum 2 (1994) 3-11.; ders., Unternehmensbezogene Ethikvermittlung. Literaturbericht: Zur neueren Entwicklung der Wirtschaftsethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 33 (1989) 121-147.
69
dere Zukunft hervor. Gegen menschliche, soziale, ökonomische oder
ökologische Defizite setzt man sich zur Wehr und versucht, Schritt für
Schritt, das Bild einer besseren Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.
Dieses solidarische Handeln ist ethisch gehaltvoll und drängt politisch darauf, die als ungerecht erfahrenen Verhältnisse zu überwinden. Man gibt
sich deshalb nicht zufrieden mit der Rede von einer ethischen Qualität
einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die dann doch wieder wertneutrale
Steuerungsmittel zuläßt und das wirtschaftliche Geschehen nach ökonomischen Regeln ablaufen läßt. Die Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen verteilt die prozeßethische Verantwortung für eine Humanisierung des Kapitalismus auf zahlreiche kollektive Entscheidungsträger.
Weder Unternehmer noch Verbraucher noch Gewerkschaften sind in der
Lage, die wirtschaftsethisch gebotenen Reformen jeweils allein durchzuführen. Erst die Kooperation, aber auch der Konflikt der verschiedenen
wirtschaftsethisch relevanten Trägergruppen eröffnet die Chance, jene
Reformen in Angriff zu nehmen, die für mehr Humanität und Gerechtigkeit der Marktwirtschaft vonnöten sind.
Das Unbehagen nicht weniger Menschen an einer Wirtschaft ohne
Moral drückt sich in den Leitlinien aus, die Wirtschaften und Moral wieder
zusammenbringen wollen. Nicht einzelne, sondern ganze Gruppen,
Schichten oder Personenkreise sind von dieser Situation betroffen. Deren Unbehagen bündelt sich in kollektiven Trägern. Besonders sind dies
die sozialen Bewegungen, die auf soziale und ökologische Defizite und
auch auf die Grenzen der Marktwirtschaft verweisen. Diese sozialen Bewegungen sind von einem Ethos motiviert. Sie sind die verteilungskritischen Agenturen der Neuzeit, die in praktisch-politischen Auseinandersetzungen entscheidend dazu beigetragen haben, die jeweils herrschenden sozialen Ungleichheiten abzubauen und mehr Gerechtigkeit
schaffen. Geschichtlich ist auf den ethisch bedeutsamen und politisch
wirksamen Beitrag sozialer Bewegungen hinzuweisen, die den industriellen Kapitalismus umgebogen haben. Sie haben diesem in einem langen
geschichtlichen Prozeß, der noch immer andauert, Humanität und Gerechtigkeit abgerungen. Die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung
kämpfte und kämpft um humane Arbeitsbedingungen wie Achtstundentag, Koalitionsrecht, Arbeitsschutz. In diesen Kämpfen zeigt sich eine
Ethik der sozialen Gerechtigkeit. Der Frauenbewegung geht es zentral
um die Gleichberechtigung, sei es in der Gestalt der politischen Teilhabe,
des Zugangs zu Erwerbsberufen oder des gleichen Lohnes für gleiche
Arbeit. Eine Ethik der Partizipation und der gleichen Würde aller Menschen unabhängig vom Geschlecht kommt darin zum Ausdruck. Die
Friedensbewegung weigert sich, Rüstungsproduktion oder Waffenexport
um ökonomischer Interessen willen in Kauf zu nehmen. Eine Ethik des
70
Friedens zeigt sich hier. Die Suche nach einer Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, für die die Umweltbewegung steht, achtet auf die
Rechte der Schöpfung. Ihre Ethik ist eine Ethik der Schöpfung. Erst
durch diese Bewegungen kann Ethik politisch wirksam werden. Ethik
kommt nicht von außen und entsteht auch nicht abseits sozialer oder
ökologischer Defizite. Sie hat ihren Ursprung in eben diesen Schieflagen,
und sie hat ihren Ort in den Bewegungen. Deshalb hat Ethik vor allem ihren Ort bei denen, die “hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit” (Mt
5,6).
71
72
ZWEITER TEIL
WIRTSCHAFTSETHIK DER BIBEL:
WIRTSCHAFTEN AUS DER LOGIK DER HUMANITÄT
73
3. WIRTSCHAFTSETHIK AUS DER OPTION
FÜR DIE ARMEN
3.1 Diskursethische Begründung von Wirtschaftsethik
Drei unterschiedliche Diskurse sind im Verfahren der wirtschaftsethischen Urteilsbildung zu unterscheiden. Im Begründungsdiskurs werden
die spezifischen ethischen Orientierungen begründet. Im Anwendungsdiskurs werden die normativen Vorgaben mit anderen Logiken konfrontiert. Dabei ist die aus den christlichen Normen entwickelte Entscheidungslogik als eine unter anderen zu verstehen. Normenkollisionen und
Normenkonflikte sind bei dieser Pluralität von Normen deshalb prinzipiell
gegeben und auch als Teil einer demokratischen Kultur zu betrachten.
Biblisch und sozialethisch begründete Normen und Werte können den
spezifischen Beitrag theologischer Ethik im Diskurs in einer pluralistischen Gesellschaft beschreiben. Im Anwendungsdiskurs werden die begründeten Normen kontextualisiert. In einem dritten Diskurs muß nach
156
der Gültigkeit der Normen in konkreten Situationen gefragt werden.
Der Begründungsdiskurs soll das Ethos, das sich in der Tora niedergeschlagen hat, darlegen, reflektieren und entfalten (Abschnitt. 3-6). Der
Anwendungsdiskurs eruiert die in der Marktwirtschaft impliziten Normen
(Abschnitt. 8), die nach ihrer Gültigkeit befragt werden (Abschnitt 9 und
10).
In seiner Wirtschaftsethik entfaltet Yorick Spiegel einen Ansatz ethischer Urteilsbildung, der theologische Traditionen, ethische Einsichten
und den spezifisch christlichen Beitrag berücksichtigen will. Weil es keine
ethische Tradition, aber auch keine allein aus der Vernunft heraus zu begründende Ethik mit einem Absolutheitsanspruch geben kann, muß jede
ethische Urteilsbildung drei Kriterien erfüllen:
156
74
Mit diesem Verfahren orientiere ich mich modifiziert an: J. Wieland, “Option für die Armen?”,
Grenzübergänge der Sozialethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 62ff.
- Die Aussagen einer Ethik müssen einsichtig sein;
- eine Ethik muß dialogfähig mit anderen ethischen Ansätzen sein und
auf diese anderen Ansätze eingehen;
- eine Ethik muß in der Lage sein, Anfragen anderer Ansätze zu überprü157
fen oder aber zu integrieren.
Kurz nach der Wende hat das Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes in der DDR 1990 einen Weg ethischer Argumentation vorgeschlagen, der sowohl dem universalen Ansatz ethischer Argumentation
gerecht werden als auch einen spezifisch christlichen Beitrag leisten will:
“Die Auffassung christlicher Ethik kann sich nur als eine von mehreren
Perspektiven verstehen und wird den Dialog suchen, statt rigoristische
Forderungen zu stellen. Der Dialog setzt Lernfähigkeit bei sich selber voraus und traut sie auch den anderen zu. Der Dialog sucht Verständigung
über gemeinsame Werte, Wege und Ziele. Er appelliert an Vernunft,
welche nicht eine urgeschichtlich gegebene und bloß abrufbare Größe
darstellt, sondern stets im Vernehmen des hier und heute Menschlichen
158
und Sachlichen Gestalt gewinnt.”
Christliche Ethik erhebt einen doppelten Anspruch: Zum einen ist sie
eine Orientierung für Christen, zum anderen ein Beitrag in einem umfassenderen öffentlichen Diskurs. Christliche Ethik wird zunächst Christen
bei ihrer theologisch-ethischen Handlungsorientierung unterstützen, ohne
immer zugleich schon an eine Kommunikabilität gegenüber Nichtchristen
zu denken. Sie hat aber auch einen öffentlichen Anspruch, der sie
kommunikabel mit der Gesellschaft machen muß und davor bewahrt, nur
eine christliche Binnenmoral zu sein. Das Wirtschafts- und Sozialwort der
Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1997) ist ein
herausragendes Beispiel für einen solchen gesellschaftlichen Diskurs,
der Gründe für Solidarität und Gerechtigkeit argumentativ einbringen und
gesellschaftlich plausibel machen kann, aber auch eine ethische Orientierung für Christen bieten will. Das theologische Argument beansprucht
dann keine Allgemeinverbindlichkeit, ist aber argumentativ so darzulegen, daß es der Verständigung in der Gesellschaft über das, was gelten
soll, dienlich sein kann. Wie läßt sich ein moralisch begründeter und gesellschaftlich bedeutsamer Konsens herstellen, den gerade eine Gesellschaft braucht, die im Zuge ihrer Pluralisierung Traditionen verloren hat,
die von allen geteilt werden?
Die formalistisch-prozedurale Rationalität argumentierender Vernunft,
wie sie sich im Konzept der Diskursethik begründet, gilt es für jene ethi157
158
Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsspraxis, 17f.
Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes in der DDR. Verantwortlich wirtschaften. Studien zu Fragen christlicher Wirtschaftsethik, 1990 (Manuskript).
75
schen Einsichten zu öffnen, die sich in biblischen Traditionen niedergeschlagen haben. Diese Traditionen biblischen Argumentierens sind gesättigt mit der Erinnerung an den befreienden Gott. Biblisch-ethische Rationalität und die Rationalität argumentierender Vernunft brauchen in keiner Weise in einen Streit um den jeweiligen Anspruch auf Überlegenheit
einzutreten. In pluralistischen Gesellschaften können zwar religiös vermittelte ethische Einsichten oder Geltungsansprüche nicht mehr mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Universale Verbindlichkeit wird ethisches Argumentieren, das sich biblisch fundiert, dennoch reklamieren
können, wenn es gelingt, bibeltheologisch begründete ethische Optionen
auch durch rationale Argumente plausibel zu machen. Diskursethisches
Argumentieren beschränkt sich auf ein Verfahren zur Findung allgemeinverbindlicher Normen und nimmt nicht das Gute, sondern nur das Gerechte als Verfahrensgerechtigkeit in den Blick. Die diskursethische Argumentation kann deshalb auch nicht die Beiträge biblischer Einsichten,
die nicht in dieser formalistischen Weise um gehaltvolle Visionen des guten Lebens kreisen, abrufen. Deshalb fragt Jürgen Habermas auch, ob
“denn von den religiösen Wahrheiten, nachdem die religiösen Weltbilder
zerfallen sind, nicht mehr und nicht anderes als nur die profanen Grundsätze einer universalistischen Verantwortungsethik gerettet - und d.h.:
159
mit guten Gründen, aus Einsicht, übernommen werden können:”
Jürgen Habermas gesteht gerade in Rahmen seines diskursethischen
Ansatzes einem biblisch-ethischen Argumentieren eine spezifische Rolle
zu. Biblisch begründetes ethisches Argumentieren wird nach Habermas
auf die Kirche als “eine von mehreren Interpretationsgemeinschaften”
verweisen und theologisch-sozialethisches Argumentieren so darlegen
müssen, daß “ihre Konzeptionen des Heils, ihre Visionen eines nichtverfehlten Lebens” öffentlich zur Sprache gebracht werden und mit anderen Entwürfen “um die überzeugendste Interpretation von Gerechtigkeit,
160
Solidarität und der Errettung aus Not und Erniedrigung” streiten.
Christliche Ethik wird sich deshalb als eine unter mehreren Perspektiven
verstehen und sich in einen Dialog einbringen müssen. Ein von religiösen
Traditionen bestimmtes Reden kann “inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führen, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in be161
gründete Diskurse noch harren:”
Habermas bezieht diese Gehalte auf
Begriffe wie Freiheit, Humanität, Gerechtigkeit oder Moralität, die wir
nicht “ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsge159
160
161
76
J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften, Bd. V., 3. Aufl. Frankfurt 1986, 52.
J. Habermas, Israel und Athen, in: Orientierung 57 (1993) 243.
J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 2. Aufl. Frankfurt 1988, 60.
162
schichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen:”
Die
Erinnerung der Religion enthält ein Wissen über gelungenes und gerechtes Leben, das zu einer Praxis der Solidarität zu motivieren vermag. Bemerkenswert sind diese Argumentationen von Jürgen Habermas, weil er
die theologische Ethik daran erinnert, nicht in einem Diskurskonzept auf163
zugehen. Gerade für die “Rettung des Humanen” hätten die Religionen
ein semantisches Potential. Die Diskursethik vermag zu erklären, warum
es gut sei für eine Gesellschaft, sich an diese oder jene Regel zu halten.
Aber warum sich jemand an diese Regel halten soll, das kann eine Diskursethik nicht begründen. Angesichts der Trennung von Gerechtem und
Gutem, die Jürgen Habermas ebenso wie den prinzipiellen Vorrang des
prozedural Gerechten vor dem substantiell Guten beibehält, kommt dem
religiösen Diskurs eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für eine humane und solidarische Gesellschaft zu. Diskursethik allein wird nämlich
Humanität und Solidarität für das Zusammenleben in einer Gesellschaft
nicht garantieren können.
3.2 Der spezifische Beitrag bibeltheologischer Aspekte
im wirtschaftsethischen Diskurs
In der Diskursethik und der Ethik der Befreiung geht es mit den Fragen
der Kontextualität oder Universalität der Vernunft immer auch um Begründungsfragen ethischen Handelns. Der lateinamerikanische Philosoph Enrique Dussel hat einen Entwurf einer universalen Ethik vorgelegt,
der einen interessanten und weiterführenden Beitrag zur Grundlegung
einer theologischen Sozial- und Wirtschaftsethik leisten kann. Auch wenn
dieser Ansatz sprachlich und begrifflich sehr deutlich vom politischen,
ökonomischen und theologischen Kontext Lateinamerikas geprägt ist,
kann er mit seinen theoretischen wie methodologischen Neuansätzen
doch auch einen wichtigen Anstoß zu einer europäischen Ethikdiskussi164
on geben.
Er relativiert nämlich die Perspektiven des europäischen
162
163
164
Ebd. 23.
J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, erw. Ausgabe Frankfurt 1987, 390.
A. Lienkamp, Die Herausforderung des Denkens durch den Schrei der Armen. E. Dussels Entwurf einer Ethik der Befreiung, in: F. Hengsbach u.a. (Hg.), Jenseits Katholischer Soziallehre.
Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik, Düsseldorf 1993, 191-215; H. Schelkshorn,
Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik. Zwei Varianten universalistischer
Ethik, in: W. Lesch, A. Bondolfi (Hg.), Theologische Ethik im Diskurs. Eine Einführung, Tübingen 1995, 237-255; H. Schelkshorn, Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie E.
Dussels, Wien 1992; vgl. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, Berlin 1989; ders., Ethik der
Gemeinschaft, Düsseldorf 1989; ders., Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen
“Vielheit” der Moralen legitimieren? In: Concilium 17 (1981) 807-813; ders., Theologie und
Wirtschaft. Das theologische Paradigma des kommunikativen Handelns und das Paradigma der
Lebensgemeinschaft als Befreiungstheologie, in: R. Fornet-Betancourt, Verändert der Glaube
77
Ethikdiskurses und vermag gerade dadurch den Blick für einen anderen
Begriff von Universalität zu öffnen.
Wie die Diskursethik will auch die lateinamerikanische Befreiungsethik
eine Rekonstruktion und Begründung universalistischer Moral vorlegen.
Dieses gemeinsame Anliegen macht ein Gespräch zwischen beiden
Ethiken reizvoll. Die gemeinsamen soziohistorischen Wurzeln beider
Ethikentwürfe liegen zudem in einer Zeit, die von einem moralischen Pathos geprägt war, das im gegenwärtigen postmodernen Klima zwar
merkwürdig deplaziert anmutet, jedoch geschichtlich keineswegs erledigt
165
ist. In der Diskursethik und in der Ethik der Befreiung geht es bei den
Fragen der Kontextualität oder Universalität der Vernunft immer auch um
Begründung und Praxis ethischen Handelns. Die Befreiungsethik formuliert kritische Einwände sowohl gegenüber der europäischen Diskursethik
als auch gegenüber den nordamerikanischen Positionen des Kommuni166
tarismus. Es kann hier nicht darum gehen, die Debatte und die in ihr
entstandenen Positionen nachzuzeichnen. Die Kolloquien zwischen Ver167
tretern der Diskursethik und der Befreiungsethik sind dokumentiert. In
diesen Kolloquien ist überzeugend herausgearbeitet worden, daß es eine
befreiungsethisch ergänzte Diskursethik bzw. eine diskursethisch korrigierte Befreiungsethik ohne Veränderung ihrer jeweiligen Rationalitätsmodelle nicht geben kann. Beide Ethiken haben einen verschiedenen
Ausgangspunkt. Der hermeneutische Ausgangspunkt der Befreiungsethik bei den Betroffenen, Beherrschten und Ausgeschlossenen liegt
jenseits der Kommunikationsgemeinschaft, die ihrerseits Ausgangspunkt
des Diskursethik ist. Die Befreiungsethik artikuliert einen spezifischen
Rationalitätstypus und dringt auf eine unabdingbare “Option für die Vernunft” und zwar auf eine Vernunft, zu der gerade die Diskursethik keinen
168
Zugang hat.
Dussel will mit seiner Befreiungsethik zu einer biblisch inspirierten Begründung von christlicher Gesellschaftsethik beitragen. Immer wieder
greift er argumentativ auf biblische Traditionen zurück. Dieses Anliegen
läßt nach den Möglichkeiten einer Rezeption des Ansatzes für die bibli-
165
166
167
168
78
die Wirtschaft? Theologie und Ökonomie in Lateinamerika, Freiburg 1991, 39-57; ders., Ethik
der Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug der “ursprünglichen ethischen Vernunft”, in:
R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen
Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, 83-110.
H. Schelkshorn, Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik, 237.
E. Dussel, Ethik der Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug der “ursprünglichen ethischen Vernunft”, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz? 83.
R. Fornet-Betancourt (Hg.), Ethik der Befreiung, Aachen 1990; ders. (Hg.), Diskursethik oder
Befreiungsethik? Aachen 1992; ders.(Hg.), Die Diskursethik und ihre lateinamerikanische Kritik, Aachen 1993; ders. (Hg,), Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994.
R. Fornet-Betancourt (Hg,), Konvergenz oder Divergenz? Einführung, 10f.
sche Begründung einer theologischen Wirtschaftsethik fragen: Läßt sich
dieser Ethikentwurf auch für die Konzeption einer theologischen Wirtschaftsethik fruchtbar machen? Was bedeutet der universalistische Ansatz der Befreiungsethik für hermeneutische Fragen, die sich für den
Rückbezug auf biblische Schriften stellen, die aus einer anderen Zeit,
Gesellschaft, Ökonomie und Kultur stammen?
79
3.2.1 Hermeneutischer Ausgangspunkt: Der Arme
Während die Diskursethik eine Universalität der Ethik in einem Apriori
der Kommunikationsgemeinschaft zu begründen sucht, stellt Enrique
169
Dussel dieses Apriori grundsätzlich in Frage. Er geht davon aus, daß
eine ideale Kommunikationsgemeinschaft eine Fiktion sei, da sie eine offene Gesellschaft unterstelle, zu der alle gleichen Zugang hätten. Dussel
fragt nach der hermeneutischen Relevanz derer, die nicht Teilnehmer
dieser diskursethisch unterstellten Kommunikationsgemeinschaft sind.
Der “Andere”, der Beherrschte, der Ausgeschlossene wird deshalb bei
Enrique Dussel zu einem hermeneutischen Ansatzpunkt. Dieser Andere
nimmt nicht an der Kommunikationsgemeinschaft teil und transzendiert
sie deshalb auch. Dieser Andere ist der im System unbeachtete Arme. In
jedem Gesellschaftssystem gibt es einen, der als ein Anderer negiert
wird. Enrique Dussel universalisiert den Anderen zu einer “Alterität aller
170
möglichen Systeme” . Darin besteht auch der entscheidende kritische
Einwand gegenüber einer ontologischen Ethik: “In jeder „Lebenswelt‟ gibt
es notwendigerweise immer einen Anderen, der unterdrückt und negiert
171
wird.”
Dieser Andere wird a priori negiert. Er offenbart nicht nur die
Schwäche einer als ideal unterstellten Kommunikationsgemeinschaft, an
der er per definitionem nicht teilnimmt, er legt auch die Situationen und
Bedingungen offen, die ihn zum Anderen machen und dazu führen, daß
er ausgeschlossen ist. “Er ist derjenige, der am Rande der Straße, außerhalb des Systems, sein leidendes und deshalb herausforderndes Ge172
sicht zeigt: „Ich habe Hunger! Ich habe ein Recht zu essen!‟” Auf welches Recht aber bezieht sich der Arme, daß er das Recht zu essen einfordern kann? Wie läßt sich diese Forderung begründen?
Der Arme bricht mit seiner Forderung in die reale Kommunikationsgemeinschaft ein und sucht nicht einen Diskurs im Rahmen dieser
Kommunikationsgemeinschaft, sondern bezieht sein Recht aus etwas,
das der Kommunikationsgemeinschaft vorausliegt. Die Existenz der Armen ist das Urteil über den Zustand einer Gesellschaft, die Armut und
Arme hervorbringt. Die Armen stellen deshalb die Gerechtigkeitsfrage.
“Der Andere, der Arme in seiner extremen Exteriorität dem System gegenüber, ruft nach Gerechtigkeit - d.h., er ruft nach einem außerhalb lie173
genden Ort.”
Eine universalistische Ethik, die in der Lage ist, eine
Kommunikations- und Lebensgemeinschaft zu konstruieren, die real und
169
170
171
172
173
80
Vgl. dazu beispielsweise K.-O. Apel, Transformation der Philosophie. Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt 1973.
E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 57.
E. Dussel, Ethik der Befreiung, 85.
E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 57.
Ebd. 58.
konkret erst allen Teilhabe verschaffen kann, entsteht durch eine Praxis
der Gerechtigkeit und Solidarität.
3.2.2 Der kategorische Imperativ: Das Recht der Armen
Enrique Dussel erweitert die diskursethische Kommunikationsgemeinschaft, indem er jene Stimme, “die von außerhalb her, von jenseits des
174
Horizonts des Systems”
kommt, einbezieht: Das ist die Stimme des
Armen, “der aufgrund seines absoluten und heiligen Rechtes als Person
175
nach Gerechtigkeit schreit” . Das Personenrecht eines jeden Menschen begründet Gerechtigkeit für einen jeden Menschen. Der Andere,
dem dieses Personenrecht auf Gerechtigkeit vorenthalten wird, wird so
zu einem hermeneutischen Ort, von dem aus das Ganze interpretiert
werden kann. “Der gerechte Protest des Anderen darf die moralischen
Prinzipien des Systems in Frage stellen. Nur der, der ein ethisches Gewissen hat, kann diese Infragestellung vom Standpunkt eines absoluten
Kriteriums aus akzeptieren: der Andere als der Andere in Gerechtig176
keit.” Dieser hermeneutische Ansatz ist “in Wirklichkeit die ursprünglich-fundamentale ethische Frage nach der dem Anderen geschuldeten
177
Gerechtigkeit.”
Wie aber läßt sich eine universale Ethik formulieren, die diesen Ruf
des Anderen nach Gerechtigkeit aufnimmt? Gibt es ein oberstes, absolutes ethisches Prinzip, aus dem sich Kriterien und Normen für eine ethische Praxis ableiten lassen? “Welches ist das absolute Kriterium zur Be178
gründung einer für jede beliebige moralische Situation gültigen Ethik?”
Um diese Fragen zu beantworten, führt Enrique Dussel eine Unterscheidung zwischen dem “Prinzip Babylon” und dem “Prinzip Jerusalem” ein.
Der herrschenden Gesellschaftsmoral, dem “Prinzip Babylon”, in dem
Recht und Gerechtigkeit zu kurz kommen, steht eine Ethik der Gemein179
schaft, das “Prinzip Jerusalem”, gegenüber.
Mit dieser Unterscheidung zwischen einem “Prinzip Babylon” und einem “Prinzip Jerusalem” ist zugleich typologisch eine notwendige Differenzierung zwischen Moral und Ethik ausgedrückt, nach der die Ethik die
Ebene der für jeden Menschen in jeder geschichtlichen Situation gültigen
praktischen Forderungen bezeichnet, während die Moral auf die konkrete
Ebene in einem geschichtlichen Kontext beschränkt ist. Jedes geschicht174
175
176
177
178
179
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 47.
Ebd. 47.
E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 75.
R. Fornet-Betancourt, Einleitung, in: E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 7.
E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 810. Als Beispiel einer Ethik der Lebensgemeinschaft nennt Enrique Dussel die Lebensgemeinschaft in Apg 2,42-46. So: E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 16-26.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 39f., 60f.
81
liche, ökonomische und gesellschaftliche System betrachtet seine Praktiken allerdings selber immer als gut. Gibt es aber ein Kriterium, das diese
selbst zugesprochene “Gutheit” der Praktiken in einem bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystem von einem universal geltenden Maßstab aus kritisch beurteilen kann? Gibt es also ein absolutes Prinzip, welches das gesellschaftlich und geschichtlich Vorhandene relativieren
kann?
Enrique Dussel sieht dieses universale Prinzip, das überall, zu allen
Zeiten und allerorten Geltung hat, in der moralischen Substanz, die in der
Würde des Menschen besteht, die jedoch überall dort verletzt wird, wo
Menschen Recht und Gerechtigkeit vorenthalten wird. Diese entwürdigende Situation zu überwinden, ist der kategorische Imperativ, der universal gilt. Dieses Kriterium der praktischen Vernunft, das Enrique Dus180
sel “das rationale kritische Kriterium schlechthin” nennt, ist der katego181
rische Imperativ: “Befreie den Armen!” oder: “Befreie die unwürdig be182
handelte Person im unterdrückten Anderen!” Der kategorische Imperativ relativiert die geltende Moralität und fungiert wie eine regulative Idee,
die jedes geschichtlich konkrete Gesellschafts- und Moralsystem einer
kritischen Prüfung unterziehen kann. “Das absolute Prinzip ist die Achtung der Würde oder der Heiligkeit der menschlichen Person, und zwar
183
überall und jederzeit.”
Dieser ethische Imperativ ist “transmoralisch,
184
systemübergreifend” . Die Universalität der Menschenwürde wird nicht
durch den normativen Horizont der diskursethisch unterstellten Kommunikationsgemeinschaft begründet. Enrique Dussel lenkt vielmehr den
Blick auf die Opfer, die es in jedem gesellschaftlichen und ökonomischen
System gibt.
3.2.3 Das absolute und das konkrete Kriterium der Ethik
Dussel nimmt eine strikte Unterscheidung zwischen Moral und Ethik vor;
Ethik wird als Gegenentwurf zur Moral definiert. Jedes gesellschaftliche
System hat seine Moral, welche die eigenen Verhältnisse für gut hält.
Deshalb gibt es beispielsweise eine römische, ägyptische, babylonische,
kapitalistische oder sozialistische Moral. Jedes Handeln, das in Überein180
181
182
183
184
82
E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 64, 83; E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811.
E. Dussel, Ethik der Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug der “ursprünglichen ethischen Vernunft”, 86.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 83.
E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811.
stimmung mit dem geltenden System erfolgt, kann zwar als moralisch gut
gelten, wird jedoch relativiert durch das Kriterium der universalen Ethik,
wie es sich im kategorischen Imperativ ausdrückt. “Das Ethische übersteigt das System, richtet sich nicht nach den Normen, die das geltende
System als gut ansieht. Das Ethische transzendiert so die Moral. (...) Es
gibt jedoch nur eine Ethik, und die ist absolut: Sie gilt in jeder Situation
185
und für alle Zeiten.” Es gibt ein biblisches Muster, das den Unterschied
zwischen Ethik und Moral zeigen kann. Die biblischen Propheten stellten
das herrschende Verständnis von dem in Frage, was in einer bestimmten
Konstellation der Gesellschaft als gut galt. Gesellschaftlich gesehen waren die Propheten der Bibel mit ihrer Kritik an den Verhältnissen “illegal”.
Sie stellten in Frage, was die Herrschenden als “gut” und “moralisch” le186
gitimiert ansahen.
Worin der Unterschied zwischen Ethik und Moral
besteht, erläutert Enrique Dussel: “Die ethischen Forderungen sind moralische Gegen-Forderungen. Wenn die Moral besagt: “Respektiere den
Lehensherrn!”, dann gebietet die Ethik: “Respektiere den Leibeige187
nen!”
Nicht die Moral der Gesellschaft, sondern die Ethik lasse nach
einer Gerechtigkeit für den Leibeigenen fragen. Diese Ethik der Befreiung verbindet Universalität und Parteilichkeit, indem sie material nach
der Gerechtigkeit fragt.
Dieser Ausgangspunkt qualifiziert nicht nur ethisch die biblisch gut begründete Option für die Armen, sondern auch Perspektive, erkenntnisleitendes Interesse, Themenwahl und Problemstellung der ethisch zu behandelnden Probleme, in denen sich das ethische Grundprinzip trotz seiner Absolutheit konkret und nicht nur abstrakt entfalten muß. “Das Prinzip ist konkret und geschichtlich, deshalb heißt es, immer wieder diese
„neuen‟ Armen hier und jetzt zu entdecken. Deswegen ist das Prinzip
“Befreie den Armen!” ein absolutes (und keine relatives) Prinzip, aber ein
konkretes (kein universales von einer Universalität, die in Wirklichkeit
188
Partikularität ist, welche sich Universalität anmaßt).” Bei diesem Übergang vom Abstrakten zum Konkreten wird die bleibende Materialität des
ethischen Prinzips als Praxis solidarischer Gerechtigkeit entfaltet.
Der kategorische Imperativ will die Achtung der Menschenwürde eines
jeden und ist deshalb kontextuell-konkret und zugleich universalistisch.
“Es ist reiner Zufall, ob jemand als Kind eines Millionärs in New York
oder eines Bettlers in New Delhi zur Welt kommt. Aus theologischer
Sicht gibt es die Forderung, daß dieser historische „Anfangsunterschied‟
später aufgehoben werden muß. Der Zufall rechtfertigt nicht, daß die Un185
186
187
188
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 59.
Ebd. 77-86.
Ebd. 110.
Ebd. 86f.
83
189
terschiede ethischerweise aufrechterhalten werden müssen.”
Dieses
absolute Kriterium der Menschenwürde eines jeden drängt auf eine Praxis, die konkret zur Überwindung von Unrecht und Ungerechtigkeit beiträgt.
Die einzelnen Momente einer Praxis der Überwindung von Unrecht
und Ungerechtigkeit liest Enrique Dussel auf der Folie des biblischen
Exodus. Der historische Exodus des Auszugs aus Ägypten wird zum
exemplarischen Bruch mit einer ägyptischen Moral, die Unrecht und Ungerechtigkeit legitimiert. Die Anderen (die Hebräer) brechen in das ägyptische System von außen her ein. Die ägyptische Moral wird durch eine
Ethik relativiert, die dem kategorischen Imperativ “Befreie die Armen!”
Gestalt geben will. Dieser hermeneutische Ansatz will deshalb nicht allein
auf seine theoretische Konsistenz hin geprüft sein, sondern verweist auf
ein Praxiskriterium, nämlich die Überwindung einer als ungerecht beurteilten Situation.
Der kategorische Imperativ “Befreie die Armen!” kann als konkretes
und zugleich absolutes Kriterium für jede beliebige Situation gelten, das
die Moral einer jeden Gesellschaft relativiert. Die Not und die erfahrene
Ungerechtigkeit der Opfer ist intrakulturell und interkulturell jener universale Ansatz, der ein Kriterium für ein soziales, gesellschaftliches oder
ökonomisches System abgeben kann. Dieser universalistische Ansatz
erlaubt es deshalb auch, nach der Relevanz biblischer Traditionen für
gegenwärtige Fragestellungen so zu fragen, daß auf dem Hintergrund
der Unterscheidung zwischen Moral und Ethik zugleich eine Unterscheidung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten der Ethik getroffen
werden kann. “Es ist nicht dieser oder jener Typ von Armen, sondern der
Arme als solcher: Es geht hier um eine absolute Forderung und nicht um
eine, die zu diesem oder jenem geschichtlichen Moralsystem relativ wä190
re.” Gerechtigkeit ist eine ethische Forderung, “die in jedem System
191
und in allen Zeiten” gilt.
Zur Begründung seiner universalen Ethik verweist Enrique Dussel auf
die ethisch-ökonomischen Kriterien, die bereits in frühen Kulturen den
Maßstab abgaben. Er nennt dabei Gewährsleute aus dem babylonischen
und ägyptischen Kulturraum. Seine Typologie “Prinzip Babylon” meint
das Großreich Babylon mit seiner unterdrückenden Herrschaft. Sehr alte
Gesetzessammlungen sprechen sich zugunsten der Armen aus und
wenden sich ausdrücklich an die Ausgeschlossenen in der Gesell-
189
190
191
84
E. Dussel, Theologie und Wirtschaft. Das theologische Paradigma des kommunikativen Handelns und das Paradigma der Lebensgemeinschaft als Befreiungstheologie, 52.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 110.
Ebd. 108.
192
schaft. Der babylonische Kodex Hammurapi wendet sich an den unterdrückten Menschen: “Damit der Starke den Schwachen nicht unterdrü193
cke, um den Witwen und Waisen in Babylon Recht zu schaffen.” Den
Hungrigen Brot zu geben, Wasser den Dürstenden, Kleider den Nackten
194
ist ein fester Topos der Idealbiographien alt-ägyptischen Kultur.
Seit
den frühesten Kulturen in der ägyptisch-mesopotamischen Welt gibt es
also eine Orientierung an dem, was Dussel den kategorischen Imperativ
“Befreie den Armen!” nennt. Diese Kulturen und Religionen kannten bereits aus diesem kategorischen Imperativ resultierende Prinzipien einer
Ethik, aus der die Tora, die Propheten Israels und mit ihnen auch Jesus
195
von Nazaret geschöpft haben und die auch heute noch gültig sind.
Der abstrakte kategorische Imperativ will in der konkreten Person des
Armen konkret werden, wie es ihn in allen Kulturen und Gesellschaften
gab und gibt. “Jedermann weiß in jeder konkreten Situation, wer arm und
unterdrückt ist, wer weniger Möglichkeiten, Güter, Werte und Rechte be196
sitzt.”
Der kategorische Imperativ ist deswegen keineswegs abstrakt
197
oder konturlos; er hat einen “materialen Inhalt” . E. Dussel erläutert am
Beispiel des biblischen Erlaßjahres, worin der materiale Gehalt des kategorischen Imperativs bestehen kann. “Die Armen werden niemals ganz
aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du
sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt,
deine Hand öffnen” (Dtn 15,11). Ethische Normen wie diese sind “absolute ethische Forderungen, die für alle Menschen und in allen relativen moralischen Systemen gültig sind ... Die moralischen Forderungen sind empirisch, geschichtlich, relativ und systembezogen, die ethischen Forde192
193
194
195
196
197
So ließ der König von Lagash, Uruinimgina (2352-2343 v.Chr.), in seiner Gesetzesreform erklären: “Er befreite und erließ die Schulden für jene verschuldeten Familien (...), die als Schuldner
lebten. Er versprach Ningirsu feierlich, daß er den Waisen und die Witwen dem Unterdrücker
niemals ausliefern würde.” F. Lara Peinado (Hg.), Los primeros códigos de la humanidad, Madrid 1994, 24-25, zit. in: E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive der Theologie der
Befreiung, in: Concilium 33 (1997), 217.
Zit. in: E. Dussel, Ethik der Befreiung, 86; vgl. auch E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testamentes, 87. Ähnlich das ägyptische Totenbuch aus der Zeit vor bis zu 5000 Jahren mit seinen
ethisch-ökonomischen Kriterien: “Ich mache nicht elend. (...) Ich lege nichts auf die Waagschale (um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen) und störe nicht das Gewicht der Waage. (...) Ich
wehrte nicht das Wasser zu seiner Zeit. Ich dämmte es nicht ein bei seinem Strömen. (...) Ich
raubte keine Nahrung, (...) ich (gab) Brot dem Hungrigen, (...) Wasser dem Dürstenden, Kleidung dem Nackten, eine Fähre dem, der keine hatte.” Das große ägyptische Totenbuch. Schriften des österreichischen Kulturinstituts Kairo, Kairo 1969, Bd. I., Abschnitt 125, 32-36. zit. in:
E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive, 217.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 133f.
E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive, 217.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 85.
E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811.
85
rungen dagegen transzendent, absolut und dennoch konkret (nicht uni198
versal).” Zwar läßt sich die inhaltlich-materiale Füllung dieses Imperativs nicht ein für allemal für alle Gesellschaften festschreiben. “In jeder
199
neuen Situation können sie einen neuen Inhalt bekommen.” Doch von
entscheidender Bedeutung ist, daß diese jeweils neuen Inhalte keineswegs geschichtlich oder gesellschaftlich relativ oder beliebig sind, sondern einen materialen Inhalt haben.
Die Formulierung des kategorischen Imperativs in den ethischen Forderungen der Tora beispielsweise darf also nicht dogmatisiert werden,
sondern muß für eine konkrete Kontextualisierung offen bleiben, wobei
ihre Ethik als Regulativ für konkrete Inhalte zu verstehen ist. “Es handelt
sich darum, dem Hungernden Essen, dem Nackten Kleidung, dem
Fremden Wohnung zu geben. Es ist eine produktive (ein Produkt für den
Konsum hergeben: Brot), eine praktische (im Hinblick auf den anderen),
eine ökonomische Forderung (hinsichtlich der geschichtlichen Strukturen
der Unterdrückungssysteme, denen eine Absage erteilt ist, und der uto200
pischen Strukturen, die es aufzubauen gilt).” Dussel versteht eine “gerechte Wirtschaft als totale Summe der Artefakte, die durch die menschliche Arbeit produziert und nach dem Kriterium der Gleichheit unter dem
201
Volk verteilt werden” . Inhaltlich-material besteht die Verschränkung
von Konkretem und Absolutem darin: “dem Hungernden und dem Armen
Brot geben, sich für die Schutzlosen und Witwen, die Einsamen und
202
Waisen einzusetzen” . Die eine Ethik ist sowohl universal wie konkret:
“Dieser Arme ist anders als jeder andere Arme (denn der Leibeigene ist
203
kein Lohnarbeiter).” Auch wenn es heute keine Leibeigenen mehr gibt,
so dennoch weiterhin Arme. Die Lage der Lohnarbeiter ist durch Abhängigkeit charakterisiert. Diese abhängige Existenz aufzuheben, konkretisiert den kategorischen Imperativ. Dussel folgert aus dem kategorischen
Imperativ geschichtlich konkrete Normen. Aus dem gemeinschaftsethischen Prinzip der absoluten Achtung der Würde der menschlichen Per204
son, dem Recht auf Leben folgt beispielsweise ein “Recht auf Arbeit” .
Denn erst durch dieses Recht auf Arbeit kann sich derjenige, der zum
Erhalt des Lebens auf Arbeit angewiesen ist, die zum Leben notwendigen Güter besorgen. Diese sind aber nicht nur materiell zu verstehen. Zu
den unveräußerlichen Rechten gehören auch kulturelle Güter wie Bil198
199
200
201
202
203
204
86
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 108.
Ebd. 84.
E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811.
E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 120.
Ebd. 120.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 113.
Ebd. 83f.
dung, Kunst, Demokratie. Die Erfordernisse und konkreten Inhalte der
Ethik sind nicht ein für allemal festzulegen, sondern müssen in konkreten
geschichtlichen Kontexten neuen Inhalt bekommen.
3.2.4 Der kategorische Imperativ wirtschaftsethisch übersetzt
Diese Argumentation zeigt, daß zwar begrifflich die Philosophie der Befreiung kontextgebunden ist. Doch dies eröffnet umgekehrt die Chance,
die Kontextgebundenheit der eigenen ethischen Kommunikation wahrzu205
nehmen. Die geradezu idealisierende Rede von den Armen kann gewiß nicht einfach übertragen werden, aber Enrique Dussel zeigt, daß seinem Denken eine Hermeneutik zugrunde liegt, welche die biblisch begründete Option für die Armen als Ausgangspunkt hat. Konsequent will
er diesen Blickwinkel einer Option für die Armen entfalten und für die
Hermeneutik fruchtbar machen. Der Arme ist in der Hermeneutik Dussels eben nicht abstrakt, sondern in jedem System anzutreffen. Zu fragen ist, wer unter den Bedingungen entwickelter Industrieländer jene
konkreten Armen sind, die Dussel als hermeneutischen Ausgangspunkt
versteht. Wer ist dieser Andere und Arme für den europäischen Kontext?
Auch wenn die Kategorien von Unterdrücker/ Unterdrückter jedenfalls für
mitteleuropäische Verhältnisse nicht brauchbar sind, bleibt die Frage
nach dem, der aus der Kommunikationsgemeinschaft ausgeschlossen
ist, bestehen.
In dieser Ausrichtung auf eine solidarische Praxis der Gerechtigkeit,
die Ungerechtigkeit überwindet, ist der eigentlich inspirierende und provozierende Ansatz der Befreiungsethik für eine Wirtschaftsethik im Kontext Europas zu sehen. Der Einspruch des Anderen kann zur Sprache
kommen im Einspruch zukünftiger Generationen gegen die ökologische
Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, im Einspruch der Peripherie gegen
einen eurozentrisch dominierten Globalismus, der sich als Globalisierung
ausgibt, im Einspruch der von Arbeit Ausgeschlossenen gegen ökonomische oder sozialstaatliche Modernisierungskonzepte.
Dieser Ansatz einer universalistischen Gerechtigkeitsethik ist durch ihren kontextuell-konkreten Gehalt für eine Wirtschaftsethik relevant, die
ihrerseits in einem konkreten Kontext Gestaltungsräume eröffnen und
eine ethisch verantwortete Praxis vor einem universalen Horizont verantworten will. Die Ethik der Befreiung geht von einem materialen Verständnis von Gerechtigkeit aus, das sich von der Erfahrung der Ungerechtigkeit her entwickelt und Parteilichkeit und Universalität dadurch
205
Vgl. dazu die Ausführungen bei: A. Lienkamp, Die Herausforderung des Denkens durch den
Schrei der Armen, 210-212.
87
miteinander verbinden kann. Der biblisch begründete Ausgangspunkt in
der Option für die Armen qualifiziert das Denken Enrique Dussels in besonderer Weise für die Suche nach einer biblisch fundierten Wirtschaftsethik. Der kategorische Imperativ “Befreie die Armen!” ist die Kehrseite
der biblischen Option für die Armen und muß sich in jenen Themenstellungen, denen sich eine theologische Wirtschaftsethik widmet, konkretisieren. Der kategorische Imperativ klärt den Ort einer theologische Wirtschaftsethik. Eine theologische Wirtschaftsethik nimmt das wirtschaftliche Geschehen aus der Perspektive derer wahr, die “unten” stehen, die
Leidtragende oder Opfer ökonomischer Prozesse sind. Deren Lage effektiv zu verbessern, konkretisiert den universal gültigen kategorischen
206
Imperativ.
206
88
Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland hat sich diesen hermeneutischen
Ausgangspunkt zu eigen gemacht, wenn es aus der Option für die Armen folgende Perspektive
entwickelt: “In der Perspektive einer christlichen Ethik muß darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es
die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt” (Ziff. 107).
3.2.5 Orientierungspunkt: Gerechtigkeit
Johann Baptist Metz kritisiert eine “Halbierung des Geistes des Christen207
tums” . Der Geist der hellenistischen Antike habe nur zu lange das
ethische und theologische Argumentieren bestimmt: “Athen und Rom,
208
nicht aber Jerusalem definierten die geistige Landschaft Europas.” Johann Baptist Metz will deutlich machen, daß Israel theologiegeschichtlich
zu einer überholten heilsgeschichtlichen Voraussetzung des Christentums herabgedeutet wurde. Doch durch seine Separation von den jüdischen Ursprüngen habe das hellenistische Christentum auch die biblische Tradition als ein spezifisches Angebot an das Christentum verdrängt, das in einer Verpflichtung zur Gerechtigkeit besteht. Metz versteht das Christentum als eine Religion, die “aus ihrem biblischen Erbe
(...) im Namen ihrer Sendung Freiheit und Gerechtigkeit für alle
209
sucht.” Deshalb merkt er kritisch an, daß die Folge dieser “Halbierung
des Christentums” ein hellinisiertes Christentum sei, das in seiner Theologie gegenüber dem Verlangen nach universaler Gerechtigkeit unemp210
findlich geworden ist.
Habermas nennt die von Metz vorgenommene Zeichnung der philosophischen Traditionen Athens, die ja nicht in Platonismus aufgingen, “zu
flächig”, da es vielmehr eine “Unterwanderung der griechischen Metaphysik durch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft” ge211
geben habe.
Daher müsse eine Gegenüberstellung “Athen” versus
“Jerusalem” differenzierter gesehen werden. Auch die politische Ethik berufe sich auf das biblische Erbe, das Gerechtigkeit und Freiheit für alle
suche. Gleichwohl gäbe es eine Spannung zwischen dem Geiste Athens
und dem Erbe Israels, die sich aber innerhalb der Philosophie nicht weniger folgenreich ausgewirkt habe als innerhalb der Theologie. Angesichts des rasanten Verlustes der Gerechtigkeitstraditionen in der politischen Kultur der Gegenwart, der sich im Abbau des Sozialstaates und
der Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft manifestiert, sollte der Streit
nicht nur darum geführt werden, ob von “Jerusalem” oder von “Athen”
aus die prägenden Impulse in die europäische Kultur eingegangen sind.
Wichtiger ist, ob die Erinnerung an “Jerusalem” lebendig fortwirkt, Träger
findet und eben zu einer Verlebendigung der Gerechtigkeitstraditionen
motivieren kann. Die Typisierungen dienen Johann Baptist Metz letztlich
207
208
209
210
211
J. B. Metz, Athen versus Jerusalem. Was das Christentum dem europäischen Geist schuldig geblieben ist, in: Orientierung 60 (1996) 59.
Ebd. 59.
F.-X. Kaufmann, J.B.Metz, Zukunftfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, FreiburgBasel-Wien, 1987, 118.
J. B. Metz, Athen versus Jerusalem, 59.
J. Habermas, Israel und Athen, 242.
89
nur dazu, auf einen doppelten Verlust hinzuweisen: Das Christentum habe sich von der mit dem Judentum zutiefst verbundenen Gerechtigkeitstradition im Christentum getrennt, die Walter Dietrich die Mitte des Alten
212
Testaments nennt.
Ethisches Handeln und Urteilen hat es nach Eilert Herms immer mit
213
“Vorzüglichkeitskriterien”
zu tun. Unter den mit Ökonomie immer gegebenen Knappheitsbedingungen müssen Entscheidungen getroffen
werden, denn Knappheitsfragen sind immer Gerechtigkeitsfragen. Welche Vorzüglichkeitskriterien aber sollen gelten? Ethische Kriterien und
Normen zu finden, gehört nach Arthur Rich “zur vornehmlichsten Aufga214
be einer christlichen Wirtschaftsethik.” Wie aber konstituieren sich diese Kriterien und Normen? Welche Kriterien und Normen machen eine
Wirtschaftsethik zu einer spezifisch theologischen Wirtschaftsethik? Eilert Herms betont, daß es dazu eines Rückgriffes auf die biblische Tradition bedürfe, denn erst dieser Rückbezug erreiche, “daß die theologi215
schen Beiträge spezifisch sind.” Er stellt drei Ansprüche an eine theologische Wirtschaftsethik. Sie hat zum einen zu verdeutlichen, daß “aus
der christlichen Tradition und ihrem biblischen Zentrum nur gewisse Allgemeinkriterien für die Vorzüglichkeit zu formulieren sind, die jedoch
216
“letztlich immer inhaltlich bestimmte Vorzugskriterien”
sind. Der biblischen Tradition sind also nicht lediglich nur formale Mechanismen des
sozialen Ausgleichs zu entnehmen. Zweitens habe eine theologische
Wirtschaftsethik immer mit der Anwendung der inhaltlich bestimmten
Vorzugskriterien zu tun. Drittens könne eine theologische Wirtschaftsethik drittens nicht durch einen Rekurs auf biblische Vorgaben die Verantwortung des ethischen Subjekts dispensieren. “So verstanden fungieren die theologischen Beiträge zur Wirtschaftsethik als Einladung und
Ermutigung zur selbständigen Teilnahme am Prozeß der wirtschaftsethischen Begründung von Vorzüglichkeitsurteilen über Ziele und
Wege der wirtschaftlichen Interaktion heute auf dem Boden der christli217
chen Überzeugung von Natur und Bestimmung des Daseins.”
Diese
Forderungen von Eilert Herms nach einer Begründung von christlicher
Wirtschaftsethik, die erst dann das Attribut “christlich” zu Recht tragen
würde, wenn ihre Beiträge auf das biblische Zeugnis zurückgriffen, sind
jedoch für Wirtschaftsethik ein bislang unerfüllt gebliebenes Postulat.
212
213
214
215
216
217
90
W. Dietrich, Der roten Faden im Alten Testament, in: Evangelische Theologie 49 (1989) 236.
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 104.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1, 241.
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 103.
Ebd. 106.
Ebd. 105.
Herms versteht die Bibel keineswegs als ein Autoritätsargument. Nicht
autoritative Entscheidungen oder heilige Befehle begründen die ethische
Autorität, “sondern immer nur verbindliche Maßstäbe, verbindliche Begründungsinstanzen für ethische Vorzüglichkeitsurteile, über einzelne in
konkreten Situationen wählbare Ziele und Wege, die jeweils von den
218
Entscheidungsträgern selbst gefunden werden müssen.” Eilert Herms
ist zuzustimmen, daß nicht ethische Indikative und Imperative, die mit
biblischer Autorität ausgestattet werden, das ethische Urteil ersetzen
können oder dürfen. Er geht von einer “Orientierung anhand der christli219
chen Maßstäbe” aus. Er räumt zwar ein, daß eine theologische Wirtschaftsethik aus der biblischen Tradition nur Allgemeinkriterien für die
Vorzüglichkeit” formulieren könne, doch entscheidend sei, daß diese
letztlich immer inhaltlich bestimmt sein müssen. Solche inhaltlich bestimmten Überzeugungen aber würden immer von entscheidungsleitenden weltanschaulichen Grundsätzen oder Voraussetzungen geführt, die
220
allerdings letztlich nicht rational begründet werden könnten. Mit dieser
Position wendet sich Eilert Herms zu Recht gegen zwei Prämissen der
kommunikativen Rationalität der Diskursethik. Es gebe das Dogma, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen zur Begründung der Vorzüglichkeit von Zielen und Wegen seien rein privat und aus der Begründung öffentlichen Handelns herauszuhalten. Ein anderes Dogma korrespondiere mit dem ersten, nämlich daß das formale Kriterium der Befolgung einer verallgemeinerbaren Regel hinreichend sei.
Beide Dogmen stellt Eilert Herms in Frage und versteht ein ethisches
Argumentieren, das sich nicht auf rationale Normbegründungen reduzieren läßt, als einen Beitrag zur Aufklärung über die heimlichen und ungenannten Dogmen, eben als eine Aufklärung der Aufklärung. Herms
spricht den biblischen Einzel-anweisungen jegliche Relevanz in der heutigen Diskussion ab, da sie eine völlig andere Wirtschaftsform voraussetzen. Dennoch gibt es zwei Regeln, die sich auf alle möglichen wirtschaftlichen Situationen beziehen. Das formale Kriterium der Befolgung einer
Verfahrensregel ist für eine theologische Ethik nicht ausreichend. Deshalb sucht auch E. Herms ein inhaltlich bestimmtes Vorzugskriterium,
das der Toratradition gerecht wird, herauszuarbeiten, das in universal
gelten Regeln zum Tragen kommen kann. Die beiden Regeln, in denen
dieses inhaltlich und material konkrete Vorzugskriterium sich ausdrückt,
sind die Regel der Gerechtigkeit und die Regel der bewußten Relativierung des Wirtschaftens auf die Bedingungen oder die Ziele der Gesamt-
218
219
220
Ebd. 105.
Ebd. 105.
So auch A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 170.
91
221
existenz. Eilert Herms besteht auf inhaltlich und normativ zu begründenden Vorzugsregeln, die theologische Ethik erst zu einer spezifischen
Ethik machen. Theologische Ethik wirke also nicht allein motivierend,
sondern müsse einen materialen Gehalt haben. Theologische Ethik ist
nicht zu trennen von einer Vorstellung oder von Leitbildern einer gerechten Gesellschaften und einer humanen Wirtschaft. Diese Leitbilder eines
guten und gelingenden Lebens gehören zum Argumentationsstil einer
christlichen Ethik. Doch E. Herms umgeht die Frage nach dem hermeneutischen Ausgangspunkt und die Frage, was die absolut geltenden
Regeln auch konkret bedeuten könnten. Enrique Dussel ist dort konsequent, wo Eilert Herms die Argumentation abbricht. Enrique Dussel formuliert in seinem kategorischen Imperativ “Befreie den Armen!” eine absolut und universal geltende Norm, die zugleich abstrakt und konkret ist.
Der Arme stellt jedes System in Frage und ist dennoch in allen Systemen
konkret. Theologische Ethik tritt als Anwältin speziell für die von den Diskursen Ausgeschlossenen auf und wird die Interessen der Benachteiligten artikulieren müssen. Dadurch löst christliche Ethik das
Universalisierbarkeitsprinzip ein. Die abstrakte Argumentation von Eilert
Herms dagegen bekommt diesen Kern der Toratradition, der sich mit
dem hermeneutischen Ausgangspunkt einer Option für die Armen beschreiben läßt, nicht in den Blick.
Der von Enrique Dussel formulierte kategorische Imperativ “Befreie
den Armen!” läßt sich aus dem Kontext des globalen Südens in den mitteleuropäischen Kontext übersetzen und wirtschaftsethisch so auslegen:
Sorge dafür, daß den ökonomisch, ökologisch, politisch und sozial
222
Schwachen Gerechtigkeit widerfährt und sie zu ihrem Recht kommen.
Eine theologische Wirtschaftsethik, die diesem Anspruch des kategorischen Imperativs auch inhaltlich gerecht wird, verdient das Attribut
theologische Wirtschaftsethik. Mit dem inhaltlich qualifizierten Anspruch,
der die Option für die Armen aufnimmt, werden aus der Perspektive der
Armen Themenstellung, Themenauswahl und Problemlösungen der
Wirtschaftsethik eindeutig. Im Abschnitt 9 soll diese Perspektive in den
“Wirtschaftsethischen Impulsen” auf ihre Folgen für verschiedene Themenfelder der Wirtschaftsethik entfaltet werden. Deshalb gerät als erstes
die Arbeit des Menschen in den Blick. Der hermeneutische Ausgangspunkt bei den Armen und bei den im System Benachteiligten läßt nach
221
222
92
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik. 96-98. Weitere Ausführungen unten unter Abschnitt
6.2.
Vgl. nähere Ausführungen zum kategorischen Imperativ der Tora unten: Abschnitt 4 . An dieser
Stelle möchte ich auf meinen Sprachgebrauch hingewiesen, der sich durchgehend aus Gründen
sprachlicher und syntaktischer Kongruenz einer inklusiven Sprache bedient. Auf die Tatsache,
daß gerade Frauen in besonderer Weise oft auch mehrfach politisch, sozial und ökonomisch
benachteiligt sind, sei hier besonders hingewiesen.
dem gerechten Lohn und nicht nur ökonomisch nach dem gerechten
Preis fragen. Der wirtschaftsethische Impuls “Sorgsam haushalten” (Abschnitt 9.5) versucht über die Ökonomie des einen Haushaltes der
Schöpfung Fragen der ökologischen und sozialen Gerechtigkeit so zu integrieren, daß das Lebensrecht aller Bewohner des einen Haushaltes der
Schöpfung garantiert ist. Eine biblisch begründete theologische Wirtschaftsethik wird dadurch erst zu einer spezifisch theologischen Ethik,
wenn sie den Anspruch einzulösen vermag, von jener Mitte der biblischen Botschaft her eindeutig zu werden, die der Alttestamentler Walter
Dietrich mit dem Begriff und der Sache des biblischen Verständnisses
von Gerechtigkeit als einem gemeinschaftsgemäßen Verhalten bezeich223
net hat.
3.3 Kritischer Maßstab und Impuls für Gerechtigkeit: Option für die Armen
3.3.1 Gerechtigkeit - Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse für die Bedrängten
“Was rechtens sei? - darum kommt man nicht herum.” So beginnt Ernst
224
Bloch seine Ausführungen über Naturrecht und menschliche Würde.
Was Recht ist, soll der objektivierte Maßstab dessen sein, was als “Gerechtigkeit” gilt. Dieser Maßstab wird mit den Worten des römischen
Rechtsphilosophen Domitius Ulpian (ca. 170-228 n. Chr.) definiert als
225
“constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi”
- zu
deutsch: “Gerechtigkeit ist der beständige und andauernde Wille, jedem
sein Recht zu gewähren.” Europäisches Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis geht auf Wurzeln im griechisch-römischen Denken zurück. Gemeint ist also ein subjektives Recht, das den Anspruch
des einzelnen beschreibt. Gerechtigkeit wird in den älteren philosophischen und theologischen Lehrbüchern als ein grundlegender Ordnungsbegriff der Gesellschaft entfaltet, der zum Ausdruck bringen will, daß
dem einzelnen das Seine oder auch sein Recht zukommt, sein Leben in
eigener Verantwortung zu gestalten. Wolfgang Huber wertet diese philosophische und auch theologische Tradition als eine Tradition, die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vorwiegend aus der Sicht der Täter be226
trachtet. Diese Tradition sah demnach Gerechtigkeit als diejenige Tugend, die jedem das Seine gewährte, und fand Ungerechtigkeit dort, wo
223
224
225
226
W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 236. Weitere Ausführungen unten Abschnitt
3.4.
Frankfurt 1961, 11.
Ulpian, Fragmente 10; vgl. dazu die Ausführungen bei: W. Härle, “Suum cuique”. Gerechtigkeit
als sozialethischer und theologischer Grundbegriff, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 41
(1997) 303-312.
W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 184.
93
es an dieser Tugend fehlte. Doch diese Perspektive verschiebe sich
grundlegend, wenn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht aus der Perspektive der Täter, sondern aus derjenigen der Opfer betrachtet werde.
Ungerechtigkeit erscheine dann nicht als Abwesenheit von Tugend, sondern als Verweigerung von Anerkennung.
Dieser Perspektivenwechsel zeigt sich in der Vorstellung von Gerechtigkeit in der Hebräischen Bibel, die sich von diesem griechischrömischen Gerechtigkeitsbegriff grundlegend unterscheidet. Was im
Deutschen mit “Gerechtigkeit” gemeint ist, sei - so Gerhard von Rad “nicht nur eine sehr unzulängliche, sondern oft eine geradezu irreführen227
de Wiedergabe des Hebräischen sedaka.” Sedaka benennt etwas dezidiert Positives und meint “einen gerechten, richtigen Zustand
(saedaeq), ein rechtes, rechtschaffenes Handeln (sdq, sedaqah), einen
rechtschaffenen, aufrechten Charakter (saddiq). Insgesamt geht es um
ausgeglichene, wohltuend geordnete, lebensfreundliche Verhältnisse: im
228
menschlichen Zusammenleben wie in den Gottesbeziehungen.”
Diese
Begriffsbeschreibung zeigt, daß die übliche Übersetzung von sedaka mit
“Gerechtigkeit” eher die vom griechisch-römischen Denken geprägten
Begriffsinhalte assoziieren kann, während das hebräische Verständnis
von einer viel umfassenderen Vorstellungswelt ausgeht. Alles, was eine
heile Existenz des Menschen ausmacht, umschließt der biblische Begriff
von Gerechtigkeit, der die “Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher
Verhältnisse für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedroh229
ten” meint. Im hebräischen Denken meint Gerechtigkeit ein “gemein230
schaftsgemäßes Verhalten” . Gerechtigkeit läßt sich “im geforderten
sozialen Verhalten des einzelnen gegenüber und innerhalb der Gemein231
schaft”
am deutlichsten erkennen. “Gerecht ist demnach der, der die
Gemeinschaft bewahrt, ihren Erwartungen entspricht und die Gesamtheit
232
menschlicher Verpflichtungen erfüllt.” Gerechtigkeit ist ein sozialer Relationsbegriff, der nach biblisch-hebräischem Verständnis mit Frieden,
Befreiung, Erlösung, Heil, Gnade, Freiheit zusammenhängt. Was Solidarität meint, ist in mancherlei Hinsicht zur Wiedergabe dessen geeignet,
was hebräisch mit sedaka gemeint ist.
Die biblische Bundestheologie geht davon aus, daß alle Gerechtigkeit
zwischen den Menschen von Anfang an im Zusammenhang des Bundes
Gottes mit den Menschen steht. Dieser Bund ist Gottes Selbstverpflich227
228
229
230
231
232
94
G. von Rad, Theologie des AT, 1. Band, 6. Aufl. München 1969, 386.
W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 237.
Ebd. 241.
K. Koch, Art. sdq = gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd.II., Sp. 515.
H. Monz, Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der Hebräischen Bibel. Übereinstimmung, Fortführung und zeitgenössische Identifikation, Baden - Baden 1995, 66.
Ebd. 67.
tung zur Gemeinschaftstreue mit den Menschen und allen seinen Geschöpfen. Gerechtigkeit Gottes meint deshalb ein Handeln Gottes an
seinem Volk, das Recht und Gerechtigkeit schafft. Israel wird von der
Knechtschaft in Ägypten gerettet, und Gott befreit aus Unterdrückung,
indem er einen Anführer schickt (Ri 2,16-19; 3,10; 4,4; 16,31); Gott ist
der rettende Trost für den Beter (vgl. Ps 71); der Unterdrückte erfährt
Gottes Gerechtigkeit - der Unterdrücker Gottes Strafgericht (vgl. Ps 9,6):
“Du entreißt den Schwachen dem, der stärker ist, den Schwachen und
Armen dem, der ihn ausraubt” (Ps. 35,10). Gott schafft Hoffnung in ausweglosen Situationen, indem er Heil in Aussicht stellt (Jes 46,10 ff.). Inhalt des Bundes ist der Schalom. Gemeinschaftsbezogenes Verhalten ist
ein Verhalten, das in allen privaten, sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen Schalom schafft.
Diese Gerechtigkeit Gottes ist auch dort, wo sie sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen bezieht, ein Sozialbegriff. Dieser Gerechtigkeit Gottes entsprechend sollen sich die Menschen (und alle Geschöpfe) verhalten. “Gott übt sie - und der Mensch hat sie auch zu üben.
Sie ist der Maßstab, an dem sich das Verhältnis zwischen Mensch und
Gott und an dem sich die zwischenmenschlichen Verhältnisse messen
233
lassen müssen.”
Terminologisch ist der Zusammenhang von Befrei234
ung, Recht, Richten, Gerechtigkeit in der Hebräischen Bibel auffallend.
Der Schlüsselbegriff ist spht, ein hebräischer Begriff, der im Deutschen
235
meist mit “richten” übersetzt wird. Das entsprechende Substantiv mspt
(mispat) wird zwar zumeist mit “Gericht, Urteil” wiedergegeben, bedeutet
jedoch ein “Handeln, durch das die gestörte Ordnung einer (Rechts236
)Gemeinschaft wiederhergestellt wird” , das den (zerbrochenen) Schalom wiederherstellt, oder auch ein Urteil, einen Rechtssatz und dann
auch allgemein Gerechtigkeit, und wird deshalb oft in einer Doppelung
mit dem hebräischen Wort für Gerechtigkeit (sedakah) verwendet. Gerechtigkeit (sedakah) und Richten (mispat) verbinden den Gehorsam
Gott gegenüber mit der Achtung vor dem Mitmenschen und der Sorge für
ihn. “Mispat ist demnach so etwas wie der auf Gemeinschaftstreue gegründete und durch gemeinschaftsgemäßes Verhalten (sedaqa) täglich
neu zu bewährende Bestand des Volkes, seine kultische, politische und
237
wirtschaftliche Existenz schlechthin.” “Richten” (mispat) bedeutet also
233
234
235
236
237
W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 248.
Vgl. dazu G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze, Neukirchen
1971, 62ff.
Die abendländische Auslegungstradition versteht im Anschluß an die Septuaginta mispat als
“Recht” und sedaqa als “Gerechtigkeit”. Vgl. K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei
den Profeten, 249.
G. Liedke, Art. spt = richten, in: THAT,Bd. II., Sp. 1001.
K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, 254.
95
ein Handeln, das den zerbrochenen Schalom einer Gemeinschaft wieder
238
herstellt.
Drei Aspekte können den biblisch-hebräischen Begriffsinhalt von Gerechtigkeit/sedaka verdeutlichen:
3.3.1.1 Unausgewogene Gerechtigkeit: Option für die Armen
Der Exodus ist das biblische Grunddatum. Anders als die altorientalischen Religionen, die sich aus mythischer Urzeit herleiten, ist die JHWHReligion geschichtlich in einem Befreiungsprozeß begründet, der auf Gerechtigkeit drängt. Das gibt ihr von ihrem Ursprung her eine geschichtliche Ausrichtung und eine soziale Dimension, die für die ganze Geschichte Israels kennzeichnend bleiben soll. Eine gemeinschaftsbezogene Gerechtigkeit knüpft an dieses Grunddatum an und begründet die
Forderung der Gemeinschaftstreue aller zueinander. Die in Ägypten erlittene Zwangsarbeit widerspricht der göttlichen Ordnung. Armut und Ungerechtigkeit sind nicht schicksalhaft. Sie stehen den Absichten Gottes entgegen. Gott befreit sein Volk und gibt ihm nach der Befreiung aus der
Sklavenhaltergesellschaft Ägyptens mispatim (Rechtssätze, vgl. Ex
15,25) und später Richter, die dem Schwachen Recht schaffen (Ex 18).
Aus der Erfahrung mit den ägyptischen Verhältnissen erwächst ein
Ethos, das stereotyp in der Sorge um die Machtlosen, “die Armen, Witwen und Waisen” (Ex 22,21, Dtn 10,18; 24,17 u.ö.) zum Ausdruck
kommt. Gemeinschaftsbezogene Gerechtigkeit soll sich so auswirken,
daß die Armen und Schwachen zu ihrem Recht kommen. Die Ausgeschlossenen werden zum Maßstab dafür, wie es um die Gerechtigkeit
steht. Armut und gesellschaftliche Asymmetrien werden als Widerspruch
gegen die geforderte Gemeinschaft wahrgenommen. Erst wenn der Gegensatz zwischen Arm und Reich aufgehoben ist und es keine Armen
mehr gibt, da Unterdrückung und Ungleichheit ein Ende gefunden haben,
239
herrscht Gerechtigkeit.
Die israelitische Gesellschaft verfügt zwar über den Maßstab “Gerechtigkeit”, aber sie wird ihm in der Realität nicht immer gerecht. Prophetische Kritik geißelt die Oberschicht, die sich an den Armen bereichert.
Nur die Armen und Unterdrückten verdienen es, in den Augen der Propheten “Gerechte” genannt zu werden (Am 2,6; 5,12 u.ö.). Die herrschenden Schichten lassen es an “Recht und Gerechtigkeit” fehlen, deshalb weist die prophetische Kritik den Mächtigen und Reichen die Schuld
an den desolaten sozialen Verhältnissen zu (Am 5,7; 6, 12; Mi 3,9; vgl.
Jes 6,14). Die soziale Anklage der Propheten ist keineswegs eine objektive Gesellschaftsanalyse, sondern eine bewußt einseitige Parteinahme.
238
239
96
G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze, 74.
Vgl. die Ausführungen bei: C. Boff u. J. Pixley, Die Option für die Armen, Düsseldorf 1987.
Die wirtschaftlich Mächtigen profitieren von einer Entwicklung, die die
wirtschaftlich Schwächeren zu Opfern macht. Auffallend bei den Propheten ist, daß nicht Einzeltaten oder Einzelpersonen angeprangert werden,
sondern das gesamte “System”. In Erinnerung an “Recht und Gerechtigkeit” (Jes 5,7; Am 5,7.24; 6,12; Mi 3.1.8.9), die Grundwerte der vorstaatlichen israelitischen Gesellschaft, kritisieren sie eine Wirtschafts- und
Rechtsordnung als Unrecht, die sich nicht mehr an diesen Grundwerten
240
orientiert, so legal es auch zugehen mag. Diese unhaltbaren Zustände
des Unrechts und der Ungerechtigkeit lassen deshalb auch keine Rückkehr zur Gerechtigkeit aus eigener Anstrengung erwarten. Gott wird Gerechtigkeit errichten.
“Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Heißt das nicht,
mich wirklich erkennen? - Spruch des Herrn” (Jer 22,16). Gerechtigkeit
üben ist Erkenntnis Gottes. Gerechtigkeit für sozial und rechtlich Schwache schaffen wird so mit der Verehrung von Israels Gott identifiziert, daß
sie auch der “Kult” ist, den der Gott der Bibel erwartet. Eine auf den Kult
beschränkte Verehrung Gottes lehnen die Propheten ab (Am 5,21-25;
ähnlich Jes 1,11.13.15-17; Hos 6,6; Jer 7,1-10). Kultisches Handeln kann
Gerechtigkeit nicht ersetzen. Wenn Israel solidarisches Verhalten gegenüber Notleidenden praktizieren würde, statt religiöse Praktiken wie
das Fasten zu vollziehen, dann würde Gerechtigkeit Israel umgeben und
die ersehnte Nähe Gottes Realität werden (Jes 58,6-10).
Israel hat seinen Gerechtigkeitsbegriff aus dem Alten Orient übernommen. Nicht erst die Bibel, sondern auch andere kulturelle und religiöse Traditionen des Alten Orients kennen schon ein Sozialethos, in dessen Zentrum eine Option für die Armen steht, wenn sie es den politischen Führungseliten und in besonderer Weise dem König zur Pflicht
machen, für die Armen einzutreten. Den altorientalischen Traditionen und
der Hebräischen Bibel ist die Sorge um das Auseinanderbrechen der
Gesellschaft gemeinsam. Die Option für die Armen diente also der gesellschaftlichen Integration und der Sicherung des Systems. Die Klassenstruktur der Gesellschaft sollte aber nach den babylonischen, mesopotamischen oder alt-ägyptischen Gesetzestexten trotz einer Option für
die Armen nicht angetastet werden. Die biblische Option für die Armen
verdankt sich dem Exodus aus den ägyptischen Verhältnissen und will
aus dieser Erfahrung heraus eine andere Ordnung, nämlich eine ökonomische, soziale und politische Ordnung der Freien und Gleichen errei241
chen. Ein Vergleich mit anderen Rechtsauffassungen der Antike zeigt,
240
241
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 259f.
N. Lohfink, Gott auf der Seite der Armen, in: ders., Das Jüdische im Christentum, Freiburg
1987, 122-143; vgl. auch oben die Ausführungen zum Kodex Hammurapi und zum ägyptischen
Totenbuch unter Abschnitt: 3.2.
97
daß in der Tora jene Gesetze fehlen, die die Mächtigen und Starken in
ihrem Besitzstand sichern. Nicht abstrakte oder formale Gerechtigkeitsprinzipien bestimmen das Denken, die Tora steht vielmehr einseitig und
bewußt auf der Seite der Schwachen der Gesellschaft. Dahinter steht die
Überzeugung, daß es gerade die Schwachen sind, die des Schutzes bedürfen. Der biblische Begriff der Gerechtigkeit fällt mit dem Recht der
Schwachen und Bedürftigen zusammen. Walter Dietrich wendet sich gegen alle Idealisierungen, hebt aber dennoch hervor, daß in Israel eine
aus seiner spezifischen Religionsgeschichte heraus zu erklärende Für242
sorge für die Besitz- und Machtlosen entstanden ist.
3.3.1.2 Gerechtigkeit als Rechtsanspruch der Benachteiligten
Recht ist die einzige Alternative zur Gewalt, um Konflikte und Interessengegensätze zu regeln. Diese Einsicht hat sich in biblischen Konzepten
struktureller Gerechtigkeit niedergeschlagen (z.B. Sabbatgesetze, Sabbatjahr, Jobeljahr, Zinsverbot u.a.). Nicht nur die prophetische Tradition,
auch die Gesetzestradition der Hebräischen Bibel nimmt in einer spezifischen Weise den Gerechtigkeitsbegriff auf. Die Gesetzestradition ist dadurch gekennzeichnet, daß sie drei Themen miteinander verbindet. Sie
enthält zum einen Regeln über den Kult als Ort der Verehrung des einen
Gottes. Zum anderen enthält sie Regeln der Gerechtigkeit. Sie sollen ein
menschliches Zusammenleben ermöglichen, in dem Menschen sich gegenseitig als gleich anerkennen. Und schließlich finden sich in den
Rechtskorpora gewisse Regeln, in denen sich ein Ethos der Barmherzigkeit niederschlägt. Barmherzigkeit meint nicht eine gelegentliche Zuwendung zu dem in Not geratenen Nächsten. In einer sehr spezifischen
Weise wollen die Gesetze Barmherzigkeit in einer erwarteten und verpflichtenden Zuwendung Gestalt werden lassen, die sich in besonderer
Weise den an den Rand Gedrängten zuwendet, um ihnen Recht und Gerechtigkeit zuzusichern.
Der Schutz der Schwachen wird zu einem gemeinschaftsbezogenen
Rechtsanspruch. Gerade diejenigen, die von den Zuständen in der Gemeinschaft benachteiligt sind, haben Anspruch auf ein besonderes Verhalten der Gemeinschaft und auf die Aufhebung dieser Zustände. Die
Haltung des Erbarmens wird nicht als mildtätige Wohltat verstanden,
243
“sondern als ein Akt der Aufrichtung von Gerechtigkeit” . “Zur Alleinverehrung gehört damit ein bestimmtes Recht und eine ihm vorgeordnete
244
Gerechtigkeit.”
Die Unterprivilegierten werden durch den Rechtsan242
243
244
98
W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 247.
M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 117.
F. Crüsemann, Die Tora, 424.
spruch zu Rechtsträgern und dadurch in die Gesellschaft integriert. Auch
wenn das altorientalische Recht mit dem alttestamentlichen in enger Beziehung steht, gibt es doch einen bedeutenden Unterschied: “das israelitische Grunddatum von Recht als direkt göttlicher Setzung ist keine in
245
der Antike übliche Vorstellung” . Die Armen sind nicht Almosenempfänger, sondern Rechtsträger, die ihr Recht nicht durch hoheitliche Huld
bekommen.
Die prophetische Literatur ist von einem Ringen um Recht und Gerechtigkeit geprägt. Ihre Kritik an den Zuständen der Gesellschaft schlägt
sich in einem Gesetzeswerk nieder, das Institutionen der Gerechtigkeit
enthält. Zu diesen gehören Einrichtungen wie die Armenversorgung
durch einen Zehnten, der Sabbat, das Sabbatjahr oder das Jobeljahr
246
(Dtn 5,12ff.; 14,28f.; 26,12f.; Lev 25,1ff.). Sie können als Institutionen
verstanden werden, die verbindlich dafür sorgen, daß ein sozialer Ausgleich, die soziale Solidarität mit den Schwachen und das Teilen der
Ressourcen nicht in das Belieben des einzelnen gestellt werden, sondern
mit einer an Rechtskraft gebundenen Verläßlichkeit versehen sind. Die
Intention zur Gerechtigkeit allein reicht nicht aus, deshalb muß das Ethos
durch Institutionen der Gerechtigkeit gestützt werden.
3.3.1.3 Gerechtigkeit und Machtkritik
Prophetische Sozialkritik hat Eingang in das israelitische Recht gefunden. Mit Vehemenz attackieren die Propheten eine Oberschicht, die eine
immer größer werdende gesellschaftliche Schicht von Armen produziert.
Die Kritik der Propheten ist nie gegen Reichtum oder Luxus an sich gerichtet, sondern gilt einem mit Unrecht, ungerechter Machtausübung oder
Unterdrückung verbundenen Reichtum. In nahezu allen sozialkritischen
Aussagen ist es eben diese Herkunft der Reichtümer, an der sich die Kri247
tik entzündet. Was die Propheten anprangern, ist ein Reichtum durch
“Gewalt und Unterdrückung” (Am 3,10). Die Reichen verursachen die
gesellschaftlichen Mißstände und sind deshalb ihres unsolidarischen
Verhaltens wegen verantwortlich für den Bruch von Gerechtigkeit im
Sinne von Gemeinschaftstreue. Gegen die Erfahrung gesellschaftlichen
Unrechts dringen die Propheten darauf, daß alle ein Anrecht auf Gerechtigkeit haben. Die sich dieser Verwirklichung der Gerechtigkeit entgegenstellen, werden deshalb auch zur Verantwortung gezogen. Eine Wirtschafts- und Rechtsordnung, die sich nicht mehr an den Grundnormen
245
246
247
Ebd. 24.
Nähere Ausführungen dazu in Abschnitt 6.1.2.
Vgl. auch zum folgenden F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.”
37ff.
99
von mispat und sedaqa orientiert und die Lebensrechte der gesellschaftlichen Randgruppen nicht schützt, ist Unrecht, so legal es auch darin zu248
gehen mag.
Die Bibel Jesu war die Hebräische Bibel, das Erste Testament, das er
- wie die Urchristenheit - lebte, bekräftigte, auslegte und nicht als alt, nur
vorläufig oder ergänzungsbedürftig ansah. Zu den Gerechtigkeitsvorstellungen der neutestamentlichen Tradition sei nur soviel festgehalten: Zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der Hebräischen Bibel und denen
des Neuen Testamentes gibt es Überschneidungen. Walter Dietrich betont die Nähe zwischen dem Gerechtigkeitsverständnis des Neuen Testaments und dem der Hebräischen Bibel: “Die gesamte paulinische
Rechtfertigungslehre ist im Alten Testament präludiert - wie sie ja Paulus
auch aus ihm, nicht gegen das Judentum in toto, entwickelt hat. Gewiß,
die Christusgestalt fehlt noch, aber auch sie ist präludiert: in Propheten
etwa, die sich bei Gott für die Ungerechten verwenden, oder in dem Got249
tesknecht, der durch sein Leiden „Vielen zur Gerechtigkeit hilft‟.”
Die
Forderung nach dem Rechttun des Christen an seinem Nächsten und
vor Gott ist nicht ohne die Gerechtigkeitsvorstellungen der Hebräischen
250
Bibel zu verstehen (Mt 5,6.20; 25, 37.46).
Der biblische Gerechtigkeitsbegriff ist dynamisch. Gerechtigkeit ist eine Gesellschaft und Geschichte vorantreibende Kraft. Die von Gott gewollte Ordnung entsteht sowohl durch sein Wirken in der Geschichte als
auch durch entsprechendes Handeln des Menschen. Biblische Gerechtigkeit sprechen mit der Machtkritik immer auch eine Gegenwartskritik in
einer eschatologischen Dimension aus. Utopisches Denken gewinnt reale Bezüge, die aus der Erfahrung gegenwärtiger Ungerechtigkeit gewonnen werden. Eine Zukunft ohne Klassengegensätze und Spaltungen zwischen Arm und Reich, oben und unten wird in Aussicht gestellt. Die
eschatologische Zeit wird eine Zeit sein, in der die Bedürfnisse befriedigt
sind und Ausbeutung und unterdrückende Gewalt ein Ende haben werden (vgl. Jes 65,21-22; 2,2-4; 11,6-8; Ps 37, 11; 72,2-3; 85,11-14 u.ö.).
3.4 Gerechtigkeit und Option für die Armen als Problem gegenwärtiger
ökonomischer und sozialer Verhältnisse
Der bedeutende katholische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning registriert eine dreifache strukturelle Benachteiligung von Arbeitnehmern in
einer kapitalistischen Marktwirtschaft:
248
249
250
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 260.
W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 248.
Vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd.I/1, Zürich, Neukirchen - Vluyn 1985,
209-218; 240-250.
100
Da Arbeitnehmer erstens außer ihrer Arbeit über keine Erwerbsquelle
verfügen, sind sie gezwungen, “ein Lohnarbeitsverhältnis mit Subordina251
tion der Arbeit unter das Kapital” einzugehen. Diejenigen, die Kapital in
den Produktionsprozeß einbringen, bestimmen aber über Produktionsvolumen und Produktionsrichtung, also eben darüber, ob, wann, wo und
wie Arbeitsplätze geschaffen werden, d. h. sie verteilen Lebenschancen.
Aus dem Nichteigentum an Produktionsmitteln resultiert eine “Machtun252
terlegenheit”
der Arbeit. Zweitens ist Arbeit im Produktionsprozeß instrumentalisiert. Der arbeitende Mensch ist “heute noch viel weiter gehend als sachlich geboten und darum unvermeidlich - auf die Objektrolle
253
beschränkt” . Arbeit ist “bloßes Betriebsmittel für diesen Prozeß, nicht
254
tragende Säule der ökonomischen Gebilde” . Arbeit ist drittens rechtlich-strukturell ausgegrenzt. Das zeigt sich darin, daß Arbeit in einen
Produktionsprozeß einzubringen keinerlei Mitgliedschaft oder Mitgliedsrechte im Unternehmen begründet. Mit dem Unternehmen sind nur diejenigen rechtlich verbunden, die Kapital einsetzen. Oswald von NellBreuning besteht darauf, daß allein für die Minderheit derjenigen, die
über die Produktionsmittel verfügen, “die volle Subjektstellung gewähr255
leistet” sei. Dagegen sind die arbeitenden Menschen zwar Mitarbeiter,
256
aber “im Rechtssinn Außenstehende”
eines Unternehmens. Die
grundlegende Tatsache, die über die reale Lage der Arbeit entscheidet,
resultiert somit aus der “Verfügung und Nichtverfügung über Produk257
tionsmittel” . Aus einer Position der unbedingten Ausrichtung auf den
Menschen und seiner personalen Würde formuliert Nell-Breuning folgendermaßen: “Der Realfaktor „Kapital‟ bestimmt, er ist Subjekt; über den
258
personalen Faktor „Arbeit‟ wird bestimmt, er ist Objekt.”
Die reale Arbeit, wie sie von der Mehrheit der Menschen erlebt wird, ist
abhängige Arbeit. Die fehlende Teilhabe an wirtschaftlichen Prozessen,
das Objekt - sein, macht den Kern dieser realen Situation der Lohnabhängigen aus. Und genau darum geht es, wenn die Bibel von “Armut”
spricht. Biblisch meint Armut nicht allein den materiellen Aspekt der Notlage. Die Armen sind in der Tat diejenigen, die unter der Last ihrer Exis251
252
253
254
255
256
257
258
O. von Nell-Breuning, Eigentum und wirtschaftliche Demokratie. Schriftenreihe der IG Metall
Nr. 64, Frankfurt 1975, 14.
O. von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit? Zu Grundfragen der Sozialordnung aus christlicher
Verantwortung, Freiburg 1975, 170.
O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung - wer mit wem? Freiburg 1969, 32.
Ebd. 33.
Ebd. 32.
O. von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit, 123.
O. von Nell-Breuning, Situation und soziokulturelle Umwelt der Arbeiterschaft, in: J. Wiener,
H. Erharter (Hg.), Arbeiterpastoral in der Pfarre, Wien 1979, 11.
O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung - wer mit wem? 33.
101
tenz so niedergedrückt sind (anaw), daß ihre Hauptaufgabe allein darin
259
besteht, ihr Leben und Überleben zu sichern.
Die biblische Tradition
benennt mit “Armut” eine Situation der Abhängigkeit. Für die Menschen
der Bibel sind die Armen nicht so sehr mittellos, als vielmehr untergeordnet, minderwertig, klein und unterdrückt. “Im biblischen Sinn ist der „Ar260
me‟ der Beherrschte.” Armut ist ein sozialer Begriff, nicht ein Zustand,
in dem sich Menschen befinden. Biblisch beschreibt Armut eine Beziehung, in der sich Menschen als ausgeschlossen und in ihren Lebensmöglichkeiten gemindert erfahren. “Der Gegenbegriff zum Armen ist im
Alten Testament der Gewalttäter, der den Armen unterdrückt und ins
261
Elend stößt und sich auf seine Kosten bereichert.” Arm ist man nicht
an sich, sondern im Verhältnis zu Starken, die die Schwäche ausnutzen
können. Diese Objektrolle macht nach biblischem Verständnis Armut
aus, materielle Notlage hingegen ist Folge und Auswirkung dieses ökonomischen und sozialen Abhängigkeitsverhältnisses. Der Bibel ist das
Wissen um den Kreislauf von Armut und Abhängigkeit vertraut: “Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers
Knecht.” (Spr 22,7). Wenn die Bibel von Armut spricht, benennt sie diese
Herrschaftssituation, die am besten mit dem Begriff der fehlenden Teil262
habe erfaßt werden kann.
Die von Oswald von Nell-Breuning beschriebene Lage der abhängigen
Arbeit läßt sich mit jenem Defizit angemessen beschreiben, auf das auch
die theologische Rede einer Option für die Armen reagiert. Die Lage der
Arbeit in der real existierenden Marktwirtschaft entspricht dem, was die
Bibel mit dem hebräischen Begriff “Armut” zur Sprache bringen will, nämlich eine Abhängigkeit oder Objektrolle des Menschen. Geprägt haben
die Formel der “Option für die Armen” zwar lateinamerikanische Theologien, doch steht sie in einer älteren Traditionslinie. So betont der Sozialreformer Friedrich Naumann (1860-1919) bereits Ende des letzten Jahrhunderts Jesu Nähe zu den Armen, die es zur vordringlichen Aufgabe
mache, “die soziale Frage vom Standpunkt der Bedrängten, für die Be263
drängten und mit den Bedrängten”, eben “von unten her”
zu bearbeiten. Nicht anders Dietrich Bonhoeffer, der darauf hingewiesen hat, daß
es der Weg Jesu selbst sei, der dazu anhalte, geschichtliche Ereignisse
“von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten,
259
260
261
262
263
Die hebräische Wortwurzel „nh /‟nw bedeutet “gebeugt, bedrückt” sein - R. Martin-Achard,
Art.„nh=elend sein, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München ,Zürich 1984, Sp. 341.
E. Dussel, Vier Themen zu Theologie und Ökonomie, in: Th. Buhl u.a. (Hg.), Option für die
Armen und kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika, Leipzig 1990, 292.
J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 97.
H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 169f.; auch C. Boff u. J. Pixley, Die Option für die
Armen. Gotteserfahrung und Gerechtigkeit, Düsseldorf 1987, 34 - 123.
F. Naumann, Gesammelte Werke, Bd. 1, 346; vgl. ähnliche Aussagen ebd. 354, 378ff.
102
Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz
264
der Leidenden”
wahrzunehmen. Diese Perspektive schärft den Blick
für das, was Gerechtigkeit aus der Perspektive der Opfer bedeutet. Daß
der Gott der Bibel zu den Armen und Schwachen hält, zieht sich wie ein
roter Faden durch die ganze Bibel. Diese Option für die Armen läßt sich
als ein Grundanliegen bezeichnen, das in der Hebräischen Bibel fest
verwurzelt ist und zu den prägenden Traditionen des Neuen Testaments
gehört. Und Jesus von Nazareth hat nach dem Zeugnis des Neuen Testaments diesen Blick von unten eingenommen.
Mittlerweile ist die Option für die Armen zum Konsens der ökumeni265
schen Christenheit geworden. So sprach sich in Dresden die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung 1988 für eine “Option für die Armen” (I., 29) aus. Ähnlich bekräftigte die Ökumenische Weltversammlung von Seoul 1989, “daß Gott
auf der Seite der Armen steht” (Grundüberzeugung II). Auch die Zweite
Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 hat sich zu der
“Option für die Armen” bekannt (Hintergrundmaterial Ziff. B 22). Erstmals
haben auch die Kirchen in Deutschland in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort offiziell sich diese Option zu eigen gemacht, wenn sie von einer
“vorrangigen Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten”
(Ziff. 3.3.2) sprechen.
Die Stärke des Begriffs einer Option für die Armen liegt darin, daß er
einen Maßstab entwickelt, der nach den Opfern des Systems fragt. Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn die Theologie der Befreiung seit
einigen Jahren den ursprünglich soziologisch geprägten Begriff der Option für die Armen um die ökologische Dimension erweitert. Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff sagt: “Das am meisten bedrohte
266
Geschöpf: der Arme.”
Der Ausgangspunkt, von dem aus die Theologie der Befreiung sich auf die ökologische Katastrophe einläßt, ist die soziale Katastrophe, der die Armen ausgesetzt sind. “In diesem Kontext
gesehen, sind die am meisten bedrohten Lebewesen nicht die Wale,
267
sondern die Armen, die zu einem vorzeitigen Tod verurteilt sind.” Die
264
265
266
267
D. Bonhoeffer, Nach zehn Jahren, in: ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, 14. Aufl. München 1990, 26.
Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Option für die Armen: P. Rottländer, Option für
die Armen. Erneuerung der Weltkirche und Umbruch der Theologie, in: Mystik und Politik.
Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für J.B. Metz, Mainz 1988,
72-88; H. Bedford-Strohm, Vorrang der Armen, 199 - 203; G. Collet, “Den Bedürftigen solidarisch verpflichtet”, Implikationen einer authentischen Rede der Option für die Armen, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, Bd. 33, Münster 1992, 67-84.
L. Boff, Theologie der Befreiung und Ökologie: Alternativen, Gegensatz oder Ergänzung, in:
Concilium 31 (1995) 423-430.428.
L. Boff, Theologie der Befreiung und Ökologie, 429.
103
Option für die Armen um ein Verständnis zu erweitern, das ökologische
Bedrohungen einschließt, geht von der Analyse aus, daß es die gleiche
Logik des Systems der Kapitalakkumulation und einer gesellschaftlichen
Organisation ist, die Menschen unterdrückt und die auch den Raubbau
an der Natur betreibt. In einer weiteren Ergänzung versteht die Theologie
der Befreiung den Armen immer auch als den Anderen, der ausgeschlossen und nicht Teil des gesellschaftlichen Systems ist. Die Option
für die Armen meint deshalb immer eine Option für den armen Anderen.
Diese Option bringt drei Aspekte zum Ausdruck: Erstens enthält sie einen ethischen Maßstab, der alle - auch die wirtschaftlichen - Prozesse
danach bewertet, was sie den Armen tun, was sie ihnen antun, was sie
ihnen ermöglichen zu tun. Sie will also eine angemessene Beteiligung aller am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglichen. Zweitens erfüllt die Option für die Armen eine kritische Funktion. Sie ist kritischer Maßstab für eine theologische Ethik, an dem sich die Tauglichkeit
wirtschaftlicher Strukturen und Ordnungskonzepte zeigt. Drittens will sie
den Umgang mit den Armen zu ihrem Gunsten und gemeinsam mit ihnen verändern. Aus der Perspektive der Armen und Schwachen wird gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit wahrgenommen und
versucht, im Interesse des Gesamtsystems zu beenden. Deshalb ist die
Option für die Armen nur scheinbar ein Einsatz für Teilinteressen. Sie
zielt auf eine gerechtere Gesellschaft und hat das allgemeine gesellschaftliche Interesse im Blick.
Die Frage nach der wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit aus
der Perspektive der Armen zu stellen, ist ein Ansatz, den eine biblisch
begründete christliche Wirtschaftsethik aufnehmen muß. Heinrich Bedford-Strohm hat dargelegt, daß der biblische Ansatz, Gerechtigkeit von
den Armen her zu erschließen, auch mit dem philosophischen Gerechtigkeitsverständnis von John Rawls verknüpfbar und säkular
268
kommunikabel ist.
Ein Gerechtigkeitsverständnis, das sich an einem
am Vorrang für die Armen orientierten Gerechtigkeitsbegriff ausrichtet,
steht im Dienst der Forderung nach Gerechtigkeit für alle und obwohl zunächst eine partielle Solidarität, stellt sie ein Mittel zur universalen Solidarität bereit. Rawls begründet sein Gerechtigkeitsverständnis mit dem Gedankenkonstrukt, sich in die Lage der am meisten Benachteiligten zu
versetzen, um von dort her die Einsicht zu ermöglichen, daß es beim
Vorrang der Armen keineswegs um den Versuch geht, lediglich für eine
bestimmte Gruppe Gerechtigkeit in Geltung zu setzen. Wo Nachteile und
Vorteile der gesellschaftlichen Zusammenarbeit ungleich verteilt sind,
dort vertritt die Forderung nach Gerechtigkeit die Interessen derer, denen
268
H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 293 - 306.
104
ihr Anteil an den Gütern und Chancen der Gesellschaft vorenthalten wird.
Deshalb läßt sich die Schlußfolgerung ziehen: “Sowohl aus theologischer
als auch aus philosophischer Sicht ist wichtiges Kennzeichen eines am
Vorrang für die Armen orientierten Gerechtigkeitsverständnisses seine
269
Inklusivität.” Rawls‟ Gerechtigkeitsverständnis und die biblische Option
für die Armen lassen sich also gut miteinander verknüpfen.
269
Ebd. 307.
105
4. TORA ALS GRUNDLAGE THEOLOGISCHER ETHIK
4.1. Ethik der Tora als Grundlage
4.1.1 Biblisch fundierte Ethik
Der Alttestamentler Frank Crüsemann hat die Forderung aufgestellt,
“daß unbeschadet des historischen Abstandes allein die Tora die Grund270
lage einer biblisch orientierten Ethik sein kann.” Weder eine rationale
Normbegründung noch eine “angebliche Deduktion von Normen aus
271
dem puren Evangelium” könne eine theologische Ethik begründen. Die
Tora sei vielmehr Grundlage des Kanons und deshalb auch einer neutestamentlichen Ethik. Er möchte für eine Tora-Rezeption “historische
272
Grundlagen”
bereitstellen. Mit diesem Ansatz verfolgt Frank Crüsemann das Anliegen einer “Reintegration der Tora in eine Evangelische
273
Theologie” . Können die ethischen Orientierungen der Tora aber überhaupt für den Christen maßgeblich sein?
Christofer Frey hat sich kritisch mit Frank Crüsemanns Forderung
auseinandergesetzt. “Was ist zu diesem Versuch zu sagen,
postulatorisch im Christentum eine Evidenzbasis zu schaffen, indem es
sich mit der Tora derer, die häufig seine Opfer waren, identifiziert, also in
274
eine spezielle Identitätsethik eintritt?” Frey hält Crüsemann entgegen:
Wenn der Exeget selbst sich moderner Kategorien historischer Forschung bediene, so seien dem Ethiker auch moderne ethische Kategorien gestattet. Die Tora sei im Unterschied zu einer Folgenethik eine
Identitätsethik, die nicht aus abstrakten Prinzipien, sondern aus konkre270
271
272
273
274
F. Crüsemann, Die Tora, 424f.; kritisch setzt sich mit diesem Ansatz auseinander: Chr. Frey,
Tora für Protestanten - oder über die sich rasch wechselnden Evidenzen in der protestantischen
Theologie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 38 (1994) 242-246.
F. Crüsemann, Die Tora, 12.
Ebd. 425.
Ebd. 9. Mit dieser Forderung macht er sich eine Position von F.-W.Marquardt zu eigen.
Chr. Frey, Tora für Protestanten, 246.
106
ten Gemeinschaftsverhältnissen hervorwachse. Crüsemann fordere eine
solche Identitätsethik. Doch wie könne sich die Christenheit unter die Tora stellen, die Gott allein Israel gegeben habe? Gegen eine Applikation
von der Tora entnommener Normen erhebt Frey den Einspruch, “unmittelbare Aktualität zu wittern bedeute, die Ethik auf einen unbestimmten
Appell schrumpfen zu lassen, statt kritische Reflexion gelebten oder
275
neuen Ethos in Gang zu setzen.” Den Rückbezug auf die Tora versteht
Christofer Frey gar als Ersetzung der Christologie. Sein Fazit: “Dem Protestantismus ist deshalb zu wünschen, daß er davon abläßt, von Thema
zu Thema zu flattern - in der Hoffnung, daß das jeweils Gewählte seine
276
Gegenwartsbedeutung moralisch und apologetisch begründe.”
Christofer Freys Kritik wirkt nicht überzeugend. Wenn er bezweifelt,
daß die Tora als ein geschichtlich gewachsenes Ethos auch universale
Gesichtspunkte hervorbringen könne, übersieht er den universalen Anspruch der Tora, die sich nicht allein auf die Geschichte Israels, sondern
auch auf die Geschichte der Menschheit bezieht. Israel lebt bereits nach
einer Weisung, die eines Tages auch andere Völker befolgen sollen, besitzt also ein Wissen, das eines Tages auch von fremden Völkern beachtet werden wird. Das meint jedenfalls Jesaja, wenn er Israel als “Licht für
die Völker” bezeichnet (Jes 42,6). In diesem Bild kündigt sich sehr früh
eine Art von Universalismus an, die jeden Partikularismus einer Identitätsethik übersteigt. Ausdrücklich formuliert wurde dieser universalethische Ansatz in den sog. noachidischen Geboten. Klaus Müller hat in seiner Abhandlung Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und An277
sätze zu ihrer Rezeption im Christentum die universalethische Debatte
im Judentum im Abfassungszeitraum der neutestamentlichen Schriften
nachgezeichnet. Dem Judentum und dem Christentum war in je eigener
Ausprägung die Fragestellung nach der Geltung der Tora in dem Moment aufgegeben, als der palästinensisch-israelitische Kulturraum verlassen wurde. Die sog. sieben noachidischen Gebote hat die jüdische
Theologie ausdrücklich als ein universalethisches Angebot für die ganze
Menschheit in der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems formuliert. Diese
bestehen aus dem Verbot des Götzendienstes, der Gotteslästerung, des
Mordes, des sexuellen Vergehens, des Raubes und des Essens lebendiger Tiere sowie dem Gebot, Gerichtshöfe einzurichten. Tora für die Völker heißt nach dem Aposteldekret zunächst Freistellung der Völker von
der dem Judentum zugehörigen Mosetora und die Verpflichtung der universalen Menschheit auf den Dreierkatalog: Verbot des Götzendienstes,
der Unzucht und des Blutvergießens (so in: Apg 15,19-2; vgl. Gal 5,19275
276
277
Ebd. 245.
Ebd. 246.
Berlin 1994.
107
21; 1 Kor 5,10f; 6,9f.; 1 Tim 1,9f; Apk 9,20f; 21,8). Die drei Hauptverbote
entsprechen dabei faktisch einer Kurzform der Tora, wie ja auch das Liebesgebot oder die Goldene Regel (Lev 19,18 / Mk 12,31; Mt 7,12; Lk
6,31) aus der Tora Israels schöpfen. Die frühe neutestamentliche Ethik
orientiert sich an dem klassischen jüdischen Konzept einer Tora für die
Völker. Die Kurzform der Tora ist ein Zugang zur ganzen Mosetora, die
als Weisung Gottes vom Sinai nach rabbinischer Auskunft für alle Erdenbewohner offen steht. Rabbi Meir verweist auf Lev 18,5: Dort heißt es
nicht, daß den Priestern oder Israeliten, sondern den Menschen die Tora
gegeben sei: der Mensch, der sie - die Weisungen der Tora - tut, werde
278
leben. Klaus Müller stellt zwischen der universalethischen Absicht der
jüdischen Tora und der neutestamentlichen Ethik einen Zusammenhang
her: “Was jüdischerseits innerhalb des Abfassungszeitraums der neutestamentlichen Schriften an universalethischem Ansatz vorliegt, kommt
mithin bei der Bemühung um Tora für die Völkerchristen voll zum Zuge
und wird zum integralen Bestandteil christlicher Ethik. Das neutestamentliche Christentum macht die Frühform der noachidischen Tora in Gestalt
279
der Kardinalsündentrias zur verbindlichen Weisung.” Das aber bedeutet: Die Ethik der Tora steht keineswegs einem universalethischen Ansatz entgegen; der universalethische Ansatz der Tora gibt dem universalethischen Ansatz des neutestamentlichen Christentums vielmehr die
Richtung vor. Die Tora als partikulare Identitätsethik ohne Universalitätsanspruch und die christliche Ethik demgegenüber als eine Ethik mit Universalanspruch zu verstehen, wird theologisch weder der Tora noch dem
Judentum noch dem neutestamentlichen Christentum gerecht.
Die Tora ist das Medium, in dem Gott und die Lebensbereiche zusammengefaßt werden. Die Tora zu halten, ist nach biblischem Verständnis ein Vollzug des Bundes mit Gott und Anweisung zu einem existentiellen und praktischen Gottesverhältnis. Gegen Vorbehalte einer
christlichen Rezeption der Tora ist darauf hinzuweisen, daß das Neue
Testament selber in den Horizont der Frage nach der Geltung der Tora
gehört und dadurch als Teil einer auf Sinai zurückreichenden Tradition zu
verstehen ist. Leo Baeck stellte 1938 in seiner Schrift Das Evangelium
als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte die neutestamentliche
Überlieferungsgeschichte in die Sinaitradition. “In dieses eigentümliche
jüdische geistige Leben und in die Art und Weise dieser jüdischen Tradition gehört die alte Evangeliumsüberlieferung hinein. Sie hat an all diesem Charakteristischen ihren vollen Anteil, sie ist nichts anderes als ein
280
Stück davon.”
Das Neue Testament setzt also die Tora voraus; es
278
279
280
Sanhedrin 59a, zit. nach: K. Müller, Tora für die Völker 13.
Ebd. 195f.
L. Baeck, Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin 1938, 29.
108
setzt sie nicht außer Kraft, sondern radikalisiert sie eher, als daß es sie
281
relativiert. Deshalb ist auch der Vorwurf von Christofer Frey, daß die
Chiffre Moses bei Frank Crüsemann die Christologie ersetze, nach dem
exegetischen Befund nicht haltbar, wie im folgenden ausführlich darge282
stellt werden soll.
Das Verhältnis der neutestamentlichen Schriften zu denen der hebräischen Bibel läßt sich exemplarisch am Sabbat darstellen. Gerhard Dautzenberg nennt in seinem Bericht über den Forschungsstand das Verhältnis Jesu zur Tora eines der schwierigsten und umstrittensten Themen283
felder der neutestamentlichen Forschung. In der kaum noch zu überschaubaren exegetischen Literatur lassen sich drei Grundmuster der In284
terpretation ausmachen:
- Jesus hat durch seine provozierende Sabbatverletzung den in seiner
Zeit verdunkelten, jedoch ursprünglichen und dem Willen Gottes entsprechenden Sinn des Sabbat wieder ans Licht gebracht;
- Jesus hat eine kritische Stellung dem Sabbat gegenüber eingenommen;
- Jesus hat den Sabbat aufgehoben.
In den neutestamentlichen Wissenschaften zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Von W. Bousset an herrschte ein Jesusbild, das von
einem Gegensatz zwischen Jesus und der Tora bestimmt war: In souveräner Freiheit habe Jesus Tora und Kult außer Kraft gesetzt, den Sabbat
provokativ gebrochen und bewußt an der Tora, der Grundlage des jüdischen Gemeinwesens, gerüttelt. Es mehren sich jedoch die Stimmen,
welche diese torakritische Position Jesu bestreiten und - das ist entscheidend - sein Verhalten und seine Weisungen im Rahmen des frühjüdischen Toraverständnisses und eben nicht im Gegensatz zu diesem interpretieren. Dieses Frühjudentum muß sowohl vom biblischen wie auch
281
282
283
284
So auch S. Schulz in seiner Neutestamentlichen Ethik, Zürich 1987. Dort heißt es: “Jesus steht
auf dem Boden der von ihm radikalisierten Tora, und seine gesamte Ethik beabsichtigt nur eines, den Willen Gottes uneingeschränkt und keineswegs nur formal zur Geltung zu bringen.”
(83) Das “Gesetz vom Sinai” (34) sei in allen Auseinandersetzungen um die Tora immer die
Grundlage geblieben. Widerspruch gegen Mose habe sich innerhalb der Gesetzestradition vollzogen. - Vgl. die Darstellung unten in den Abschnitten 6.1.2.2; 6.1.2.3; 9.6.2.1.
Chr. Frey, Tora für Protestanten, 245 mit Bezug auf F. Crüsemann, Die Tora, 112, 121.
G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (I), in: Orientierung 55 (1991) 229-232; G. Dautzenberg,
Jesus und die Tora (II), in: Orientierung 55 (1991) 243-246. Im Folgenden wird die Forschungssituation nach Dautzenberg referiert. - Zur Debatte vgl. auch: F. Avemarie u. H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher,
frühjüdischer und urchristlicher Tradition, Tübingen 1996, B. Schaller, Jesus und der Sabbat,
Franz-Delitzsch-Vorlesung 1992, Münster 1994.
Spier, E, Der Sabbat, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1992, 25.
109
vom rabbinischen Judentum abgehoben werden. Gerhard Dautzenberg
zieht aus der Debatte um das Toraverständnis Jesu die Folgerung, daß
dieses Paradigma, das Jesu Verhalten zur Tora im Rahmen der frühjüdischen Torainterpretation versteht, die Entwicklung der Jesustradition in
der Gesetzesfrage besser zu erklären vermag. Religionsgeschichtlich
gehört das Urchristentum in seinen Anfängen zum Frühjudentum. Dieses
Frühjudentum ist in seinem Gesetzesverständnis und seiner Gesetzespraxis vielfältiger als das rabbinische. Unbestritten war in allen Gruppierungen - also auch im Urchristentum - die anerkannte Autorität und Funktion der Tora. Weniger im Verständnis der Tora als in der Gesetzespraxis, der Halacha, unterschieden sich die Gruppierungen des Früh285
judentums. In ihrer Praxis vollzog sich immer schon eine kreative Selektion und Weiterbildung der schriftlichen Sinaitradition. Nach dem exegetischen Befund läßt sich jedoch feststellen, daß Jesus und die ersten
nachösterlichen Gemeinden nicht eine neue spezifische Ethik gegen die
Tora oder gar in Abgrenzung zu ihr begründeten, sondern sich als Teil
286
des jüdischen Volkes wußten und der Tora verpflichtet waren.
Auch
das spannungsreiche paulinische Gesetzesverständnis orientierte sich
287
ebenfalls durchaus an der frühjüdischen Gesetzesauslegung. Theologisch ist es deswegen nicht zu rechtfertigen, wenn Tora und Hebräische
Bibel in einen Gegensatz zu den neutestamentlichen Schriften gebracht
werden. Die stereotype Formulierung “das Gesetz und die Propheten” in
den neutestamentlichen Schriften belegt den Zusammenhang von Hebräischer Bibel und Evangelien (Mt 5,17.18; 17,12.23; 11,13; 22,40; Lk
22,44; Joh 7,19 u.ö.). Die Bezeichnung “Erstes Testament” oder “Hebräische Bibel” für das Alte Testament will dieser Sichtweise Rechnung tragen.
Wenn sich so der gegenwärtige Forschungsstand beschreiben läßt,
dann hat dies weitreichende Folgen für die Relevanz der Tora für eine
spezifisch christliche theologische Wirtschaftsethik. Die neutestamentlichen Schriften gehören in den Zusammenhang der innerbiblischen Debatte um Geltung, Interpretation und Weiterführung der Tora. Das theo285
286
287
So auch: E. W. Stegemann u. W. Ekkehard, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995,
185f.
Vgl. dazu u. a. R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so
lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern-Salzburg 1995, 92-94. Der Ansatz, die neutestamentlichen Diskussionen als Teil der innerjüdischen Debatte um die Geltung der Tora zu verstehen, wird in weiteren Beiträgen des
Sammelbandes aufgegriffen: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Eine sehr deutliche Lesart aus Sicht der Tora: M. Vidal, Le Juif Jésus et
le Shabbat. Une lecture de l‟Évangile à la lumière de la Torah, Paris 1997.
G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (II), 244.
110
logische Proprium christlicher Ethik definiert sich dann nicht aus einem
Gegenüber zur Tora, sondern als Entfaltung, Weiterführung, Selektion
und kreative Aneignung der einen Tora. Die Sozialtraditionen der Hebräischen Bibel erhalten deshalb einen Eigenwert auch für eine christliche
Ethik.
Herkunft und Etymologie des hebräischen Wortes tora sind unsi288
cher. Nach dem ursprünglichen Sinn bezeichnet Tora eine “Weisung”.
Sie kann die göttliche Weisung (vgl. Ex 35,34; Dtn 33,10; Jes 2,3), eine
Weisung von Vater und Mutter (Prov 1,8; 4,1f; 6,20), das Wort des Propheten (Jes 8,16; 30,9f; Jer 17,19ff.) oder in der Weisheitsliteratur auch
eine Belehrung (Spr 13,14) bedeuten. Das Hebräische verwendet für das
göttliche Gesetz, die Tora im engeren Sinn, keinen einheitlichen Begriff,
sondern gebraucht für die Forderungen Gottes mehrere Lexeme mit je
289
unterschiedlichen Bedeutungsnuancen.
In der Hebräischen Bibel begegnet man Weisungen, “Weisungen Gottes” (Jos 24,26), “Gesetzen
des Herrn” (2 Kön 10,31) oder “Weisungen des Mose” (Jos 8,31). Sie
bezeichnen mehr als Gesetze im modernen Sinn. Gerhard von Rad ver290
steht unter “Gesetz/Tora” die gesamten Willensoffenbarungen Gottes.
Gerade um den mit Gesetz konnotierten juridischen Aspekt nicht in den
Vordergrund zu rücken, hat Martin Buber in seiner Bibelverdeutschung
von “Weisung” gesprochen. Die Weisungen der Tora regeln einen jeden
Aspekt des kultischen, privaten und gesellschaftlichen Lebens: Landwirtschaft, Handel, Wirtschaft, Kleidung oder Zubereitung der Nahrungsmittel. Michael Welker hat wichtige Einsichten vorgetragen, die deutlich machen, daß das biblische Gesetz keineswegs als “Forderung von Werken”
291
zu verstehen sei.
Was das biblische Gesetz vielmehr zur Sprache
292
bringen will, ist eine “lebensfördernde Erwartungshaltung” . Welker will
damit zum Ausdruck bringen, daß das biblische Gesetz als Beitrag zur
Herausbildung einer Erwartungskultur zu verstehen sei. Die jedoch sei
nicht beliebig, sondern durch das Gesetz werden drei zusammenhängende und inhaltlich präzise Funktionsbereiche gefördert, nämlich Recht,
293
Kult und Erbarmen. Diese sollen eine Ordnung dessen konstituieren,
was Gottes Wille ist. Mit der durch das Gesetz hervorgerufenen Erwartungskultur wird eine gegenseitige Verläßlichkeit über das, was gelten
soll, hervorgerufen. Die Tora ist deswegen nichts Geringeres als das
288
289
290
291
292
293
So R. Rendtorff, Art. Tora, in: RGG 3. Aufl. Bd. 6, 950.
K. Koch, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 43.
G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, 203f.
M. Welker, Erwartungssicherheit und Freiheit. Zur Neuformulierung der Lehre von Gesetz und
Evangelium, in: Evangelische Kommentare 18 (1985), 680-683 (Teil 1); ders., Erbarmen und
soziale Identität, in. Evangelische Kommentare 19 (1986) 39-52 (Teil 2).
M. Welker, Erwartungssicherheit und Freiheit, 680.
Das Wichtigste des Gesetzes nennt Mt 23,20: “Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue.”
111
Projekt, alle Bereiche des Lebens und der menschlichen Erfahrung in
das Licht Gottes zu stellen. Die gelebte Tora vollzieht die Gottesbeziehung. Sie ist das Medium, in dem die Vielfalt der Wirklichkeitsbereiche
und Gott zusammengebracht werden.
Der Gegensatz “Gesetz” und “Evangelium” hat lange eine theologisch
angemessene Sicht der Tora verstellt. Eine Kritik der theologischen Gesetzeskritik ist überfällig, um ein Verständnis der Tora gewinnen zu können, das der biblischen Tradition entspricht und auch dem Judentum gerecht wird. “Wer die Gesetze hält, wird durch sie leben” (Lev 18,5). Das
biblische Gesetz, die “Weisung”, ist selbst eine Art von Evangelium.
Denn sie ist “heilig, gerecht und gut” (Röm 7,12). Als “Gesetz” steht sie
nicht in einem Gegensatz zum Evangelium. Auch vom Neuen Testament
her ist die Weisung der Hebräischen Bibel nicht als ethischer Indikativ
oder Imperativ zu verstehen, sondern als eine Weisung zum Leben. Die
Einsicht der Alttestamentler, zwischen “Gesetz” und “Evangelium” nicht
einen Gegensatz zu konstruieren, ist zwar in die protestantische systematische Theologie theologisch aufgenommen worden, doch auf einem
abstrakten Niveau, “das heißt ohne Bezug auf die realen Inhalte der To294
ra” - so die Kritik des Alttestamentlers Frank Crüsemann. Was bedeutet die theologisch systematische Aussage von der bleibenden Erwählung des Volkes Israel für die christliche Ethik?
Frank Crüsemann verweist auf die bereits 1940 von Martin Noth erhobene Forderung, die theologische Ethik müsse “die alt- und neutestamentliche Erscheinung des Gesetzes stets zur Grundlage ihrer Arbeit
295
machen.” Doch diese Einsicht Noths hat bislang so gut wie keine Wirkung auf die theologische Ethik gehabt. Dieses Defizit ist um so bemerkenswerter, als es bei der Tora um ethische Normen und Werte geht, die
das private, öffentliche und auch wirtschaftliche Leben regeln sollen. Luise Schottroff nennt das biblische Wirtschaftsrecht “das Herz der gesam296
ten biblischen Tradition.”
Das läßt fragen, warum die theologische
Ethik bislang kaum die wirtschaftsethisch relevanten Einsichten der Exegese rezipiert hat.
4.1.2 Tora als Weisung zur Gerechtigkeit
Historisch ist das Recht der Tora nicht zu der Zeit entstanden, wo es jetzt
literarisch angesiedelt ist. Die Propheten des 8./7.Jh. kennen noch kein
294
295
296
F. Crüsemann, Die Tora, 9.
M. Noth, Die Gesetze im Pentateuch, SKG.G 17,2, 1940 = ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, Göttingen, 2. Aufl. 1960, 10., zit nach: F. Crüsemann, Die Tora, 9.
L. Schottroff, Das Sabbatjahr und das Grundrecht auf Arbeit, in: dies., Suchet mich bei meinen
Kindern. Bibelauslegung im Alltag einer bedrohten Welt, München 1986, 19f.
112
schriftlich fixiertes Recht, dürften jedoch zur Entstehung des ältesten
Gesetzes, des sog. Bundesbuches, den Anstoß gegeben haben. In der
Tora findet sich ein Nebeneinander ganz verschiedener Traditionen. Entstanden zu unterschiedlichen Zeiten, setzen sie verschiedene soziale,
ökonomische und politische Bedingungen voraus und haben auch unterschiedliche theologische Aussageabsichten. Eckart Otto verweist auf
diese Vielzahl von Ethiken im Alten Testament und kommt zu der
297
Schlußfolgerung: “Die Einheit der Ethik des AT ist ihre Geschichte.”
Während Eckart Otto also kein inhaltlich-materiales Identitätsmerkmal
der Ethiken des Alten Testamentes kennt, hat Walter Dietrich in einer
überzeugenden Argumentation dargelegt, daß Gerechtigkeit wie ein “roter Faden” die Schriften der Hebräischen Bibel durchziehe. Er kommt zu
dem Schluß: “Die Mitte des Alten Testaments läßt sich am besten mit
298
dem Begriff und der Sache der „Gerechtigkeit‟ bezeichnen.”
Israel war sich der inhaltlich bestimmten Besonderheit seines Rechts,
das die Frage nach der Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt hatte, durchaus bewußt. Leo Baeck schreibt über die Tora: “Die Gesetze in der Welt
ringsumher - in der orientalischen, in der griechischen, in der römischen
Welt - waren geschrieben vom Standpunkte der Besitzenden aus . (...)
Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, ist
vom Standpunkt des Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben . (...) Ein ganz anderer Standpunkt ist eingenommen: Vom
Standpunkte des Schwachen, des Bedürftigen, des Kleinen aus werden
die Gesetze gegeben, werden sie immer neu verkündet und prokla299
miert.” Ähnlich charakterisiert Benno Jacob die Tora: “Das Sinaigesetz
kennt unter Israeliten keine Rangklasse, aber seine Lieblinge sind die
Witwe und die Waise, der eigene Knecht, der Fremdling und der Arme,
300
für den es allein drei Namen hat. Es ist gerecht, billig und human.” Gerechtigkeit ist nicht subjektlos, sie legt sich hier als eine Parteinahme
aus. Die freigekommenen und aus ägyptischen Verhältnissen befreiten
Sklaven schufen eine Sozial- und Wirtschaftsordnung, die einen Rückfall
in ägyptische Verhältnisse mit erneuter Versklavung und Unterdrückung
abwehren und die der Menschenwürde, insbesondere auch der arbeitenden Menschen, rechtlich und ökonomisch Gestalt geben wollte. Errungene Freiheit galt es zu bewahren. Deshalb hielt Israel Erfahrungen
der Unterdrückung in Erinnerung und begründete die sozialen Schutzbe297
298
299
300
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 12.
W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 236.
Zitiert im Nachwort von B. Klappert: A.Friedlander, Leo Baeck. Leben und Lehre (1973), München 1990, 305.
B. Jacob, Das Buch Exodus, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Shlomo Mayer, Stuttgart 1997, 1061. - Benno Jacob (1862-1945) stand in der Tradition des deutschen Reformjudentums und mußte 1939 emigrieren. Der Exodus-Kommentarband wurde posthum ediert.
113
stimmungen immer wieder mit der Formel: “Denk daran: als du Sklave
warst in Ägypten (...)” (Dtn 24,22; 15,15; Ex 22,20; 23,9; Lev 19,34.36
u.ö.). Was aber bedeutet diese Formel angesichts sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse? Einseitig wird aus der Erinnerung heraus
Partei genommen für die Sklaven. Über die Sozialgesetzgebung des
Deuteronomium sagt Frank Crüsemann deshalb mit vollem Recht: “Ge301
gen wen diese Gesetze stehen ist ebenso klar wie für wen sie stehen.”
In der Hebräischen Bibel zeigt sich ein Durchbruch in der altorientalischen Rechtsgeschichte: Die Rechtssätze werden nicht durch die Königsmacht, sondern durch die göttliche Offenbarung begründet. Mit dieser Rechtsbegründung unterscheidet sich Israel von den Rechtsbegründungen Mesopotamiens. Nicht der König, sondern JHWH ist die
Quelle des Rechts. Diese Rechtsbegründung führt zu einer immanenten
Herrschaftskritik, denn auch der König untersteht dem Recht; gegen den
König kann an das Recht JHWHs appelliert werden. Die Tora entzieht
sich so einer politischen Funktionalisierung, das Recht der Tora kann der
staatlichen Macht gegenübertreten.
4.1.3 Erinnerung an den Exodus und Gegenwartsweisung
Die inneralttestamentliche Rezeptionsgeschichte ist ein kreativer, dynamisierender Umgang der Bibel mit ihrer eigenen Tradition: Wertentscheidende Normen durchziehen die biblische Überlieferung. In jeweils neuen
sozialen und ökonomischen Situationen wird die eine Verpflichtung der
Tora modernisiert. “Das judäische sich zum Ethos entwickelnde Recht
fordert die permanente Solidarität des wirtschaftlich Starken mit dem
302
Schwächeren.” Frank Crüsemann spricht von einem “entscheidenden
303
Prinzip der Tora” : Es bestehe darin, daß Prinzipien die ausformulierten
Regeln bestimmen. Es ist eine unbedingte und vorrangige Logik der
Humanität, die Recht und Gerechtigkeit gegen andere Rationalitäten
durchsetzen will. Die Tora wird in ihrem Kern von Grundprinzipien gelei304
tet, die als “Meta-Norm und kritische Instanz”
oder Regulativ für alle
Dynamisierungen und kreativen Anpassungen der Tora an veränderte
Verhältnisse fungieren. Fortgeschrieben und aktualisiert wurde die Tora
in der sog. “mündlichen Tora”, dem Talmud, der selbst einen quasikanonischen Rang erhält und Offenbarungsqualität beansprucht. Damit
301
302
303
304
F. Crüsemann, “...damit er dich segne...” (Dtn 14.29). Die Produktionsverhältnisse der späten
Königszeit, dargestellt am Ostrakon von Mesad Hashavjahu, und die Sozialgesetzgebung des
Deuteronomium, in: L. Schottroff, W. Schottroff (Hg.), Mitarbeiter der Schöpfung. Bibel und
Arbeitswelt, München 1983, 95.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88.
F. Crüsemann, Die Tora, 228.
Ebd. 228.
114
die Festschreibung des göttlichen Willens nicht in Erstarrung führt, bedarf es einer Ergänzung durch weitergehende innovative Gottesrede.
305
“Der Kanon und die viva vox gehören zusammen.” Die Konzeption einer “mündlichen Tora” geht von einem Prozeß der Fortführung und Aktualisierung aus, in dem Gott durch Mose zu allen Generationen immer
wieder spricht und gehört wird. Eine talmudische Legende bringt dieses
dynamische Prinzip der Tora gut zum Ausdruck: Mose kommt in das
Lehrhaus des Rabbi Akiba, setzt sich in die achte Reihe und - versteht
306
nichts.
Das Urdatum biblischen Bewußtsein ist die Erfahrung der Befreiung
aus Knechtschaft. Diese Erfahrung wird in immer neuen Aktualisierungen
erinnert. Die geschichtliche Erfahrung wird zu einem normativen Anspruch, der auch spätere Generationen einbezieht. Der Mahnung “Denk
daran, als du Sklave warst in Ägypten” (Dtn 24,22 u.ö.) entspricht die
Begründung “denn der Herr hat euch gesagt, ihr sollt auf diesem Weg
nie wieder zurückkehren” (Dtn 17,16; 6,12; 8,14f. u.ö.). Israel und Ägypten sind zwar geographisch Nachbarländer, zwischen denen zahlreiche
politische, ökonomische und ideologische Verbindungen bestehen. “Auf
der Landkarte der Erinnerung jedoch erscheinen Israel und Ägypten als
zwei entgegengesetzte Welten . (...) Israel ist die Negation Ägyptens, und
Ägypten steht für alles, was Israel überwunden und hinter sich gelassen
307
hat.”
Die Erinnerung an Ägypten ist ein Akt fortwährender Distanzierung. An Ägypten zu erinnern bedeutet, zu wissen, was einmal war und
nicht wieder eintreten darf. Nach dem Urteil der Bibel war Ägypten sehr
wohl ein Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Num 16,13). Ägypten
wird nicht angelastet, ein Land hoher Zivilisation, Kultur und des Wohlstandes zu sein. Ägypten ist eine Metapher, die aussagt, daß all dies auf
Kosten der Schwachen und Rechtlosen geschieht. Die Tora enthält eine
akkumulierte Erinnerung an diese unwürdigen Verhältnisse in Ägypten.
Sie werden in einer produktiven Erinnerung wachgehalten, die Widerstand gegen solche Verhältnisse wie in Ägypten nähren und stützen
kann. Die Erinnerung ist einerseits geschichtsbezogen, da sie sich auf
ein einmaliges geschichtliches Ereignis des Exodus bezieht; andererseits
aber ist sie auch gegenwarts-kritisch, indem sie die Gegenwart an einem
Freiheitsprojekt mißt und so mit ihren Plausibilitätsstrukturen durchbricht.
Außerhalb dessen, was die Gegenwart bestimmt, nimmt die Erinnerung
305
306
307
Ebd. 422.
Mitgeteilt ohne Angaben ebd. 423.
J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Wien 1998, 24.
Assmann wendet sich gegen die mosaische Unterscheidung Israel/Wahrheit und Ägypten/Unwahrheit. Diese Typologie habe Ägypten zu einem Land der Despotie, der Idolatrie und
der Tierverehrung gemacht (J. Assmann, Moses der Ägypter, 29f.; 281f.).
115
einen kritischen Standpunkt ein, der in jeweils verschiedenen Situationen
das Interesse an Freiheit in der Gestalt von Recht realisieren will. Immer
wieder wird an den Entstehungs- und Lernprozeß von Freiheit und Würde erinnert, die aufs Spiel gesetzt würden, wenn sie dem Vergessen anheimfallen würden. Ohne die Vergegenwärtigung durch die Erinnerung
kann errungene Freiheit wieder verlorengehen. Das Exodusereignis
zeigt, daß sich Freiheit und Gerechtigkeit keineswegs ausschließen. Aus
der Erfahrung von Ungerechtigkeit wird ein Prozeß angestoßen, der errungene Freiheit sichern will.
4.1.4 Exodusdenken und Exoduspolitik
Der Auszug der Hebräer aus dem “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) ist
ein Paradigma von bleibender Bedeutung. “Du bist es, der aus Ägypten
ausgezogen ist! Nicht nur unsere Vorfahren hat Er befreit, sondern auch
uns zugleich mit ihnen hat Er befreit,” so heißt es in der jüdischen
Haggada, der jüdischen Passahzeremonie bis zum heutigen Tag. Jüdische Theologie hat den Exodus nie als Ausgangspunkt nur der jüdischen
Heilsgeschichte gewertet, sondern ihm eine universelle Bedeutung als
Wendepunkt in der Weltgeschichte gegeben. “Nicht nur Israel zog aus
Ägypten”, sagen die Rabbinen in der Auslegung von Ex 12,38, sondern
308
mit ihnen zog die ganze Menschheit aus dem Haus der Knechtschaft.
Die Erinnerung an den Exodus wurde zur Weisung für die Gestaltung
der Gegenwart. Diese Weisung war nicht ein für allemal in ihrer Ausgestaltung in überzeitlichen Gesetzen oder Regulierungen verbindlich. Was
verbindlich war, war der Grundimpuls, die leitende Grundnorm: Freiheit
für die Sklaven der Arbeitswelt zu bewahren. Deshalb wurde auch durch
die Geschichte Israels dieses Grundanliegen immer wieder in neue Formen gebracht. In allen Dynamisierungen blieb Israel diesem Grundimpuls treu. Das Neue Testament setzt die Hebräische Bibel voraus, findet
in ihr seine Grundlage und ist besonders dort, wo sozialethische Themen
behandelt werden, im Horizont einer dynamisierenden Auslegung der Tora zu lesen.
Eine theologische Wirtschaftsethik findet deshalb nur in dieser “Einheit
von Geschichtserinnerung und Gegenwartsanweisung, von Geschichts309
vergegenwärtigung und geschichtlicher Normenverankerung”
ihren
Ort, wenn sie eine biblisch grundgelegte Wirtschaftsethik sein will. “Die
schöpferische und vielfältige Wiederholung des Exodusmotivs innerhalb
der Bibel zeigt die Vorrangigkeit des Sinnes des Exodus gegenüber dem
308
309
Zit. in P. Lapide, Exodus in der jüdischen Tradition, in: Concilium 23 (1987) 30.
F. Crüsemann, Die Tora, 329.
116
Exodusereignis selbst, eine Vorrangigkeit, die ihrerseits für uns zur Inter310
pretationsnorm wird.” Aus der biblischen Erinnerung fragt deshalb eine
theologische Ethik nach den Opfern und Verlierern der real existierenden
Gesellschaft. Wenn sie so argumentiert, nimmt sie das biblische
Exodusmotiv auf, das auch die Tora begründet. Seit dem Exodusereignis
entfaltet die biblische Tradition dieses Grundmotiv in unterschiedlicher
Gestalt, sein verpflichtender Kern aber bleibt: den sozial und ökonomisch
Schwachen Recht und Gerechtigkeit schaffen. Der biblische Glaube äußert sich als eine freiheits- und gerechtigkeitsstiftende Praxis.
Der wirtschaftsethisch relevante Kern der Tora läßt sich so beschreiben: “Gegen die wirtschaftlichen Zwänge eine neue Solidarität zu wecken, den Rechtsanspruch der sozial Schwachen zu schützen und damit
311
einer besseren Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen.” Es kommt also
darauf an, diese Tora-Grundlinie der Bibel für eine theologischwirtschaftsethische Reflexion aufzunehmen. Die Tora hat selber den Anspruch erhoben, einen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten Ordnung der Ökonomie zu leisten. In ihrer Zeit und für
ihre Situation sprechen die biblischen Texte normative Forderungen aus,
indem sie Gerechtigkeit fordernde Weisungen auch für Fragen der Ökonomie formulieren. Verbindlich können diese kontextuellen normativen
Forderungen nicht in ihrer konkreten Ausformung sein. Es kann nicht darum gehen, die Ausformulierung einer Ethik aus der Zeit der Vormoderne für eine Zeit
verbindlich zu machen, die sich selber als Postmoderne definiert. Verbindlich bleiben allerdings der sozialethische Kern und die Perspektiven,
die in diesen normativen Forderungen enthalten sind, nicht aber die ausformulierten sozialen Normen selbst. Was macht deren Kern aus, der
sozialethisch relevant ist? Eine unbedingte Logik der Humanität, oder
anders gesagt: die Ausrichtung auf den, der ökonomisch, sozial, rechtlich
oder politisch an den Rand gedrängt wird, macht den bleibenden Kern
der Tora in allen Dynamisierungen im Laufe der Zeit aus. Frank Crüsemann sagt deshalb zu Recht über die Wirtschaftsethik der Tora: “Die
Gesetze Gottes durchbrechen die ökonomischen Gesetze da, wo sie zu
312
Ausbeutung und Abhängigkeit führen.”
Dies macht den bleibenden
Kern aus, veränderlich sind allerdings die zeitabhängigen ökonomischen
Prozesse, die zu Abhängigkeit führen. Die Dominanz des Ökonomischen
wird zugunsten des Lebensrechts aller, besonders der Armen, gebrochen. Nicht anders Arthur Rich, der in seiner Wirtschaftsethik von dem
310
311
312
J. S. Croatto, Die soziohistorische und hermeneutische Bedeutung des Exodus, in: Conc 23
(1987) 84.
R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu Themen des
konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 19.
F. Crüsemann, Die Tora, 219.
117
Ansatz ausgeht, daß Wirtschaftsethik bei aller Sachbezogenheit “beharrlich und unerbittlich nach dem Menschengerechten im Sachgemäßen zu
313
fragen” habe. Über das, was das Menschengerechte sein könnte, existieren allerdings unterschiedliche Auffassungen. Im Streit der divergierenden Auffassungen über das Menschengerechte kann die Tora ihre
Sicht einbringen und definieren, was die Wertkategorie menschengerecht nach ihrem Verständnis ausmacht. Die Spezifität der theologischen
Wirtschaftsethik besteht also darin, das Menschengerechte zur Sprache
zu bringen. Wirtschaftsethik wird nach Arthur Rich aber noch einen zweiten Schritt vornehmen müssen, nämlich “das Sachgemäße an das Men314
schengerechte” zu binden. Auch die Tora hatte die ökonomischen Gesetze immer von der Logik des Menschengerechten her betrachtet und
reguliert.
Michael Walzer hat auf den wirkungsgeschichtlichen Aspekt der
Toratradition hingewiesen. Er versteht das biblische Exodusmotiv als ein
treibendes Moment der europäischen Geschichte. Exodus meint mehr
als die Wiedergabe eines historischen Ereignisses. Wenn es etwas gebe, was die europäische Geschichte kennzeichne, so sei es dieses: “Der
Exodus ist eine buchstäbliche Bewegung, ein Vorrücken durch Raum
und Zeit, die ursprüngliche Form (oder Formel) der fortschrittlichen
315
Zeit.”
So läßt sich die Geschichte Europas auch lesen als eine Geschichte von Männern und Frauen, die den biblischen Text in Zusammenschau mit ihren eigenen Erfahrungen gelesen haben. Das erste und
exemplarische Befreiungsereignis, das den Gott der Bibel offenbart, ist
eine Befreiung aus unterdrückerischen ökonomischen und politischen
Verhältnissen. Seitdem hebräische Sklaven aus ägyptischen Verhältnissen freigekommen sind, durchzieht die jüdisch-christliche Geschichte ein
treibendes Moment, das auch in säkularer Form weiterlebt. Der Exodus
hat eine bis in die Gegenwart hineinreichende Erinnerungsspur hinterlassen. Michael Walzer erkennt im christlich-jüdischen Umgang mit der Ge316
schichte ein “Exodus-Denken”.
Ägyptische Verhältnisse werden nicht
einfach zurückgelassen. Sie werden abgelehnt und moralisch gerichtet.
Da nicht Resignation, sondern Hoffnung auf Veränderung aus der ethischen Bewertung folgt, wird der Exodus zu einer nach vorn gerichteten
Bewegung. “Er ist ein Marsch auf ein Ziel zu, ein moralischer Fortschritt,
317
eine tiefgreifende Verwandlung.” Es gibt einen besseren Ort, eine gerechtere Gesellschaft; wo man lebt, hat man es mit Ägypten zu tun. Die313
314
315
316
317
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 73.
Ebd. 73.
M. Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988, 24f.
Ebd. 142.
Ebd. 21.
118
ser Impuls setzt eine Vorwärtsbewegung in Gang. Der Impuls ist komparativisch; er drängt auf mehr Humanität, mehr Gerechtigkeit, größere
Freiheitsrechte. Der jeweilige Kampf um mehr Humanität und Gerechtigkeit ist nur die Variation; die ursprüngliche Version ist der Exodus aus
Ägypten. Diese komparativische Ethik setzt Impulse der beharrlichen,
kontinuierlichen Arbeit an der Veränderung frei, eben eine “Exodus318
Politik” . Das Christentum versteht sich als Teil dieser Erinnerungsbewegung. Eine theologische Ethik, die biblisch fundiert ist, versucht An319
schluß an den Anfangsimpuls der Tora zu finden.
Ägypten ist eine Hochkultur. Doch die Bibel nimmt dieses Land mit
seinen beachtlichen ökonomischen und kulturellen Leistungen, “wo Milch
und Honig fließen” (Num 16,13), als eine Zivilisation wahr, die auf Unterdrückung und Zwangsarbeit basiert (vgl. Ex 1,14f.). Diese Deutungskategorie führt auf das Feld der Wirtschaftsethik, denn sie achtet nicht nur
abstrakt auf ökonomische Effizienz, sondern stellt die ethische Frage: Effizient für wen und für wen nicht? Wer profitiert? Wer ist Verlierer? Diese
Grundfragen verdanken sich der Erinnerung an den Exodus. Der biblische Exodus ist als eine Geschichte der Gegenwart zu lesen. Vom “Haus
der Knechtschaft” (Ex 13,3) in ein Land zu entkommen, in dem die ehedem Zukurzgekommenen menschenwürdig leben können, ist eine Bewegung, die sich in historischer Zeit abspielt und mit beharrlicher Arbeit
zu tun hat. Dieser christlich-jüdische Impuls lebt auch in säkularer Form
fort. Geschichtliche Träger dieses Impulses sind soziale Bewegungen.
Eine theologische Wirtschaftsethik wird sich deshalb den argumentativen
und methodischen Ansatz der von Friedhelm Hengsbach vorgelegten
“Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” aus historischen, sozialethischen und theologischen Gründen zu eigen machen können. Sie entspricht in ihrem sozialethischen Ansatz der gleichen Bewegung, die mit
dem Exodus theologisch reflektiert wird. Geschichte wird als ein Prozeß
verstanden, in dem Verantwortung wahrgenommen wird. Die Betroffenen
318
319
Ebd. 141 - 157.
Der israelische Staatspräsident Ezer Weizman hat aus der Geschichtserinnerung die Gegenwart
gelesen und sich selber als Teil einer Geschichtstardition verstanden, als er in “Ich-Form” in
seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte: “Ich war Sklave in Ägypten und empfing die
Thora am Berge Sinai, mit Josua und Elijah überschritt ich den Jordan ... Ich habe gegen die
Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden ... und ich habe im Warschauer Aufstand gekämpft. ... Und wie von uns verlangt wird, kraft der Erinnerung an jedem Tag und jedem Ereignis unserer Vergangenheit teilzunehmen, so wird auch von uns verlangt, kraft der
Hoffnung uns auf jeden einzelnen Tag unserer Zukunft vorzubereiten. ... Wir sind ein Volk der
Erinnerung und des Gebets. Wir sind ein Volk der Worte und der Hoffnungen. Wir haben keine
Reiche geschaffen, keine Schlösser und Paläste gebaut. Nur Worte haben wir aneinander gefügt.
Wir haben Schichten von Ideen aufeinandergelegt, Häuser der Erinnerung errichtet und Türme
der Sehnsucht gebaut.” E. Weizman, Mit dem Rucksack der Erinnerungen und dem Stab meiner
Hoffnung, in: FR Nr. 14 vom 17.1.1996, 14.
119
sind die Subjekte, die zu einem Handeln ermutigt werden, das zu mehr
Gerechtigkeit und Freiheit führt. Aus der Erfahrung von vorenthaltener
Würde und Gerechtigkeit entwickelt sich ein Handeln. Ethik reflektiert
dieses Handeln und ist deshalb gegenüber der Praxis ein zweiter Akt.
Warum hat die Ethik der Tora die Gestalt des Rechts angenommen?
“Exodus-Denken” wird durch Rechtspositionen und Rechtsansprüche
erst zu einer “Exodus-Politik”. Die enge Verbindung von Recht und Ethos
spiegelt die Erfahrung, daß Überzeugungen und ethische Positionen allein den Armen und Bedrängten nicht den Schutz geben können, den sie
brauchen. Was in der neuzeitlichen Moderne mit dem Begriff des Menschenrechts artikuliert wird, ist der Sache nach gemeint. Hannah Arendt
320
hat das “Recht, ein Recht zu haben” , ein primäres menschliches
Grundrecht genannt. Die Rechtsansprüche des Armen werden zu einem
elementaren Recht, das der Arme nicht menschlicher Rechtssatzung
verdankt. “Die rechtschaffende Treue JHWHs bildet die Grundlage für
321
die rechtliche Ordnung des Zusammenlebens im Volk Israel.”
Der
Schutz der Armen wird zu einem zentralen Element der biblischen Gesetze der Tora. “Indem das Erbarmen zum Inhalt des Gesetzes wird, soll
es dem beliebigen, dem nur zufälligen und neigungsgelenkten Verhalten
der Individuen, der Stimmungs- und Situationsabhängigkeit entzogen
322
werden.” Der Aufgabe des biblischen Gesetzes in der Tora entspricht
die Option für die Armen. Auf diese achtet die Tora und ihnen will sie reale Freiheitsrechte einräumen. “Indem das Gesetz einen strengen Funktionszusammenhang von Recht, Kult und Erbarmen betreffenden Bestimmungen darstellt, macht es deutlich, daß das Recht ohne
routinisierten Schutz der Schwächeren (...) den großen Namen „Gerech323
tigkeit‟ nicht verdient.”
4.2 Tora-Ökonomie
Methodisch wird eine theologische Wirtschaftsethik, die sich an den Einsichten und Kategorien der Bibel orientiert, in zwei Schritten vorgehen
müssen. In einem ersten Schritt ist die Frage zu stellen: Wie beantwortet
die Tora die ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen)? In diesem
und in Abschnitt 6 “Ansätze zu einer bibeltheologischen Begründung von
Wirtschaftsethik” werden deshalb die Antworten der Tora auf die ökonomischen Grundfragen erarbeitet. In einem zweiten Schritt wird eine biblisch fundierte theologische Wirtschaftsethik, wenn sie einen konstrukti320
321
322
323
H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3. Aufl. München 1993, 452.
W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 131.
M. Welker, Gesetz und Geist, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 4, “Gesetz” als Thema Biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1989, 220.
M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 111.
120
ven Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten und sachgemäßen
Ordnung der Wirtschaft leisten will, die Beantwortung der ökonomischen
Grundfragen durch die Tora kritisch mit den Wirtschaftsfragen der Gegenwart zu verbinden haben. Dies will ich in Abschnitt 9 “Wirtschaftsethische Impulse” entfalten.
Die Frage, ob und wie sich Folgerungen aus dem Umgang der Tora
mit der Ökonomie ihrer Zeit für die Gegenwart gewinnen lassen, ist
nichts grundlegend Neues: Sie hat die Geschichte des Judentums bis in
die neutestamentliche Zeit und darüber hinaus begleitet. Der vorgeschlagene Weg zur Begründung einer biblisch fundierten Wirtschaftsethik entspricht also im Grunde dem Weg der innerbiblischen Hermeneutik der kreativen, dynamischen Aneignung der Tora, die sich immer
schon in einer Selektion, Fortführung und Weiterbildung der schriftlichen
Sinaitradition vollzog. Clodovis Boff hat diese Hermeneutik als eine Dia324
lektik der “lebendigen Erinnerung und der schöpferischen Treue” gegenüber biblischer Tradition und gegenwärtigen Herausforderungen bezeichnet. Diesem Argumentationsweg folgt auch die Studie des Ökumenischen Rates der Kirchen, wenn sie die Frage nach den ökonomischen
Grundfragen so aufnimmt: “Wenn wir die „ökonomischen‟ Vorschriften
des Alten Bundes lesen, wird deutlich, daß diese heute nicht mehr wörtlich angewendet werden können. Aber man kann durchaus die Grundsätze befolgen, die ihnen zugrunde liegen. Jedes ökonomische System,
sei es alt oder neu, ist voll von Geboten und Verboten, sonst könnte es
die materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft nicht befriedigen. Die Frage
325
ist, welche Grundsätze angewendet werden und wem gedient wird.”
Mit der Tora ist jedes Wirtschaftssystem zu befragen: Welche Grundsätze gelten? Wem nützen sie, und wem schaden sie? Die Studie des
ÖRK formuliert als Richtlinie: “Jede wirtschaftspolitische Maßnahme und
jedes Wirtschaftssystem muß daher unter dem Gesichtspunkt geprüft
326
werden, wie sie bzw. es auf die Situation der Armen sich auswirkt.”
Das ist das wirtschaftsethische Kriterium, das den kategorischen Imperativ der Tora aufnimmt, zugleich aber auch einem kreativen und dynamisierenden Umgang mit der biblischen Tradition verpflichtet ist.
4.2.1 Unterscheidung der Ökonomien: Haushaltsökonomie oder Kapitalerwerbswesen
324
325
326
C. Boff, Theologie und Praxis, 353.
ÖRK, Erklärung zum Wirtschaftsleben, in: epd-Dokumentation Nr. 45/1991, 18.
ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft, 20.
121
Die Römer nannten das Mittelmeer mare nostrum, unser Meer. Das
Meer verband die antiken Kulturen Griechenlands, Roms, Ägyptens und
des Nahen Osten. Vielfältige Beziehungen gab es zwischen den Kulturen
dieses Mittelmeergürtels. Gemeinsam hatten sie ziemlich einheitliche
klimatische Bedingungen mit Regen im Winter und langen Trockenperioden im Sommer. Die Landwirtschaft beruhte nicht auf einem Bewässerungssystem wie im antiken Vorderasien. Nicht allein Ägypten und Mesopotamien, auch Griechenland gehört zum Umfeld Israels. Griechenland und Palästina waren Agrargesellschaften. Ganz anders als die
ägyptischen und babylonischen Kulturen an den großen Strömen Nil, Tigris und Euphrat hatten Palästina und Griechenland vergleichbare klimatische, geophysikalische und geographische Bedingungen für die Agrarproduktion. Die agrargesellschaftliche Basis Palästinas und Griechenlands verdankt sich nämlich nicht der Lebensader großer Flüsse. Kulturen und Gesellschaften, die von einem großen Strom abhängen, entwickeln entsprechende soziale und politische Strukturen, die das Bewässerungssystem organisieren. Auch wenn es fruchtbare Landstriche in Griechenland und Palästina gab, so mußten doch auch dem gebirgigen und
steinigen Land Agrarerzeugnisse abgerungen werden. Das Bergland
mußte mühsam terrassiert werden.
Das Haus bildete die ökonomische und soziale Grundeinheit. Das
Haus, griechisch oikos/oikía, hebräisch bajit, bezeichnet nicht nur eine
Sozial- und Wirtschaftsform unter anderen, sondern die grundlegende,
elementare Wirtschaftsform schlechthin nicht nur in der Antike und der
Kultur des Mittelmeerraumes, sondern vermutlich aller vorindustriellen
327
Kulturen, die sich bis in unsere Zeit erhalten hat. Aristoteles (384-322
328
v.Chr.) hat in seiner Schrift Politik / Politika eine umfassende ökonomische Theorie des Hauses zu der Frage entwickelt, wie Produktion, Distribution und Konsum im Haus geregelt werden sollen. Aristoteles reflektiert also die ökonomischen und sozialen Bedingungen einer Ökonomie
des Hauses. Seine Reflexionen gehören mithin systematisch in den Bereich der Ethik. Wie die Hauswirtschaft organisiert werden soll, ist eine
Fragestellung, die nicht allein Aristoteles behandelt, auch die Tora tut
329
es.
Während allerdings die ökonomische Konzeption des Aristoteles
327
328
329
D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, New Test. Stud. NTS 27
(1981) 87. Ich danke D. Lührmann für den Hinweis, daß es nicht nur Bezüge zwischen dem
hebräischen bajit und der griechisch-hellenistischen oíkos-Ökonomie gibt, sondern auch zwischen neutestamentlichen Traditionen und der antiken Ökonomie..
Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. von F.F. Schwarz, Stuttgart 1989.
Auch andere antike Autoren haben sich mit der ökonomischen Theorie beschäftigt. D.
Lührmann verweist auf Xenophon, PsAristoteles Oeconomica I sowie Philodemus von Gadara:
D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 85f. Siehe auch: H.Chr.
Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 23-35.
122
über die Hauswirtschaft in einer theoretischen und ausgearbeiteten Abhandlung vorliegt, gibt es in den biblischen Schriften kaum systematische
oder theoretische Ausführungen, sehr wohl aber im Wirtschafts- und Sozialrecht der Tora praktische Anweisungen zu gerechtem Wirtschaften
im Haus.
Der Begriff Ökonomie ist griechischen Ursprungs und besteht aus den
beiden Begriffen oikos (die häusliche, gemeinschaftliche Produktionseinheit) und der Wurzel nem-/nómos (regeln, verwalten, organisieren/das
330
gerechte Gesetz).
Oíkos benennt also den Ort, an dem produziert
wird; nómos gibt Auskunft darüber, wie produziert wird. Ökonomie
(oíkonomía) hat also von der ursprünglichen Wortbedeutung her mit der
Verteilung der produzierten Güter nach dem Maßstab der Gerechtigkeit
zu tun. Ökonomie hat es also von seiner sprachlichen Ursprungsbedeutung her mit der Sorge um Produktion und Konsum in der ökonomischen
331
und sozialen Grundeinheit “Haus” zu tun.
Aristoteles hat in seiner Schrift Politik unterschiedliche ökonomische
Ordnungskonzeptionen analysiert. Er unterscheidet zwei Arten von Ökonomie: die Hausverwaltungskunde (oikonomiké) und das Kapital332
erwerbswesen (chremastiké).
Die Erwerbskunst “im Einklang mit der
333
Natur”
als Teil der Hausverwaltungskunst (oikonomiké) dient der
Selbstversorgung und tauscht die Überschüsse aus; diese hat es in erster Linie mit der Beschaffung derjenigen Güter zu tun, die zum Leben in
Haus und Staat nützlich, notwendig und unverzichtbar sind. Die Kapitalerwerbskunst (chremastiké) hingegen, die nach Aristoteles “am meisten
334
der Natur zuwiderläuft” , ist jene Erwerbswirtschaft, die kommerziellen
Interessen dient, auf Geld- und Handelsgewinn abzielt und das Zinswe335
sen kennt.
Aristoteles unterscheidet beide Arten der Ökonomie so:
“Doch gibt es noch eine weitere Art von Erwerbskunst, die man ganz besonders, und das zu Recht, das Kapitalerwerb(s)wesen nennt, der zufolge es keine Grenze für Reichtum und Besitz zu geben scheint. Viele vertreten die Ansicht, dieses sei ein und dasselbe mit der vorhin genannten
Kunst, und zwar wegen der Nachbarschaft zu ihr. Dies ist aber weder ein
330
331
332
333
334
335
So M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1993, 9; vgl. auch unten Abschnitt 9.5.
K. Raiser entfaltet in seinem Buch Ökumene im Übergang einen Zusammenhang von Ökumene
und Ökonomie mit einem neuen Paradigma des Haushalts (K.Raiser, Ökumene im Übergang.
Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung? München 1989, 125ff.).
Aristoteles, Politik, A 8 p.1256 a 1.
Aristoteles, Politik, A 8 p.1256 b 27.
Aristoteles, Politik, A 10 p.1258 b 7.
Das Widernatürliche dieser Ökonomie zeigt sich nach Aristoteles im Geldgewinngeschäft und
im Zinswesen, wie schon das griechischen Wort für Zins (tókos) sprachlich ausdrückt: tókos
meint junges Kleinvieh. Das Geborene wird zum Gebärenden, wenn aus Geld neues Geld erzeugt wird. Aristoteles, Politik, A 10 p.1258 b 7.
123
und dasselbe mit der eben angesprochennoch allzu weit von ihr fern. Die
Erwerbskunst nämlich gibt es von Natur aus, das ist aber nicht beim Kapitalerwerb(s)wesen der Fall, dazu kommt es vielmehr kraft einer gewis336
sen Erfahrung und Fertigkeit.”
In der Hausverwaltungswirtschaft dient der “naturgemäße” Gebrauch
der Güter dem guten Leben und kennt ein Maß der Güter, während im
Kapitalerwerbswesen der “naturwidrige” Gebrauch und Besitz der Güter
auf den Tausch zu Erwerb- und Gewinnzwecken zielt. Das Ziel der
Hausverwaltungsökonomie ist die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse. Anders das Kapitalerwerbswesen / Chrematistik, für die “es
337
keine Grenze für Reichtum und Besitz zu geben scheint.” Aristoteles
kritisiert nicht den Gelderwerb als solchen oder als Bestandteil der HausÖkonomie, sondern lehnt ihn nur als einen “naturwidrigen” Weg ab, als
er zu einem Selbstzweck wird, auf den hin alles ausgerichtet sei. Ziel sei
hier die Vermehrung oder gar die Selbstvermehrung von Geld (durch
Zinsen). “Darum scheint das Kapitalerwerb(s)wesen sich zumeist auf das
Geld zu konzentrieren, und seine Aufgabe scheint darin zu liegen, beobachten zu können, woher eine Menge Geldmittel zu beziehen sei; es
scheint nämlich die Kunst zu sein, die Reichtum schaffe und somit
338
Geld.” Aus nützlichen und lebensnotwendigen Gütern in der Hausverwaltungswirtschaft werden in der Kapitalerwerbswirtschaft Güter, die allein dem Zweck der Geldvermehrung dienen. Dieses Ziel treibt die Ökonomie zur Mehrproduktion an. Es entsteht eine völlig neue Art Ökonomie:
die Kunst des Gelderwerbs. Der Übergang von der Hausverwaltungsökonomie zur Bereicherungsökonomie (Kapitalerwerbswesen) ist die
339
Umwandlung von lebensdienlichen Gütern in Waren.
In einer Formel lassen sich diese Prozesse der beiden Ökonomien so
darstellen:
1. Hausverwaltungskunst im Einklang mit der Natur:
336
337
338
339
Aristoteles, Politik, A 9 p.1256 a 40 - A 9 p. 1257 a 4.
Aristoteles, Politik, A 9 p.1256 b 40.
Aristoteles, Politik, A 9 p.1257 a 5-6. Hans Chr. Binswanger kommentiert diese Einsicht in ihrer Bedeutung für ein Urteil über heutiges Wirtschaften: “Wer die Antriebskräfte der modernen
Wirtschaft - ihre „kapitalistische‟ Motivation - verstehen will, muß gemäß Aristoteles das Geld
und das Geldstreben als richtungsweisende Größe einbeziehen.” H.Chr. Binswanger, Die
Marktwirtschaft in der Antike, 28. Bereits in ihren Ursprüngen ging es also, wie Aristoteles
aufzeigt, um Alternativen zu einer reinen Marktwirtschaft.Vgl. auch U. Duchrow, Alternativen
zur kapitalistischen Weltwirtschaft, 19-53.
G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, in: Moral als Kapital. Perspektiven des Dialogs zwischen Wirtschaft und Ethik, Kath. Akademie Stuttgart, Stuttgart
1990, 226.
124
Gebrauchsgut (1) - Gebrauchsgut (2) - Gebrauchsgut (3)
Ziel ist die Erstellung von Gebrauchsgütern.
Aus dem Gebrauchsgut (2) wird im Zuge der Ausweitung des Handels
Geld.
2. Kapitalerwerbswesen gegen die Natur gerichtet:
Gebrauchsgut (1) - Geld durch Handel mit Gebrauchsgütern (2) - Geld
(3)
Aus dem Gebrauchsgut, das zur Lebensführung nötig ist, wird Geld,
das sich selbst zum Zweck werden kann, weil es aus der Beziehung
zur Lebensführung herausgelöst werden kann. Ziel ist Erwerb von
Geld.
Die aristotelische Unterscheidung zwischen einer “naturwidrigen” und
“naturgemäßen” Erwerbswirtschaft läßt sich mit folgendem Schema verdeutlichen:
Wirtschaftliches Handeln:
Hausverwaltungskunst
(oikonomiké)
Kapitalerwerbswesen
(chremastiké)
Zweck/Ziel:
Verwendung von nützlichen und notwendigen Gütern
Erwerb und Vermehrung von Gütern, Waren und Geld
Qualifizierung:
naturgemäßer Erwerb
von Gütern
naturwidriger Erwerb
durch Geld- und Handelsgewinn und Zinsen
Kriterium:
Gebrauch der Güter für
ein gutes Leben
Besitz und Handel mit
dem Ziel der Geldvermehrung
4.2.2 Die Politische Ökonomie der Tora: Das Haus Israel
Wirtschaftliche Grundlage bildet die Landwirtschaft mit Ackerbau und
Viehzucht. Das Handwerk ist Teil der Hauswirtschaft (vgl. Gen 4,22). Die
Ökonomie des Hauses (oikos/bajit) beruht auf dem Ideal einer möglichst
großen Autarkie. Grundlage ist die gemeinsame Erwirtschaftung der Lebensgrundlagen. Handel und Tausch spielen eine nur geringen Rolle.
125
Von dieser Grundlage her entwickelt sich der Ökonomiebegriff: Ökonomie ist nicht die Lehre von der optimalen Gewinnerwirtschaftung, sondern die Anleitung zur Führung eines Hauses als sozialer und wirtschaftlicher Einheit. Unter “Haus” wird also nicht nur das Gebäude verstanden,
sondern der Personenverband aller im Hause lebenden Menschen, der
patriarchalisch ausgerichtet und dominiert ist. Charakteristisch für den
oikos ist, daß hier Produktion und Konsum noch eine Einheit bilden und
nicht auf getrennte soziale Bereiche verteilt sind. Nach biblischer Vorstellung bestand die
Familie aus dem Mann mit seinem Haus, der Hausfrau, den Kindern, den
Sklaven oder Knechte. und den Feldern (vgl. Mi 2,2). Das Sabbatgebot
im Dekalog zählt die ganze Hausgemeinschaft auf und zeigt, daß diese
Gemeinschaft auch eine Produktionsgemeinschaft ist: Sie umfaßt Hausherr, Sohn, Tochter, Sklave, Sklavin, Rind, Esel, die Fremden, das ganze
Vieh (Dtn 5,14). An dieser Stelle wird die patriarchale Struktur des Hauses deutlich: Wohl werden Tochter und Sklavin, nicht aber die Hausherrin erwähnt. Die Ökonomie des Hauses umfaßt drei grundlegende Beziehungen: Mann - Frau, Vater (Eltern) - Kinder, Herr - Abhängige. Das
340
Recht des Hausvaters erstreckt sich auf alle Hausgenossen. Kein Angehöriger des Hausverbandes erwirbt etwas für sich, sondern immer für
das Haus, genauer: für den Herrn des Hauses, der die Verteilung vornimmt. Der Herr des Hauses kontrolliert deshalb den Besitz des Hauses
und übt über die abhängig Arbeitenden Herrschaft aus, ohne zwischen
wirtschaftlichen, individuellen und sozialen Belangen zu unterscheiden.
Adressaten der Weisungen in der Tora sind zunächst die erwachsenen
Männer, die rechts- und kultfähig sind, über Land- und Viehbesitz verfügen, die Sklaven besitzen. Angesprochen sind also die Besitzenden,
aber auch die Frauen, Sklaven und Sklavinnen, Tagelöhner u.a. (vgl.
Neh 8,2f.), letztlich das Volk, Arme und Reiche, Bedrücker und Unter341
drückte.
4.2.2.1 Ökonomische Grundeinheit: Das Haus
340
341
An dieser Stelle muß auf den unterdrückerischen Charakter der oíkos-Ökonomie bei Aristoteles
und in der griechisch-römischen antike hingewiesen werden. Der Freiheit und Verfügungsmacht des Mannes, der Besitzer des Hauses, Ehemann und Vater war, entsprach die Unfreiheit
und Abhängigfkeit aller anderen Mitglieder des Hauses. Der griechisch-römischen Konzeption
der oíkos-Ökonomie ist Unterordnung und Beherrschung immanent. Wo die oíkos-Ökonomie
nach der griechisch-römischen Konzeption von jener der Tora sich unterscheidet, wird im weitereren Verlauf ausgeführt.
So F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 28-35.
126
Zwischen Griechenland und Palästina bestanden zahlreiche ökonomische Verbindungen und gedankliche Einflüsse. Rainer Kessler verweist
auf den biblischen Propheten Amos und den griechischen Philosophen
Hesiod, bei denen “nicht nur im Inhalt ihrer Sozialkritik, sondern auch im
Kriterium, der Forderung nach Recht und Gerechtigkeit, engste Überein342
stimmungen bestehen.” Auch in den ökonomischen Vorstellungen des
Aristoteles und der Tora bestehen zahreiche Übereinstimmungen und
Bezüge. Aristoteles hatte auf dem Boden der antiken Polis eine Konzeption des Hauses als eine Wirtschafts- und Lebenseinheit entwickelt. M.
343
Douglas Meeks zeigt in seinem Buch God the Economist
überzeugend, daß nicht nur Aristoteles von Ökonomie als Haushalt/oikonomia
spricht, sondern auch die Hebräischen Bibel. Bajit = Haus bezeichnet
nicht nur das Hausgebäude, sondern immer eine strukturierte, organisierte Größe oder soziologische Einheit. Die Grundbedeutung bajit =
Haus wird auf die im Hause lebende Gemeinschaft erweitert; ganze
Volksgemeinschaften wie “Haus Jakob” (Ex 19,3), Königsdynastien, wie
zum Beispiel “Haus David” (Jes 7,2.13 u.ö.) oder ein politischer Herrschaftsbereich wie das “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) werden als
bajit bezeichnet. “Haus” steht für Israel und seinen Lebensraum (Hos 8,1;
9,8; Jer 12,7; Sach 9,8). Sogar die ganze Schöpfung wird “Haus” ge344
nannt (Ps 36,9).
Die Tora hat den Begriff oikos aus ihrer Umwelt übernommen und das
hebräische Wort bajit mit einer klaren theologischen Aussageabsicht ge345
füllt. Die biblische Ökonomie bezieht sich auf die soziale und ökonomische Grundstruktur des Hauses, das Teil des größeren Hauses, der
Schöpfung, ist. Die Hausgenossen haben den Boden zu bearbeiten, für
die Viehhaltung und die Versorgung aller, die im Hausverband leben, zu
sorgen. Dabei geht die Tora-Ökonomie von dem Ansatz aus, daß diese
Schöpfung Gottes produktiv ist und der Mensch diese vorgegebene Produktivität verwalten und organisieren muß. Deshalb hat der Mensch einen treuhänderischen Auftrag: “Dem Herrn gehört die Erde und was sie
erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner” (Ps 24,1). Die rabbinische Exegese hat an dieser Stelle das Wort oikonomos verwendet und erklärt:
“Gott ist der Herr des Hauses, weil die ganze Erde sein Eigentum ist, und
342
343
344
345
R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft,
426. Zu den Verbindungen zwischen Griechenland und Palästina vgl. die Hinweise in: W.
Nethöfel, Theologische Hermeneutik, 62, Anm. 3.
M.D. Meeks, God the economist. The doctrine of God and political economy, Minneapolis
1993.
E. Jenni, Art. bajit=Haus, in: THAT, Bd. I., 4. durchgeseh. Aufl. München , Zürich 1984, Sp.
311f.
M.D. Meeks, God the economist, 33. Anm. 12.
127
346
Mose ist sein oikonomos.” Mose ist der Ökonom und steht für die Tora, welche Weisungen für den rechten Umgang im Haushalt Gottes geben will. Die Tora ist eine Hausordnung zum Schutz des Lebens im
347
Haushalt Gottes. “Der Haushalt steht im Zentrum der meisten israelitischen Definitionen von Gemeinschaft. Oikos ist eine wesentliche Art und
Weise, von Gottes Bundesverpflichtung gegenüber Israel zu sprechen
(Ex 19,4-5). Gott hat Israel aus allen Stämmen zu einem Haushalt gemacht und wird daher als ein Begründer oder Leiter des Haushalts angesehen. Gottes Zorn läßt es mit treulosen „Haushalten‟ bergab gehen und
348
baut den treuen Haushalt auf (Jer 31,28; 33,7; Am 9,11).”
Wenn vom Haus die Rede ist, dann werden zahlreiche Bezüge für ein
Verständnis von Ökonomie, in dem soziale, politische, ökologische, ökonomische und auch theologische Aspekte miteinander verknüpft sind, zur
Sprache gebracht. “Gott einen Ökonomen zu nennen bedeutet, daß der
Gott Israels und der Gott Jesu grundsätzlich an dem zu erkennen ist,
was Gott in bezug auf den Aufbau und die Führung eines Haushaltes
349
tut.” Oikos ist der Ort, an dem Gott und Ökonomie in Beziehung zueinander treten. Die Bibel kennt viele Bilder, in denen sie von Gott spricht:
Fels, Hirte, König. Wenn die Bibel von einem Gott spricht, der Leben bewahrt und errettet, dann zeigen sich in diesem Bild Aspekte eines Verständnisses von Gott als einem Ökonomen. Die biblischen Namen für
Gott beschreiben narrativ die Beziehung Gottes zu den Menschen und
seiner Schöpfung. Gott zeigt sich als ein Ökonom, der für den oikos
sorgt: Er hat die Schöpfung reichlich mit Gütern ausgestattet und gibt eine Hausordnung für den gerechten Umgang mit diesen Gütern. “Mitten
im alles umfassenden Horizont der Schöpfung als eines Haushalts besteht die Ökonomie Gottes, kurz gesagt, in der Austeilung von Gottes
350
Gerechtigkeit.” Die Tora stellt das wirtschaftliche Handeln in einen Zusammenhang mit der Bundesverpflichtung gegenüber Gott und der Gemeinschaft. Sie ist die Hausordnung im Hause Israels, deren Ziel es ist,
allen Hausbewohnern Leben zu ermöglichen. Aus dem Sklavenhaus
Ägypten hat Gott sein Volk befreit (Ex 13,3; Dtn 5,6). “Die aus dem Tod
der Sklaverei Befreiten sind aufgerufen, diesem befreienden Ökonomen
entsprechend zu leben, der einen neuen Haushalt schaffen will, einen
Haushalt des Friedens. Sie werden zu Ökonomen, die die „Tora hal346
347
348
349
350
Mitgeteilt ohne Beleg bei: J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zu einer
messianischen Ekklesiologie, München 1975, 196.
Vgl. die weiteren Ausführungen unten Abschnitt 9.5.1. K. Raiser hat die Metapher “Haus” aufgenommen und als Paradigma einer ökumenischen Sozialethik ausgeführt: K. Raiser, Ökumene
im Übergang, 134ff.
Ebd. 33f, eigene Übersetzung.
Ebd. 77, eigene Übersetzung.
Ebd. 77, eigene Übersetzung - dt. Übersetzung im Erscheinen.
128
351
ten‟.” Gott vertraut dem Menschen die Verwaltung dessen an, was ihm
- nämlich Gott - gehört. Die Berufung des Menschen zu einem Haushalter zeigt Vertrauen in den Menschen, den Gott zu seinem Haushalter
macht. Er ist bevollmächtigt, im Namen Gottes die Schöpfung zu verwalten. M.Douglas Meeks faßt die Rede von Gott dem Ökonomen so zusammen: “Gottes Geschichte mit der Schöpfung ist die göttliche Ökono352
mie.”
Meeks deutet die ganze Heilsgeschichte als Kampf Gottes mit
dem Tod: “Dieser Kampf läßt sich in den großen ökonomischen Taten
Gottes erkennen: im Exodus, in der Schöpfung, in der Auferstehung. Jeder ökonomische Akt fordert entsprechende ökonomische Taten von sei353
ten des Menschen, der Gottes eigener Ökonom ist.”
Das Alte Israel war eine agrarische Gesellschaft. Man lebte vom Land
und seinem Ertrag und war auf eine intakte Großfamilie angewiesen.
Zum Haushalt im weiteren Sinn gehören alle, die den Erdkreis bewohnen: “Herr, du hilfst Menschen und Tieren. (...) Die Menschen laben sich
am Reichtum deines Hauses” (Ps 36,7.9a). Dieser Haushalter-Gott
macht alle Menschen zu Hausgenossen. “Gott hat auf die unbegrenzte
Ausübung seines Rechts als Hausherr verzichtet; er hat einen Bund mit
seinem Haus geschlossen und sich zur Fürsorge für alle im Haus verpflichtet. Der Bund wird konkret in der „Hausordnung‟ (Thora), die das
354
Lebensrecht aller Hausgenossen schützen soll.” Diese Regulierungen
erstrecken sich nicht allein auf die sozialen Beziehungen, sondern werden auch auf alle Beziehungen im “Hause Israel” ausgedehnt: Soziale
und ökologische Gerechtigkeit stehen dann nicht gegeneinander; sie sind
integriert, denn das Lebensrecht aller Hausbewohner soll geschützt werden. Der Haushalter Mensch vertritt den Haushalter Gott, und seine Aufgabe ist es, den Haushalt Gottes treuhänderisch in Fürsorge für das Leben der Bewohner des Haushaltes zu verwalten (oikonomia). Wenn es
im Psalm heißt: “Ich bin nur Gast auf Erden. Verbirg mir nicht deine Gebote” (Ps 119,19), geht es um die Einsicht in das, was nach Gottes Willen rechte Lebensführung im Hause, dem oikos der Schöpfung ist.
4.2.2.2 Hausordnung der Tora
351
352
353
354
Ebd. 83, eigene Übersetzung.
Ebd. 75 - eigene Übersetzung. Dieser Ansatz wird auch in der Erklärung der UCC zu “Christlicher Glaube. Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit” aufgenommen. Vgl. auch: M. Robra, Ökumenische Sozialethik, 83ff., 172f. sowie F. Segbers, “... und alle aßen und wurden satt” (Mt 14,
20). Meditation zu einer biblischen Ökonomie des Genug - oder: Teilen macht satt, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 97 - 105.
Ebd. 77, eigene Übersetzung.
K. Raiser, Ökumene im Übergang, 159.
129
Wie kann das alltägliche Zusammenleben und Wirtschaften im dem kleinen Wirtschaftsraum des Hauses und im umfassenderen, größeren
Haus der ganzen Schöpfung geregelt werden? In der Klärung dieser
Frage ist der Mensch nicht einfach Befehlsempfänger, sondern ein verantwortliches Subjekt, das treuhänderisch Institutionen der Gerechtigkeit
schaffen, halten und diese den veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen anpassen muß. In Gottes Haushalt zu leben,
bedeutet Gottes Hausordnung zu beachten. “Die Tora bekämpft die Disharmonie, die zwischen den Klassen herrscht und die durch die große
Diskrepanz in der Verteilung des Reichtums entsteht, mit Hilfe verschiedener Institutionen: Brachjahr, Sabbatjahr, Jobeljahr. In Gottes ToraHaushalt kann die Anhäufung von Reichtum angesichts der Armen, die
von dem ausgeschlossen werden, was ihnen Leben und Zukunft gibt,
nicht gerechtfertigt werden. Man darf anderen weder wegnehmen noch
vorenthalten, was sie brauchen, um zum Leben von Gottes Ökonomie für
355
Gottes Volk beizutragen.” Die sozialen und ökonomischen Weisungen
im Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), im Deuteronomium (Dtn 12-26) und im
Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) stellen die Hausordnung dar. Die einzelnen
356
Gesetze und Bestimmungen lassen sich in drei Kategorien aufteilen:
1. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung:
Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.) Beschränkung der
Pfandnahme (Ex 22,25f.; Dtn 24,12ff.).
2. Gesetze zum Schutz der sozial Schwächeren:
Sabbatgebot (Dtn 5,12ff.; Ex 23,12; 20,8ff.); sowie weitere Schutzgesetze: Schutz oder Einschränkung körperlicher Gewalt gegen Sklaven
(Ex 21,20f.26f.); Schutz der geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f); tägliche
Ausbezahlung des Lohnes an die Tagelöhner (Dtn 24,14f.); Unterdrückungsverbot, Recht auf humane Behandlung (Lev 25,43.46.53); Almosenwesen; Recht der Nachlese auf den Feldern und Weinbergen
(Lev 19,9f; 23,22; Dtn 24,19-22); Recht, bei der Brache des Sabbatjahres die Felder abzuernten (Ex 23,10f.; Lev 25,6f.); der Zehnte als Sozialsteuer für die “Witwen und Waisen”, d.h. zugunsten derer, die über
keine eigenen Einkünfte verfügen (Dtn 14,22-29; 26,12f.).
3. Gesetze zur Regulierung der Wirtschaft
Sabbatjahr und Schuldenerlaß alle sieben Jahre (Dtn 15,1f.); zeitliche
Befristung der Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18); Jobeljahr
(Lev 25,10ff.).
355
356
Ebd. 88, eigene Übersetzung.
Einteilung nach: R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 80-88; weitere Ausführungen unten in
Abschnitt 6.1.1. Das Wirtschaftsrecht der Tora.
130
Die Tora will die Verhältnisse im Haus gestalten und formuliert des357
halb Hausregeln oder Anweisungen mit ausdrücklich “ethischen Ziele” :
Der Sabbat zum Schutz der abhängig Arbeitenden, Regulierungen wie
das Brachjahr zum Schutz der Ressourcen des Bodens (Ex 21,10), das
Sabbatjahr zur Entschuldung (Dtn 15,1-11) und das Jobeljahr zur Korrektur der Akkumulation von Besitz und Vermögen (Lev 25,8-55), Begrenzung von Kauf und Handel mit Eigentum an Grund und Boden nach
Marktgesetzen (Lev 25,8-24), das Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38;
Dtn 23,20f.) u.a. Ursprünglich allein sozialen Beziehungen geltende Regelungen wie werden ausgeweitet auf die ökologischen Beziehungen im
“Hause Israel”. Die Metapher des Hauses formuliert nicht nur die Regeln
eines sorgsamen Umgangs im Hause, sondern beschreibt auch die
Grenzen und das Maß. Das ökologische Maß ist eine Beziehungsgröße,
die sich auf das Zusammenleben aller im Haus der Schöpfung er358
streckt.
Dieter Lührmann hat darauf hingewiesen, wie in den neutestamentlichen Haustafeln die oikonomía-Tradition übernommen wird, die durch
359
das hellenistische Judentum aus der Stoa vermittelt worden ist. Während die Hausordnung der Tora auf eine Agrargesellschaft bezogen sind,
wollen die neutestamentlichen Haustafeln das Leben in einer städtischen
Situation gestalten. Die Haustafeln enthalten ethische Anweisungen für
Männer und Frauen, Kinder, Sklaven und Herren (Kol 3, 18-4,1; Eph
5,22-6,9; auch 1 Petr 2,13-3,7; 1 Tim 2,8-15; Tit 2,1-10). Wie in der Hebräischen Bibel wird auch hier von Gott in der Metapher eines Ökonomen
gesprochen, “der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen” (1 Tim 6,17).
Christen sollen miteinander wie gute “Ökonomen” umgehen: “Dient einander als gute Verwalter (kaloi oikonomoi) der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat” (1 Petr 4,10; vgl. 1 Kor
3,16; Röm 8,9.11; Eph 2,19f.; Hebr. 3,1ff.). Die Gemeinde bekommt die
Sorge für schwächere Mitglieder aufgetragen ( 1Tim 5,3ff.).Grundlage
der Gemeinde ist ein eigenes soziales Gebilde eines christlichen oikos.
Die Haustafeln formulieren Anweisungen für das Zusammenleben von
Mann / Frau, Herr / Sklave, Eltern / Kinder, die von Anfang an unter den
Bedingungen der Stadtkultur nach der oikos-Struktur realisiert werden.
Darin zeigt sich, daß das Christentum auch unter der Naherwartung dauerhafte soziale Gebilde formen wollte und einen latenten politischen An-
357
O. Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, 74.
Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung, Göttingen
1997, 239ff.
359
D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 94- 97.
358
131
spruch wahrnahm, also keineswegs nur individualethisch zu verstehen
sei.
4.2.2.3 Ökonomie der Fülle
Aristoteles kritisiert an der Kapitalerwerbsökonomie, daß Habgier und
Maßlosigkeit mit ihr strukturell verbunden sind. “Bei der Kunst der Hausverwaltung aber, die ja kein Kapitalerwerbswesen darstellt, gibt es eine
Grenze. Denn diese Geldbeschaffung ist nicht Aufgabe der Kunst der
Hausverwaltung. Demnach scheint es insofern bei jedem Reichtum eine
Grenze geben zu müssen; angesichts der Tatsachen sehen wir aber,
daß das Gegenteil eintritt. Alle Geschäftemacher nämlich wollen ins Un360
begrenzte hinein ihr Geld vermehren.”
Aristoteles bezieht sich dabei
auf den Staatsmann Solon (ca. 640 - ca.560 v. Chr.): “Für den Reichtum
361
liegt bei den Menschen keine sagbare Grenze vor.” Die biblische Tradition kennt ebenfalls diese aristotelische Unterscheidung und lehnt jene
362
Maßlosigkeit ab, die Aristoteles ein “Begehren ins Grenzenlose” nennt.
“Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug” (Koh 5,9). Die Haltung der Habgier oder der Maßlosigkeit wird mit theologischen Gründen
abgelehnt. Gott hat wie ein guter Ökonom die Schöpfung mit Gütern
reich ausgestattet. Im Psalm 104 heißt es: “Du läßt Gras wachsen für
das Vieh, auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot
gewinne von der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut,
damit sein Gesicht von Öl erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt”
(Ps 104, 14f.; ähnlich auch Ps 34,11; 65,10ff.; 146,7; 147,14). Die Schöpfung ist von Gott mit Gütern reich ausgestattet. Deshalb heißt es auch im
Psalm: “Die Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel, sie laben
sich am Reichtum deines Hauses, du tränkst sie mit dem Strom deines
Hauses” (Ps 36,8b.9).
Weil Gott wie ein guter Ökonom für die reichliche Ausstattung der Erde mit Gütern gesorgt hat, geht wirtschaftliches Handeln nicht von einer
Knappheit der Güter aus, sondern von einer bereits vorhandenen Fülle in
der Schöpfung. Drei große Feste prägen das Erntejahr (Ex 23,14-17; 34,
18-22ff; Dtn 16,16f.). Die Erstlingsgaben der Ernte sollen vor den Altar
gebracht werden. Dabei wird daran erinnert, daß die Fülle der Ernte wie
auch das Land Gott zu verdanken sind (vgl. Dtn 26,2-5). Im Psalm 145,
15f. heißt es: “Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zur
rechten Zeit. Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt nach dei360
Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 30ff.
Aristoteles, Politik, A 9 p 1256 b 33.
362
Aristoteles, Politik, A 9 p 1258 a 1.
361
132
nem Gefallen.” - “Die Menschen laben sich am Reichtum deines Hauses, du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen” (Ps 36,9). Ausgangspunkt ist nicht Knappheit, sondern eine ausreichende Fülle. Für eine
Knappheitsökonomie sind immer Fragen der Mehrproduktion zur Überwindung von Knappheiten zentral, während eine Ökonomie, die von einer
vorhandenen Fülle der Güter ausgeht, sich in den sozialen und ökologischen Kontext der Schöpfung einbindet und Fragen der gerechten Verteilung thematisiert. Die Knappheitsökonomie ist vom Ansatz her auf
Wachstum ausgerichtet, das strukturell keine Begrenzung kennt, während die Ökonomie der Fülle um ein Maß weiß.
Die ökonomische Tugend in die Ökonomie der Tora ist eine Haltung
des Vertrauens auf die Güte des Schöpfers und die Fülle der Schöpfung;
die ökonomische Tugend in der Kapitalerwerbsökonomie ist aufgrund
des Knappheitstheorems dagegen strukturell die Habgier, die von zahlreichen antiken Autoren wie auch in der Bibel als Untugend oder Laster
363
abgelehnt wird (Hab 2,6ff.; Spr 11,28; 13,11; 28, 25; Ps 119,36).
Da in
der Ökonomie aus Vertrauen auf die Fülle der Schöpfung alle mit der
Schöpfung, die ihnen anvertraut ist, haushälterisch umgehen, sind nicht
eigennützige Konkurrenzbeziehungen, sondern solidarische Beziehungen der Menschen untereinander die Folge. In einer Ökonomie der
Knappheit dagegen ist eine Haltung nötig und vernünftig, die Wachstum
und Gewinne zur Beseitigung der Knappheiten erzielen will. Knappheiten
wirken sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus: Menschen
konkurrieren um die knappen Güter miteinander. Den beiden gegensätzlichen Ökonomien entsprechen also zwei gegensätzliche ökonomische
Tugenden, die auch die Sozialbeziehungen der Menschen prägen: Die
Ökonomie der Bereicherung mit der Tugend Habgier und zwischenmenschlichen Konkurrenzbeziehungen einerseits und die Ökonomie aus
Vertrauen mit solidarischen Beziehungen andererseits. Die rabbinische
Theologie kritisiert nicht nur die Auffassung, Habgier sei eine ökonomisch vernünftige Haltung, sie erweitert die Ablehnung der Habgier zusätzlich um einen religiösen Aspekt: Habgier macht Geld zu etwas Göttli364
chem.
Zwischen Gott und Mammon besteht ein grundsätzlicher Gegensatz (Mt 6,24 par). Im neutestamentlichen Schrifttum wird vor der
Habgier gewarnt (Lk 12,15; Mt 6,19f.). Im Einklang mit der rabbinischen
363
364
Die US-amerikanische Ökonomin Sabine U. O‟Hara hat vor der Herbstsynode der evangelischLutherischen Kirche in Bayern (1995) in einem Referat “Wirtschaften ist mehr als Knappheit”
zwei gegenteilige Begriffe von Wirtschaften entwickelt: Wirtschaften als Umgang mit
Knappheiten oder Wirtschaften als Umgang mit Vertrauen. (Unveröffentlichtes Redemanuskript)
Nähere Ausführungen dazu unter Abschnitt 9.5.2 und 9.6.1.
133
Theologie seiner Zeit nennt Paulus Habgier Götzendienst (Eph 5,5; Kol
3,5).
Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von einer “sinngebenden
365
Idee einer Ökonomie der Lebensfülle” . Aus dem wirtschaftsethischen
Leitbild des guten Lebens resultiere, daß jenseits des elementaren
“Kampfs ums Dasein” nicht das Reich des Überflusses sondern das eines sinnvollen und kulturellen Lebens herrsche. Das bedeutet: “Die Kategorie „genug‟ ist keine ökonomische, sondern eine kulturelle Katego366
rie.” Eine Ökonomie, die von dem Ansatz der Fülle ausgeht, ist von der
Idee getragen, das menschliche Leben, seinen Sinn und die kulturelle
Dimension des Lebens in den Mittelpunkt zu rücken. Sie ist eine lebensdienliche Ökonomie. Ökonomie wird von diesem Ansatz her zu einer gesellschaftlichen Nebensache, die lediglich die Funktion hat, das Produktions- und Verteilungsproblem einer Gesellschaft zu lösen. Die kulturelle
Frage nach dem Genug stellt sich allerdings nicht erst jenseits eines bestimmten Lebensstandards, wie Ulrich angesichts des Produktivitätsniveaus moderner Ökonomien meint, sondern ist eine ökonomisch bedeutsame ethische Grundhaltung auf allen ökonomischen Entwicklungsstufen. Ohne diese grundsätzliche Haltung gibt es keinen Maßstab und
keinen Begriff für ein Jenseits des Genug, denn die Frage stellt sich immer: Wann ist genug auch genug? Welche Kriterien oder Maßstäbe gibt
367
es, die anzeigen, wann genug erreicht ist?
Subjektiv empfundene
Knappheit ist prinzipiell grenzenlos. Was “genug” sein kann, ist deswegen auch nicht ökonomisch, sondern kulturell und ethisch zu bestimmen.
Der Sabbat ist Symbol für eine Ökonomie, welche die Kategorie des
Genug kennt. Er durchbricht ein an Leistung und Erholung bestimmtes
Verhältnis von Arbeit und Ruhe. Sabbat meint mehr als die Regeneration
der Leistungskraft; er ist ein Ort, an dem ein Wohlstand gelebt wird, der
sich gerade nicht materiell auslegt. Erich Fromm versteht den Sabbat in
der rabbinischen Auslegungstradition als einen Tag, an dem der Mensch
lebt, “als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel außer zu sein, d.h. seine essentiellen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, sin368
gen, lieben.” Der Sabbat ist der Tag, an dem das Sein gelebt wird, und
ein Tag, an dem die Tendenzen des Habens dispensiert werden. Am
365
366
367
368
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 214.
Ebd. 215.
Die aktuelle Debatte um den arbeitsfreien Sonntag belegt dies: ökonomisch und an Wohlfahrtskategorien gemessen konnten sich weit ärmere Gesellschaften als die heutigen Industrieländer
den arbeitsfreien Sabbat/Sonntag “leisten”, während reiche Industriegesellschaften mit ihrem
bislang menschheitsgeschichtlich nicht gekannten Produktions- und Wohlfahrtsniveau sich diesen Ruhetag von der Arbeit nicht mehr leisten können.
E. Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart
1976, 57.
134
Sabbat soll der Knecht kein Knecht und der Herr kein Herr sein. Verboten wird allerdings nicht Arbeit an sich, sondern zweckdienliche, lebensnotwendige Arbeit. Ein Lebensraum soll eröffnet werden, an dem andere
Tätigkeiten des Menschen als nur die herstellenden, zweckdienlichen gelebt werden können. Erlebt und praktiziert wird am Sabbat ein Wohlstand, der nicht auf die materielle Dimension reduziert ist, sondern humane und immaterielle Dimensionen zuläßt. Der Sabbat ist das Symbol
eines solchen Zeitwohlstandes, der nicht abhängig von dem erreichten
Stand einer Produktionshöhe oder eines materiellen Wohlstandsniveaus
369
ist.
Der Sabbat steht den sechs Werktagen gegenüber. Das verleiht ihm
ein paritätisches Gegengewicht: Er ist jener Ort, an dem eine Gegenkultur gelebt wird, die sich nicht über Leistung und Produktion definiert,
sondern über immaterielle und kulturelle Werte. Abraham Heschel nennt
ihn deshalb einen Tag, “an dem der Umgang mit Geld als Entweihung
gilt, an dem der Mensch seine Unabhängigkeit bestätigt von dem, was
der oberste Götze der Welt ist. Der siebte Tag ist der Exodus aus der
Spannung, die Befreiung des Menschen aus seiner eigenen Verwirrung,
370
die Einsetzung des Menschen zum Herrscher in der Welt.”
Der Sabbat, der die Werktage regelmäßig unterbricht, ist ein Symbol für eine
Freiheit, die darum weiß, daß Arbeit und Produktion an den sechs Werktagen in einer Schöpfung der Fülle ausreichen, und deshalb allen die
Freiheit zu einer Unterbrechung gibt: der siebente Tag ist frei für andere,
nämlich kulturelle oder kommunikative Tätigkeiten.
4.2.3 Die Tora-Ökonomie: Eine ökonomische Alternative
Für den wirtschaftsethischen Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist
die Frage zu stellen: Welche aktuelle Bedeutung kann der Politischen
371
Ökonomie der Tora oder des Aristoteles zukommen? Diese Frage zu
369
370
371
J. Rinderspacher, Warum nicht auch mal sonntags arbeiten? In: K.-W. Dahm, u.a. (Hg.), Sonntags nie? Die Zukunft des Wochenendes, Frankfurt / New York 1989, 34.
A. Heschel, Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen - Vluyn
1990, 25f. Jüdisch-rabbinischer Theologie war deshalb auch die Aussage immer schon geläufig, daß durch den Sabbat schon jetzt ein Siebtel des Lebens hier auf Erden als Paradies erlebt
wird. Eine Auslegung von Rabbi Salomon von Karlin kann dies verdeutlichen: “Wenn man
nicht lernt, den Sabbat zu schmecken, solange man in dieser Welt lebt, wenn man nicht lernt,
die Ewigkeit in der zukünftigen Welt zu lieben, wird man den Geschmack der Ewigkeit in der
zukünftigen Welt nicht genießen können. Traurig ist das Los dessen, der unerfahren dort ankommt und nicht die Fähigkeit besitzt, die Schönheit des Sabbat wahrzunehmen, wenn er zum
Himmel geführt wird.” Zit. ebd. 59.
Diese Fragestellung wird ausführlich aufgenommen in Abschnitt 9.4.1.
135
beantworten, bedeutet auf zwei Dimensionen dieser Frage einzugehen:
erstens geht es um ein wirtschaftshistorisches Urteil über den Entwicklungsstand der damaligen Ökonomie; zweitens um die theoretische Frage nach der Aufgabe der Ökonomie.
Zum wirtschaftsethischen Urteil über den Entwicklungsstand der Ökonomie: Gab es in der antiken Ökonomie überhaupt Märkte? Strittig ist,
wie die Rolle der Märkte in den antiken und altorientalischen Gesellschaften und Ökonomien überhaupt zu bewerten ist. Karl Polanyi geht in
seinem bekannten Buch The Great Transformation davon aus, daß die
Entwicklung der Wirtschaft zu einem ausgebildeten Marktsystem sich
erst im Zusammenhang mit der industriellen Revolution im 18./19. Jahrhundert vollzogen habe. Der Wirtschaftshistoriker Moses I. Finley betont
die Diskrepanz ebenfalls und verweist darauf, daß zentrale Begriffe der
modernen Ökonomie wie Arbeit, Produktion, Kapital, Profit/Gewinn, Investition, Güterkreislauf, Marktpreise, Angebot und Nachfrage etc. nicht
372
in der lateinischen oder griechischen Sprache vorkommen. Auch wenn
die Begriffe fehlen, so gab es jedoch sehr wohl die mit diesen Begriffen
bezeichnete Wirklichkeit. Gewinn wurden erwirtschaftet und man wußte
vom Schwanken der Preise nach Angebot und Nachfrage. Und doch:
Ökonomie sollte nicht das Ziel haben, einen möglichst hohen Gewinn zu
erzielen, sondern zur Führung der Ökonomie des Hauses anleiten.
Unter den Wirtschaftshistorikern besteht keine Einigkeit darüber, wie
der Entwicklungsstand der antiken Wirtschaft seit Aristoteles und im Al373
ten Israel einzuschätzen ist.
Die sog. “Modernisten” (E. Meyer, M.
Rostovtzeff, F.M. Heichelheim, A. Ben-David) gehen von einem hohen
Entwicklungsstand der antiken Ökonomie aus, im Gegensatz zu den sog.
374
“Primitivisten” (K. Polanyi, E. Bücher, M. Weber).
Wenn es darum
372
373
374
M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 3. erw.Aufl. Stuttgart 1993, 13f..
Wie sehr bereits in die Bezeichnung der antiken Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme eigene
Wertvorstellungen eingehen, hat Rainer Kessler in seinem Beitrag über Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus und antike Klassengesellschaft diskutiert. R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaft des alten Israel, in: Evangelische Theologie 54 (1994), 423f. Weitere Ausführungen, die
sich speziell auf Israel beziehen, in: ders., Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda vom 8.
Jahrhundert bis zum Exil, Leiden u.a. 1992. Nach Max Weber ist die altisraelitische Gesellschaft von einem Konflikt zwischen Stadt und Land gekennzeichnet: “Die antike Klassenschichtung: das stadtsässige Patriziat als Gläubiger, die Bauern draußen als Schuldner, bestand
also auch in den israelitischen Städten.” (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III (1921) Tübingen, 7. Aufl. 1983, 26.)
M. Rostovtzeff, Wirtschaft und Gesellschaft im römischen Kaiserreich, 2 Bde. Leipzig 1929; F.
M. Heichelheim, Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 2 Bde. Leyden 1939. Nachdruck 3 Bde.
Leyden 1969; K. Polanyi, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt 1979; E. Meyer, Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, in: ders., Kleine Schriften I, 2. Aufl. Halle 1924, 79168. E. Bücher Die Entstehung der Volkswirtschaften, in: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, 3. Aufl. Tübingen 1901, 101-174.
136
geht, die antiken Wirtschaft zu charakterisieren, ist es sinnvoll, zunächst
die Debatte zwischen Bücher und Meyer nachzuzeichnen. Nach Bücher
fehlte in der Hauswirtschaft als der zentralen Wirtschaftsform der Antike
eine marktorientierte Produktion. Zudem habe es weithin keinen Handel
und keine Lohnarbeit gegeben. Gegen Bücher betonte Meyer, daß die
antike Ökonomie gerade durch marktorientierte Produktion, Handel und
freie Lohnarbeit zu charakterisieren sei. Die antike Wirtschaft habe einen
modernen Charakter gehabt und deshalb seien enge Parallelen zwischen den antiken und modernen, neuzeitlichen Verhältnissen zu ziehen.
Finley unterstützt die Grundthese von Bücher: die antike Wirtschaft sei
375
nicht marktwirtschaftlich organisiert.
Nach Frank Crüsemann ist es durchaus unklar und strittig, ob es in
der israelitischen Königszeit wirklich einen Markt gegeben hat, denn in
der damaligen Gesellschaft habe man weitgehend für den Eigenbedarf
376
produziert. Ekkehard W. und Wolfgang Stegemann gehen von einem
erweiterten Begriff des Marktes aus. Sie verstehen den Markt nicht lediglich als einen Mechanismus, der Angebot und Nachfrage reguliert. Entscheidend sei die Frage, ob es Gewinnerwartungen gewesen sind, die
das ökonomische Verhalten stimulierten. Daraus folgern sie für die Zeit
des römischen Imperiums einschränkend: “In diesem Sinne gab es allerdings in den antiken Gesellschaften des Mittelmeerraumes kaum Märk377
te.” Ein freies Spiel der Marktkräfte habe sich durch die staatlichen Interventionen zur Zeit des römischen Kaiserreiches nicht entwickeln können.
Heinz Schröder klassifiziert dagegen das ökonomische System zur
Zeit Jesu wiederum gar als “ein sozialmarktwirtschaftlich orientiertes,
378
bäuerliches Wirtschaftssystem.”
Ben-David nennt es selber erstaunlich, in welchem Maße die Gelehrten von Talmud und Mischna bereits in
der Darstellung und Erkenntnis nationalökonomischer Marktgesetze fortgeschritten gewesen seien. Zur Illustration dieser Aussage verweist er
375
376
377
378
M.I. Finley, Die antike Wirtschaft.
F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen” (Jes 2,7f). In: R. Jost u. R.
Kessler u. Chr. Raisig (Hg.), Auf Israel hören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung, Luzern
1992, 31f.
E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum
und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995, 44.
H. Schröder, Jesus und das Geld, 269. Auf Grund der Tora-Bestimmungen kommt er zu dieser
Einschätzung. Dieses affirmative Urteil berücksichtigt jedoch die Folgen der römischen Besatzung nicht. Wie gegenläufig sozialhistorische Aussagen sind, kann beispielhaft an den beiden
folgenden Aussagen illustriert werden: Palästina sei im 1. Jh. keineswegs ausgeblutet, sondern
wirtschaftlich reich mit pulsierendem Leben gewesen (J. Habbe, Palästina, 47); zu einem anderen Urteil kommen aufgrund sozialgeschichtlicher Untersuchungen: E.W. Stegemann u. W.
Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Sie sprechen von Verschuldung und Enteignung
der Kleinbauern als Kennzeichen der römischen Epoche (107).
137
auf Rabbi Akiba (50/55 - 135 n. Chr.), von dem eine knappe Definition
des Wirtschaftsgesetzes von Angebot und Nachfrage stammt: “Die Mengen des zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmen
wieder ab, so (kehrte) der Markt (will sagen die Preise am Markt) wieder
379
zu seinem alten Platze (Stand) zurück.”
Dieter Georgi kennzeichnet
die Ökonomie des Mittelmeerraumes im 1. Jahrtausend v.Chr. als eine
Ökonomie, die durch Geld und Markt bestimmt war. Zur Zeit Jesu habe
eine monetäre Ökonomie von weltweiten Proportionen mit einer gemeinsamen römischen Währung existiert. Die städtische Gesellschaft sei von
einer universalen Marktstruktur bestimmt gewesen, Industrie, Handel,
Arbeits- und Sklavenmarkt eingeschlossen. Ein expansives Netzwerk
380
von Märkten habe in der griechischen und römischen Welt floriert.
Dieter Lührmann vertritt eine Position, die den Gegensatz zwischen
den sog. Modernisten und Primitivsten überwinden soll. Er hat deshalb
vorgeschlagen, jenseits der mit neuzeitlichen Wertvorstellungen verbundenen Begriffe “Sklavenhaltergesellschaft” oder “Klassengesellschaft”
den Terminus “Haus” als Deutungskategorie für die antike soziale und
wirtschaftliche Wirklichkeit zu verwenden. Der Begriff oikos-Gesellschaft
habe den Vorteil, die sozio-ökonomische Struktur zu beschreiben und ei381
ne Deutungskategorie der damaligen Zeit zu sein.
Die wissenschaftliche Diskussion über die antike Ökonomie verläuft
kontrovers und hat bislang nicht zu einem einheitlichen Bezugsrahmen
geführt. Es gibt vermittelnde Positionen: Günther Bien geht davon aus,
daß es zwar eine Mischung von modernen und primitiven Elementen mit
einer sehr intensiven Marktwirtschaft gegeben habe, diese aber nicht in
der Lage gewesen sei, die Sozialstruktur und das Sozialdenken ent382
scheidend zu verändern.
Ähnlich resümiert Hans G. Kippenberg die
Diskussion: Die Debatte über die antike Ökonomie sei noch unabgeschlossen und lasse sich in einer doppelten Hypothese zusammenfassen: Die antike Ökonomie ist weder eine primitive, legt man die Kriterien
einer institutionalisierten Surplusproduktion zugrunde, noch eine moderne, legt man das Kriterium einer tauschwertorientierten Produktion zu383
grunde. Kuno Füssel präsentiert über diesen integrativen Ansatz hinaus eine Erklärung, welche die in der Literatur häufig als divergierend
dargestellten Ansätze von Karl Marx, Max Weber und Karl Polanyi zu
379
380
381
382
383
Zit. in A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, XX.
D. Georgi, Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus, 2. erw. Aufl. Neukirchen - Vluyn, 1994, 123ff.
D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 89.
G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 227.
H.G. Kippenberg, Die Typik antiker Entwicklung, in: ders. (Hg.), Seminar: Die Entstehung der
antiken Klassengesellschaft, Frankfurt 1977,18, zit. in: K. Füssel, Die politische Ökonomie des
römischen Imperiums in der frühen Kaiserzeit, 38.
138
übernehmen und zu integrieren erlaubt: “Die Wirtschaftsform - wie auch
die Erklärung ihrer Funktionsweise - bestimmt sich danach durch die Art
384
und Weise ihrer Einbettung ins politische System.”
Deshalb wählt er
als Erklärungsansatz die politische Ökonomie. Dieser Ansatz hat den
Vorteil, Arbeit nicht nur als eine Grundtatsache menschlicher Selbsterhaltung zu betrachten, sondern von Anfang an auch als ein soziales Verhältnis, eine Tätigkeit, in der Menschen arbeitsteilig produzieren. Hier
kann eine Verbindung mit der sozio-ökonomischen Grundstruktur der
oikos-Ökonomie hergestellt werden, welche die Beziehungen zwischen
denen, die in der Hausgemeinschaft auch eine Wirtschaftsgemeinschaft
bilden, ins Zentrum rückt. Fragen von Macht, Herrschaft und Verteilung
dessen, was produziert wurde, stellen sich mit der Tatsache der Arbeitsteilung. Herrschaftsbestimmt ist die Verteilung des Arbeitsertrages immer
dann, wenn andere als die Produzierenden den Verteilungsmodus bestimmen oder die Nichtarbeitenden über das Arbeitsergebnis anderer
verfügen. Im “Haus” bilden Produktion und Konsum eine Einheit. Das
Haus (oikos/bajit) ist deshalb der Ort, wo die sozialen und ökonomischen
Ansprüche und Interessen des Besitzenden und der abhängig Arbeitenden aufeinandertreffen. Wie werden die oben genannten ökonomischen
Grundfragen beantwortet werden, wie sie Samuelson formuliert hat: Wie
erfolgt die Verteilung? Wer bestimmt sie? Wer produziert für wen? Wer
385
profitiert, wer trägt die Kosten?
Binswanger verweist jenseits der Alternative zwischen Modernisten
und Primitivisten auf einen zentralen wirtschaftshistorischen Aspekt, der
es auch nach meiner Meinung erlaubt, zwischen der Marktökonomie der
Moderne und der Ökonomie der Antike eine Gemeinsamkeit von zentraler Bedeutung herzustellen: “Schon vor Aristoteles, Xenophon und Platon
haben sich aber auch die sieben Weisen des Altertums mit dem Wesen
386
der modernen Marktwirtschaft befaßt.”
Binswanger richtet sein Interesse nicht auf Fragen nach der Reichweite des Handels, der Existenz
von Lohnarbeitern oder ähnlichen ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auf die wirtschaftshistorisch unbestrittene Tatsache, daß sich in der
Antike mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft ein durchgreifender
Transformationsprozeß vollzogen hat. “Weil aber damals die Marktwirtschaft noch im status nascendi, im Anfangszustand war, konnten die
spezifischen Eigenschaften dieses modernen Wirtschaftens - insbesondere das erwerbswirtschaftliche Streben nach „immer mehr‟ im Sinne des
wirtschaftlichen Wachstums - besonders deutlich erkannt werden. Wol384
385
386
K. Füssel, Die politische Ökonomie des römischen Imperiums in der frühen Kaiserzeit, 39.
Wie nach welchen ethischen Gesichtspunkten diese ökonomischen Grundfragen beantwortet
werden, wird in Abschnitt 4.4.4 ausgeführt.
H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 33.
139
len wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen, müssen wir daher zu
ihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnanten und scharfsinnigen Analysen und Vorschlägen der damaligen Zeit zurückgehen, um
387
auch von dort Richtlinien für unser eigenes Handeln zu gewinnen.” Die
antike und die moderne Marktwirtschaft haben ein gemeinsames Wesen,
das in einer Gewinnorientierung, einer Suche nach “immer mehr” besteht. “Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirt388
schaft, deren Triebfeder das Gewinnstreben ist.” Geld, das um seiner
selbst willen begehrt wird, fördert ein Gewinnstreben, das demnach als
jenes Moment verstanden werden, das die heutige mit der antiken Ökonomie in der Grundmotivation gemeinsam hat. Binswanger nennt dies
389
das Wesen der Marktwirtschaft.
Auch wenn erst mit der industriellen
Revolution im 18./19. Jahrhundert sich ein vollausgebildetes Marktsystem entwickelt hat, so sind doch die Mechanismen und Triebkräfte der
Marktwirtschaft mit dem Motiv des Gewinnstrebens aus keimhaften Ursprüngen in der Antike inzwischen zu einem mächtigen Exemplar herangewachsen.
In der Antike gab es eine Auseinandersetzung um die ökonomischen
Mechanismen der Marktwirtschaft, die sich in der Auseinandersetzung
um ein ökonomisches Verhalten spiegelt, das in der Tradition als Untugend galt, nunmehr aber ökonomisch gefördert wurde. Die Kehrseite des
390
ökonomischen Gewinnstreben ist eine Haltung der Habgier.
Für die
gesamte antike Welt war die Habgier eine Untugend. Die ägyptische
Weisheit lehnte gleich den griechischen und lateinischen Philosophen
und Dichtern wie Aristoteles, Plautus, Juvenalis, Lucanus, Cicero und
Plutarch die Habgier, das “Mehr-Haben-Wollen”, als Untugend oder gar
391
als die seelische Krankheit der avaritia (Habgier) ab.
Aristoteles betrachtet Habsucht nicht bloß als eine individuelle Untugend, es ist die
Kapitalerwerbsökonomie, die diese Untugend der Habsucht strukturell
fördern.
Auch die Tora reagierte auf diese neuen ökonomischen Bedingungen
und entwickelte Instrumentarien, die das ökonomische Gewinnmotiv in
Schranken halten sollten. Einige seien hier aufgezählt: Der Sabbat mit
seiner Unterbrechung der Arbeitszeit, das Sabbatjahr mit seiner regel387
H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 34.
Ebd. 34.
389
Ebd. 33.
390
Nähere Ausführungen unten Abschnitt 9.5 sowie 9.6.
391
Vgl. weitere Nachweise bei: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” (Eph
5,5) Kritik an der Habsucht als theologische Analyse, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so
lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern, Salzburg, 1995, 170ff. sowie für den ägyptischen Kulturbereich: E. Otto, Theologische
Ethik des Alten Testaments, 122, 125, 130, 133f, 136f.
388
140
mäßigen Ackerbrache oder die Jobeljahrformel, die statt eines Tauschpreises für Grund und Boden einen am Nutzen orientierten Kaufpreis be392
stimmte. Der Habgier als einem strukturbedingten Sachzwang wird mit
diesen Bestimmungen und Einrichtungen eine Grenze gesetzt. Habgier
soll sich nicht frei ausleben dürfen, ist das mit diesen Regelungen beabsichtigte Anliegen.
Im alttestamentlichen Gedankengut werden Gewinn, Reichtum und
Besitz als Ergebnis von Besitzstreben zwar nicht gänzlich verworfen,
doch dieses Streben, nämlich die Habgier, hat fast durchgehend einen
393
negativen Klang. “Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug”
(Pred 5,9). Habgier ist die Kehrseite eine Ökonomie, die auf eine Spirale
von Gewinn und Mehr-Gewinn ausgerichtet ist. Das strukturell geförderte
Handlungsmotiv, nach Gewinn zu streben, wird nicht belohnt, sondern
Untugend genannt. Es bekommt dadurch eine innere Grenze. Die Institutionen des Sabbat, des Sabbat- und Jobeljahres setzen der ökonomischen Verführung zur Gewinnorientierung eine äußere Grenze: Arbeit
wird unterbrochen, die Nutzung des Boden alle sieben Jahre ausgesetzt,
Ansammlung von Reichtum wird wieder zurückgeführt. Die Einrichtungen
der Tora wollen es also nicht bei einer bloß tugendethischen Bewertung
der Habgier belassen. Sie überführen die ethische Disqualifizierung der
394
Habgier institutionen-ethisch in sozialrechtliche Bestimmungen.
Im rabbinischen Denken wird die antike Kritik der Habsucht um einen
religiösen Aspekt erweitert: Habsucht ist Götzendienst oder verleitet zu
Götzendienst, denn Geld tritt an die Stelle Gottes, wie die folgenden Zitate belegen können: “In der Verführung durch das Geld nennt man die
395
Götter, die keine sind.”
“Habgier führt zu den Götzenbildern” oder
“Wenn jemand seine Augen von der (materiellen) Wohltätigkeit abwen396
det, so ist es ebenso, als würde er Götzen anbeten.” Auch neutestamentlich wird Habgier negativ eingeschätzt (Mk 7,22; Lk 6,20 par.; Mt
6,12-21par.; Mt 6,24 par.; Mt 8,18-21par.; Mt 19,16-23par.). Wenn Pau392
393
394
395
396
Nähere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.
Vgl. Ex 18,13-27; Jes 33,15; 56,9-12; 57,17, Jer 6,13; 8,10; 22,13-19; Ez 22,12f. 27; 33,31;
Hab 2,9; Ps 119.36: Prov 1,19; 15,27; 28,16. Weitere Nachweise und Belege bei: R. Rieth,
“Habsucht” bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und soziale
Wirklichkeit im Zeitalter der Reformation, Weimar 1996, 44f.
Gegen T. Jähnichen, der in seiner biblisch begründeten theologischen Auseinandersetzung mit
dem ökonomischen Motiv des Selbstinteresses das biblische Gebot der Nächstenliebe als Begrenzung und relative Würdigung dieses Selbstinteresses wertet. Die biblische Tradition verfügt
nicht nur über personalistische Begrenzungen durch das Gebot der Nächstenliebe, sondern über
ausdrückliche institutionelle Begrenzungen in Gestalt des Sabbat, des Sabbatjahres oder des
Jobeljahres. Vgl. T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 69ff.
XII Test. Juda 18.1 zit. nach: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.”
171.
Zit. in: K. Müller, Tora für die Völker, 179.
141
lus Habgier als Götzendienst bezeichnet (Eph 5,5; Kol 3,5), dann bleibt
397
sein Denken im Rahmen der jüdischen Diskussion.
Die prophetische Kritik und die Regelungen der Tora werden insbesondere seit Ernst Troeltsch mit dem Vorwurf des unrealistischen Uto398
pismus überzogen. Daß zentrale Bestimmungen des Wirtschaftsrechts
der Tora zumindest seit der Zeit des Nehemia allgemein gelten, läßt sich
399
historisch belegen.
Daß jedoch das Jobeljahr eine Idealkonstruktion
war, gilt als Beleg für wirtschaftlichen Utopismus der Tora insgesamt. Alles nur Zufall oder drückt sich darin die Absicht aus, die tatsächliche Umsetzung des Wirtschafts- und Sozialkonzepts der Tora herunterspielen
zu können?
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Morris Silver hat in sei400
nem Buch Prophets and Markets
den Vorwurf gegen die Propheten
erhoben, daß sie mit ihren wirtschaftspolitischen Forderungen mitten in
der blühenden Wirtschaftsphase des 8. Jh.v.Chr. eben genau jene soziale und politische Katastrophe herbeigeführt hätten, vor der sie gewarnt
haben. Die Forderungen nach Gerechtigkeit seien nämlich nicht marktgerecht gewesen und hätten Produktion und Markt gestört. Die Hausordnung der Tora sei also nicht nur für Fragestellungen neuzeitlicher Ökonomie irrelevant, sondern seien bereits im Alten Israel illusionär und ökonomisch schädlich gewesen. Frank Crüsemann kritisiert zu Recht an
dieser Position, daß zum einen die modernen Gesetze des Marktes als
universal vorgestellt und zum anderen moderne Zustände auf antike Gesellschaften zurückprojiziert würden.
Zweitens zur Frage nach der Aufgabe von Ökonomie: Von der aristotelischen Unterscheidung der ökonomischen Grundsysteme zwischen
Haushaltswirtschaft und Kapitalerwerbswesen her gesehen, fragt der
Philosoph Günther Bien zugespitzt nach den meta-ökonomischen
Grundentscheidungen: “Welche Art von Leben und Lebensform sollen
wir wollen: einen bios politikos oder einen bios chrematistikos, ein Leben
in freier Selbstbestimmung mit dem Zweck einer Realisierung humaner
Glücksbedingungen oder eine auf die Produktion und Vermehrung von
401
Gütern allein um ihrer selbst willen abzielende Arbeitsexistenz?” In den
ökonomischen Konzeptionen sind implizit immer Wertentscheidungen
397
398
399
400
401
Martin Luther steht in dieser sozialphilosophischen und theologischen Traditionslinie, wenn er
die Habgier zu den “Haupt-Todsünden” zählt. WA 51, 422, 4; vgl. dazu: H. J. Prien, Luthers
Wirtschaftsethik, Göttingen 1992, 129-131; 220f.
So mit Verweisen: F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” 28ff.
Ausführungen und Belege dazu unten Abschnitt 6.1.1 und 9.6.2.
M. Silver, Prophets and Markets. Political Economy of Ancient Israel, Boston, The Haguse,
London 1983. Referiert nach: F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” 30f.
G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 229f.
142
enthalten, die sozialethisch gehaltvolle Vorstellungen von gutem Leben
und gerechtem Zusammenleben wiedergeben. Die aristotelische Theorie
der Haushaltswirtschaft und die Ökonomie der Tora stellen deshalb auch
nicht primitive oder noch unausgebildete Ökonomietheorien dar, der gegenüber die Marktökonomie der Moderne weiterentwickelt wäre und zu
denen es kein Zurück mehr gäbe, vielmehr gehen in die Vorstellungen
einer Ökonomie des Haushalts andere ökonomische Zielvorstellungen
und andere normative Vorstellungen von gutem Leben und gerechtem
Zusammenleben ein als in die einer modernen Ökonomie des Marktes.
Die Tora schließt Marktelemente keineswegs grundsätzlich aus, sondern
läßt sie dort zu, wo sie funktional und sozial erträglich sind; wo die
Marktgesetze ethischen Anforderungen allerdings nicht gerecht werden,
dort wird der Markt begrenzt oder sogar außer Kraft gesetzt. Dies zeigt,
daß nicht ein Gegensatz nur auf der Ebene Haushaltsökonomie oder
Marktökonomie besteht. Nicht Vor-Moderne und Modernität stehen sich
gegenüber, sondern zwei konkurrierende normative Konzeptionen von
Ökonomien. Welche Bedeutung haben diese anderen alternativen normativen Vorstellungen von gutem Leben und gerechtem Zusammenleben?
Auch wenn es nicht darum gehen kann, die Haus-Ökonomie als Vorlage für gegenwärtige Wirtschaftsfragen zu benutzen, so kann dennoch
ein Verständnis von Ökonomie als Haushalt einen kritischen Gegenpol
zur herrschenden Vorstellung von Marktökonomie bilden. Dieses Ökonomieverständnis enthält alte Einsichten, die in der neuzeitlichen Ökonomie in Vergessenheit geraten sind. Ökonomie ist die Sorgfalt in der Ver402
waltung des Haushaltes (oikos).
Wirtschaft war ursprünglich keineswegs Medium der unbegrenzten Steigerung des Wachstums, sondern
eine vernünftige Behebung des Mangels. Diese ökonomische Zweckbindung will die Hausordnung der Tora wie auch Aristoteles‟ Politika erreichen. Sie können deshalb als gesellschaftlich eingebettete und regulierte
Ökonomien gelten. Eine so organisierte Ökonomie ist eingeordnet in den
größeren Haushalt des Lebens. Diesem Haushalt des Lebens und dem
Leben der Bewohner in dem Haushalt hat Ökonomie zu dienen. Die Erfüllung dieser Aufgabe überläßt die Tora ebensowenig wie Aristoteles
den Prozessen des Marktes. Sie fordern ein steuerndes und regulierendes Eingreifen in die Marktprozesse, damit die Ökonomie den Bedürfnissen des Lebens im Haushalt gerecht wird. Das aber bedeutet, die Frage
nach Sinn, Aufgabe und Ziel des Wirtschaftens wieder in die Ökonomie
zu integrieren.
402
G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 52.
143
In drei Aspekten berühren sich die ökonomischen Äußerungen über
die Haushaltsökonomie der Tora mit jenen Äußerungen des Aristoteles:
Erstens postulieren Tora und Aristoteles ein Maß dessen, was für den
Menschen (und die Kreatur) gut ist. Was Aristoteles eine unnatürliche
Erwerbs-Wirtschaftsweise oder Kapitalerwerbswesen (Chrematistik)
nennt, ist eine Wirtschaft, die einem Wachstumszwang unterliegt. Auch
die biblische Ökonomie weist mit der Metapher “Haus” auf den begrenzten Raum der Schöpfung hin, in dem es kein unbegrenztes Wachstum
geben kann.
Zweitens verstehen beide die Ökonomie als ein Mittel zu einem
Zweck, nämlich zur Versorgung der Menschen mit den Gütern des Lebens. Die Unterscheidung zwischen dem Prinzip des Verbrauchs (in der
Haushaltsökonomie) und jenem des Gewinns (in der Kapitalerwerbsökonomie) ist der Schlüssel zu zwei verschiedenen Zivilisationen und ökonomischen Kulturen.
Drittens haben die Ökonomie der Tora und des Aristoteles gemeinsam,
daß sie auf eine sozio-ökonomische Transformation mit verheerenden
sozialen Folgen reagieren. Aristoteles registrierte die sozialen Folgen des
Übergangs von einer Hausverwaltungsökonomie in eine Kapitalerwerbsökonomie. Nicht anders die Tora. Die ökonomischen Transformationsprozesse und die offen auftretende Klassenspaltung im 8. Jahrhundert
im Alten Israel und ähnliche ökonomische Prozesse in Griechenland im
4. Jahrhundert gaben den Anstoß zur Entwicklung der ökonomischen
Vorstellungen in der Tora und bei Aristoteles. Nicht theoretische Überlegungen stehen also am Anfang, sondern Erfahrungen mit einem tiefgrei403
fenden Umbruch der Wirtschaftsordnung seit dem 8. Jahrhundert. Die
ökonomischen Vorstellungen der Tora und des Aristoteles sind Antworten auf sozio-ökonomische Umbrüche. Der brasilianische Exeget Milton
Schwantes verweist auf die Umorientierung der Ökonomie von einer
landwirtschaftlichen Produktionsweise auf Markt- und Handelsbeziehun404
gen als Auslöser für die scharfe Kritik des Propheten Amos.
König
Jerobeam II. wollte sich aktiv am internationalen Handel beteiligen. Doch
die Tauschbedingungen von israelitischen Landprodukten gegen Eisen
und Gold waren für Israel unvorteilhaft. Dadurch verarmten die Kleinbauern und wurden mehr und mehr von den städtischen Großgrundbesitzern
in die Schuldsklaverei getrieben (Am 4,1-3; 7, 10-17; Mi 2,1-4; Jes 5,810). Rainer Kessler deutet ähnlich die von den Propheten kritisierte Ent-
403
404
Dazu K. Koch, Art. Propheten / Prophetie II, in: TRE Bd. 27, 488. Zu den verschiedenen Erklärungsansätzen: R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft.
M. Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München
1991, 22; vgl. auch R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 248f.
144
405
wicklung als eine Folge der ökonomischen Transformation. Das relativ
einheitliche frühe Israel mit seinen solidarischen Gesellschaftsstrukturen
zerbrach, ein Teil der Gesellschaft wurde reicher und mächtiger, während ein anderer bis in Sklaverei und Schuldknechtschaft hinein verarmte. Wirtschaftshistorisch gesehen löste die prophetische Kritik im 8. Jh.
V. Chr. einen Prozeß aus, in dem jene Kräfte bestärkt wurden, die den
gesellschaftlichen Transformationsprozeß rechtlich regulieren wollten.
Die Tora entstand als Antwort auf die ökonomische, soziale und politische Krise. Auch Aristoteles wollte mit seinen Äußerungen zur politischen Ökonomie eine Antwort auf die politische, ökonomische und sozia406
le Krise des 4. Jahrhunderts v. Chr. geben.
Historisch zeigt sich ein wirtschaftsethisch bedeutsamer Tatbestand:
Die Tora-Ökonomie ist nicht theoretisch konzipiert worden, sondern eine
Antwort auf konkrete sozioökonomische Verhältnisse. Angesichts dieser
Verhältnisse hat sie Alternativen formuliert. Die Propheten lebten an der
Wende eines ökonomischen Zeitalters. Klaus Koch fragt nach den Gründen für die plötzlich im 8. Jahrhundert auftretende Gesellschaftskritik und
gelangt zu der Beurteilung: “Dergleichen hat es vor und neben den
407
Schriftprofeten im gesamten Altertum nicht gegeben.”
Der prophetischen Kritik kommt also das Verdienst zu, bereits zu einem sehr frühen
Zeitpunkt im großen Transformationsprozeß von der traditionellen
Stammesgesellschaft zur antiken Klassengesellschaft im Keim die Probleme des ausgewachsenen Exemplars einer freien Marktwirtschaft er408
ahnt zu haben. Israel nimmt mit diesem Transformationsprozeß teil an
einer ökonomischen Umwälzung, die den gesamten Mittelmeerraum seit
dem 8. Jahrhundert v.Chr. erfaßte.
Zusammenfassend läßt sich die Alternative der Tora-Ökonomie in folgenden fünf Aspekten kennzeichnen:
1. Die Ökonomie der Tora basiert auf einer Gottesvorstellung:
Grundlage des ökonomischen Denkens und der sozialen Weisungen
der Tora ist die Vorstellung von Gott als einem Ökonomen (Ps 65,10;
405
406
407
408
R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft,
422f.
G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 228.
K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, in: H.W. Wolff (Hg.), Probleme
biblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München 1971, 238. O. Loretz kritisiert diese Anschauung, die davon ausgeht, daß Prophetie innerhalb der Alten Welt etwas Singuläres gewesen sei; mitgeteilt mit Verweisen bei: R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft, 416f. Dort wird auch die Debatte um die Benennung des altorientalischen Wirtschafts- und Gesellschaftsystems nachgezeichnet.
So auch Karl Polanyi über Aristoteles, in: K. Polanyi, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt
1979, 151; vgl. H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft der Antike, 23.
145
104,10ff. u.o.). Die mit reichen Gütern ausgestattete Schöpfung ist
Beweis des ökonomischen Handelns Gottes. Nicht Knappheit der Güter, sondern Fülle ist die ökonomische Prämisse. Die Tora enthält ein
Wirtschaftsrecht, das den rechten Umgang mit und in der Schöpfung
reguliert. Ökonomie wird also in einen Zusammenhang mit dem Recht
Gottes gesetzt. In diesem Punkt unterscheiden sich die Tora und die
Ökonomie-Konzeptionen des Aristoteles.
2. Die Ökonomie der Tora orientiert sich an einer Ökonomie der Hausverwaltung:
Die Tora enthält eine “Hausordnung”, die die Ökonomie des Hauses
regulieren soll. “Haus” ist nicht nur das einzelene Gebäude, sondern
die strukturierte Einheit. Ganz Israel wird nach einem “Hausprinzip”
organisiert. Das Haus als Ort von Produktion, Distribution und Konsum
ist eingebunden in den größeren Haushalt der Schöpfung. Was in der
sozialen und ökonomischen Grundeinheit eines Hauses geschieht,
findet sein Maß und seine Ordnung durch dieser Einbindung in das
größere Haus der Schöpfung. Die Politische Ökonomie der Tora geht
davon aus, daß die Schöpfung alles hervorbringt, was zu einem guten
Leben im Haushalt der Schöpfung benötigt wird. Auf dieser Grundlage
hat Ökonomie die Aufgabe, mit den vorhandenen Güter sorgsam umzugehen und sie für die Bedürfnisse der Gemeinschaft umzuwandeln.
Die Hausverwaltungsökonomie ist ein Gegenbild zur Knappheitsökonomie, die Kapital- und Gütererwerb zum Ziel hat. Zweck und
Ziel der Hausverwaltungsökonomie ist die Befriedigung der natürlichen, nützlichen und täglichen Bedürfnisse. Kehrseite ist eine scharfe
Kritik der Geld- und Habgier. Die Hausverwaltungsökonomie enthält
ein inhaltliches Kriterium: das, was für alle Kreatur gut ist.
3. Die Ökonomie der Tora bindet ökonomisches Handeln an ethische
Ziele:
Die Tora setzt ethische Maßstäbe und Ziele, die sich an einer Option
für die Armen orientieren. Von diesem perspektivischen Standort aus
werden Werte wie Würde des Menschen, Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden inhaltlich geprägt. Gerechtigkeit als gemeinschaftsfähiges Verhalten ist die wirtschaftsethische “Primärtugend”. Daraus
ergibt sich eine eindeutige Vorzugsregel: Im Konfliktfall kommt der Logik der Humanität der Vorrang vor den Interessen des Ökonomischen
zu. Nicht das Maximum einer größtmöglichen Güterproduktion, sondern das Optimum dessen, was gut ist für das “Haus der Erde” und
die, die es bewohnen, ist der Maßstab. Die Ökonomie der Tora weiß
sich in den sozialen und ökologischen Kontext des Haushaltes der
Schöpfung eingebunden. Der Haushalter-Gott hat die unerschöpfliche
146
Fülle des Schöpfung geschaffen und den Menschen und mit ihm alle
Geschöpfe zu Hausgenossen gemacht. Die ökologische und soziale
Dimension gehören zusammen. Der Mensch ist Haushalter der
Schöpfung. Diese treuhänderische Funktion macht ihn nicht zum
Herrn über die Schöpfung, sondern zum Herrn in der Schöpfung.
4. Die Ökonomie der Tora will strukturelle Gewalt, die von der Ökonomie
ausgeht, minimieren:
Die Weisungen der Tora richten sich nicht nur an das Individuums
sondern sind Weisungen für ein Kollektiv oder für Institutionen. In der
Tora wird die Ordnung für ein sozial und ökologisch gerechtes Leben
sichtbar, die mit der Schöpfung gegeben worden ist. Sabbat, Sabbatjahr, Jobeljahr sind Institutionen der Gerechtigkeit. Die Tora durchbricht oder begrenzt die ökonomischen Gesetze des Marktes da, wo
sie zu Ausbeutung und Abhängigkeit führen. Der Sabbat steht für die
Begrenzung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit (Ex 20,8ff.; Dtn
5,12ff.). Der Umgang des Menschen mit der Schöpfung soll so gestaltet werden, daß die Schöpfung ihren Reichtum und ihre Lebensfähigkeit nicht verliert (Sabbatjahr: Lev 15,2; Ex 23,10f.). Was Aristoteles
die strukturelle Maßlosigkeit der Kapitalerwerbswirtschaft nannte, wird
auch in der Tora angesprochen. Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahr
sind Institutionen, die auf die Maßlosigkeit einer Kapitalerwerbswirtschaft reagieren: Diese Mechanismen unterbrechen ökonomische
Prozesse, begrenzen sie und setzen ihnen ein Maß.
5. Die Ökonomie der Tora hat die Gestalt des Rechts:
Die prophetische Kritik wurde, historisch gesprochen, in Recht umgesetzt. Die ethischen Ziele der Menschenwürde, Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden bleiben nicht auf einer appellativen oder individuellen Ebene; sie gewinnen in Rechtssatzungen eine klare Rechtsgestalt. Die zentrale Frage ist deshalb die nach den Folgen wirtschaftlichen Handelns für die Armen und Schwachen, “die Witwen und Waisen” (Dtn 10,18 u.ö.). In die Abläufe der Ökonomie wird eingegriffen,
wenn die Gesetze des Marktes sich zu Lasten der Armen auswirken.
Die Rechtsgestalt der Weisungen versetzte die Armen in die Position
eines Rechtsträgers, der einen einklagbaren Rechtsanspruch auf eine
gesicherte und ausreichende Lebensgrundlage hatte.
Die Ökonomie der Tora will eine ökonomische Alternative zu einer Kapitalerwerbswirtschaft formulieren. Ihre Absichten lassen sich mit ihrem
Gegenentwurf im nachstehenden Schema verdeutlichen:
147
Voraussetzung:
Ziel:
Mittel:
Haltung:
148
Wirtschaften als Umgang mit
Vertrauen in der Tora
- Haushalter-Gott als Schöpfer
der Fülle und des Reichtums
der Schöpfung
- Schöpfung als Haushalt,
- Mensch als treuhänderischer
Haushalter,
- politische Ökonomie nach
dem Vorbild einer HaushalterÖkonomie (bajit=Haus),
- Hausgemeinschaft als Produktionsgemeinschaft
- gerechte Versorgung,
- gutes Leben im Haushalt der
Schöpfung zur Befriedigung
der natürlichen und nützlichen
Bedürfnisse,
- Gerechtigkeit als gemeinschaftsfähiges Verhalten,
- optimaler, sorgsamer Umgang
mit den Ressourcen,
- nach Gottes Willen rechte Lebensführung im Hause der
Schöpfung,
- Lebensrecht aller Hausgenossen, Maß und Begrenzung,
- Hausordnung (Tora) als Lebens-ordnung im Haushalt der
Schöpfung,
- Hausgenossenschaft,
- Marktregulierungen mit dem
Ziel der Schaffung und Sicherung von Gerechtigkeit, Außerkraftsetzung marktwirtschaftlicher Preisbestimmung
durch den Gebrauchswert
(z.B. bei der Preisbestimmung
von Immobilien Jobeljahrformel Lev 25,15f.)
- Einbettung des wirtschaftlichen Geschehens in die Gesellschaft;
- Selbstproduktivität der Schöpfung,
- rechtliche Regulierungen zum
Schutz der sozial und ökonomisch Schwachen (Sabbat,
Sabbatjahr-Brache etc.),
- Zinsverbot
- Vertrauen in die Fülle der
Schöpfung
- solidarische Beziehungen
Wirtschaften zur Erzielung
von Gewinn
- Knappheit der Mittel und Ressourcen,
- Versorgung mit Gütern,
- Geldvermehrung,
- Akkumulation,
- maximale Güterversorgung,
- Markt, Angebot und Nachfrage,
- Konkurrenzbeziehungen
- Preisbestimmung durch den
Tauschwert am Markt
- Zins- und Geldwirtschaft
- Erwerb, Produzieren, Herstellen
- Konkurrenzbeziehung
149
4.2.4 Leitlinien einer Haushaltsökonomie der Tora
Die Tora setzt die Grundstruktur einer Haushaltsökonomie nicht einfach
voraus, sondern will diese nach ethischen Gesichtspunkten gestalten.
Wie beantwortet die Tora in ihrem Umgang mit der Ökonomie die oben
gestellten universal geltenden ökonomischen Grundfragen (was, wie, für
wen)?
1. Was soll in welchen Mengen produziert werden?
Die Haushalts-Ökonomie der Tora geht von der Voraussetzung aus,
daß Gott die Erde mit Gütern, die für alle reichen, ausgestattet hat. “Du
sorgst für das Land und tränkst es; du überschüttest es mit Reichtum”
(Ps 65,10). Wirtschaften ist deshalb nicht ein Umgang mit
Knappheiten, sondern ein Umgang mit Vertrauen auf den Reichtum,
mit dem die Schöpfung überschüttet ist. Nicht das Knappheitstheorem,
sondern die Fülle der Güter ist der ökonomische Ausgangspunkt.
Ökonomisches Handeln basiert in der Tora auf einer Haltung des Vertrauens: Alles, was zum guten Leben benötigt wird, bringt die Schöpfung hervor, und die Menschen gebrauchen die Güter der Schöpfung
für ihre Bedürfnisse. Handlungsprinzip ist deshalb auch nicht die Effizienz, sondern die Suffizienz. Wirtschaften wird verstanden als verantwortungs- und vertrauensvoller Umgang mit den Gütern der reich ausgestatteten Schöpfung Gottes. Was produziert werden soll, ergibt sich
nicht aus einem Knappheitstheorem und wird nicht der Steuerung des
Marktes allein überlassen, sondern orientiert sich an einem sorgsamen
Haushalten mitten in der Fülle der Schöpfung. Wirtschaften zielt deswegen nicht darauf, immer mehr zu schaffen oder die Effizienz immer
stärker erhöhen zu müssen. Das Gesetz der Knappheit geht von der
Voraussetzung aus, daß die vorhandenen Güter der Schöpfung nicht
ausreichen. Deshalb befördert das Knappheitstheorem ein prinzipiell
unbegrenztes Wachstum und kennt kein Genug, während das Wirt409
schaften aus Vertrauen auf die Güter der Schöpfung ein Maß kennt.
Die Schöpfung ist das ökonomische Maß. Sie ist so produktiv und
mit Fülle ausgestattet, daß ein gerechtes Wirtschaften ökonomische
Knappheitsprobleme lösen kann, wenn der Mensch die Hausordnung
einhält und für Recht und Gerechtigkeit eintritt. Die Ethik des guten
Lebens in der Schöpfung verbindet sich mit einer Ethik der Gerechtigkeit im Umgang mit den Gütern der Schöpfung. Gott hat seine Schöpfung so reich ausgestattet, daß das Verteilungsproblem nicht das ökonomische Grundproblem darstellt. Verteilungsfragen sind prinzipiell
lösbar. Deshalb heißt es von Gott im Psalm: “Recht verschafft er den
409
Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.5.2.
150
Unterdrückten, und den Hungernden gibt er Brot” (Ps 146,7). Der
Ökonom Gott will, daß Menschen nach seinem Vorbild in der Schöpfung haushalten. Die Tora konzentriert sich auf die Bedürfnisse und
Rechte derer, die am Rande der Gesellschaft stehen, die Armen (Ex
23,6 u.ö.), die Fremden (Ex 23,9 u.ö.), die Witwen und Waisen (Dtn
24,17-22 u.ö.). Die Tora ist die Hausordnung, die Leben schützen soll.
Sie enthält Regelungen, die in Auseinandersetzung mit dem Markt
entstanden sind und sich mit dem Marktgeschehen auseinandersetzen. Markantes Beispiel ist die bereits oben dargestellte Begrenzung
von Kauf und Handel mit Eigentum an Grund und Boden, die das
410
Subsistenzrecht
garantieren
kann
(Lev
25,8-24).
Auch
Deuterojesaja spricht in einer metaphorischen Sprache von dem
Grundrecht auf Existenz. “Auf ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser!
Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide und eßt, kommt
und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung” (Jes
55,1; vgl. auch Vv 2-5). Deuterojesajas Formulierungen sind widersprüchlich, wenn er davon spricht, Getreide einerseits zu kaufen und
es andererseits auch ohne Geld und Bezahlung zu kaufen. Diese widersprüchliche Formulierung verdeutlicht, daß das Recht auf Leben
und Existenz nicht ausschließlich an Geld und Kaufkraft im Rahmen
einer Marktökonomie gebunden werden darf. Schwächere Marktteilnehmer sollen nicht von der Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausgeschlossen werden, wenn sie kein Geld haben. Das Recht auf Subsistenz darf nicht an das “monetäre” Kaufen gebunden sein.
Deuterojesaja formuliert kein Wirtschaftsprogramm. Doch er will in einem Gegenbild zu gegenwärtigen Zwangsverhältnissen Vorstellungen
eines befreiten Lebens darlegen. Wenn die Marktökonomie das Leben
all derer gefährdet, die keine mit Geld ausgestattete Nachfrage einbringen können, dann hat das Lebens- und Existenzrecht Vorrang vor
der Ökonomie des Marktes. Jesus reiht sich in diese Traditionslinie
der Hebräischen Bibel ein, wenn er es eine falsche Sorge nennt, zu
fragen, was zu essen oder was zu trinken sei (Lk 12,22f). Diese Fragen sind Indizien einer ökonomischen Grundhaltung, die von der
Knappheit der Güter, und nicht von der Fülle der Schöpfung ausgeht.
“Die Vögel des Himmels, die keinen Speicher haben” (Lk 12,24) und
“die Lilien des Feld, die nicht arbeiten” (Lk 12,27) stehen für eine Ökonomie des Vertrauens auf die ausreichenden Güter der Schöpfung
411
Gottes und sind nicht ein Beweis für ökonomische Naivität.
Die
410
411
Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 5.1.2 und 9.3.2.
Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.4.1 ; vgl. dazu F. Segbers, “Ich will größere
Scheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durch Gerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit, in:
K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 105-114;
151
“Bildrede vom großen Weltgericht” verdeutlicht auf diesem Hintergrund, welche ökonomischen Kriterien gelten: Es sind die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Wohnung, Asylschutz (Mt 25,31-46).
Dem Grundsatz des Existenz- und Lebensrechtes wird vor den Gesetzen der Ökonomie des Marktes Vorrang eingeräumt. Durch diese Prioritätensetzung wird nicht die Ökonomie suspendiert, sondern viel412
mehr das Leitbild einer lebensdienlichen Ökonomie entwickelt.
2. Wie sollen die Güter produziert werden?
Die Frage nach dem Wie der Güterproduktion thematisiert die Elementarfrage nach dem Sinnzusammenhang und dem Eigenwert des Lebens. Wenn nach dem Sinn gefragt wird, kommt eine Perspektive der
Humanität zur Sprache, die in der Lage ist, Ansprüche des ökonomischen Systems zu begrenzen. Aus der Perspektive einer Frage nach
dem Sinn und dem guten Lebens wird der Ökonomie die Aufgabe zugeteilt, Mittel im Dienst höherer Lebensziele zu sein. Wie wollen wir leben und arbeiten? Ist die Art und Weise, in der wir die Dinge des Lebens besorgen und erstellen, den Ansprüchen an ein gutes und eines
gerechtes Leben zuträglich? Das Arbeits- und Sozialrecht der Tora
enthält Vorstellungen eines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens. Um diese durchsetzen zu können, erinnert sie an das Negativbild der ägyptischen Verhältnisse. Sie will einen Rückfall in diese ägyptischen Verhältnisse der Sklavenarbeit verhindern. Deshalb behält Israel Erfahrungen der Unterdrückung im Gedächtnis und begründet die
sozialen Schutzbestimmungen mit der Formel: “Denk daran: als du
Sklave warst in Ägypten ...” (Dtn 24,28 u.ö.). Einseitig wird aus der Erinnerung an die ägyptischen Verhältnisse Partei genommen für die
Schwächeren und eine Rechtsordnung gesetzt, die die Armen und
Schwachen schützt und der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft
Grenzen setzt. Arbeit und Humanität werden nicht auseinandergeris413
sen. Arbeit wird nicht abgewertet; sie ist keine von Göttern auf die
Menschen abgewälzte Tätigkeit. Der Mensch ist Ebenbild eines Gottes, der auch arbeitet. Arbeit dient nicht nur der Selbsterhaltung, sondern ist immer auch ein soziales Verhältnis. Die politische Ökonomie
der Tora setzt diese Herrschaftsstruktur teilweise außer Kraft. Die
Hausgenossen haben keinen anderen Herrn als den Hausvater, den
Ökonomen Gott. Der Sabbat unterbricht für Herrn, Knecht und Vieh
und auch den Fremden die Arbeit. Die hierarchische Ordnung der Ar-
412
413
auch: F. Segbers, “... und alle aßen und wurden satt” (Mt 14,20). Meditation zu einer biblischen
Ökonomie des Genug - oder : Teilen macht satt, in: K. Füssel u. F. Segbers, “ ... so lernen die
Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 97 - 105.
Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.4.1.
Weitere Ausführungen oben Abschnitt 5.1.2 und 5.1.2.
152
beit ist am Sabbat real und periodisch erfahrbar aufgehoben (Dtn 5,6;
Ex 20,10). Die Ökonomie der Tora fällt eine klare Wertentscheidung:
Die humanen Ansprüche auf ein gutes Leben haben Vorrang gegenüber den Ansprüchen des ökonomischen Systems, wie es in dem Bild
der ägyptischen Verhältnisse zur Sprache kommt.
Die Metapher des Haushalts versteht alle Geschöpfe als Bewohner
der Schöpfung Gottes. Die sozialen Schutzordnungen der Hausordnung wollen die Lebensmöglichkeiten für alle schützen. Wirtschaften
ist Teil eines sorgsamen Umgangs mit den Gütern, die Gott den Hausbewohnern anvertraut hat. So hat der Sabbat eine soziale Dimension,
wenn er Arbeit unterbricht, und eine ökologische, wenn durch diese
Unterbrechung der Arbeit die Schöpfung ihre Regenerationsfähigkeit
wiedergewinnen kann (Ackerbrache im Sabbatjahr: Ex 23,10ff.; Lev
414
25,1ff). Ökonomie und Ökologie sind zwei Aspekte desselben Auftrages, verantwortliche Haushalter im Haushalt Gottes zu sein.
3. Für wen soll produziert werden?
Leitlinie der politischen Ökonomie der Tora ist jener Maßstab für ein
gerechtes Zusammenleben, wie er in der Mahnung zum Ausdruck
kommt: “Doch eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben” (Dtn
15,4). Die Armen sollen deshalb zu ihrem Recht kommen. Das Herz
biblischer Ethik ist die Option für die Armen, die sich gegen den Ausschluß von Menschen aus der Gesellschaft wendet und für eine gesamtgesellschaftliche Integration auspricht. Im Haushalt soll die ökonomische Logik des Teilens und der Solidarität gelten. Ökonomie nach
den Vorstellungen der Tora muß sich gegenüber den Armen rechtfertigen. Legitimiert ist diese Ökonomie erst dadurch, daß die Armen zu ihrem Recht kommen. Die Tora enthält deshalb Institutionen der Gerechtigkeit, die periodisch zu einem Ausgleich zwischen Arm und
Reich beitragen wollen: Brachjahr (Ex 23,10ff.; Lev 25,1ff.), Sabbatjahr
zum Schuldenerlaß (Dtn 15,1-11), Zinsverbot (Ex 22,24; Dtn 23,20f.;
415
Lev 25,35ff.), Jobeljahr (Lev 25,8-55). In Gottes Tora-Haushalt kann
die Akkumulation von Reichtum angesichts der Armen nicht gerechtfertigt werden, die von dem ausgeschlossen werden, was ihnen Leben
und Zukunft gibt. Man darf anderen nicht vorenthalten, was sie brauchen. Ökonomie verstanden als “Haushalten” ist dann eine Fürsorge
für Leben und Wohlergehen aller Mitbewohner des Haushaltes, die
besonders auf die Armen achtet. Diese Aufgabe führt der Mensch
treuhänderisch aus; er vertritt dabei den Hausherrn, nämlich Gott. Im
414
415
Weitere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.2.2.1.
Weitere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.1: Sabbat: Abschnitt 6.1.2.1; Sabbatjahr als Brachjahr: Abschnitt 6.1.2.2.1; Sabbatjahr als Erlaßjahr: Abschnitt 6.1.2.2.2, Jobeljahr: Abschnitt
6.1.2.3 und 8.6.2.
153
Haus soll Gerechtigkeit herrschen, das heißt ein “gemeinschaftsge416
mäßes Verhalten” aller Hausbewohner. Wirtschaftsethisch dringt die
Tora auf einen Vorrang der humanen Ansprüche an ein gerechtes Zusammenleben gegenüber den Ansprüchen und Zwängen der Ökonomie.
Zusammenfassend läßt sich also sagen: Das Wirtschafts-, Sozialund Arbeitsrecht der Tora läßt sich als eine ethisch gehaltvolle Antwort
auf einen ökonomischen Transformationsprozeß verstehen, der die
zentralen ethischen Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellte. Die Propheten begründen eine Kultur des Erinnerns, die die alten
Werte der Solidarität und Gerechtigkeit auch unter neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen lebendig hält und sich in den
Weisungen und Haushaltsordnungen der Tora niederschlägt. In der
Tora selber zeichnet sich ein kontinuierlicher innerbiblischer Rezeptionsvorgang ab, der das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora jeweils neuen Verhältnissen anpaßt und sich dabei angesichts der
Bedrohungen der Gegenwart an die Vergangenheit erinnert. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden durch Erinnerung an älteres
Wissen erkannt und korrigiert. Die Tora ist in kritischer Auseinandersetzung mit marktwirtschaftlichen Prozessen entstanden und will zerstörerischen ökonomischen Tendenzen Widerstand entgegensetzen,
indem sie sich an der Solidarität der alten Gesellschaft orientiert. Die
Tora entwickelt eine sozial und ökologisch durchdachte Alternative zu
jener Ökonomie, die Aristoteles als Kapitalerwerbsökonomie charakterisiert.
416
K. Koch, Art. sdq = gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd.II., 3. durchgeseh. Aufl.
München , Zürich 1984, Sp.515; vgl. auch ders., Wesen und Ursprung der “Gemeinschaftstreue” im Israel der Königszeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 6 (1961) Heft 2, 72-90;
vgl. auch unten Abschnitt 3.3.1.
154
5. OPTION FÜR DIE ARMEN:
BEZUGSPUNKT EINER BIBLISCH BEGRÜNDETEN
WIRTSCHAFTSETHIK
5.1 Arbeiten - biblische Einsichten
“Wie der Stand der Forschung erweist, bereitet die Erfassung des alttestamentlichen Materials zum Thema Arbeit nur geringe Schwierigkeiten .
417
(...) „Arbeit‟ ist innerhalb des AT kein besonders wichtiges Thema.”
Diese Aussage über “Arbeit” in der Theologischen Realenzyklopädie
zeigt, wie wenig theologisch und sozialethisch registriert wird, daß die
Arbeit und das Leiden an unmenschlichen Arbeitsverhältnissen zu einem
Grunddatum der menschlichen Existenz gehören. Was biblisch über Arbeit gesagt wird, nimmt seinen Ausgang im Exodus, dem “Herzstück der
418
hebräischen Bibel” . Der Exodus muß als Befreiung aus dem Haus der
Knechtschaft, dem Arbeitshaus gelesen werden (so wörtlich Ex 20,2).
Die Kritik an unwürdigen Arbeitsverhältnissen gibt den Anstoß zum Exodus. Zwischen Arbeit, Exodus und Befreiung aus unwürdiger Arbeit besteht ein enger Zusammenhang, der theologisch bedeutsam ist. So läßt
sich mit guten Gründen sagen, daß in der biblischen Tradition Arbeit eine
zentrale theologische Stelle einnimmt. Mit diesem Grunddatum biblischer
Theologie wird Entscheidendes über Arbeit gesagt: Das Exodusereignis
rückt Arbeit theologisch in den Mittelpunkt und begründet eine Würdetradition der menschlichen Arbeit. Auf diese Tradition hat Israel sich immer
durch die wechselvolle Geschichte hindurch gegen die real erfahrene
Würdelosigkeit berufen können. Der Exodus wurde zu einer Quelle der
ethischen Inspiration der Arbeitswelt.
417
418
H.D. Preuß, Art. Arbeit, I., in: TRE 1978, Bd. 3, 613.
So D. Tracy, Der Exodus. Eine theologische Überlegung, in: Concilium 23 (1987) 77.
155
Das biblische Arbeitsverständnis läßt sich von dieser Grundvorausset419
zung her in drei Aspekten darstellen:
5.1.1 Arbeit und Zwangsarbeit - eine notwendige Differenzierung
Der sich im Exodusgeschehen offenbarende Gott ist der Gott der “Hebräer” (Ex 3,18; 5,3; 7,16; 9, 1.13; 10,3). Solange die Israeliten in Ägypten
sind, werden sie auffällig häufig als “Hebräer” bezeichnet (Ex 1,15f.19;
2,6f.11.13).Viel spricht dafür, daß sich der Name “Hebräer” von dem
Wort habiru ableitet, das auch in ägyptischen, akkadischen, sumerischen
420
und ugaritischen Texten vorkommt.
Mit “Hebräer” werden aber mit
wenigen Ausnahmen weder ein Volk noch eine Gruppe von Völkern,
sondern werden Menschen unterschiedlicher Herkunft bezeichnet, die
außerhalb der Gesellschaftsordnung stehen: “unstete Elemente minderen Rechts und oft geringen wirtschaftlichen Vermögens, Outlaws der
bronzezeitlichen Städte, die sich zu ihrem Schutz und zur Sicherheit ihres
Lebens in Abhängigkeitsverhältnisse begeben mußten (Arbeiter, Söld421
ner) oder ein freies Leben als Räuber und Wegelagerer führten.” Die
habiru - Leute sind eine Außenseitergruppe am Rande der Gesellschaft.
Sie haben ihre frühere soziale Stellung nicht zuletzt durch wirtschaftliche
422
Einflüsse verloren.
Rainer Albertz sieht in den habiru-Leuten “eine
wirtschaftlich angepaßte, aber sozial deklassierte und durch staatliche
Maßnahmen entsolidarisierte Großgruppe fremdländischer Fronarbeiter
der ramesidischen ägyptischen Gesellschaft, auf die die Jahwereligion
423
bei ihrer Entstehung bezogen ist.”
Der Exodus spricht von der hohen technischen und kulturellen Zivilisation Ägyptens ausschließlich in ihren negativen Aspekten. Die ägyptische
Zivilisation und Ökonomie basierte nach biblischem Bild auf Sklaven- und
424
Fronarbeit.
Israel geriet in diese Sklaven- und Fronarbeitsverhältnisse
in Ägypten (Ex 1,13b.14). Wichtig ist, eine Unterscheidung herauszuarbeiten, die die biblischen Texte durchzieht. Klar betont werden die
unterschiedlichen Bedingungen von Arbeit: Es gibt eine Tradition, die von
419
420
421
422
423
424
W. Bienerts Ansatz, “Die Arbeit nach der Lehre der Bibel” systematisch darzustellen, wird dem
geschichtlichen Charakter wohl kaum gerecht. Damit schließe ich mich den Vorbehalten von
H.D. Preuß (Art. Arbeit, 613) an.
J. Thiel, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 2. durchgesehene und ergänzte
Aufl. Neukirchen-Vlyun 1985, 76.
H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn. Grundzüge (ATD Erg.-Reihe
4/1) Göttingen 1984, 71.
J. Thiel, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 76.
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 76.
N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974) 140.
156
der Mühsal der Arbeit (Gen 3,17f; Ex 1,14; 2,23-25; 3,7f; 5,1ff; 6,6f.), und
eine andere, die von der Würde der Arbeit spricht (z.B. Mi 4,4; Jes 5,1ff,
Ps 127,2 ). In der Priesterschrift im Pentateuch werden zwei Arbeitserfahrungen gegenübergestellt: Unwürdige Arbeitsverhältnisse und die bedrückende Lage der Zwangsarbeit im Sklavenhaus Ägypten werden geschildert (Ex 1,7-14; 2,23-25; 6,2-9), während der Bau des Heiligtums
(Ex 35,4-10.20-29; 36,2-6; 39,32.43) mit entgegengesetzten Begriffen
erzählt wird. Norbert Lohfink sieht in der Gegenüberstellung der beiden
425
Arbeitsverhältnisse eine bewußte Komposition. Die differenzierten Anweisungen zum Bau des Heiligtums zeigen ein anderes Verhältnis zur
Arbeit, die sich in Gottes Werk einfügt. Im Detail wird hingewiesen auf
das, was zu tun ist (Ex 25-31). Der Bau des Heiligtums wird als eine
Fortsetzung des ersten Schöpfungswerks der sechs Tage durch den
Menschen verstanden. Die Herrlichkeit Gottes bedeckte sechs Tage lang
den Berg, bevor dann am siebenten Tag die Anweisung zur Arbeit gegeben wird (Ex 24,16). Das Land, in dem Milch und Honig fließen, stellt
den Gegensatz zu ägyptischen Arbeitsverhältnissen dar. Arbeit in Freiheit
und Würde beim Bau des Heiligtums bildet die Gegenerfahrung zur Arbeitswelt der ägyptischen Sklaven. “Im Gegensatz zur Weltumgestaltung
in Ägypten, die auf dem Prinzip des Sklaventums basierte, herrscht in Is426
rael das Prinzip der Freiwilligkeit.”
In den Texten, die vom Bau des
Heiligtums erzählen, häufen sich Wörter, die von Freiwilligkeit und der
Bereitschaft zur Arbeit sprechen. Fähigkeiten werden gezeigt und sind
nötig, die bei der Sklavenarbeit im Arbeitssystem Ägyptens nicht gefragt
waren. Begabungen und Kreativität kommen zum Zug (Ex
35,5.21.25.26.29). Diese Gegenüberstellung zeigt, daß Arbeit nicht mit
Fron- oder Sklavenarbeit und Mühe gleichgesetzt werden darf. Sie kann
auch eine Tätigkeit sein, in der der Mensch sich als schöpferisches Wesen erfährt. Die “Sinaiperikope zeigt, daß der Mensch zwar diese Welt
verwandeln soll, aber in ein Abbild eines himmlischen, mit dem Werk der
ersten sechs Tage in Harmonie stehenden Modells. Durch diese Verwandlung soll es möglich werden, daß Gott unter den Menschen
427
wohnt.”
Soweit Technik und Arbeit diesen humanen und auch ökolo428
gischen Bedingungen genügen, setzten sie das Schöpfungswerk fort.
Mit dem Exodus-Motiv geraten Arbeitsverhältnisse und Ökonomie in
das Zentrum des biblischen Gottesverständnisses. In Form eines “geschichtlichen Credos” hat sich Israel an die Befreiung aus der bedrückenden Zwangsarbeit in Ägypten erinnert (Dtn 26,5-8):
425
426
427
428
Ebd. 141.
Ebd. 140.
Ebd. 141.
N. Lohfink, Die Priesterschrift und die Grenzen des Wachstums, in: StZ Heft7/1974, 436.
157
Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. (...)
Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten
uns harte Fronarbeit auf. (...)
Der Herr führte uns mit starker Hand. (...)
Er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, in dem Milch und
Honig fließen.
Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des
Landes, das du mir gegeben hast, Herr (Dtn 26,5b.6.8.9.10a).
Das Credo schildert, daß Gott das Schreien des Volkes in harter
Fronarbeit hörte und es in ein Land führte, in dem Milch und Honig flie429
ßen.
Deshalb soll Israel auch zukünftig keinen Frondienst leisten
(1Kön 4, 6; 5,27; 9, 15-19; 11,26-28; 12,4ff; vgl. Prov 12,24 - nur positiv
430
Gen 49,14f.).
Die Exodustradition wird im heilsgeschichtlichen Credo
mit der Vätertradition verbunden. Beide Traditionen sind aber unmittelbar
in die Arbeitsverhältnisse des Alten Israels eingebettet und aus ihnen
entwickelt worden. Die “Produktionsweise” der Nomaden ist mit dem
Verweis auf den “heimatlosen Aramäer” (Dtn 26,5), einen Nomaden, angesprochen. Der Bezug auf Ägypten thematisiert die Sklavenarbeit (Dtn
26,6). Gott hat Israel aus diesen Arbeits- und Produktionsverhältnissen
herausgeführt und in menschenwürdigere Arbeitsverhältnisse in ein
Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Dtn 26,9), hineingeführt. Humanität in der Arbeit bildet hier die Folie der biblischen Rede von Gott.
Der Dekalog begründet die Gebote mit dem Verweis auf “Gott, den
Herrn, der dich aus Ägypten herausgeführt hat” (Dtn 5,6). Das Sabbatgebot bildet die Mitte des Dekalogs. Im Sabbatgebot wird die Erinnerung
an die versklavende Arbeit zu einem Ruhegebot, das alle umfaßt: “An
ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn, deine Tochter, dein Sklave
und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der
Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat. Dein Sklave und
429
430
Der Biologe A. Hüttermann verweist auf einen Aspekt, der bei der Rede von “Milch” und “Honig” kaum assoziiert wird. Gemeint ist nicht ein paradiesischer Zustand oder ein üppiges Kulturland, sondern ein verstepptes, aber als landwirtschaftliche Fläche nutzbares und wiederherstellbares Gebiet, das pflanzensoziologisch etwa der Macchie entspricht. Die “Milch” ist ein
Produkt der nomadischen Kleinviehhaltung, die ausschließlich auf unbebautem Land erfolgt.
“Honig” wurde von Wildbienen gewonnen, die dort hauptsächlich in der Macchie vorkommen.
Vgl. A. Hüttermann, Die ökologische Botschaft der Thora. Die mosaischen Gesetze aus der
Sicht eines Biologen, in: Naturwissenschaften 80 (1993) 152. Nach Max Weber war Palästina
für Hirten ein eher unsicheres Land. Nur in guten Jahren war es ein Land, in dem Milch und
Honig fließen, gemeint sei offenbar der Dattelhonig, vielleicht auch Feigenhonig, so M. Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, 13.
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616.
158
deine Sklavin sollen ausruhen wie du. Denk daran, daß du in Ägypten
Sklave warst” (Dtn 5,14.15a).
Zweck des Sabbat ist das Ruhen der Arbeit aller. Der Sabbat ist ein Tag,
an dem nicht gearbeitet wird. Dieser Grundzug wird in der Anwendung
des Sabbatgebotes auf geänderte gesellschaftliche und ökonomische
431
Verhältnisse und auf Einzelfälle durchgehalten.
Diese Ruhe hat eine
klare soziale Schutzfunktion zugunsten der Sklaven und sogar der Arbeitstiere. Sie sollen zu ihrem Recht auf Ruhe kommen und vor grenzenloser Ausnutzung oder Ausbeutung der Arbeitskraft geschützt werden.
Das Arbeitsverbot bezieht sich nicht auf alle Arbeiten und Tätigkeiten,
sondern gerade auf zweckdienliche und für die Sicherung der materiellen
Existenz notwendige Arbeit.
Arbeit ist nicht nur eine Grundtatsache menschlicher Selbsterhaltung,
sondern immer auch ein soziales Verhältnis von zusammenwirkenden
Menschen. Die horizontale Differenzierung von Arbeit im Rahmen der
Arbeitsteilung wird durch eine vertikale Differenzierung ergänzt. Die Gesellschaft insgesamt wird dadurch herrschaftlich zwischen Arbeitenden
432
und Nichtarbeitenden strukturiert.
In der Tora lassen sich Absichten
erkennen, die den Prozeß der herrschaftlichen Teilung der Gesellschaft
unterbrechen wollen. Der Sabbat kann als ein wirksames, weil praktiziertes Symbol dieser permanenten Infragestellung der Herrschaft der Herren über die Knechte gesehen werden. Eingeführt wird der Dekalog mit
dem Hinweis auf JHWH, der Israel aus der Knechtschaft befreit hat.
Exodus und Sabbat stehen also in einer direkten Beziehung und sind
Symbole der Freiheit. So schreibt Benno Jacob in seinem GenesisKommentar: “Der Sabbat ist ein Symbol der Freiheit, welche sich noch
mehr als im Arbeiten und Schaffen in der souveränen, sich selbst Halt
gebietenden Ruhe bekundet. Diese Freiheit hat außer Gott nur der
Mensch, der nicht Sklave eines andern ist. Darum wird der Sabbat erst
dem aus ägyptischer Sklaverei befreiten Israel als ein von der Schöpfung
433
her bereitliegendes Geschenk (Ex 16,29) verliehen.” Der Leitgedanke
des Sabbat ist das befreite Leben ohne Fremdbestimmung. In der Ruhe
des Sabbattages wird das Gegenstück zur Sklavenarbeit gelebt. Hans
Walter Wolff nennt wegen dieses Bezugs auf die Arbeitsverhältnisse den
434
Sabbat sogar einen “regelmäßigen Streik” . Der Sabbat gehört in die
Dialektik von Herr und Knecht. Aus der in Erinnerung gehaltenen Sklaverei in Ägypten wird der Sabbat zu einem Tag, an dem die Herrschaftsverhältnisse zwischen Herr und Knecht ausgesetzt und aufgehoben werden. “Da führt ihm (dem Herrn. F.S.) der Sabbat vor Augen, daß er auch
431
432
433
434
R. Kessler, Das Sabbatgebot, 99.
W. Hofmann, Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft, Reinbek 1969, 28.
B. Jacob, Das erste Buch der Tora, Berlin 1934, 67.
H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 201.
159
nur Mensch ist wie der Knecht und der Knecht von Gottes Gnaden
435
gleichfalls ein geborener Freiherr.” Im Sabbat scheint deshalb eine Alternative zur realen Arbeitserfahrung auf. Die herrschaftlich strukturierten
Arbeitsverhältnisse werden in Frage gestellt. Im Konflikt zwischen dem
Interessen des Herrn an einer möglichst langen Nutzung der Arbeitskraft
und dem Interesse des Knechtes auf humane Arbeit wird eine Entscheidung zugunsten des Knechtes gefällt. Die Erfahrung von Abhängigkeit
am Werktag wird aufgehoben durch die Erfahrung von Gleichheit und
Gleichberechtigung am Sabbattag. Zugleich aber eröffnet der Sabbat einen alternativen Erfahrungsraum: Arbeit soll nicht unter ägyptischen Verhältnissen getan werden, sie soll also von Unterdrückung und Abhängigkeit frei sein. Von “ägyptischen Verhältnissen” befreit zu arbeiten, ist eine
Arbeit unter Gleichen und Freien. Ansprechpartner des Dekalogs ist der
frei wirtschaftende israelitische Bauer (Dtn 5,12.15). Der mit “Du” Angeredete wird in seiner Verantwortung angesprochen, dafür Sorge zu tragen, daß ägyptische Verhältnisse nicht einreißen und Verhältnisse freier
Arbeit von Gleichen sich durchsetzen.
Die Bibel spricht weder abstrakt von der Arbeit des Menschen, noch
sucht sie eine Wesensbestimmung oder eine Lehre der Arbeit zu formulieren. Man arbeitet vom Morgen bis zum Abend, heißt es nüchtern. “Nun
geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zum
Abend” (Ps 104,23; auch Ps 128,2; Prov 31,10ff. u.ö.). Arbeit ist das
436
ganz normale Los eines Menschen und nicht nur das des Sklaven. Eine Abwertung körperlicher Arbeit gegenüber geistiger ist dem Alten Testament im Unterschied zur griechischen Antike fremd. Weder im Griechischen noch im Lateinischen gab es ein Wort, mit dem man die allgemeine Bedeutung von Arbeit als einer anerkannten sozialen Funktion aus437
drücken konnte.
Die biblische Perspektive hat nicht die Entbindung vom Zwang der Arbeit im Blick, sondern die Entbindung der Arbeit vom Zwang. Humanität
in der Arbeit und nicht eine Humanität ohne Arbeit steht vor Augen. Ideales Menschsein ist nicht ein Leben ohne Arbeit. Auch im Paradies wurde
gearbeitet. Es gibt deshalb eine biblische Perspektive für Befreiung und
Humanität in der Arbeit. Die Bibel kennt Bilder des guten Lebens in der
Arbeit und nicht bloß jenseits der Arbeit. Diese Bilder sprechen von einer
Utopie attraktiver, nicht entfremdeter Arbeit. “Was deine Hände erwarben, kannst du genießen, wohl dir, es wird dir gut ergehn” (Ps 128,2).
Jedermann möge in Frieden unter seinem Weinstock leben, war eine
Utopie, die vor Augen stand. “An jenem Tag - Spruch des Herrn der Hee435
436
437
B. Jacob, Das Buch Exodus, 575.
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616.
So M.I. Finley, 91.
160
re - werdet ihr einander einladen unter Weinstock und Feigenbaum”
(Sach 3,10; auch 1Kön 5,5). “Und es wird ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum sitzen, ohne daß mehr einer den
anderen schreckt” (Mi 4,4). Daß die Arbeitenden über die Produkte ihrer
Arbeit selber verfügen können, ist eine biblische Vision. “Sie bauen nicht,
damit ein anderer in ihrem Haus wohnt, und sie pflanzen nicht, damit ein
anderer die Früchte genießt (...), sie arbeiten nicht mehr vergebens” (Jes
65,22.23). Auch wenn dieses Ideal nicht immer Wirklichkeit war, so entwickelten diese Bilder doch eine utopische Kraft, die verhinderte, daß
das vor Augen stehende Ideal in sein Gegenteil verkehrt wurde.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Bibel nicht abstrakt über Arbeit spricht. Es gibt kreative, bereichernde Arbeit, und eine Arbeit, die
menschenunwürdig ist, weil sie den Arbeitenden ausbeutet und zur Plackerei wird. Mit dieser Arbeit gibt sich die biblische Überlieferung nicht
zufrieden. Sie setzt gegen diese Arbeitsrealität visionäre Akzente, die
Gerechtigkeit, Gleichheit und Gleichwertigkeit für alle artikulieren.
5.1.2 Gottes Arbeit und des Menschen Arbeit
Für eine an realen Arbeitsverhältnissen interessierte Wirtschaftsethik ist
es erhellend, das biblische Reden von Arbeit auf dem Hintergrund der
realen Arbeit unter den Verhältnissen des Alten Israel zu lesen. Verglichen mit den Nachbarregionen in Mesopotamien oder am Nil ist das Alte
Israel ein eher armes Land gewesen. Mühselig mußte Ackerboden durch
Terrassierungen geschaffen werden. Israel war arm an Bodenschätzen.
Das Land galt für den Handel eher als ein Durchgangsland. Das Alte Israel war eine Agrargesellschaft. Die Landwirtschaft im Rahmen einer
Mischökonomie von Ackerbau und Kleinviehzucht bot die Lebensgrundlage. Die vielen Textstellen, die von der Gefahr der Versteppung
des Landes sprechen, zeigen an, wie gefährdet diese Lebensgrundlage
war (Ijob 30,3; 38, 26; Jes 13,9; 33, 9; Jer 2,15, Ez 6,14 u.ö.). Immer
wieder verweist die Bibel auf die Tatsache, daß kultiviertes Land durch
kriegerische Verwüstungen, aber auch durch unsachgemäße Bewirtschaftung wieder zur Steppe und Wüste werden konnte. Der altisraelitische Bauer bearbeitete den Boden durchaus in dem Bewußtsein, daß
der Natur die eigene Lebensgrundlage durch harte Arbeit abgerungen
werden mußte. Im Kampf gegen die Natur, gegen Versteppung und Gefahren durch wilde Tiere, wie Bären und Löwen, war der Mensch nicht
notwendig der Stärkere (1 Sam 17,36; Spr 17,12; Am 5,19 u.ö.). In den
beiden Erzählungen über die Erschaffung der Erde wird der Mensch in
seinem Verhältnis zur Arbeit gesehen (Gen 1,1-4a; Gen 2,4bff.). Jürgen
Ebach hat deshalb recht, wenn er sagt: “Der Mensch tritt im Alten Tes161
tament von Anfang an als arbeitender bzw. zur Arbeit bestimmter
438
Mensch auf.”
Im Bericht des Jahwisten heißt es von der Arbeit des Menschen: “Und
Gott (...) setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und bewahre”
(Gen 2,15). Der Jahwistische Schöpfungsbericht unterscheidet sich vom
priesterschrift-lichen durch ein anderes Verständnis von Arbeit. Der
Mensch wird in den reichen Gottesgarten, den Garten Eden, gesetzt,
damit er dort die als Ideal vorschwebende Arbeit eines Gärtners an wasserreichem Ort versieht. Es ist ein Kulturland, das der Bebauung und
Bewahrung bedarf, aber auch dem Können und der Arbeit des Menschen
anvertraut ist. Das Paradies wird nicht als Schlaraffenland oder als Ort
der Untätigkeit gemalt. Mit den beiden Verben “bebauen und bewahren”
steht dem Erzähler die Arbeit des palästinensischen Bauern vor Augen.
Die Arbeit gehört zum Menschsein, weil der zugewiesene Lebensraum
439
diese Arbeit erfordert. Von Arbeit spricht der Erzähler im Blick auf den
noch nicht geschaffenen Menschen (Gen 2,5), auf den Menschen im
Garten Eden (Gen 2, 15) und im Blick auf den aus dem Garten vertriebenen Menschen (Gen 3,23, dazu 4,2.12). Die Besonderheit dieses Arbeitens besteht in der Komplementarität von Bebauen und Bewahren, in
der “Hege” und “Pflege”. Arbeit wird nicht schlechthin zur Strafe, sondern
440
nur ihre Mühsal ist eine Folge der Sünde.
Nach der Vertreibung aus
dem Paradies wird diese Komplementarität von Bebauen und Bewahren
auseinandergerissen. Arbeit außerhalb des Gottesgartens wird unter
Mühe und Schweiß zu geschehen haben und dann auch noch Dornen
und Disteln hervorbringen. Aus dem ausgewogenen Verhältnis im Garten
Eden wurde das bloße Arbeiten in Mühe (Gen 4,2.12.17ff.;3,23). Nach
der Vertreibung aus dem Paradies ist dieses Reden über Arbeit “eine
441
utopische Erinnerung” , die als Kritik der jeweils erfahrenen Arbeitswirklichkeit praktisch werden will.
Anders als in sumerischen oder babylonischen Mythen von der Welterschaffung stellen die biblischen Erzähler in der Priesterschrift die Erschaffung der Welt nicht als Ergebnis eines Götterkampfes dar, sondern
als das Werk des Schöpfergottes, der als einer geschildert wird, der ar442
beitet.
Während in sumerisch-babylonischen Schöpfungserzählungen
der Mensch erschaffen ist, um das Joch der Götter zu tragen, zielt die
biblische Schilderung nicht auf ein Göttergeschehen, sondern auf den
438
439
440
441
442
J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, in: ders., Ursprung und Ziel. Erinnerte
Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen - Reflexionen - Geschichten, Neukirchen - Vluyn 1986, 91.
C. Westermann, Genesis, Kap. 1-11, BK, Bd.1/1, 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1983, 299-302.
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615.
J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 93 - 98.
C. Westermann, Genesis, 50ff.
162
Umgang mit der Erde. Die altorientalischen Mythen erzählen von Göttern,
die den Menschen schufen: Anstatt der Götter sollten diese Menschen
arbeiten. In sumerisch-akkadischen Mythen wie auch im Epos Enumaelis werden die Menschen überhaupt bloß zu dem Zweck geschaffen, die
Arbeit zu tun, die den Göttern anfangs auferlegt war. Die niedrigen Götter
streiken gegen die Arbeitslast. Der Ausweg ist die Erschaffung der Menschen. Die Göttin Mami kündigt nach der Erschaffung der Menschen den
niederen Göttern an:
Eure schwere Zwangsarbeit schaffte ich ab,
euren Tragkorb lud ich den Menschen auf;
ihr habt das Geschrei auf die Menschheit abgeschüttelt; 443
ich löste die Zwangsarbeit, erwirkte die Lastenbefreiung.
Hier werden Menschsein und Arbeit ineins gesetzt. Wenn Menschen
arbeiten, dann dienen sie den Göttern, indem sie jene Arbeit tun, die eigentlich die Götter tun sollten. Gegen diese Mythen erzählt die Bibel von
einem Gott, der selber arbeitet und den Kosmos schafft. Gott arbeitet,
und der Mensch ist sein Ebenbild (Gen 1,1- 2,4a). Der Mensch arbeitet
nach dem Schöpfungsbericht der Bibel nicht für JHWH oder an Stelle
444
JHWHs, sondern für sich selbst. Die sumerischen und babylonischen
Erzählungen über die Menschenerschaffung zeigen eine konstitutive
Verbindung zwischen Arbeit und Menschsein. Nach den alttestamentlichen Texten arbeitet nicht der Mensch für die Götter, sondern Gott
selber arbeitet und erschafft eine Welt für die Menschen. In dieser für ihn
erschaffenen Welt soll der Mensch arbeiten. Arbeit ist weder Fluch noch
Selbstzweck; sie steht vielmehr unter Gottes Segen (Gen 1,28, auch Gen
8,22), der eine Voraussetzung allen positiven Arbeitsresultates ist (Lev
25,20f; Dtn 15,10; 16,15; 28,1-8; 30,9; Ps 65,10ff; 127,1f; Hi 1,10; Prov
10,22; 14,23; Koh 3,13, Ps 90,17). Arbeit wird dennoch nüchtern als
notwendig für den Erwerb des Lebensunterhaltes (Gen 1, 29; 2,15; Ps
128, 2; Prov 14, 23; 16, 26) und als Dienst am anderen Menschen angesehen, da sie der Bedarfsdeckung der Gemeinschaft wie auch des Einzelnen dient. Arbeit steht in einem Zusammenhang von Ertrag, Solidarität
445
und Segen (vgl. dazu Dtn 14,29).
Nach der Veröffentlichung der Studie Grenzen des Wachstums durch
den Club of Rome fand in der Exegese eine breite Debatte darüber statt,
wie die Beauftragung zur Herrschaft nach Gen 1,26-30 zu verstehen sei.
443
444
445
WeitereTextbelege aus den altorientalischen Mythologien ebd. 301f.
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615.
J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 98f.; auch H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616;
das genaue Verhältnis von Gesetzesbefolgung und göttlichem Segen ist exegetisch nicht ausreichend geklärt, so K. Koch, Art. Gesetz I., 47.
163
Auch wenn der bisweilen eher verteidigende Argumentationsstil nicht
übersehen werden soll, führte die Debatte doch zu einer neuen Lesart
der Schöpfungsgeschichte. Die Interpretation von Gen 1, 26ff. wurde
deutlich im Rahmen des literarischen Kontextes gelesen: Die Schöpfungsgeschichte mit dem Auftrag an den Menschen zu herrschen wurde
mit ihrem Zielpunkt der Heiligung des siebten Tages und der Ruhe Gottes gelesen (Gen 1,26; 2,2f.). Relativiert wurde dieser Auftrag zum Herrschen aber auch noch durch zwei weitere Bezüge: Gen 1,26ff wurde in
Relation zum jahwistischen Schöpfungsbericht gesetzt (Gen 2,15); Gen
1,26ff ist nur ein Schöpfungsbericht neben anderen biblischen Aussagen
über die Stellung des Menschen in der Schöpfung (vgl. Ps 104; Ijob 38).
Zum anderen steht Gen 1,26ff. nicht nur in einem Gegensatz zu anderen
altorientalischen Schöpfungserzählungen, sondern ist selber auch ein
altorientalischer Text. Die Bilder entstammen dem Kontext des Alten Orients. Die priesterschriftliche Schöpfungserzählung geht mit dem Auftrag
des Menschen zur Arbeit über die jahwistische hinaus, insofern sie dieses herrschaftliche Tun des Menschen im Hebräischen mit den Schlüsselverben kbs und rdh bezeichnen, was soviel heißt wie “Herrschen, Unterjochen, Niedertreten” (Gen 1, 26.28; vgl. Sir 17,1ff sowie Gen 9, 1446
3). Was wollen kbs in Gen 1,28 und rdh in Gen 1, 26.28 besagen? Die
Begriffe bezeichnen einen Vorgang, der mit Unterwerfen zu tun hat: Kelter treten (Joel 4,13), Völker unterwerfen (Jes 14,6), die Herrschaft des
nach Gottes Abbild geschaffenen Menschen in der Schöpfung (Ps 8,7).
Beide Verben lassen erkennen, daß der Mensch als Herrscher einge447
setzt ist.
Wie Gott bei der Schöpfung Ordnung in das Chaos brachte,
soll auch Gottes Ebenbild handeln. Diese ordnende Aufgabe wird im Bild
der altorientalischen Königsvorstellungen beschrieben. Die herrschaftliche und Ordnung erzwingende Verfügungsgewalt, die mit der Königsvorstellung verbunden ist, hat immer mit Macht und Herrschaft zu tun. Den
Herrscherrechten entsprechen aber auch Herrscherpflichten. Die Vorstellung von “despotischem” Herrschen wird erst von unserer Gegenwartserfahrung her in die Diskussion hineingetragen. Die Annahme einer
herrschaftlichen Machtausübung des Menschen gegenüber der Natur ist
absurd angesichts der damaligen Situation der Gefährdung des Menschen durch eine Natur, die sehr wohl bedrohlich für den Menschen sein
446
447
Norbert Lohfink versteht das hebr. kbs als einen Ausdruck, der meint: “die Hand auf etwas legen”. Mit Verweisen ausgeführt bei: N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? 138f. Gegen
C. Westermann versteht Wildberger kbs als eine Beauftragung des Menschen, als König über
die Schöpfung zu herrschen. Die Beauftragung des Menschen zur Herrschaft über die übrige
Schöpfung steht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen.
Vgl. H. Wildberger, Art. säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München ,
Zürich 1984, Sp. 560.
H. Wildberger, Art. säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., Sp. 560.
164
konnte. Von daher kann der Menschen des Alten Orients seinen Lebenskampf nicht mit harmlosen, sanften Vokabeln beschreiben. Die
Herrschaftsideologie darf deshalb nicht allein zu negativen Assoziationen
verleiten. Herrscherrechte sind mit Herrscherpflichten untrennbar verbunden. Die Herrschaftsausübung der Natur gegenüber kann nicht darin
bestehen, den Lebensraum zu zerstören. Claus Westermann versteht
den Auftrag eher undramatisch. Man könne jede Art von despotischer
Ausbeutung ausschließen. “Der Mensch würde seine „königliche‟ Stellung im Bereich des Lebendigen gerade verlieren, wären ihm die Tiere
448
nur noch Gegenstand der Nutzung oder gar der Ausbeutung.”
Diese
Interpretation nimmt die wirkliche Situation des Bauern und Viehzüchters
nicht genügend in den Blick. “Sich untertan machen” meint nicht “niedertreten” im Sinne von Zerstörung, sondern beschreibt die Arbeit des Bau449
ern, der “die Erde für Viehzucht und Siedlung nützen” will. Bearbeitung
des Bodens und seine Nutzung für den Ackerbau ist also gemeint. Angesichts der Gefährdungen, in denen der altisraelitische Mensch sich real
befand, übte der Bauer und Viehzüchter immer eine Herrschaftsfunktion
aus; eine Herrschaft allerdings, die der Sicherung des Lebensraumes
und der eigenen Subsistenz diente.
Gen 1,26ff. enthält ein herrschaftskritisches Potential und ist darin ein
utopischer Text. Die in der Schöpfung angelegte Idealordnung widerspricht der real erlebten Wirklichkeit. Arbeit, die ausbeutet, steht im Wi450
derspruch zur Würde des Menschen.
Dem Menschen wird eine königliche Stellung und Würde zugesprochen: Diese Aussage enthält erstens einen kritischen Maßstab gegenüber einer Arbeit, die unwürdig ist.
Unwürdige Arbeit gerät in einen Widerspruch zu Königswürde des Menschen. Nicht als Arbeitssklave, sondern als Mitarbeiter Gottes ist der
451
Mensch geschaffen.
Zweitens spricht die Rede von der Königswürde
des Menschen die Verantwortung für solche Verhältnisse an, die der
Würde des Menschen entsprechen.
Die Herrschaft des Menschen bei der Bearbeitung des Bodens und bei
der Viehzucht ist auf das Subsistenzrecht bezogen, aber kein Freibrief
zur Ausplünderung der Natur oder zur Herrschaft über andere Men448
449
450
451
C. Westermann, Genesis, 219f.
K. Koch, Gestaltet die Erde, doch hegt das Leben! Einige Klarstellungen zum dominium terrae
in Gen 1, in: Wenn nicht jetzt, wann dann? Aufsätze für H.-J. Kraus zum 65. Geburtstag (hg.
von H.-G. Geier u.a.) Neukirchen - Vluyn 1983, 28. N. Lohfink verweist darauf, daß Gen 1,28
keineswegs einen vortechnischen Erfahrungshorizont hatte. Die Priesterschrift ist zu verstehen
auf dem Hintergrund der Kenntnis der hochorganisierten Stadt- und Bewässerungskultur Babyloniens mit ihrer Zivilisations- und Kunsttradition. Vgl. dazu N. Lohfink, “Macht euch die Erde
untertan”? 139f.
C. Westermann, Genesis, 218ff.
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615.
165
schen. Mit dem der altorientalischen Königsvorstellung entnommenen
Bild ist ein Verantwortungsbegriff verbunden. Der Mensch wird auf seine
Verantwortung angesprochen, die jedoch nicht subjektlos verstanden
werden darf. Es macht einen Unterschied, wer auf seine Verantwortung
hin angesprochen wird: der israelitische Bauer, der den Boden bestellt,
oder der König, der das Land durch Krieg verwüstet (Jes 16,8). Für ein
heutiges ökologisches Ethos problematisch ist der Anthropozentrismus,
der die Mitgeschöpflichkeit aus den Augen verloren hat und die nichtmenschliche Natur als Objekt menschlicher Herrschaft betrachtet.
5.1.3 Arbeit und Ruhe - ein ganzheitliches Verständnis
Arbeit und Ruhe bezeichnen in der griechisch-römischen Antike Klassengegensätze. Volles Menschsein hat bereits der Handwerker nicht,
und der Sklave gilt als Sache. Ruhe statt “Arbeit” ist das griechischrömische Ideal. Die körperliche Arbeit, aber auch Handel und Geschäftetreiben werden neg-otium, genannt, während die Muße oder Ruhe =
otium als Urzustand oder Ausgangspunkt angesehen wird: Arbeit ist die
Negation der Muße. Für die Arbeit waren Sklaven oder Handwerker zuständig, die gering geschätzt oder denen sogar das volle Menschsein
abgesprochen wurde. Aristoteles bezieht sich auf ein Sprichwort: “Keine
452
Muße gibt es für Sklaven.” Sie sind für das Herstellen der lebensnötigen Dinge da. Nach Aristoteles macht die Muße (scholía) den Angelpunkt aus. Deshalb kommt es darauf an, “nicht bloß in richtiger Weise
einer Beschäftigung nachzugehen, sondern auch in der Lage zu sein,
sittlich richtig die Muße zu pflegen. Denn dies ist das Prinzip von al453
lem.” Die Geschäftigkeit des Werktags ist nicht das Zentrum. Die Muße ist gegenüber der Arbeit höher einzuschätzen, wie Aristoteles formu454
liert: “Wir sind unmüßig, um Muße zu haben.” Um diese Maxime leben
zu können, konnte Muße gesellschaftlich nicht verallgemeinert werden.
Arbeit war in der griechischen Antike kein gesellschaftlicher Integrations-,
sondern ein Ausschlußfaktor. Ganz anders im Alten Israel: Dort bilden
Arbeit und Ruhe keine Merkmale, nach denen sich Klassen differenzieren. Arbeit verbindet nach alttestamentlicher Auffassung alle Menschen. Nicht zu arbeiten, wird weder mit der Paradiesesvorstellung verbunden, noch wird von einer guten Zukunft erwartet, daß sie Arbeit erübrigt.
452
453
454
Aristoteles, Politik, 7, 1334 b 18.
Aristoteles, Politik, 7, 1337 b 31.
Aristoteles, Nikomachische Ethik 10, 7 (1177 b).
166
Dem biblischen Arbeitsbegriff ist jener Gegensatz von Arbeit und Ruhe
fremd, der die europäische Kultur prägt. Die Ruhe beendet nach biblischem Verständnis nicht die Arbeit, ist auch kein Gegensatz zur Arbeit,
sondern vollendet sie. Die Ruhe des Sabbat ist im hebräischen Denken
nicht eine Alternative zur Arbeit, sondern Korrektiv und Ergänzung zur
455
Arbeit.
Der siebente Tag und die sechs Tage stehen paritätisch gegenüber. “Sie sind die beiden Seiten derselben Sache, ergänzen einander und haben dieselbe Wurzel. (...) Ebensogut wie die Ruhe am siebenten Tage folgt die Arbeit an den sechs Tagen dem göttlichen Vorbilde,
wenn sie mal‟achah, sinnvolle, zweckmäßige, lebensfördernde Arbeit ist
und mit der Ruhe des Sabbat abgeschlossen werden soll. Die irdische
und weltliche Arbeit an den sechs Tagen wird dadurch nicht minder zur
Pflicht wie die Ruhe am siebenten und erhält gleichfalls eine Art religiöser
456
Würde und Verdienstlichkeit. Sie ist eine Vorhalle zum Heiligtum.” Jeder Tag hat seine eigene Berechtigung, Bestimmung und Würde. Dadurch ergänzen und korrigieren sie sich gegenseitig. Vom Sabbat her
werden die Tage zwischen den Sabbaten betrachtet und einer kritischen
Bewertung unterzogen. Arbeit und Ruhe werden nicht voneinander getrennt erfahren, sondern zusammen als mandatum Gottes aufgefaßt. Die
Vollendung der Weltschöpfung geschieht durch die Ruhe des siebenten
Tages. “Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen
hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte”(Gen 2,2). Arbeit ohne Ruhe bleibt unvollständig. Erst die
Ruhe des Sabbattages schließt die Schöpfung ab. Nicht der Mensch,
sondern der Ruhetag ist die Krone der Schöpfung. Darin drückt sich ein
ganzheitliches Verständnis von Leben und Arbeiten aus, das spätestens
seit der Industrialisierung und der damit verbundenen Ökonomisierung
der Arbeit verlorengegangen ist.
Das Sieben-Tage-Schema des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes läßt mit der Sabbatterminologie auch den Sabbatgedanken anklingen
und begründet umgekehrt den Sabbat im Dekalog mit der Einsetzung
bei der Schöpfung. “Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und
Meer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt” (Ex
457
20,11). “Die von Arbeit und Wirken angefüllten Tage allein sind nicht
die Zeit, die Gott geschaffen hat; die von Gott geschaffene Zeit ist ge458
gliederte Zeit; die Werktage haben ihr Ziel in einem Ruhetag.” Gesegnet wird der siebente Tag der Schöpfung. Segen bedeutet Fruchtbarkeit.
455
456
457
458
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 574.
J. Ebach, Arbeit und Ruhe, 101; vgl. C. Westermann, Genesis, 234 - 238.
C. Westermann, Genesis, 236.
167
“Der heilige, abgesonderte Tag, der ein Tag der Ruhe ist, erhält im Segen die fördernde, belebende, das Dasein bereichernde und erfüllende
Kraft. Das heißt, gesegnet wird nicht eigentlich der siebte Tag als Größe
für sich, gesegnet wird vielmehr der Tag in seiner Bedeutung für die
Gemeinschaft bzw. hier im Zusammenhang der Schöpfung: der Tag in
459
seiner Bedeutung für die Gemeinschaft und die Menschheit.”
Das Arbeitsethos hat in der biblischen Tradition einen so zentralen
Stellenwert, daß Walther Bienert in seiner Monographie über Die Arbeit
nach der Lehre der Bibel zu dem Schluß kommt, daß “allein die biblische
Arbeitslehre ein sicheres Fundament für eine christliche Arbeits- und So460
zialethik abgeben kann.”
Arbeiten kann nach biblischem Verständnis
als eine gemeinschaftsstiftende, schöpferische, bewahrende, gestaltende Tätigkeit verstanden werden. Sie ist Mühsal, aber auch Dienst an der
Gottheit oder am König, Priesterdienst und Feldarbeit und kann von Gott
461
wie vom Sklaven ausgesagt werden. Da es in der biblischer Perspektive nicht um eine Befreiung von der Arbeit, sondern um eine dem Menschen gemäße Arbeit geht, die als Teil erfüllten Lebens anzusehen ist,
lautet der Gegensatz nicht wie in der Antike Arbeit oder Befreiung von
der Arbeit. Dort sind otium (Muße) positiv und neg-otium (Arbeit) negativ
definiert. Das ganzheitliche Arbeitsverständnis der Bibel, das sogar noch
Ruhe umgreift, entfaltet einen Arbeitsbegriff, der nicht im Gegensatz zur
Muße steht. Menschenwürdige Arbeit versteht die Bibel als eine gute Arbeit, die Teil erfüllten Lebens ist; ein erfülltes, menschenwürdiges Leben
in der Arbeit oder menschenunwürdiges Leben in der Arbeit lautet die Al462
ternative nach biblischem Verständnis.
5.2 Menschenrecht auf Arbeit
Von einem “Ende der Arbeitsgesellschaft” wird gegenwärtig angesichts
der verfestigten Massenarbeitslosigkeit gesprochen. Die Arbeitslosenforschung mit den empirisch belegten Ergebnisse zeigt:
- Arbeitslosigkeit steigert das Grundgefühl, das der abhängig Beschäftigte zeit seines Lebens gehabt hat, nämlich das Grundgefühl existentieller
Abhängigkeit beim Verkauf seiner Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt;
459
460
461
462
Ebd. 237.
W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel. Eine Grundlegung evangelischer Sozialethik,
Stuttgart 1954, XII.
H.D. Preuß, Art. Arbeit, 613.
T. Meireis, “Arbeit macht das Leben süß...”. Das „Recht auf Arbeit‟ - eine reformatorische Herausforderung? In: J. Becker (Hg.), Ethik in der Wirtschaft, Stuttgart, Berlin 1996, 170.
168
- Arbeitslosigkeit hat trotz der sozialstaatlichen Sicherungen nichts von
ihrer menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Dramatik verloren;
- Entlassen zu werden, wird so empfunden, als werde man nicht mehr
gebraucht;
- Das traditionelle Bewußtsein davon, durch seine Arbeit in der Produktion oder in der Dienstleistung einen Beitrag zur Gesellschaft geleistet zu
haben, löst sich zugunsten eines resignativen Selbstverständnisses auf;
- Die Arbeitssituation war immer auch ein Ort des tagtäglichen sozialen
463
Kontaktes. Arbeitslosigkeit führt zur Isolation.
In der Negativerfahrung von Arbeitslosigkeit zeigt sich, welche hohe
anthropologische, soziale und gesellschaftliche Bedeutung Arbeit als Erwerbsarbeit hat. Günter Brakelmann nennt zu Recht Erwerbsarbeit “das
Sinnzentrum, von dem das ganze Leben seinen Inhalt und seine Struktur
464
bekommt.”
Die gesellschaftliche Zentrierung um die Erwerbsarbeit
wird im Zuge der ökonomischen Krise noch einmal verschärft. Sichere
und ausreichend bezahlte Arbeitsplätze werden zu einem knappen und
deshalb wertvollen und umkämpften Gut. Erwerbsarbeit ist nach wie vor
der Modus, der individuelle Identität und gesellschaftliche Anerkennung
bildet. Erwerbsarbeit ist ein Ort gesellschaftlicher Betätigung. Arbeitslosigkeit stellt hingegen die immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelte
465
Würde der Person in Frage.
Wie fragwürdig die Hypothese vom Ende der Arbeitsgesellschaft ist,
zeigen folgende Aspekte: Erwerbsarbeit hat nach wie vor im Bewußtsein
der abhängig Beschäftigten einen hohen Stellenwert. Viel mehr Menschen als je zuvor sind an der Aufnahme einer Erwerbsarbeit interessiert.
Insbesondere die Erwerbsarbeitsneigung bei den Frauen hat in den letzten Jahrzehnten rapide zugenommen. Es schwindet zwar der traditionelle
Charakter von Erwerbsarbeit, die durch den Berufscharakter geprägt
war, doch neue Arbeitsbilder sind statt dessen entstanden. Es zeigt sich
bei alledem überdeutlich, daß diejenigen, die arbeitslos geworden sind,
463
464
465
G. Brakelmann, Sinn der Arbeit - Sinn des Lebens, in: ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu
einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 197-199.
Ebd. 199. Nicht anders O. Negt: “Welche Berechtigung es auch haben mag, ... das endgültige
Ende der Arbeitsgesellschaft zu verkünden: Die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen,
ihre Hoffnungen und Ängste sprechen eine ganz andere Sprache. Es lassen sich kaum Hinweise
darauf finden, daß Erwerbsarbeit, also jene vorherrschende Form bezahlter Arbeitsleistung,
über deren gesellschaftliche Anerkennung individuelle Identität und Selbstwertgefühl sich bilden, im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Abwertung erfahren hat.” (O. Negt, Die Krise der
Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatz zweier “Ökonomien”, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, B 15/1995, 7.)
Chr. Gremmels u. F. Segbers (Hg.), Arbeitslosigkeit. Herausforderung der Kirchen, Mainz München 1979.
169
nicht mit Transfereinkommen, Lohnersatzleistungen oder Arbeitslosengeld ausgesteuert werden wollen. Sie wollen ein Einkommen erhalten,
das durch eigene Arbeit erworben worden ist.
Die Kirchen wenden sich in ihrem Wort Für eine Zukunft in Solidarität
und Gerechtigkeit dagegen, angesichts der langanhaltenden Arbeitslo466
sigkeit von einer “Illusion Vollbeschäftigung”
zu sprechen: “Solange
die Erwerbsarbeit die existentielle Grundlage für die Sicherung des Lebensunterhalts, die soziale Integration und persönliche Entfaltung des
einzelnen ist, ist es die Aufgabe einer sozial verpflichteten und gerechten
Wirtschaftsordnung, allen Frauen und Männern, die dies brauchen und
wünschen, den Zugang und die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu eröffnen.” (Ziff. 168) Eine Erwerbsarbeit, die den Zugang zur eigenen Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verschafft,
begründet ein “Menschenrecht auf Arbeit” (Ziff. 151), das die Kirchen
vorrangig als ein Menschenrecht auf Erwerbsarbeit auslegen, auch wenn
sie für ein neues Arbeitsverständnis offen sind, das über ein marktzentriertes hinausreicht. Arbeit ist allerdings mehr als die am Markt getauschte Arbeit und umfaßt andere Tätigkeiten des Menschen. “Aus
christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen.” (Ziff. 152) Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen stellt
das Recht auf (Erwerbs-) Arbeit in den Zusammenhang der Menschenrechte. Das Recht auf Erwerbsarbeit ist zwar nicht einklagbar, wird aber
467
zur Maßgabe und Verpflichtung der Politik.
5.3 Wirtschaftsethische Übertragung: Priorität der Arbeit
Unter der Bedingung kapitalistischer arbeitsteiliger Produktionsverhältnisse sind Kapital und Arbeit getrennt. Sachlich notwendig jedoch ist für
die Produktion ein Miteinander von Kapital als den Sachmitteln und von
Arbeit als Verrichtung an diesen Sachmitteln. Der trennende Dualismus
bezieht sich also nicht auf Kapital und Arbeit an sich, also nicht auf den
Produktionsprozeß, sondern auf die gesellschaftlichen Trägerschichten,
die hinter Kapital und Arbeit stehen.
Arbeit ist unmittelbar mit der Person verbunden, was vom Kapital nicht
gesagt werden kann. Im Verhältnis zum Kapital hat die menschliche Ar466
467
So W. Dettling, Illusion Vollbeschäftigung, in: Die Zeit vom 14.1.1994.
H. Ruh, Recht auf Arbeit, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland. Kirchen und Gewerkschaften gemeinsam für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität, Bochum 1998, 99-104.
170
beit deshalb eine unvergleichlich höhere anthropologische und soziale
Bedeutung. Anthropologisch steht Arbeit, nicht aber Kapital mit der Würde des Menschen in einem Zusammenhang. Da das Kapital nur instrumentellen Charakter besitzt, Arbeit aber einen personalen, können Arbeit
und Kapital nicht gleichwertig sein. Eine Gleichwertigkeit von Kapital und
Arbeit zu postulieren, hieße den personalen Charakter des Menschen auf
eine Stufe mit dem instrumentellen des Kapitals zu stellen. Aus dieser
anthropologischen Überlegung heraus hat die katholische Soziallehre einen Vorrang der Arbeit vor dem Kapital formuliert. In der Enzyklika
Laborem exercens (1981) hat sie dabei jene anthropologisch-personal
begründeten Argumentationslinien, die immer schon die Sonderstellung
der Arbeit betonten, konsequent weiterentwickelt und sozialethisch das
468
Prinzip eines Vorrangs der Arbeit formuliert.
Laborem exercens begründet den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital mit naturrechtlichen Kategorien. Gibt es andere Zugänge, den Primat der Arbeit zu begründen?
Nur einzelne evangelische Sozialethiker haben sich diese in der katholischen Ethik ursprünglich beheimatete sozialethische Leitformel zu eigen
gemacht. Zu ihnen gehört Arthur Rich, der es eine unbestreitbare Tatsa469
che nennt, “daß die Arbeit dem Kapital vorangeht.”
Rich macht sich
hier offensichtlich die auf Aristoteles zurückgehende Anschauung der al470
leinigen Fruchtbarkeit der Arbeit zu eigen.
Deshalb begründet er die
Priorität der Arbeit mit dem Sachverhalt, daß das Kapital primär produ468
469
470
O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien
1980, 213. Zur Tradition der Forderung nach einem Primat der Arbeit vor dem Kapital: F. Segbers, Streik und Aussperrung sind nicht gleichzusetzen. Eine sozialethische Bewertung, Köln
1986, 293-298-302; ders., Die Arbeitl hat Vorrang vor dem Kapital. Die Enzyklika “Über die
menschliche Arbeit” von Johannes Paul II., in: Neue Stimme 1/ 1982, 12-15; ders., Wende, die
wir meinen. Der Vorrang der Arbeit in der Sozialenzyklika Laborem exercens, in: Neue Stimme
4/1984, 14-16.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 85.
“Der Zins jedoch vermehrt dieses (das Geld, F.S.) selbst. Ähnlich ist nämlich das Geborene selber dem Gebärenden, und so bedeutet der Zins Geld vom Geld. Demnach ist diese Art des Kapitalerwerbs die, die am meisten der Natur zuwiderläuft” (Aristoteles, Politik A 10 p1258 b 5
ff.). Die Widernatürlichkeit des reinen Geldgeschäftes zeigt bereits die Bezeichnung: das griechische Wort für Zins (tókos) leitet sich ab von dem Wort tokein = gebären: Geld gebiert also
Geld. Diese Anschauung diente in der Scholastik und der Neuzeit der römisch-katholischen
Sozialethik als Begründung für das Zinsverbot. Da allein Arbeit fruchtbringend sei, könne Geld
nicht Zins “abwerfen”. Auch G. Wünsch weist in seiner “Evangelischen Wirtschaftsethik” auf
diese Traditionslinie hin: “Kapital wie Grund und Boden sind an sich nichts, sie werden erst
etwas durch die Arbeit” (Evangelische Wirtschaftsethik, 687). Die erste römische Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) nimmt diese Tradition der Fruchtbarkeit der Arbeit auf, wenn sie
sagt, daß “es eine unumstößliche Wahrheit ist, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen entstehe Wohlhabenheit im Staat” (RN 27, präzisiert in: Quadragesimo anno 53). Vgl.
die Ausführungen dazu von: O. von Nell-Breuning, Die Arbeitswertlehre in der scholastischen
Theologie, in der katholischen Soziallehre und nach Karl Marx, in: Th. Strohm (Hg.), Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Aufgaben. Festgabe für Arthur Rich, Zürich 1980, 57-74.
171
ziertes Produktionsmittel ist: “Allein, dieser empirisch belegte Sachverhalt
ändert nichts daran, daß der Faktor Arbeit unter dem anthropologischpersonalen Aspekt gesehen gegenüber dem Faktor Kapital im Vorrang
steht.” Daraus folgert Arthur Rich: “Darum ist und bleibt die Arbeit als
personal-gesellschaftliche Leistung der eigentliche Produktionsfaktor in
der Wirtschaft. Jede Art von Vorrangstellung des Kapitals vor der Arbeit
entbehrt der Begründung und steht sowohl zum Menschengerechten als
auch zum Sachgemäßen im Gegensatz: zum Menschengerechten, weil
der Vorrang des Kapitals die Subsumierung der Arbeit unter eine Sache
und damit die Preisgabe des Menschen als Subjekt, als Grund und
Zweck der Wirtschaft bedeuten würde; und zum Sachgemäßen, weil sich
ökonomisch mehr als Gleichrangigkeit des Kapitals mit der Arbeit als
471
Produktionsmittel, als knappes Gut, nicht begründen läßt.”
Für Wolfgang Huber besteht auf der Basis des christlichen Menschenbildes und
seiner positiven Wertung der Arbeit ein “unaufgebbarer Vorrang der Ar472
beit vor dem Kapital” . Und Günter Brakelmann unterstreicht die Bedeutung des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital aus sozialethischer
Sicht: “Priorität der Arbeit, Priorität für die Arbeit dürfte als sozialethische
473
Leitformel eine sachgerechte christliche Aufgabe sein.”
Der faktische
Vorrang des Kapitals vor der Arbeit, wie er in einer kapitalistischen
Marktwirtschaft besteht, “entspricht aber nicht dem Wesen der Sache
474
und muß” - so Brakelmann - “entsprechend korrigiert werden” . Auch
die Ökumene hat sich die Formel des Vorrangs des Menschen vor den
Interessen der Ökonomie als einen zentralen Begriff christlicher Orientierung zu eigen gemacht. So hat die Botschaft der Zweiten Europäischen
Ökumenischen Versammlung 1997 in Graz dazu aufgerufen, “den Vorrang der menschlichen Person gegenüber wirtschaftlichen Interessen
475
wieder herzustellen oder aufrechtzuerhalten.”
Leider ist das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland Für eine Zukunft in
Solidarität und Gerechtigkeit hinter diesen ökumenischen Konsens zu-
471
472
473
474
475
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 86.
W. Huber, Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Ruhetag. Festvortrag zur
Verleihung des Hans - Böckler - Preises an den KDA, in: kda Nr. 1/1996, 29; auch: W. Huber,
Zukunftsfähigkeit - Zehn Thesen zur Wirtschaftsethik, in: W. Huhn u. F. Segbers u. W. Sohn
(Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 123-128.
G. Brakelmann, Die Zukunft der Arbeit, in: ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 112; auch G. Brakelmann, Priorität der Arbeit vor dem Kapital. Nachwort zu “Laborem exercens”, in: ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 39-42.
G. Brakelmann, Priorität der Arbeit vor dem Kapital, 41.
Botschaft, Herausforderungen III, zit. nach: epd-Dokumentation 35/1997, 3.
172
rückgefallen und hat sich diese sozialethische Leitformel des Vorrangs
476
der Arbeit vor dem Kapital nicht zu eigen gemacht.
Vorrang der Arbeit vor dem Kapital bedeutet nach Oswald von NellBreuning, daß dem Kapital nicht das Recht zukomme, “sich als den einzigen oder auch nur als den führenden Ordnungsfaktor der Wirtschaft
aufzuwerfen und die Arbeit bestenfalls als zweitrangig und folgerichtig
477
untergeordneten Faktor gelten zu lassen.”
Denn die Verfügung über
Eigentum dürfe nicht Herrschaft über Sachen und zugleich Herrschaft
über Menschen legitimieren. Mit der Forderung nach einem Vorrang der
Arbeit vor dem Kapital soll deshalb “die im Kapitalbesitz begründete
Machtüberlegenheit beseitigt, ausgeräumt oder irgendwie unschädlich
478
gemacht werden.” Die sozialethische Forderung nach der Priorität der
Arbeit will eine Antwort auf die Frage nach der Legitimation von Macht
und Herrschaft im Unternehmen geben. Nell-Breuning hat aus dieser sozialethischen Wertung der Arbeit vor dem Kapital zwei Folgerungen gezogen: der ökonomische Erfolg darf sich erstens nicht zum Selbstzweck
verselbständigen, sondern muß dem persönlichen Wohl der im Einzelunternehmen oder in der Gesamtwirtschaft tätigen Menschen dienen und
darum im Fall einer Ziel- oder Interessenkollision zurücktreten und sich
476
477
478
W. Krämer, Dortmund, verdanke ich den Hinweis, daß alle Vorentwürfe der Diskussionsgrundlage für ein Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland an der sozialethischen Position eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital ausdrücklich festgehalten hatten: Textstufe vom 8.4.1994, Ziff. 82: “Die Wirtschaft ist für den Menschen da. Es ist der
Mensch, der in ihrem Mittelpunkt steht. Sie muß aus diesem Grunde menschengemäß geordnet
sein. Es muß deutlich sein, daß der Mensch und seine Arbeit mehr ist als das Kapital.” Textstufe vom 28.7.1994, Ziff. 117 und Textstufe vom 25.8.1994 lauten identisch: “Es muß deutlich
sein, daß der Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital. Ein Ungleichgewicht zwischen Sozialsystem und Wirtschaftssystem gefährdet grundsätzlich beide Teile.” Die Endredakteure haben zwar die Aussage von einem “Ungleichgewicht zwischen Sozialsystem und Wirtschaftssystem” in die Endfassung der Diskussionsgrundlage übernommen. Die prinzipienethische Konkretion, “daß der Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital”, haben sie gestrichen (Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der
Kirchen, Gemeinsame Texte 3; hg. Kirchenamt der EKD,Hannover u. Sekretariat der DBK,
Bonn (Bonn, o.J.-1994). Die Kirchen wollten sich offensichtlich in der Endredaktion jene Position der lehramtlichen Aussagen in römischen Enzykliken nicht zu eigen machen. Die Streichung muß jedoch keineswegs auf Bedenken des evangelischen Partners zurückgehen. Die römisch-katholische Kirche in Deutschland hatte sich immer schon schwer getan, die lehramtliche Aussage eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital für die Verhältnisse in Deutschland zu
rezipieren. Wie in dieser ökumenischen Diskussionsgrundlage auch auf weitere sozialethische
Einsichten mit Hinweis auf den ökumenischen Partner verzichtet wird, habe ich ausgeführt in:
F. Segbers, Ökumene auf der Bremsspur? Zum Sozialwort der Kirchen, in: epd-Dokumentation
Nr. 16 vom 10.4.1995, 31-36.
O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien
1980, 213.
O. von Nell-Breuning, Arbeit vor Kapital. Kommentar zur Enzyklika Laborem exercens von Johannes Paul II., Wien, 1983, 93.
173
unterordnen; zweitens muß die Willensbildung in Unternehmen wie Gesamtwirtschaft so institutionalisiert sein, daß der Faktor Arbeit stark genug ist, in der konkreten Politik des Unternehmens oder der Wirtschafts479
politik die Zielrichtung durchzusetzen.
Die sozialethische Forderung
nach einem Vorrang der Arbeit will gegenüber der Logik des Kapitals für
die Arbeit eine ökonomisch, sozial und rechtlich führende Rolle garantieren. Erst dadurch kommt eine sachgemäße Partnerschaft zwischen
Arbeit und Kapital zustande, denn zwischen dem personalen Beitrag des
Menschen im Produktionsprozeß und dem Faktor Kapital kann es aus
anthropologischen Gründen nicht zu einer Gleichstellung kommen. Arbeit
des Menschen besitzt einen Wert, der nicht in einem Tauschverhältnis
zum Kapital aufgehen kann. Gleiches kann vom Kapital nicht gesagt
werden, denn Kapital besitzt keine Würde, die mit der anthropologischen
Würde vergleichbar wäre. Die Formel vom Vorrang der Arbeit vor dem
Kapital wird in der normativen Konkurrenz zwischen der ökonomischen
Logik und den Ansprüchen des Menschen eine wertende Entscheidung
treffen.
Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß sich die Ethiker bei der Begründung eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital auf sozialphilosophische
oder anthropologische, nicht jedoch auf biblische Gesichtspunkte beziehen. Im folgenden möchte ich aufzeigen, wie sozialethische Wertungen,
die von einem Vorrang der Arbeit einerseits und einer Option für die Armen andererseits sprechen, biblischen Aspekten zugänglich sind, denn
sie enthalten folgende Strukturaffinitäten:
Erstens der Subjektcharakter: Der Vorrang der Arbeit geht von einer
Sicht des Menschen aus, die diesem aufgrund seiner Arbeit das Recht
zuerkennt, ein mitwirkendes und mitbestimmendes Subjekt zu sein. Wie
die Option für die Armen geht auch die Forderung nach einem Primat der
Arbeit von der Tatsache aus, daß gleichberechtigte Teilhabe oder Partizipation vorenthalten wird. Oswald von Nell-Breuning erkennt einer Wirtschaft das Attribut “sozial befriedigend” erst dann zu, “wenn sie so geordnet ist, daß jeder Mensch Subjekt des Sozialprozesses ist und keiner
480
bloßes Objekt.” Ausgangspunkt sowohl der Forderung nach dem Primat der Arbeit als auch der biblischen Option für die Armen ist die Tatsache fehlender Teilhabe. Biblisch bezeichnet “arm” eine Beziehung, durch
die Starke den Schwachen gegenüber sich mächtig und überlegen zeigen. Beide Positionen verbindet die moralische Substanz einer Achtung
der gleichrangigen subjekthaften Würde aller Menschen. Die biblische
Option für die Armen hat ein Interesse an Partizipation. “Dabei werden
479
480
Ebd. 101.
O. von Nell-Breuning, Die soziale Marktwirtschaft im Urteil der katholischen Soziallehre, in:
ders., Wirtschaft und Gesellschaft heute, Zeitfragen Bd. 3, Freiburg 1960, 101.
174
die Armen und Schwachen nicht als passive oder gar unmündige Hilfeund Almosenempfänger angesehen. Ihre aktive Teilnahme an sozialen,
ökonomischen und rechtlichen Lebensverhältnissen wird vielmehr vorausgesetzt, unterstellt. Sie wird aber als gefährdet und des besonderen
481
Schutzes bedürftig angesehen.”
Deshalb stehen beide Optionen für
eine gemeinsame Zielrichtung, nämlich vorenthaltene Gleichberechtigung einzulösen. Die Option für die Armen wie die Forderung nach Priorität der Arbeit wären mißverstanden, wenn man sie als eine schichtenoder gar klassenspezifische Forderung ansehen würde. Nur scheinbar
sind sie partikularistisch, tatsächlich sind sie universalistisch, denn sie
wollen eine vorenthaltene Gleichberechtigung für alle einlösen. Auch
wenn sie parteilich sind, sind sie doch dem Ganzen verpflichtet.
Zweitens haben die Forderung nach einem Primat der Arbeit und die
Option für die Armen gemein, daß beide für eine “sozialethische Eindeu482
tigkeit in der argumentativen Parteinahme”
stehen. Sie nehmen die
Sichtweise der Schwächeren wahr. Enrique Dussel hat überzeugend
dargelegt, daß “der Andere, der Arme in seiner extremen Exteriorität”,
483
der “dem System gegenübersteht” , ein privilegierter Ort ist, die Defizite
des Systems wahrzunehmen. Die Option für den armen Anderen durchbricht ebenso wie die Forderung nach einem Primat der Arbeit die Logik
des ökonomischen Systems. Dieses wird von außerhalb und von denen
befragt, welche die Systemrationalität einer Kapitallogik ausgeschlossen
hat.
Drittens geht es in beiden Positionen nicht allein um Einstellungen und
Haltungen; sie wollen ein Recht formulieren, das politische, rechtliche
und soziale Geltung bekommen soll. Nicht allein die ökonomische Systemlogik soll gelten; diese soll vielmehr durch die Logik des ausgeschlossenen, armen Anderen und durch die lebensweltliche Logik der
Arbeit ergänzt werden. Mit dieser Forderung werden jedoch zugleich jene
Mechanismen in Frage gestellt, die strukturell zur Ungleichheit führen.
Die Logik des Marktes - gleichwohl nur ein Teil - gibt sich für das Ganze.
Jene wirtschaftsethische und wirtschaftspolitische Denkweise, die nur die
Logik und Rationalität der ökonomischen Logik gelten läßt oder diese als
die einzig zulässige betrachtet, halbiert die ökonomische und lebensweltliche Rationalität. Die ökonomische Rationalität trennt die anderen, humanen und sozialen Gesichtspunkte ab. Die Option für die Armen und
die Anderen überwindet diese Halbierung. Gegenüber der Logik des
Humanum müssen alle anderen Logiken zurücktreten.
481
482
483
M. Welker, Geist und Gesetz, 220.
G. Brakelmann, Priorität der Arbeit vor dem Kapital, 42.
E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 58.
175
Viertens stehen hinter beiden Einsichten soziale Bewegungen. Die Option für die Armen und die Forderung nach der Priorität der Arbeit sind
nicht subjektlos. Der soziale Ort der Option für die Armen waren in ihrem
ursprünglichen Verständnis die sozialen Bewegungen in den Ländern
des Südens. Die Forderung nach einem Vorrang der Arbeit hat - wenn
auch nicht in dieser Terminologie, wohl aber in dem sachlichen Anliegen
- in den sogenannten alten sozialen Bewegungen der Industrieländer,
den Gewerkschaften, ihren sozialen Ort.
Fünftens verstehen beide Optionen Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit. Wolfgang Huber begründet dieses Verständnis von Gerechtigkeit: “In der modernen Gesellschaft ist Gerechtigkeit vor allem anderen
484
Beteiligungsgerechtigkeit: die faire Chance, das Seine einzubringen.”
Den Armen und den abhängig Beschäftigten, der Arbeit, wird eben diese
Gerechtigkeit als Beteiligung vorenthalten. Die Option für die Armen
dringt wie die Forderung nach einem Vorrang der Arbeit zumindest auf
eine Gleichberechtigung der Beteiligten.
Diese Gesichtspunkte zeigen, daß Begründungen eines Vorrangs der
Arbeit vor dem Kapital nicht allein auf naturrechtliche oder sozialphilosophische Aspekte zurückzugreifen brauchen. Auch die biblische Orientierung der Option für die Armen und den Anderen kann den Vorrang der
Arbeit argumentativ begründen und plausibel machen. Ökonomische
Prozesse vom arbeitenden Menschen, oder allgemeiner: von der Arbeit
her zu erschließen, ist ein Ansatz, der die biblisch grundgelegte Option
für die Armen wirtschaftsethisch auslegen kann. Diesen ethischen Ausgangspunkt hat auch Günter Brakelmann eingenommen, wenn er in seiner kritischen Analyse des Mitbestimmungsurteils zu dem Schluß
kommt: “Die Sorge gilt dem konkreten Menschen und nicht einem Ord485
nungsentwurf.”
Durch diesen Ansatz wird ein System, das gesellschaftliche Benachteiligungen produziert, aus der Perspektive der
Schwächeren wahrgenommen. Ähnlich ist auch der ethische Ansatz eines Vorrangs der Arbeit zu qualifizieren: Er nimmt wahr, daß die Arbeit
dem Kapital nachgeordnet ist und dringt darauf, daß die Arbeit des Menschen den Orientierungspunkt einnimmt. Wie es dem Menschen und besonders den Armen in einem System ergeht, ist das zentrale sozialethische Kriterium zur Beurteilung eines jeden Systems. Dieses sozialethische Kriterium heißt in seiner wirtschaftsethischen Übertragung: Die abhängige Arbeit und ihre reale Lage ist aus der Perspektive der Option für
484
485
W. Huber, Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Ruhetag, 29; auch: W.
Huber, Zukunftsfähigkeit - Zehn Thesen zur Wirtschaftsethik, 124.
G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? Kritische Anmerkungen nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Th. Strohm (Hg.), Christliche Wirtschaftsethik
vor neuen Aufgaben, 313.
176
die Armen der kritische und ethische Maßstab zur normativen Beurteilung ökonomischer Systeme.
177
6. ANSÄTZE ZU EINER BIBELTHEOLOGISCHEN
BEGRÜNDUNG VON WIRTSCHAFTSETHIK
6.1 Wirtschaftsethik in der Bibel
Es gibt in der exegetischen Wissenschaft ein neuerwachtes Interesse an
der Erforschung der biblischen Gesetzestradition. Frank Crüsemann hat
in seiner Monographie Die Tora den sozialgeschichtlichen Zusammenhang herausgearbeitet. Eckart Otto zeichnet in seiner Theologische Ethik
des Alten Testaments, nicht allein die Entwicklung des Rechts im Alten
Testament nach. Darüber hinaus will er Bezüge dieses alttestamentlichen Rechts zu einer “theologischen Legitimation von Recht und Ethos in
486
der wertpluralen Industriegesellschaft”
herausarbeiten. In seinem Beitrag Wirtschaftsethik im Alten Testament bearbeitet E. Otto diesen As487
pekt ausführlich.
Zu erwähnen sind aber auch einige ältere Untersuchungen, die sich mit dem Wirtschafts- und Sozialrecht der Tora ausei488
nandersetzen.
Hingewiesen werden soll auf zwei kleinere Schriften,
die im Kontext der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verfaßt
wurden. Otto Weinberger hat vor 1948 eine Wirtschaftsphilosophie des
Alten Testaments vorgelegt, die “den dogmatisch-philosophischen Gehalt
489
der alttestamentlichen Wirtschaftsethik”
herausarbeiten will. Noch
ganz unter dem Eindruck der Folgen nationalsozialistischer Ideologie betont er die bleibende Bedeutung der Tora-Tradition für die Gegenwart,
die für “die Wissenschaft von der Wirtschaft fruchtbringende Lehren und
490
Anregungen aus diesem altehrwürdigen Buche auch heute noch”
zu
486
487
488
489
490
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 111 - 116.
E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt 1994, 279 - 289.
Vgl. dazu die Literatur, die A. Ben-David in seiner Talmudischen Ökonomie verwendet hat.
O.Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, Vorwort.
Ebd. 135.
178
geben vermag. Auch die Schrift von Theodor Schwegler aus dem Jahr
1934/35 über Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischen
491
Gesetz
steht im Kontext der kritischen Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus.
6.1.1 Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora
Im 8. Jahrhundert vollzieht sich in der altisraelitischen Gesellschaft ein
tiefgreifender Transformationsprozeß, der sich als Übergang von einer
egalitären Stammesgesellschaft zu einer Gesellschaft beschreiben läßt,
die in Klassen gespalten ist. Diese Entwicklung spitzte sich krisenhaft zu.
Eine prosperierende Schicht von Großgrundbesitzern, Kaufleuten und
Militärs hatte sich über die traditionelle Schicht der Kleinbauern geschoben, deren Produktionsweise auf Selbstversorgung ausgerichtet war (Mi
3,1.9; Jes 1,23; 3,12.14). Weite Teile der kleinbäuerlichen Bevölkerung
492
gerieten unter direkten Druck der Oberschicht. Diese Entwicklung geißelten die Propheten mit scharfen Worten. Sie kritisierten dabei nicht das
ungerechte Verhalten einzelner, sondern unterzogen die wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse einer strukturellen Kritik. Das System selbst
493
wurde angeprangert.
Hauptursache der von den Propheten mit scharfen Worten angeklagten Mißstände ist das die Wirtschaft aller antiken Gesellschaften beherrschende Schuldenwesen. Es sah nicht nur den Zugriff des Kreditgebers
auf den gesamten Besitz des säumigen Schuldner vor, sondern auch auf
die Familie und seine Person. Dadurch gerieten die Schuldner in die völlige Verfügungsgewalt des Schuldherrn. Das Schuldenwesen trieb die
Kleinbauern in einen teuflischen Kreislauf: Um überleben zu können,
mußten sie sich Getreide oder Geld leihen. Auf das Darlehen waren hohe Zinsen zu zahlen und zur Sicherheit ein Pfand zu geben. Wenn das
Darlehen nicht zurückgezahlt werden kann, trat die Person- und Sachhaftung ein: Eine arbeitsfähige Person des verschuldeten Haushaltes
mußte in Schuldsklaverei gegeben werden, oder ein Stück Land fiel an
den Gläubiger. Es entstand eine Situation, in der das eintrat, was die
491
492
493
Th. Schwegler, Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischen Gesetz und den Propheten, Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der Stiftsschule Einsiedeln 1934/35. Schwegler wendet sich zudem gegen “liberale Strömungen im Protestantismus”, die dafür sorgen, daß “auch in der Schweiz die feindliche Stimmung gegen das AT Anklang findet” (Vorwort - S. 3).
Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 248f.
K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, 238: So greift auch Amos nie
Einzelpersonen an - mit Ausnahme von Amazja (ders., Die Entstehung der sozialen Kritik bei
den Profeten, 242).
179
Propheten immer kritisiert hatten: Besitz konzentrierte sich in immer weniger Händen (Jes 5,8), die Masse der Bevölkerung wurde von ihrem
Grund und Boden verdrängt (Am 8,4; Mi 2,9f.); durch Überschuldung
verelendet, verloren die Kleinbauern vollends ihre Existenzgrundlage und
gerieten in Schuldknechtschaft (Am 8,6; 2,6).
Die reiche Oberschicht trat als Kreditgeber auf. Sie nutzte die Notlage
der kleinbäuerlichen Betriebe aus, um ihre eigene landwirtschaftliche
Produktion zu erhöhen, den Grundbesitz auszuweiten und ihren Wohlstand zu erhöhen. Die Folge war, daß die gesamtgesellschaftliche Solidarität auseinanderbrach. Die wirtschaftlich Starken profitierten von der
Entwicklung, während die Kleinbauern die Opfer, die eigentlich Unschuldigen waren (Am 2,6; 5,12). Die prosperierende Oberschicht bediente
494
sich dabei legaler Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen.
Die Verschärfung der sozialen Lage kann deswegen auch nicht allein auf individuelle Rechtsbrüche zurückgeführt werden. Es handelte sich vielmehr
um Auswirkungen struktureller Gewalt, die ihren Grund in wirtschaftlichen
495
und gesellschaftlichen Entwicklungen der Königszeit hatte.
Ausgangspunkt der Sozialkritik der Propheten des 8. Jahrhunderts war
eine soziale Krise mitten in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität, die ein
496
katastrophales Zusammenbrechen der Gesellschaft befürchten ließ.
Diese Situation rief Gegenkräfte auf den Plan, die den Versuch unternahmen, das bisherige Gewohnheitsrecht schriftlich zu fixieren, um so
den gesellschaftlichen Transformationsprozeß regulieren und gestalten
497
zu können.
Prophetische Kritik an ungerechten wirtschaftlichen Prozessen schlägt sich in einem Recht nieder, das gesellschaftliche Mißstände eindämmen und reduzieren oder gar vom Ansatz her verhindern
will. Es entsteht ein Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht, das Rainer
Kessler zu Recht eine Antwort auf gesellschaftliche Spaltungstendenzen
498
und Krisen nennt.
Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora ist nicht in einem
Zug entstanden, sondern Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses,
der in wenigen Strichen in seinen wichtigsten Etappen dargestellt werden
soll. Am Ende des 8. Jahrhunderts entsteht das Bundesbuch (Ex 20,2223,3), das wahrscheinlich auf eine ältere Sammlung von Rechtssätzen
zurückgreifen kann, die überwiegend sozial- und wirtschaftsrechtliche
494
495
496
497
498
Ebd. 248.
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 252.
Ebd. 248 spricht von sozialer Krise und gleichzeitigem wirtschaftlichen Aufschwung.
R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 79; vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd.
1, 139ff.
R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 79. R. Albertz nennt es “immer wahrscheinlicher”,
daß die Sozialgesetzgebung des Bundesbuches wie auch die sozialen Sprüche (Prov 1,31f.;
19,17; 22,22; 29,14) eher Folge als Voraussetzung der Prophetie des 8. Jh. gewesen sind (R.
Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 259, Anm. 55).
180
499
Fragen regelt.
In der Endzeit der Königszeit wurde die gesetzgeberische Arbeit des Bundesbuches fortgeführt und im deuteronomischen
500
Gesetz deutliche Reformakzente gesetzt (ca. 7. Jahrhundert).
Eine
Entwicklung setzt ein, die für die weitere Sozial- und Religionsgeschichte
Israels von großer Bedeutung sein wird: die Sorge um einen gesell501
schaftlichen Ausgleich.
Während der exilischen und frühen nachexilischen Zeit entstehen im 6. und 5. Jahrhundert die sogenannten priesterschriftlichen Gesetze, die sich in den Büchern Exodus bis Numeri, vornehmlich jedoch im Buch Levitikus als sogenanntes Heiligkeitsgesetz
502
(Lev 17-26) finden. Zusammengefaßt werden diese Schriften schließlich im 5. Jahrhundert im Pentateuch und galten durch persische Reichsautorisation als verbindliche Richtschnur für das nachexilische Juden503
tum.
Prophetie und ein die Armen schützendes Recht berühren sich. Deutlich wird dies beim Propheten Ezechiel.
Ist jemand gerecht, so handelt er nach Recht und Gerechtigkeit. (...) Er unterdrückt niemand. Er gibt dem Schuldner das Pfand zurück. Er begeht
keinen Raub. Dem Hungrigen gibt er von seinem Brot, den Nackten bekleidet er. Er leiht nicht gegen Zins und treibt keinen Wucher. Er hält seine
Hand vom Unrecht fern. Zwischen Streitenden fällt er ein gerechtes Urteil.
Er lebt nach meinen Gesetzen, er achtet auf meine Rechtsvorschriften und
befolgt sie treu. Er ist gerecht, und deshalb wird er am Leben bleiben Spruch des Herrn (Ez 18,5.7-9).
Ezechiel zählt auf, was gerechtes Verhalten konkret heißt. Der Prophet stellt positive Normen zur Orientierung des soziales Handelns auf.
Recht und Gerechtigkeit sollen in den gesellschaftlichen Bereichen von
Kult und Ökonomie zur Geltung kommen. Der Prophet formuliert Solidarität mit den Armen, den Hungrigen, den Nackten und den Verschuldeten
als gesellschaftliches und auch individuelles Ziel.
499
500
501
502
503
F. Crüsemann, Die Tora, 133ff.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, Göttingen 1992,
283ff.; R.Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 79; zum Forschungs- und Diskussionstand
vgl. : G. Wanke, Art. Bundesbuch, TRE Bd. 7, 412-415.
F. Crüsemann, Die Tora, 247; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 310ff.; R.Kessler,
Das Wirtschaftrecht der Tora, 79f.; zum Forschungs- und Diskussionsstand vgl. : S. Dean
McBride, Art. Deuteronomium, TRE, Bd. 8, 536-543.
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 290.
F. Crüsemann, Die Tora, 323ff.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd.1, 438ff.; R.Kessler,
Das Wirtschaftsrecht der Tora, 90; zum Forschungs- und Diskussionstand vgl. : H.D. Preuß,
Art. Heiligkeitsgesetz, TRE 14, 713-718; E. Zenger, Priesterschrift, TRE, Bd. 27, 435-446; K.
Koch, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 47f.
F. Crüsemann, Die Tora,381ff.; R.Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 495ff.; H. Seebaß,
Pentateuch, TRE Bd. 26, 185-209.
181
Die Maxime “Unter euch soll es keine Armen geben” (Dtn 15,4) kennzeichnet das ethische Profil des Deuteronomium. Die Sozialethik des
Deuteronomium will gesellschaftliche Spaltungen überwinden. JHWH ist
der Gott des ganzen Volkes. Aus dieser theologischen Begründung heraus soll die Oberschicht zur Solidarität mit den sozial und wirtschaftlich
Schwachen motiviert werden. Das biblische Ethos nimmt seinen Ausgangspunkt in der Erfahrung gesellschaftlicher Spaltungen. “Die Sozialgesetzgebung der dtn. Reformbewegung trägt somit ausgesprochen hu504
mane Züge.”
Von der gesellschaftlichen Tatsache der Spaltung zwischen Arm und Reich als Folge ökonomischer und sozialer Verhältnisse
gehen die Konzeptionen im Bundesbuch, im Heiligkeitsgesetz und im
Deuteronomium jeweils aus, doch entwickeln sie ein unterschiedliches
sozialethisches Profil im Umgang mit gesellschaftlichen Verhältnissen.
Wie das deuteronomische Gesetz das Bundesbuch weiterführen, korrigieren, ergänzen und ersetzen will, so will es das Heiligkeitsgesetz in Lev
505
17-26 mit dem Deuteronomium tun.
Verschiedene Rechtsfassungen
bleiben nebeneinander stehen. Frank Crüsemann begründet die Divergenzen der Tora mit dem persischen königlichen Recht, einem additiven
Recht, das keine Aufhebung alter Edikte zuließ, sondern das neue Recht
506
auch im Widerspruch zum alten setzte.
Im Gegensatz zum Reformwerk des Bundesbuches wertet Eckart Otto
das Deuteronomium als ein “utopisches Programm des Neuen Israels
507
nach dem Exil” . Er geht davon aus, daß die wirtschaftlichen Paränesen des Deuteronomium nicht als Gesetzestexte, sondern als gelehrte
Programmtexte priesterlicher Kreise entstanden und in Umlauf gekommen seien, die sich, wie Jer 34,8ff. mit der Forderung der Sklavenbefreiung zeige, nicht hätten durchsetzen können. Das Deuteronomium
spiegele also nicht das gültige Wirtschaftsrecht und das faktische Wirtschaftsverhalten der Zeit wider. Otto versteht sie als eine Stimme im
kontroversen Diskurs der damaligen Gesellschaft. Diese skeptische Haltung gibt keineswegs einen Konsens wieder. Frank Crüsemann versteht
das dtn. Gesetz als eine Maßnahme, die ergriffen wurde, als das
judäische Volk mit den grundbesitzenden Bauern, dem „am ha‟ares, die
Macht ergriffen hatte. Ort des deuteronomischen Reformgesetzes ist die
504
505
506
507
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 347.
F. Crüsemann, Die Tora, 323.
Ebd. 404ff.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 193. Mit Verweisen bei: ders., Wirtschaftsethik im Alten Testament, 284f. - Gegen R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 310ff., der die
josianische Reform als breite nationale, soziale und religiöse Erneuerungsbewegung versteht,
die mit z.T. massiven Eingriffen in die Rechte der Besitzenden vorging, um den Verarmungsprozeß in der Gesellschaft zu stoppen (ders., Religionsgeschichte, Bd. 1, 337).
182
508
deuteronomische Bewegung der Volkssouveränität. Frank Crüsemann
verweist zur Begründung auf Dtn 26,16-19 und 2 Kön 22ff., die ausführen, daß aus dem deuteronomischen Gesetz eine Dauerregelung werden
509
sollte.
Dtn 26,17ff. ist die Inkraftsetzung einer umfassenden Verfassung für Volk und König. Crüsemann datiert das deuteronomische Gesetz in seinen wesentlichen Teilen in jene Zeit, in der das judäische
510
Landvolk die Macht ergriffen hat, also vor Beginn der Exilszeit. Er sieht
deshalb im Deuteronomium einen “Verfassungsentwurf für Israel”, der
nicht nur gefordert, sondern von der freien Bauernbevölkerung Judas re511
al erkämpft wurde.
Rainer Albertz sieht zwischen dem utopischen
Charakter und einem tatsächlichen Reformprojekt der Sozialgesetzgebung des Deuteronomium keinen grundsätzlichen Widerspruch. In
diesem Reformprojekt sei vielmehr jener Befreiungsimpuls politisch wirksam geworden, der der JHWH-Religion in ihren Anfängen innewohnt,
und habe eine solche gesellschaftliche Kraft entwickelt wie nirgendwann
sonst in der israelitischen Geschichte. Gerade für die Reformen sei deshalb ein utopischer Impuls unverzichtbar. “Ohne Utopie ist keine Reformbewegung, noch dazu keine so stark motivierte wie die dtn., denk512
bar.” Nach Rainer Albertz sei die soziale Seite des dtn. Programm zudem wegen des Widerstandes der Oberschicht, nicht aber aus Gründen
513
mangelnder Praktikabilität nicht durchgesetzt worden.
Für ein sozialethisches Urteil ist die historische Faktizität nicht von ausschlaggebender
Bedeutung. Auch wenn die deuteronomischen Reformgesetze nicht alle
in die Praxis umgesetzt wurden, so ist sozialethisch bedeutsam, daß Israel sich diese Norm gegeben hat und diese im Verlauf der Geschichte
durch die Erinnerung lebendig hielt. Sozial- und wirtschaftsethisch ist allerdings nicht nur die formale Erinnerungstradition von Bedeutung. Die
exakte Beantwortung der historischen Frage, ob es sich bei dem Reformprogramm lediglich um eine Ideal-Norm handelte, ist sozialethisch
nicht entscheidend. Sozialethisch zu berücksichtigen ist die Einsicht, daß
die aufgeführten Institutionen wirtschaftlicher Gerechtigkeit auch prakti514
kabel sind, wie die “Jobel-Jahrformel” zeigt.
Ein historisch-kritischer Umgang mit der Tora-Tradition wird zunächst
registrieren müssen, daß die Tora aus einer Folge von Rechtsbüchern
zusammengesetzt ist, die einander teilweise sachlich widersprechen und
in zeitlicher Abfolge entstanden sind. Frank Crüsemann resümiert: “Wie508
509
510
511
512
513
514
F. Crüsemann, Die Tora, 273ff.
Ebd. 316f.
Ebd. 242-251.
F. Crüsemann, “... damit er dich segne...”,103.
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 348.
Ebd. 337.
Vgl. oben die näheren Ausführungen in Abschnitt 4.2.2.
183
so und warum und durch welche Kräfte aus dem Nacheinander verschiedener Rechtsbücher die eine Tora, der eine Pentateuch, der eine
Kanon wurde, ist bisher kaum mit ausreichenden Mitteln angegangen
515
worden.”
Für unseren Zusammenhang ist das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora von Bedeutung, das im Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), im
Deuteronomium (Dtn 12-26) und im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) formuliert worden ist. Rainer Kessler hat das betreffende Rechtskorpus der Tora in drei Bereiche eingeteilt: in solche, die der Vorbeugung gegen Verelendung dienen; solche, die die sozial Schwächeren schützen sollen,
und solche, die regulierend in das soziale und ökonomische System ein516
greifen.
1. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung
1. Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.)
Das antike Schuldenwesen war ein Mechanismus, der regelmäßig
durch Verschuldung zu Ausbeutung und Abhängigkeit führte. Der
Zweck des Zinsverbots bestand darin, die aus Verschuldung und
Kreditnahme entstehende Abhängigkeit zu minimieren.
2. Beschränkung der Pfandnahme (Ex 22,25f.; Dtn 24,12ff.)
Der Gläubiger mußte zur Sicherheit für sein Darlehen ein Pfand hinterlegen. Die Beschränkung der Pfandnahme sollte den Teufelskreis
von immer wieder neuen Darlehen durchbrechen.
3. Korrekte Maße und Gewichte (Dtn 25,13-15)
Ein beliebtes Mittel war es, im wahrsten Sinn des Wortes “mit zweierlei Maß zu messen”: Bei der Abmessung des Saatgutes wurde ein
kleineres Maßgefäß verwendet, oder Geld als Tauscheinheit wurde
mit zweierlei Gewichtsteinen abgewogen.
2. Gesetze zum Schutz der sozial Schwächeren
1. Sabbatgebot (Dtn 5,12ff.; Ex 23,12; 20,8ff.)
Das Sabbatgebot der regelmäßigen Arbeitsruhe ist eine bedeutsame
soziale Errungenschaft, die dem Knecht, der Magd, dem Herrn und
dem Arbeitstier zugute kommt.
2. Weitere Schutzgesetze:
515
516
F. Crüsemann, Die Tora, 15.
R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 80-88; eine anders klassifizierte Übersicht über das Wirtschaftsrecht der Tora von F. Segbers in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker
des Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 340-345.
184
- Schutz vor sexueller Ausbeutung der Sklavinnen (Ex 21,8);
- Schutz oder Einschränkung körperlicher Gewalt gegen Sklaven (Ex
21,20f.26f.);
- Schutz der geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f);
- Bestimmungen über die Versklavung von Mitgliedern des Volkes
Israel (Lev 25,39f.);
- Tägliche Ausbezahlung des Lohnes an die Tagelöhner (Dtn
24,14f.);
- Unterdrückungsverbot, Recht auf humane Behandlung (Lev
25,43.46.53);
185
3. Almosenwesen
Das Almosenwesen soll die schützen, die gänzlich aus dem System
herausgefallen sind. Almosengeben bedeutet, “Gerechtigkeit tun”,
und meint deshalb mehr als karitative Barmherzigkeit. Es erfüllt eine
sozialintegrative Funktion. Das Grundrecht auf Leben soll materiell
gesichert werden. Mehrere rechtliche Bestimmungen dienen diesem
Anliegen:
- Recht der Nachlese auf den Feldern und Weinbergen (Lev 19,9f;
23,22; Dtn 24,19-22)
- Recht, bei der Brache des Sabbatjahres die Felder abzuernten (Ex
23,10f.; Lev 25,6f.)
- Der Zehnte als Sozialsteuer für die “Witwen und Waisen”, d.h. zugunsten derer, die über keine eigenen Einkünfte verfügen (Dtn
14,22-29; 26,12f.)
3. Gesetze zur Regulierung der Wirtschaft
1. Schuldenerlaß alle sieben Jahre (Dtn 15,1f.)
Wie in der Antike anderwärts auch üblich, gibt es regelmäßige
Schuldenerlasse, um Verarmung durch Verschuldung aufzuheben.
Für das Alte Israel ist der Schuldenerlaß in einem zeitlichen Zyklus
verbindlich und deshalb absehbar.
2. Zeitliche Befristung der Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18)
Schuldsklaverei ist zeitlich befristet. Nach Dtn 15,13f muß den freizulassenden Sklaven und Sklavinnen ein kostenloses Startkapital
aus dem Vieh- und Erntebestand des bisherigen Herrn mitgegeben
werden.
3. Jobeljahr (Lev 25,10ff.)
Das Jobeljahr enthält eine Jobeljahr-Formel zu einer nicht marktförmigen Wertbestimmung von Immobilien. Alle sieben mal sieben Jahre sollen die Anhäufung von Bodenbesitz rückgängig gemacht und
die Schuldknechtschaft beendet werden. Sinn der Einrichtung ist es,
den Grundbesitz und die Angehörigen der Großfamilie zusammenzuhalten. Akkumulationsprozesse werden zyklisch unterbrochen und
rückgängig gemacht. Die Rückführung zu früheren gerechten Zuständen verschafft den Betroffenen eine Chance des Neuanfangs
und einen Ausweg aus Verschuldung und Verarmung.
Diese Auflistung zeigt, daß es sich nicht allein um ein Wirtschaftsrecht
handelt, sondern vielmehr um ein durchdachtes und systematisches
Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht vor. Diese Übersicht wirft natürlich
die Frage auf, inwieweit dieses Recht mit der tatsächlichen sozialen Rea-
186
lität übereinstimmte. Wurde es realisiert? Welche Rechtsvorschriften
wurden nicht realisiert? Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß positives
Recht nie die tatsächlichen Verhältnisse einer Gesellschaft spiegelt,
denn Recht hat die Aufgabe, die normativen Leitbilder einer Gesellschaft
517
zu formulieren. Von den Rechtsnormen läßt sich deshalb nie direkt auf
die soziale Wirklichkeit zurückschließen. Dennoch waren die gesetzgeberischen Reformvorhaben hervorragend geeignet, zur Identitätsbildung
und Profilierung des Volkes Israels beizutragen und dadurch die eigene
518
Überlebensfähigkeit in einer anders geprägten Umgebung zu sichern.
In der Antike hatte Recht einen anderen Charakter als in der Moderne. In
der Moderne wird nach einem Rechtssatz geurteilt. In der Antike jedoch
haben die Rechtssammlungen lediglich rechtsgelehrten Charakter. Sie
fungieren wie ein Muster, nach dem im Einzelfall zu entscheiden ist. Die
sozialen Verhältnisse, wie sie in der biblischen Tradition geschildert werden, zeigen, daß es zwischen dem Anspruch der Tora und der sozialen
Wirklichkeit eine tiefe Kluft gab. Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora dokumentiert die normative Orientierung. Unrecht, Ungerechtigkeit, Rechtlosigkeit, Ausbeutung der Schwachen, Verarmung und
Verelendung sollen nicht sein. Deshalb läßt sich die Formulierung in Dtn
15,4 “Unter euch soll es keine Armen geben” auch als programmatische
Verpflichtung lesen.
Welche Wege werden vorgeschlagen, diese
Kluft zu überwinden? Der eine Lösungsversuch besteht in der Entscheidung des einzelnen für das Recht. Die Ijobdichtung zeigt das Ringen um
den rechten Weg, wenn Ijob als ein Gerechter dargestellt wird: “Ich errettete den Elenden, der um Hilfe schrie, die Waise, die sonst keinen Helfer
hatte” (Ijob 29,12ff.). Neben dem Weg der persönlichen Entscheidung
gibt es auch eine Verbindlichkeit der Tora durch eine kollektive Verpflichtung. Markantes Beispiel ist die feierliche Selbstverpflichtung bei Neh 10.
Dort wird geschildert, wie eine Selbstverpflichtung gemeinschaftlich zustande kommt, durch die Handelsgeschäfte am Sabbat unterbunden
werden; auf den Feldertrag am siebten Tag will man verzichten und gelobt die Einhaltung des siebenjährigen Schuldenerlasses.
Die zentralen Bestimmungen des Wirtschaftsrechts der Tora wurden
zumindest seit der Zeit des Nehemia, also in der Mitte des 5. Jh., allgemein verbindlich und so gesellschaftliche Wirklichkeit, wie etliche Zeug519
nisse belegen.
Unbestritten ist, daß zentrale wirtschaftsethische Be-
517
518
519
R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 89ff. Im folgenden wird die Argumentation von R. Kessler wiedergegeben.
So H. Seebaß, Art. Pentateuch, 205.
Einige historische Belege sind aufgeführt bei: R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 91f. Ich
verweise in meinen Ausführungen in Abschnitt 6.1.2 zu Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahr jeweils auf historische Realisierungen. Welche wirkungsgeschichtlichen Folgen die schriftliche
187
stimmungen der Tora praktiziert wurden; historisches Faktum ist aber
auch, daß Israel sich immer wieder bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens auch dann auf die Tora berufen hat, wenn die Realität hinter dem Anspruch zurückgeblieben ist.
Israel war über lange Phasen seiner Geschichte politisch und ökonomisch von Großmächten abhängig. Steuern, Tribut und verschiedene
520
Abgabeformen bedrückten das Land.
Auch im Lande selber wurden
verschiedene Steuern und Abgaben erhoben, die zusätzlich die Lage erschwerten (Tempelsteuer, Erstlingsabgaben auf Getreide, Früchte,
Wein, Vieh: Ex 30,11ff; Num 18,13; Dtn 26,1ff; Neh 10,36). Diese zahlreichen Abgabe- und Steuerverpflichtungen führten zu Verarmung und
Verelendung. Zu diesem katastrophalen Elend im Lande hätte es nicht
zu kommen brauchen, denn Israel hatte mit der Tora ein Gesetzes- und
Regelwerk, das eindeutige Bestimmungen enthielt, wie soziales Ungerechtigkeit zu vermeiden war. Die Brüder Ekkehard W. und Wolfgang
Stegemann konzedieren in ihrer Urchristlichen Sozialgeschichte zwar,
daß die Tora in der römischen Epoche als verbindlich vorgegeben gewesen sei und zu einem gewissen sozialen Ausgleich auch tatsächlich beigetragen habe. Doch andere theologische Traditionen wie die apokalyptischer oder weisheitlich-skeptischer Art hätten ebenfalls ihren Einfluß
ausgeübt und den der Tora relativiert. Wie auch immer der Einfluß der
verschiedenen geistigen Strömungen einzuschätzen ist, es läßt sich
doch sagen, daß die Tora und die sie ergänzenden Prophetenschriften
521
identitäts- und richtungsbildend gewirkt haben. Israel verstand sich als
eine Rezeptionsgemeinschaft, die sich immer wieder auf die schriftlich
festgelegten Normen bezog und diese geschichtlich veränderten Verhältnissen anpaßte. Die schriftliche Sinaitradition wurde im Talmud fortgeschrieben, der wie die Mischna als “mündliche Tora” gilt. Dieser Rezeptionsprozeß dauert über die neutestamentliche Zeit bis in die Gegenwart des Judentums hinein fort. Wenn Theologie und Kirche die Tora als
Grundlage verstehen, erhalten sie Anteil an der Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft der Tora. Aus jüdischer Sicht konnte der Rabbiner
Benno Jacob über die bis in die Gegenwart reichende Rezeptionsgeschichte der Tora, die in der jüdischen Religion als einer Erinnerungsgemeinschaft wurzelt, sagen: “Die Tora brauchte nicht ausgegra-
520
521
Sinaitradition hatte, soll auch mit knappen Ausführungen in Abschnitt 9 an Beispielen aus der
talmudischen Zeit und Ökonomie skizziert werden.
K. Füssel, Drei Tage mit Jesus im Tempel. Einführung in die materialistische Lektüre der Bibel,
Münster 1986, 30-36, vgl. auch: E.W. Stegemann, W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, bes. 97ff.; M. Ernst, “... er war der oberste Zollpächter und war sehr reich.” (Lk 19,2)
Das Zollwesen, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern-Salzburg 1995, 160-168.
E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 98.
188
ben zu werden (wie andere altorientalische Gesetzestexte, F.S.), denn
sie ist nie verschüttet gewesen, und ein unsterbliches Volk hat sie wie
seinen Augapfel gehütet und von Geschlecht zu Geschlecht bis auf den
522
heutigen Tag vererbt.”
Die vorstehende Auflistung darf nicht übersehen lassen, daß das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora teilweise widersprüchlich ist
und kein einheitliches Rechtskorpus darstellt. Die divergierenden Rechtsregelungen sind Teil einer Anpassung der Tora an jeweils neue soziale,
gesellschaftliche und ökonomische Situationen. “Es geht (...) um die Frage, wie unter veränderten Umständen und in ganz neuen Generationen
Gottes neue Weisung zu hören sein wird. (...) Inhaltlich geht es um Fortführung, Aktualisierung, Nivellierung, Ergänzung von Themen und Fra523
gen.”
Die jeweilige Aktualisierung ist deshalb als eine der biblischen
Tradition selber inhärente kreative Hermeneutik zu verstehen, die einen
fundamentalistischen Umgang mit der biblischen Tradition unmöglich
macht.
Trotz aller Anpassungen und geschichtlichen Veränderungen der
rechtlichen Bestimmungen und Regulierungen gibt es eine Konstante.
Nach Frank Crüsemann besteht sie in der Verbindung von zwei unterschiedlichen Traditionssträngen, die Wesen und Kern der Tora ausmachen. Der eine besteht aus der strikten Alleinverehrung des einen Gottes
(Ex 34,11ff.), der andere aus einer Rechtssammlung in altorientalischer
Tradition, in der schwerwiegende gesellschaftliche Konflikte einer rechtlichen, d.h. auf Ausgleich zielenden Regelung zugeführt werden. “Als die
eigentliche Geburtsstunde der Torastruktur kann das Zusammentreten
dieser beiden Texte mit Grundsätzen zum Schutze der ökonomisch wie
rechtlich schwächsten Gruppen der Gesellschaft im Bundesbuch bezeichnet werden. Zur Alleinverehrung gehört damit ein bestimmtes Recht
524
und eine ihm vorgeordnete Gerechtigkeit.” Von diesem Kern aus bildet
sich ein Ethos, das sich in Bestimmungen, Regeln und Weisungen im
Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora normativ entfaltet.
Das Bundesbuch entwickelt angesichts sich verschärfender gesellschaftlicher Gegensätze zwischen Arm und Reich “ein Ethos, das auf die
522
523
524
B. Jacob, Das Buch Exodus, 1066. Im Manuskript findet sich der später gestrichene Zusatz “...
was auch der nichtjüdische Leser und Forscher dankend anerkennen soll” (zit. im Vorwort der
Herausgeber, in: ders., Das Buch Exodus, XVII.). Für eine Rezeption der Toratradition durch
christliche Ethik und Theologie wäre ein Gespräch mit dem zeitgenössischen Judentum interessant. Klaus Müller hat mit seiner Arbeit Diakonie im Dialog mit dem Judentum erstmals das
Gespräch mit der nachbiblischen jüdischen Überlieferung über Sozialtraditionen der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Überlieferung aufgenommen.
F. Crüsemann, Die Tora, 421.
Ebd. 424.
189
525
Überwindung dieser Spaltung der Gesellschaft zielt” . Bereits in diesem
ältesten Rechtsbuch des Pentateuch wird die Alleinverehrung Gottes
“mit einem auf Gerechtigkeit für sozial und rechtlich Schwache zielenden
526
Verhalten”
identifiziert. Frank Crüsemann charakterisiert deshalb das
Ethos des Bundesbuches als ein Ethos, das “durch Rechte von Frem527
den, Armen und anderen Ausgebeuteten”
geprägt ist. Ein Ethos der
Solidarität wird gegen eine ökonomische Logik zur Geltung gebracht, die
528
strukturell gesellschaftliche Asymmetrien hervorbringt. Soziale Schutzbestimmungen gelten als “Meta-Norm und kritische Instanz” und werden
529
dadurch “zum entscheidenden Prinzip der Tora” .
6.1.2 Sabbatordnung als Zentrum der Wirtschaftsethik der Tora
Eckart Otto nennt die Sabbatordnung des Heiligkeitsgesetzes ein aus530
drückliches Programm der Sozialethik.
Sie will einen Ausgleich zwischen Arm und Reich herbeiführen, geht aber davon aus, daß mit bleibenden Unterschieden zwischen Arm und Reich zu rechnen ist und sieht
sich deshalb konsequent dem Ziel verpflichtet, Einrichtungen zu schaffen, die dem sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich dienen und dadurch gesellschaftliche Asymmetrien ausgleichen und gesellschaftliche
Spannungen mildern können. Der jüdische Exeget Benno Jacob kritisiert
die evangelische Freiheit, mit der man sich seit der Reformation den Dekalog zurechtgelegt habe. “Im ersten Worte hat Luther nicht nur den
Nachsatz „der dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der
Knechtschaft geführt habe‟, sondern das ganze Bilderverbot weggelassen, im „dritten‟ aus dem Sabbat den „Feiertag‟gemacht.” Jacob betont,
531
“daß der erste Ausspruch als das Fundament für sich steht.” Der Hinweis auf die Befreiung prägt das Ganze des Dekalogs. Auch wenn sich
Parallelen in vergleichbaren ethischen Geboten in der Umwelt Israels
525
526
527
528
529
530
531
E. Otto,Theologische Ethik des Alten Testaments, 103.
F. Crüsemann, Die Tora, 199f.
Ebd. 224, auch 132f.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88.
F. Crüsemann, Die Tora, 228.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 249. Das sozialethische Programm des sozialen Ausgleichs (Lev 25) stellt E. Otto dem individualethischen eines Ethos der Nächstenliebe
(Lev 19,1.4-37) gegenüber (E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 243-248). Daß
Nächstenliebe aber auch den sozialen Randgruppen gilt, zeigt der Kontext (V 17f.). Was E. Otto das individualethische Programm nennt, enthält in seiner Vielfalt die ganze Breite, die das
Wesen der atl. Rechtsbücher ausmacht und schließt außer dem Verhältnis zu den Mitmenschen
auch das zu Land, Pflanzen und Tieren ein. Nur von einem individualethischen Programm der
Nächstenliebe zu sprechen, greift deshalb zu kurz. So auch: F. Crüsemann, Die Tora, 378ff.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 607.
190
finden, so macht der Hinweis auf die ägyptischen Verhältnisse die Unterscheidung aus. Die Sabbatordnung will eine Hausordnung sein, die an
Ägypten erinnert, um einen Rückfall in solche Verhältnisse zu verhindern.
6.1.2.1 Der Sabbat
Die Tradition der regelmäßigen Unterbrechung der Arbeit kann auf eine
lange Entwicklung zurückschauen, in der “die wesentlichen Elemente
dieses Gedankens schon früh angelegt sind und sich als Konstanten
532
durchhalten” . Drei Elemente kennzeichnen den bleibenden Inhalt des
Sabbatgedankens: erstens die ausschließlich negative Füllung durch das
Nicht-Arbeiten; zweitens die Aussparung des Tages als eines Tages für
den Herrn in einer solchen Weise, daß der Sabbat der Verfügungsgewalt
des Menschen enthoben ist und deshalb auch nicht um eines wirtschaftlichen Vorteils willen zur Disposition steht; schließlich drittens die Vorstellung, daß Israel durch das Halten dieses Sabbattages seine Identität in
533
einer andersartigen Umwelt sichert.
Herkunft und Geschichte des Sabbat sind nicht voll aufgeklärt. Das
Wort “Sabbat” benennt das, was gemeint ist: das Ruhen oder Aufhören
534
(hebr. sbt).
Das Besondere liegt darin, daß der Sabbat unabhängig
von Naturphänomenen, etwa dem Mondzyklus, verläuft. In vorexilischen
Texten werden “Sabbat” und “Neumond” jedoch häufig parallel genannt.
Als Sabbat wurde wohl auch ein Mondtag bezeichnet, der als kultisch
wichtiger Tag angesehen wurde (Am 8,5; Hos 2,13; Jes 1,13; 2 Kön
4,23). Nachexilisch ist es wohl zu einer Synthese des vorexilischen
Neumondfestes “Sabbat” mit einer ebenfalls vorexilischen wöchentlichen
Unterbrechung der ackerbäuerlichen Arbeit in einem Sieben-TageRhythmus gekommen, der jedoch noch nicht Sabbat genannt wurde (Ex
23,12; 34,21). Aus der Erfahrung in der Exilszeit sind beide Einrichtungen
verschmolzen: Das Sabbatfest wurde zum Sabbattag und dadurch aus
535
dem Mondzyklus herausgelöst.
Max Weber versteht den Sabbat als
Regulativ innerhalb einer sich entwickelnden Marktwirtschaft. Bauern und
532
533
534
535
R. Kessler, Das Sabbatgebot. Historische Entwicklung, kanonische Bedeutung und aktuelle Aspekte, in: D. Georgi u.a.(Hg.), Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994,100.
Ebd. 100.
Vgl. F. Stolz, Art. sbt=aufhören, ruhen, THAT, Bd.II, 3. durchgeseh. Aufl. München-Zürich
1984, Sp.863-869. Die Bezeichnung “Sabbat” stehe wohl eher mit der akkadischen Bezeichnung sapattu zusammen, so: C. Körting u. H. Speckermann, Sabbat, I. Altes Testament, in:
TRE Bd. 24, 518.
Vgl. dazu R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 424f.; F. Crüsemann, Bewahrung der
Freiheit, 55; R. Kessler, Das Sabbatgebot, 93f.; C. Körting, u. H. Speckermann, Sabbat, I. Altes
Testament, 519.
191
Kleinstädter hätten ein Interesse an regelmäßigen Markttagen gehabt.
“Endgültig hat sich das Durchlaufen des Sabbat wohl mit dem Erstarken
der Marktwirtschaft durchgesetzt: das spezifische Stadtstaatengesetz,
536
das Deuteronomium, erwähnt die alten Mondfeste nicht mehr.”
Die Traditionen aus bäuerlicher vorexilischer Zeit kannten noch keinen
Ruhetag, der als Sabbat bezeichnet wurde, sondern lediglich das Ruhen
der Arbeit am siebenten Tag. Älteste Belegstelle für die Arbeitsruhe am
siebten Tag ist Ex 34,21, während Ex 23,12 wohl eine etwas jüngere
Fassung ist.
Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen; selbst zur
Zeit des Pflügens und des Erntens sollst du ruhen (Ex 34,21).
Jeglicher kultische Aspekt fehlt in Ex 34,21. Lediglich von einem Aufhören der Arbeit ist die Rede. Das Gebot richtet sich an den frei wirtschaftenden israelitischen Bauern. Gerade in Zeiten intensiver landwirtschaftlicher Arbeit - beim Pflügen und Ernten - wird ausdrücklich auf die
Einhaltung des Sabbat verwiesen. Rein ökonomisch gesehen, ist die
Forderung kontraproduktiv.
Die gegenüber Ex 34,21 vermutlich etwas jüngere Fassung in Ex
23,12 spricht nicht mehr nur den freiwirtschaftenden Bauern an. Arbeitstiere und Arbeitskräfte kommen zusätzlich in den Blick.
Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst
du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner
Sklavin und der Fremde zu Atem kommen (Ex 23,12).
Eine deutlich soziale Absicht tritt zutage. Der Tag der Ruhe ist ein Tag
des Aufatmens für die, die hart und zugleich auch unter fremder Anweisung arbeiten müssen. Ernst Jenni betont, daß die Ruhe von Haustieren
und Sklaven als einziger Zweck des Sabbat genannt wird und sieht in
dieser Formulierung einen Hinweis auf eine Verlagerung des Gewichts
537
der Bedeutung des Sabbat auf die soziale und humanitäre Seite.
Der Dekalog kann als Zusammenfassung der Tora und das Sabbatgebot wiederum als Zentrum des Dekalogs gelten. Entstanden ist der
538
Dekalog nach Eckart Otto in der Exilszeit.
Frank Crüsemann ordnet
die Grundauffassung des Dekalogs hingegen der Josia-Reform zu und
536
537
538
M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1921), Bd. III.,7. Aufl. Tübingen
1983, 161.
E. Jenni, Die theologische Bedeutung des Sabbatgebotes im Alten Testament. Theologische
Studien, Schriftenreihe Heft 46, Zollikon - Zürich 1956, 16.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 212ff. Gegen F. Crüsemann, der sich mit der
jüdischen Exegese gegen die Sonderrolle des Dekalogs im Rahmen der Tora ausspricht, vgl.: F.
Crüsemann, Die Tora, 408f.
192
wendet sich deshalb gegen eine Spätdatierung in exilisch-nachexilischer
539
Zeit. Ist das Sabbatgebot in exilischer Zeit aus einer Kombination von
Neumondfest und Arbeitsruhegebot formuliert worden, dann ist es Teil
des Programms des Deuteronomium und des deuteronomistischen Geschichtswerks. Die Folge dieses zeitlichen Ansatzes ist: Das Sabbatgebot und mit ihm der Dekalog sind ein Versuch, aus der Vergangenheit zu
lernen: Die prophetische Kritik wird unter dem Eindruck der geschichtlichen Katastrophe gehört, erinnert und weitertradiert. Prophetische Kritik,
die sich noch nicht auf den Dekalog bezog, und ihre Vorstellungen von
540
Gerechtigkeit kommen zum Tragen. Fehlentwicklungen werden durch
Erinnerung an älteres Wissen erkannt und korrigiert; in einer veränderten
Situation kommt es zu einer kreativen Neuinterpretation.
Der Dekalog wird in der Tora zweimal überliefert, wobei die Textfassungen nicht übereinstimmen. Besonders beim Sabbatgebot sind die Unterschiede beträchtlich (Ex 20,8-11 und Dtn 5,12-15). Die Fassung Dtn
541
5,12ff. ist wohl älter und die Exodusfassung jünger. Beide Textformulierungen stimmen in der Heilighaltung des Sabbat überein, die in einer
Arbeitsruhe nach sechs Tagen Arbeit besteht. Beide Gebote sind gleich
strukturiert: Zunächst wird das Gebot formuliert (Ex 20,8; Dtn 5,12); es
folgen zweitens die Bestimmungen der Arbeitsruhe (Ex 20,9-10; Dtn
5,13-14); dann wird drittens die gebotene Arbeitsruhe begründet (Ex
20,11; Dtn 5,15). Während es bei den vorangehenden Geboten des Dekalogs um die Bewahrung der Freiheit geht, geht es beim Sabbatgebot
um die Praktizierung der Freiheit selber.
Achte auf den Sabbat: halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur
Pflicht gemacht hat. Sechs Tage sollst du schaffen und jede Arbeit tun.
Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm
darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave
und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der
Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und
deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in Ägypten
Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch
erhobem Arm dort herausgeführt. Darum hat dir der Herr, dein Gott, zur
Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten (Dtn 5,12-15).
Anlaß zur Feier des Sabbat ist die Befreiung der Sklaven aus der
ägyptischen Sklaverei. Dtn 5 begründet ausdrücklich den Sabbat und
539
540
541
F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 25f.; F. Crüsemann, Die Tora, 407ff.
So M.Robra, Ökumenische Sozialethik, Gütersloh 1994, 185f.
R. Kessler, Das Sabbatgebot, 94; J.Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” (Lk 6,9) Das Ringen
um den Sabbat in den biblischen Schriften, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die
Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 247. So auch: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels,
Bd. 1, 334f.; Bd. 2, 424-427.
193
seine Arbeitsruhe für Tiere, Sklaven und Sklavinnen mit der Erfahrung
der Fronarbeit und Unterdrückung in Ägypten. Die geforderte Arbeitsruhe
wird erstmals als Sabbat bezeichnet. Der Tag der Arbeitsruhe erhält einen Namen. Die Begründung hat eine eindeutige soziale Ausrichtung.
Für alle soll das Ruhen von der Arbeit gelten. Der Sabbat steht im Gegensatz zur Fronarbeiterexistenz und erinnert kollektiv an diese Erfahrung in Ägypten. Diese kollektive Erinnerung begründet eine gesamtgesellschaftliche Solidarität. Der Tag, an dem Sklave und Sklavin zur Ruhe
kommen sollen, wird zum regelmäßig wiederkehrenden Symbol der Befreiung aus ägyptischer Unterdrückung. Die tatsächliche Ungleichheit
zwischen oben und unten wird an diesem Sabbattag aufgehoben. Was
ist mit den Frauen der hier angesprochenen Männer, die eigentümlicherweise in der Reihe fehlen, die Sohn und Tochter, Sklave und Sklavin auf542
listet? Sabbat heißt nicht nur negativ: Ruhen der Arbeit. Mit der Aufforderung, den Tag zu heiligen, wird die Einhaltung des Sabbat positiv als
Heiligung gefordert. Diese Heiligung des Sabbat hat keinen kultischen
Gehalt, sondern das Aufhören mit der Arbeit selbst ist die Heiligung des
Sabbat. Den Sabbattag zu beachten bedeutet, nicht zu arbeiten und der
Unterbrechung der Unterdrückung zu gedenken (Dtn 5,12). Einhalten
und Bedenken des Sabbat ist in einem doppelten Sinn Protest gegen
Gewalt: nämlich gegen die Gewalt gegenüber der Schöpfung und ge543
genüber dem Menschen.
Wird in Dtn 5 das Sabbatgebot in einen
befreiungstheologischen Zusammenhang gestellt, so wird es in Ex 20
schöpfungstheologisch begründet:
Gedenke des Sabbat: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und
jede Arbeit tun . (...) Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und
Meer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt (Ex
20,8.9.11).
Neben dem Thema Befreiung wird ein weiteres wichtiges Thema angesprochen: die Schöpfung. Die soziale und ökologische Dimension ge542
543
B. Jacob sieht darin keine Geringschätzung der Frau, sondern allein einen Ausdruck der Tatsache, daß die Frau des Mannes “mit ihm identisch und mit dem „du‟ gleichfalls angeredet” ist.
(B. Jacob, Das Buch Exodus, 576) Nach rabbinisch-feministischer Exegese jedoch zeigt sich
hier “die tiefe Ungerechtigkeit der Tora selbst”( J. Plaskow, Und wieder stehen wir am Sinai.
Eine jüdisch-feministische Theologie, Luzern 1992, 51). Beim Bundesschluß werden nur die
Männer angesprochen (vgl. Ex 19,15ff.). Frauen sind abwesend. “Die Unsichtbarkeit der Frauen im Augenblick des Eintretens in den Bund widerspiegelt sich im Inhalt des Bundes, der sowohl in der Grammatik als auch in der Substanz die Gemeinschaft männlicher Haushaltsvorsteher anspricht. Dies wird in der späteren Tradition verewigt, die in ihren Kommentaren und
Kodifizierungen Frauen als Objekt des Interessen oder der Gesetzgebung nimmt, sie aber selten
als Gestalterinnen der Tradition und als Handelnde in ihrem eigenen Leben sieht.” (Ebd. 51f.)
J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 101.
194
hören zusammen. Der Sabbat gründet in Gottes Schöpfungsruhe. Sie
vollendet die Schöpfung. Ex 20 legt den Schwerpunkt auf die Segnung
und Heiligung des Sabbat und sondert ihn dadurch von den anderen Tagen aus. Gesegnet wird der Tag, wie sonst nur Geschöpfe gesegnet
werden.
Der Sabbattag erinnert an Gottes Schöpfung und hält sie in Erinnerung. Die Fassung des Sabbatgebotes in Ex 20 ist stärker kultisch ausgerichtet, denn an diesem Tag finden Gottesdienste und Sabbatopfer
544
statt. Die Einhaltung des Sabbat wird zu einer kultischen Pflicht. Das
soziale Moment des Sabbatgebotes, das für Herrn, Knecht und Magd eine gleichmachende Ruhe begründet, tritt eher zurück. Präsent ist die soziale Zweckbestimmung in den mit “Du/Dein” angeredeten Arbeitskräf545
ten. Der Herr trägt Verantwortung für die Einhaltung des Gebotes im
Lebens- und Wirtschaftsbereich der Hausgemeinschaft.
Die biblische Tradition belegt, daß die Arbeitsruhe am Sabbat nie unumstritten war und immer wieder neu erkämpft werden mußte. Schon
die vorexilische Prophetie des 8. Jahrhunderts kämpfte für die Einhaltung
des Ruhetages. Am 8,4-6 verweist auf eine Mißachtung des Ruhetages
aus ökonomischen Gründen. “Und wann ist der Sabbat vorbei? Wir wollen den Kornspeicher öffnen (...)” (Am 8,5b). Das Neumondfest und der
Sabbat stören die Zeit für Handel und Geschäfte (Hos 2,13).
Die Sabbatgebote gehen nicht von einem unwirklichen Ideal aus. Diese Gebote bieten vielmehr mit ihrem Menschenbild eine Antwort auf
menschenunwürdige Verhältnisse. Die sozio-ökonomischen Verhältnisse
im Alten Israel waren so, daß der Ertrag aus dem Landbesitz eher gering
war. Deshalb mußte ein Familienverband seinen Lebensbedarf von dem
kargen Ertrag des Landes decken. Das Sabbatgebot läßt sich als eine
ethisch inspirierte sozialrechtliche Regulierung der Arbeitsverhältnisse
verstehen: Es begrenzt die Arbeit für Herrn und Knecht; es verpflichtet
den Herrn zu sozialrechtlichen Auflagen und verschafft dem Knecht
Rechte gegenüber seinem Herrn; es bezieht die landlosen Fremden in
die Versorgung ein. Die Sabbatidee wird immer wieder den sich wandelnden sozio-ökonomischen Verhältnissen angepaßt; die verschiedenen
Formulierungen des Sabbatgebotes spiegeln deshalb die sozioökonomischen Verhältnisse. Aus der ursprünglich auf die Agrargesellschaft bezogenen Arbeitsruhe (Ex 34,12. 21; 20,8-11; Dtn 5,14) wird ein Ruhetag,
der die kommerziellen Verhältnisse der Stadt berücksichtigt. Den Sabbat
zu heiligen bedeutet nun, keinen Handel zu treiben, keine Geschäfte zu
machen, keine Verkaufsverhandlungen zu führen (Jes 58,13f. Auch Hos
2,13; Am 8,4ff.). Jer 17,19ff. interpretiert die Arbeitsruhe auf die städti544
545
J. Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 249.
R. Kessler, Das Sabbatgebot, 96.
195
schen Verhältnisse hin und verbietet das Lastentragen. Dieses Verbot
wird zur praktischen Politik, wenn die sog. Denkschrift des Nehemia zu
546
Sabbatbeginn die Tore Jerusalems schließen läßt (Neh 13,19).
Nehemia kämpft politisch um die Einhaltung des Sabbatgebots. Das
Sabbatgebot wird erstmals zu einem Gesetz und nicht mehr nur religiös
begründet. Als Statthalter der persischen Oberhoheit erläßt er das Sabbatgebot als staatliches Gesetz. In Neh 10,32.34 werden die jüdischen
Bewohner Jerusalems auf eine Sabbatordnung verpflichtet, die den Kauf
von Waren, Getreide und Grundnahrungsmitteln von Nichtjuden am
547
Sabbat verbietet. Doch die Durchsetzung der Sabbatobservanz stößt
auf Widerstand bei der judäischen Bevölkerung. Weiterhin tritt man die
Kelter, handelt mit Getreide und transportiert die Güter nach Jerusalem
(Neh 13,15-22).
Die ursprüngliche Sabbatidee des Ruhens von der Arbeit unter bäuerlichen Verhältnissen wird modernisiert: Aus dem Nichtarbeiten der ältesten Sabbatformulierungen wird eine Heiligung des Sabbat, die darin besteht, keine Geschäfte zu treiben, keine geschäftlichen Verkaufsverhandlungen zu führen, keine Gütern zu transportieren (vgl. dazu
Jes 58,13f.). Der Sabbat hatte immer schon seinen Preis und war, an
Kriterien ökonomischer Vernunft gemessen, immer kontraproduktiv. Zur
Zeit der Ernte und des Pflügens nicht zu arbeiten und Kommerz, Handel
und Distribution zyklisch zu unterbrechen, führt allemal zu wirtschaftlichen Einbußen. Wenn nicht gearbeitet und kein Handel getrieben wird,
wird ein möglicher Gewinn und Nutzen nicht realisiert. Dennoch - oder
gerade deswegen - wird der Sabbat als “Lust” bezeichnet (Jes 58,13). Im
Hebräischen wird ein Wort verwendet, das in anderen Zusammenhängen
für lustvolle Labung an fettem Essen (Jes 55,2), das Sich-Laben des
Säuglings an der Mutterbrust (Jes 66,11), für die königlichen Lustschlösser (Jes 13,22) oder auch für erotische Lust an den Reizen des geliebten
Mädchens steht (Hld 7,7). So also soll der Sabbat sein: lebenspendend
wie die Mutterbrust, labend wie ein gutes Essen, luxuriös wie ein Lust548
schloß und schön wie eine geliebte Frau.
Daß der wöchentliche Sabbat seit Nehemia das gesellschaftliche Leben Israels bestimmte, steht außer Zweifel. Zahlreiche Quellen bestätigen die Praxis. Auch die Diskussionen um die Geltung des Sabbat in den
neutestamentlichen Schriften belegen die Sabbatpraxis zur Zeit der römischen Besatzung Palästinas.
546
547
548
Ebd. 98.
J.Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 252f.
So R. Kessler, Das Sabbatgebot, 100.
196
Zusammengefaßt lassen sich die Absichten des Sabbat folgendermaßen
beschreiben:
- Der Sabbat begrenzt die Arbeit:
Der Sabbat strukturiert Leben und Arbeiten in der sozialen und ökonomischen Grundeinheit des Hauses. Arbeit hat ein Maß und eine Ordnung: sechs Tage Arbeit und ein Tag Ruhe. So wie JHWH nach Abschluß der Schöpfung ruhte, so soll auch der Mensch mit seiner Arbeit
zur Ruhe kommen. Begrenzt wird nicht allein die Arbeitszeit, auch das
Weisungsrecht des Herrn und der Frau des Hauses über die abhängig
Beschäftigten hat eine Grenze: Am Sabbat ist Arbeit unter fremder Anweisung ausgesetzt.
- Der Sabbat verpflichtet den Herrn und gibt den im Haus Arbeitenden
Rechte:
Der Sabbat ist eine soziale Errungenschaft, die den Schwächeren
schützt und diesen Schutz rechtlich absichert. Die soziale Absicht dieser rechtlichen Bestimmung ist deutlich. Die ganze Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft samt den Tieren beendet am Sabbat ihre Arbeit.
Der mit “Du” (Ex 20,8) angesprochene freie Bauer trägt mit seiner Frau
Verantwortung für die Einhaltung der Arbeitsruhe im Lebens- und Wirtschaftsraum des Hauses. Die Arbeit in der noch nicht getrennten Wirtschafts- und Lebenseinheit des Hauses wird für den Herrn und die abhängig Arbeitenden kollektiv unterbrochen, damit alle in den Genuß
freier Zeit kommen. Für den Sklaven und die Sklavin ist der Ruhetag
ein Anspruch und ein Lohn für die unter fremder Anweisung verrichtete
Arbeit. Der Sabbat ist ein Tag der erfahrenen Freiheit.
- Die Ruhe am Sabbat ist nicht zweckgerichtet:
Geheiligt wird der Tag nicht durch Kultus, sondern dadurch, daß den
abhängig arbeitenden Sklaven und den Sklavinnen Freiheit von der Arbeit, ein Ruhetag, gegeben wird. Seine theologische Würdigung erhält
der Sabbat nicht durch einen Kultus; die Ruhe selber ist theologisch
begründet. Das Ruhen der Arbeit ist die Heiligung des Sabbat. Die Arbeitsruhe ist nicht eine Arbeitspause; sie erfüllt nicht einen Zweck, sie
steht für sich selber. Das Arbeitsverbot und Ruhegebot erstreckt sich
auf zweckdienliche und für das Leben notwendige Arbeiten, damit andere soziale, schöpferische und kommunikative Tätigkeiten ermöglicht
werden. Diese Bestimmung hat eine klare soziale Schutzfunktion. Sie
schützt den, der die zweckdienliche Arbeit zu tun hat. Auch der abhängig Arbeitende soll nicht auf zweckdienliche Arbeit reduziert werden.
- Die Ruhe für alle ist egalitär:
Die Einbindung des Sklaven in den Sabbat begrenzt die Herrschaft des
Menschen über Menschen zumindest an diesem Tag und läßt die ur-
197
sprüngliche Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott aufbrechen. Arbeit
und Ruhe wird nicht nach der Klassenlage zwischen oben und unten
aufgeteilt. Nicht alle müssen immer arbeiten, sondern alle arbeiten und
ruhen; leben und arbeiten in einem gemeinsamen Rhythmus von Arbeit
und Ruhe. Da alle durch ihre Arbeit zur wirtschaftlichen Existenz beitragen, haben alle ein Recht auf Arbeit und Ruhe. Auffallend ist, daß neben dem Sklaven auch die Sklavin, neben dem Sohn auch die Tochter
genannt werden. Die weiblichen Mitglieder des Hauses werden eigens
aufgezählt, denn sie bedürfen aufgrund ihrer schwachen Stellung und
Unterordnung in einer patriarchalischen Gesellschaft eines besonderen
Schutzes.
- Der Sabbat regelt die Umverteilung von Arbeit:
Die soziale und ökonomische Grundeinheit, die Hausgemeinschaft,
muß sich vom dem Ertrag des kargen Bodens ernähren. In die Versorgung werden die landlosen Fremden einbezogen. Die anfallende Arbeit
und die Ruhe werden auf alle in der Wirtschafts- und Lebenseinheit des
Hauses aufgeteilt. Für alle - einschließlich der landlosen Fremden - gilt
der soziale Schutz durch das Arbeitsverbot am Sabbat.
Diese in der Tradition der Hebräischen Bibel verankerte Sicht des
Sabbat ist nur zu lange durch eine neutestamentliche Exegese verstellt
worden, die das Ringen um den Sabbat in den Evangelien als eine
Infragestellung des Sabbat wertete. Dieses Ringen um den Sabbat gehört in den Horizont des Ringens um die Geltung des Sabbat, der die
Geschichte der rabbinischen Theologie und das Frühjudentum begleitet.
Deshalb gilt, daß Jesus zwar die Sabbatpraxis seiner Zeit in Frage gestellt hat, nicht aber den Sabbat als Institution. Diesen hat er hoch ge549
schätzt. Jesus hat das “Sabbatgebot nicht „aufgehoben‟, so daß Men550
schen vor die Alternative gestellt werden: Jesus oder das Judentum.”
Vielmehr hat er die in Ex 20 und Dtn 5 ausgeführte Dimension der Be551
freiung, die ursprünglich mit dem Sabbat intendiert war, betont.
549
550
551
J. Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 240 - 245; vgl. auch T.Veerkamp, “Der Sabbat ist für
den Menschen da ...” (Mk 2,27) In: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des
Erdkreises Gerechtigkeit.” 226-239; R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 92-94.; M. Vidal, Le
Juif Jésus et le Shabbat.
J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 294.
Welche Bedeutung das Sabbatgebot für die frühchristlichen Gemeinden hatte, kann exemplarisch am Markusevangelium verdeutlicht werden. Gerhard Dautzenberg nennt das Markusevangelium Dokument eines Heidenchristentums, “welches ähnlich wie die vor- und außerpaulinischen Gemeinden und auch die paulinischen Gemeinden die sittlichen Gebote der Tora, repräsentiert durch das Gebot der Nächstenliebe oder durch die Gebote des Dekalogs, zu halten
bemüht ist. Es ist ein Christentum, das sich seiner Nähe zum Judentum bewußt ist und dieses
jüdische Erbe nicht aufgeben will.” G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (II.), 245.
198
6.1.2.2 Sabbatjahr und Schuldenerlaß
Das Phänomen der Verschuldung spielte in der Antike für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eine entscheidende Rolle. Deshalb kannte
die Antike auch Entschuldungen, die anläßlich von Inthronisationen oder
anderen verfügten Anlässen vollzogen wurden. Ab dem 8. Jahrhundert
gewinnt die Verschuldungs- oder Überschuldungsproblematik eine solche gesellschaftliche Tragweite, daß die vorexilischen Propheten darin
die Ankündigung schwerster Katastrophen für die Gesellschaft erblicken.
Verschuldung führt zu Schuldknechtschaft (Am 2,6-8; 8,4-6; Jes 10,1f.)
552
oder zum Verlust von Grund, Boden und Haus (Jes 5,8-10; Mi 2,1f.).
Der Einschnitt des Exils in Babylon bringt keine grundlegende Änderung,
wie die nachexilische Prophetie zeigt. Auch sie hat sich wieder mit Überschuldungsvorgängen auseinanderzusetzen. Als Nehemia die Stadt Jerusalem aufbauen will, bekommt er es sogleich wieder mit Verschuldung
zu tun, die sich so verheerend auswirkt, daß er nur mit einem sofortigen
Schuldenerlaß einem Volksaufstand zuvor kommen und eine Entlastung
herbeiführen will jedoch nur vorübergehend wirkte (Neh 5,1-13).
In drei Stufen läßt sich eine Rechtsentwicklung aufzeigen, mit der versucht wird, den Problemen der Verschuldung und der Akkumulation von
Reichtum, Grund und Boden zu begegnen: Brachjahr, Schuldenerlaß
553
und Zinsverbot.
6.1.2.2.1 Sabbatjahr (Ex 23,10ff): Brachjahr
Das Bundesbuch erweitert den Gedanken des wöchentlichen Sabbat auf
554
ein Sabbatjahr in jedem siebten Jahr.
Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im
siebten Jahr sollst du es brach liegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen (Ex 23,10f.).
Beim Ruhenlassen des Bodens im Sabbatjahr liegt eine dem wöchentlichen Sabbat “vergleichbare Kombination von religiösen, ökonomischen
552
553
554
R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld
und Schulden. Biblische Tradition in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 40f.
R. Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Leviticus 25, in: ders., Der
Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu den Themen des konziliaren
Prozesses, Stuttgart 1990, 40-61.
Ebd. 42f.
199
555
und ökologischen Motiven vor.” Interessant ist, daß das erwirtschaftete
Surplus oder der Überschuß nicht als Abgabe an die Staatsmacht abgeführt werden sollte, aber auch nicht in Reichtum umgesetzt wurde. Der
Überschuß wird genutzt als Sabbat- und Brachjahr für den Boden. Wenn
der Boden bei der Brache ruht, dann hat das auch eine soziale Dimension für diejenigen, die den Boden bewirtschaften. Ausdrücklich heißt es,
daß die Armen des Volkes abernten dürfen (Ex 23,11). Der Überschuß
landwirtschaftlicher Produktion soll nach diesem Gesetz nicht abgeführt
werden oder zur Anhäufung von Reichtum dienen. Das Surplus wird nicht
von einer Oberschicht angeeignet, sondern gesellschaftlich umverteilt
zugunsten der Armen und dient dem Nichtstun im siebten Jahr. Diese
Bestimmung zeigt, daß nach biblischem Verständnis Eigentum sozialgebunden ist. Die Armen bekommen einen Rechtsanspruch auf einen Anteil der wildgewachsenen Erträge.
Neben dem sozialen ist der ökologische Zweck dieser Bestimmung für
eine Brache eindeutig. Die Brache garantiert, daß der Boden vor Übernutzung geschützt wird. Zwischen den Freiheitsrechten der Arbeitenden
und den Freiheitsrechten des Bodens besteht ein Zusammenhang: “Der
Sinn dieses Brachjahres ist klar: Ist das Land auch dein, so bist du doch
nicht der unbedingte Eigentümer, und es hat gleichfalls ein Recht auf
Freiheit. Zum Zeichen dessen wird es im siebenten Jahr herrenlos. Was
trotzdem wächst, ist Nutznießung dessen, der sonst kein Eigentum hat,
des Bedürftigen, dem als Volksgenossen das Land gleichfalls gehört. So556
dann des Tieres, das Gott ebenfalls geschaffen hat und speist.” Dem
Boden Freiheitsrechte zu gewähren, ist ökologisch sinnvoll, denn es
schützt die Ertragskraft des Bodens. Der Biologe Aloys Hüttermann hat
mit Forschungsergebnissen israelischer Forscher begründet, wie diese
agrarökonomische Einrichtung der Brache dazu geführt hat, daß sich die
israelitische Landwirtschaft zu der wahrscheinlich fortgeschrittensten der
antiken Welt entwickelte, während die römisch-hellenistische Landwirt557
schaft stagnierte.
Außerbiblische Quellen belegen, daß das Sabbatjahr zwischen dem 2.
vorchristlichen und dem 2. nachchristlichem Jahrhundert praktiziert wurde. Neu verpflichtend wurden Sabbat und das Sabbatjahr nach dem Exil
in der Zeit des Nehemia und Esra (Neh 10,32). Alexander der Große hat
anläßlich des Sabbatjahres den Juden einen Steuererlaß gewährt; aus
den Kriegen Israels unter den Makkabäern (1 Makk 6, 49-54), aus der
Zeit unter Herodes dem Großen und den Römern wird überliefert, wie
sehr die Einhaltung des Sabbatjahres die Verteidigung der belagerten
555
556
557
F. Crüsemann, Die Tora, 267.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 724.
A. Hüttermann, Die ökologische Botschaft der Thora, 253.
200
Städte schwächte, da es nicht genügend Vorräte gab. Nach Josephus
gewährten Alexander der Große und Cäsar den Juden für das Sabbatjahr Steuerfreiheit, die dann nach dem Bar-Kochba-Aufstand von den
558
Römern zurückgenommen wurde.
Tacitus kommentiert das Sabbatjahr süffisant: “Da das Nichtstun (den Juden) Freude macht, wird auch
559
jedes siebte Jahr dem Müßiggang geweiht.” Ein archäologischer Papyrusfund bestätigt die Durchführung eines Sabbatjahres im zweiten Jahr
560
der Regierungszeit Neros.
6.1.2.2.2 Sabbatjahr (Dtn 15,1-11): Schuldenerlaß
Der ökonomische Grundwiderspruch in der antiken Gesellschaft ist der
zwischen Gläubiger und Schuldner. Moses I. Finley sagt deshalb über
das Schuldrecht: “Wenn man die Grundeinstellung zu den Armen begreifen will, muß man nicht die gelegentlichen Menschenfreundlichkeiten betrachten, sondern das Schuldrecht (...). Dieses Recht war einheitlich hart
561
und gnadenlos.”
Am Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner
zeigt sich das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Arm und Reich. “Der
Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers Knecht” (Spr 22,7). Der Parallelismus zwischen Arm und Reich sowie Schuldner und Gläubiger ist nur aussagekräftig, wenn er einen
562
Grundwiderspruch thematisiert.
Hauptursache des Verelendungsprozesses war das harte antike Kreditrecht. Es ermöglichte den Zugriff des
Kreditgebers auf den gesamten Besitz des Schuldners, einschließlich
seiner Familie und seiner eigenen Person (2 Kön 4,1; Neh 5,1-4). Pfand
und Zinsen waren verhältnismäßig hoch. Ein kleinbäuerlicher Betrieb, der
nur über wenig Reserven verfügte, konnte dadurch schon bei kleinen
wirtschaftlichen Schwierigkeiten in einen Teufelskreis geraten: Wenn die
Zinsen infolge von Mißernten, Steuer- oder Fronbelastungen nicht zurückgezahlt werden konnten, mußte man zuerst die Äcker verpfänden.
558
559
560
561
562
Verweise und Belege bei: H.G. Kippenberg u. G.A. Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen
Zeitgeschichte, Göttingen 1979, 75ff.
Tacitus, Historiae V,4 , zit. nach: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.) “... so lernen die Völker des
Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 345.
Die Hinweise in: F. Crüsemann, Der größere Sabbat oder die Weisung, sich nicht zu Tode zu
arbeiten. Bibelarbeit über 3 Mose 25,1-13, in: ders., Wie Gott die Welt regiert. Bibelauslegungen, München 1986, 49. Vgl. nähere Ausführungen über eine Kombination von Brache und
Schuldenerlaß in der Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2. nachchristlichen Jahrhundert unten Abschnitt: 6.1.2.3.
M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 38. - Leider berücksichtigt Finley nicht die Ökonomie des alten Israels.
So: R. Kessler, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, WuD NF 20
(1989) 181.
201
Dadurch war bereits ein Teil der Ernte des nächsten Jahres verpfändet.
Kam der Schuldner nicht aus den Schwierigkeiten heraus, wurden Familienangehörige und schließlich er selbst verkauft, d.h. er mußte unter
Verlust seiner Freiheitsrechte seine Schulden für den Kreditgeber abarbeiten (vgl. 2 Kön 4,7; Neh 5,6-10; Jes 5,8). Neh 5 zeigt deutlich die Verelendungsprozesse: Die Hungersnot zwingt, Getreide zu kaufen. Äcker,
Weinberge, Häuser, schließlich Frauen und Kinder müssen verpfändet
werden. Verschuldung wird zu einem Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt; die Verarmung wächst mit der Verschuldung. Durch das
gnadenlose Kreditrecht geraten die Schuldner in totale Abhängigkeit von
563
den reichen Kreditgebern.
Dem Druck der Verarmung durch Verschuldung versuchte mancher durch Flucht und Bandenbildung zu entgehen (vgl. dazu 1 Sam 22,1-2). Schuldenerlaß ist deshalb als eine Reaktion zu verstehen, die jene durch diesen Prozeß hervorgerufene Verarmung unterbrechen will.
Frank Crüsemann nennt den regelmäßigen Schuldenerlaß im Sabbat564
jahr “das neben dem Zinsverbot wichtigste Wirtschaftsgesetz” . Aus der
ökologisch motivierten Ackerbrache des Sabbatjahres (Ex 23,10f) wird
ein sozial orientierter Schuldenerlaß (Dtn 15,1ff.). Die Bestimmungen in
Dtn 15 lassen sich deshalb auch als eine Auslegung und Ergänzung der
565
Erlaßjahrbestimmungen in Ex 23,10f. verstehen.
Verwendet wird für
den Verzicht auf den Ertrag des Ackers im siebten Jahr das hebräische
Wort, mit dem auch der Schuldenerlaß bezeichnet wird (schemitta). Der
Wortlaut in Dtn 15,1ff. belegt eindeutig, daß es um Streichung von
Schulden geht. In jedem siebten Jahr sollen alle Außenstände erlassen
werden.
In jedem siebten Jahr sollst du die Ackerbrache einhalten. Und so lautet
eine Bestimmung für die Brache: Jeder Gläubiger soll den Teil seines
Vermögens, den er einem andern unter Personalhaftung als Darlehen gegeben hat, brachliegen lassen (Dtn 15,1-2a).
Die Institution des Schuldenerlasses stellt einen weitgehenden Eingriff
in das Kreditwesen dar. Der Versuch wird gemacht, jene ökonomischen
und gesellschaftlichen Mechanismen außer Kraft zu setzen, die in der
Antike regelmäßig zur Überschuldung führen. Die Staaten des Zweistromlandes kannten ebenso wie die griechische Antike und Ägypten
Schuldenerlasse, die jedoch in zeitlich unregelmäßigen Abständen er563
564
565
Schuldscheine belegen horrend hohe Jahreszinsen, so etwa auf Elephantine in der Höhe von
mindestens 60%. Nachweise in: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 250, Anm. 18.
F. Crüsemann, Die Tora, 264.; R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 92-94. R. Albertz,
Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 339ff.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 184.
202
566
folgten.
Deren Ziel war es wie im Alten Israel, die Armen zu schützen
und Gerechtigkeit zu bewahren. Diese Schuldenerlasse dienten in Israel
wie in der Antike überhaupt dem Ziel, wirtschaftliche Produktivität wie
auch die gesellschaftliche Ordnung insgesamt zu sichern. Proklamiert
wurde der Schuldenerlaß in Mesopotamien durch den König bei der Inthronisation und immer dann, wenn es nötig schien. In mancher Hinsicht
können diese Erlasse mit den biblischen Sieben-Jahres-Einrichtungen
zur Freilassung der Sklaven und zum Schuldenerlaß verglichen wer567
den. Israel steht deshalb in seinem Versuch nicht allein, Institutionen
der Entschuldung zu schaffen.
Das Gesetz über einen allgemeinen Schuldenerlaß in einem berechenbaren Zyklus war sicher wirkungsvoll, wenn es denn befolgt wurde.
Seine Grenze besteht dort, wo die ökonomisch Mächtigeren als Darlehensgeber ein Darlehen zum Überleben des in Not Geratenen verweigern, weil ein regelmäßiger Schuldenerlaß ansteht. Der dtn. Gesetzgeber
weiß um diese Schwäche und versucht durch einen Appell an die Solidarität des Darlehensgebers das Problem zu lösen: Segen liegt auf dem
Tun (Dtn 15,7-11). Sanktionen kennen die Bestimmungen nicht. Sie argumentieren lediglich mit der Zusage des Segens Gottes.
Wie es alle sieben Jahre einen allgemeinen Schuldenerlaß gibt, so
auch eine auf sieben Jahre befristete Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn
15,12-18). Nach Dtn 15,13f steht den freizulassenden Sklaven und Sklavinnen ein kostenloses Startkapital aus dem Vieh- und Erntebestand ihres bisherigen Herrn zu, das ihnen nach ihrer Entlassung zu übergeben
ist.
Und wenn du ihn als freien Mann entläßt, sollst du ihn nicht mit leeren
Händen entlassen. Du sollst ihm von deinen Schafen und Ziegen, von deiner Tenne und von deiner Kelter soviel mitgeben, wie er tragen kann. Wie
der Herr, dein Gott, dich gesegnet hat, so sollst du ihn bedenken (Dtn
15,13f.).
Freiheit wird nicht abstrakt gewährt, sondern mit der Freilassung wird zugleich eine ökonomische Basis für die Freiheit sichergestellt. Unter den
Bedingungen des Alten Israels bedeutete dies, daß ökonomische Voraussetzungen für die Führung eines eigenen Hauses (oìkos) gegeben
wurden.
Ein besonderes Wort für Sklave gibt es im Hebräischen überhaupt
nicht. „Ebed ist ein Arbeiter, Knecht, Untergebener, aber der Begriff der
566
567
G. Robinson, Das Jobel-Jahr. Die Lösung einer sozial-ökonomischen Krise des Volkes Gottes,
in: D.R. Daniels u.a. (Hg.), Ernten, was man sät, FS K. Koch, Neunkirchen 1991, 489 f.
Ebd. 490.
203
568
Dauer und Leibeigenschaft liegt nicht in dem Wort. Sklavenarbeit wird
in Israel anders als in der Antike nie eine ökonomisch wichtige Größe.
Hebräische Sklaven von Geburt an gibt es in Israel nicht. Nur auf zwei
Weisen kann ein Israelit zum Sklaven werden: Er verkauft sich selbst,
weil er in Not geraten ist (Lev 25,35ff.), oder er wird verkauft, weil er etwas gestohlen hat (Ex 22,2). Erst in der Königszeit gewinnt die Sklaverei
569
an Umfang und Bedeutung. Ex 21,2 bestimmt, daß hebräische Sklaven nur sechs Jahre Arbeit tun dürfen und im siebenten Jahr freigelassen werden müssen. Benno Jacob versteht Ex 21,2 als Beleg dafür, daß
es hebräische Sklaven nicht geben darf, denn ein Sklave auf Zeit sei ein
juristischer Widersinn. “Das oberste Grundrecht des aus dem Sklavenhaus Ägypten geführten Israeliten, sein mispat, ist die persönliche Frei570
heit.” Welche zentrale Bedeutung diese Regelung für die Identität des
Alten Israel hat, zeigt die Deutung der politischen Krise durch den Propheten Jeremia. Jeremia leitet den Sturz Judas, der zum Exil in Babylon
führte, aus der Weigerung der herrschenden Kräfte ab, die Sklaven nach
sechs Jahren in die Freiheit zu entlassen (Jer 34,14-18). Während das
babylonische Recht eine Fangprämie für entlaufene Sklaven kennt, befiehlt die Tora, den Sklaven nicht auszuliefern, sondern ihm Schutz zu
571
gewähren (Dtn 23,16ff.).
JHWH hatte Israel aus diesem Sklavenhaus Ägypten befreit und sich
dadurch zum Eigentümer aller israelitischen Sklaven erklärt (Lev
25,38.42.55). Die Sklaven im eigentlichen Sinn wurden nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern hatten eine endgültige Integration in
die Gesellschaft und ein Ende von Schuldknechtschaft vor Augen. Sklaven mußten nach sieben Jahren in die Freiheit entlassen werden (Ex
21,2-6; Dtn 15,12-18). Dtn 15,12ff. modifiziert die Bestimmungen von Ex
21,2ff., um eine faktische Dauersklaverei zu unterbinden, indem Dtn 15
bestimmte, die freigelassenen Sklaven mit Vieh und Saatgut auszustatten. Dadurch wurde ein “Startkapital” mitgegeben, das einer erneuten
Verschuldung entgegenwirken sollte. Der Kreislauf Verschuldung Schuldknechtschaft wurde dadurch unterbrochen. Ex 21,2ff. hatte sich in
der Realität wohl nicht als Schutzbestimmung ausgewirkt, sondern anscheinend in der Mehrzahl der Fälle zu einer erneuten Dauersklaverei
572
geführt. Das Jobeljahrgesetz erweiterte die Schuldknechtschaft zeitlich
auf maximal 49 Jahre (Lev 25, 39-43). Diese Modifizierung ist zwiespäl-
568
569
570
571
572
B. Jacob, Das Buch Exodus, 625.
F. Crüsemann, Die Tora, 180.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 624.
Vgl. dazu die aufgeführten Rechtsbestimmungen aus dem Codex Esnunna in: E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 187f.
F. Crüsemann, Die Tora, 179-188.
204
tig: zum einen stellt die Verlängerung der Schuldsklaverei von sechs Jahren (Ex 21,2ff; Dtn 15,12ff.) auf 49 Jahre eine “massive Verschlechte573
rung” dar, andererseits jedoch ist sie rechtsgeschichtlich ein erster bedeutender Schritt zur Aufhebung von Sklaverei überhaupt, da Schuldsklaverei faktisch in Lohnarbeit umgewandelt wird. Der Schuldsklave soll
wie ein Lohnarbeiter und “nicht mit Gewalt und Härte” (V 43) behandelt
werden. Er erhält seine persönliche Freiheit und steht in einem Arbeitsverhältnis. Diese Umwandlung der Schuldsklaverei zu abhängiger Lohnarbeit bedeutet die Garantie, ein geregeltes oder sicheres Auskommen
zu finden. Rechtlich und sozial ist der so Verdingte jedenfalls in einer
besseren Position als der Tagelöhner, der nur nach anfallendem Bedarf
574
gebraucht wird.
Diese Umwandlung von Schuldknechtschaft in eine
abhängige Lohnarbeitersituation lebt aus dem Impuls der Befreiung
durch JHWH im Exodus und will zwischen dem “theologischen Bekennt575
nis und der sozialethischen Forderung”
einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen.
Lev 25,43 verbietet, die Verschuldeten, die in Schuldknechtschaft geraten sind, mit Härte zu behandeln. “Denn sie sind meine Knechte; ich
habe sie aus Ägypten herausgeführt, sie sollen nicht verkauft werden,
wie ein Sklave verkauft wird. Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen” (Lev 25,42f.). Die Hebräer wurden in Ägypten zu harter Arbeit
“ohne Erbarmen” gezwungen (Ex 1,13.14). Das hebräische Wort bepäräk = ohne Erbarmen kommt sonst nur dort in der Tora vor, wo angeordnet wird, die Schuldsklaven nicht “mit Härte/ohne Erbarmen” (Lev
25,43.46.53, sowie Ez 34,4) zu behandeln und ist zu einem Terminus
des Gesetzes geworden. Gefordert ist eine brüderliche Gesinnung und
humane Behandlung des Abhängigen. Das Gegenteil davon ist inhuman,
576
barbarisch, unmenschlich.
Die Sozialgesetzgebung des Deuteronomium ist ein Gesetzessystem und Reformwerk, das mit seinen arbeitsund sozialrechtlichen Absichten zentral auf die Wirklichkeit bäuerlicher
Arbeit zielt: Die Fehlentwicklung der Fronarbeit wird korrigiert und die Institution der Fron abgeschafft, die als eine für Ägypten typische Einrich577
tung angesehen wird (Dtn 6,12; 8,14) ; Lohnzahlungsmodalitäten werden geregelt (Dtn 15,18); für die, die nicht am Produktionsprozeß teilhaben, wird eine Sozialsteuer zur Unterstützung erhoben (Dtn 14,22-29);
die Entschuldung verschuldeter Bauern wird regelmäßig durchgeführt
573
574
575
576
577
Ebd. 353.
So R. Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Levitikus 25, 57.
Ebd. 25, 60.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 13.
So F. Crüsemann, “...damit er dich segne...”, 91f. Über Fronarbeit im Alten Israel: J. Kegler,
Arbeitsorganisation und Arbeitskampfformen im Alten Testament, in: L. Schottroff u. W.
Schottroff (Hg.), Mitarbeiter der Schöpfung. Bibel und Arbeitswelt, München 1983, 51-71.
205
(Dtn 15,1-11). Im Dtn werden Lohnarbeiter erstmals als eigene soziale
Gruppe genannt (Dtn 15,18,; 24,14f.). Grund ist wohl, daß durch die fortschreitende Krise immer mehr Bauern ihr Land verloren und in abhängi578
ger Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mußten.
Die sozialgeschichtlich neue Form abhängiger Lohnarbeit wurde von der Tora arbeitsrechtlich reguliert. Der Lohnarbeiter gehörte zu den Armen (Dtn
24,14). Er war zwar frei, doch auf Beschäftigung angewiesen. Wie eng
und sozial ungesichert dennoch die Lebenslage war, zeigt sich daran,
daß der Lohnarbeiter als jemand beschrieben wird, der sein ganzes Leben auf die Lohnauszahlung ausgerichtet hat. Um seine Existenzgrundlage abzusichern, wird bestimmt, den Lohn noch am Abend des
Arbeitstages auszuzahlen (Dtn 24,15). Die Radikalität dieses Ethos wird
auf dem Hintergrund des altorientalischen und griechisch-römischen
Rechts deutlich. Sklaverei zeitlich zu begrenzen oder durch ihre Umwandlung in Lohnarbeit faktisch abzuschaffen, wie es die Tora tut, ist für
die griechisch-römische Antike, die Sklaven nach dem Sachenrecht behandelte, ebenso beispiellos wie für den babylonischen und ägyptischen
Kontext.
Das Erlaßjahr war keine reine Utopie. Indirekt belegt die Ausnahmere579
gelung des Prosbol des Hillel die Praxis des Sabbatjahres.
Da nach
der Tora im siebten Jahr alle ausstehenden Schulden erlassen werden,
war es gegen Ende der Frist für Arme schwer, ein Darlehen zu erhalten
(Dtn 15,1ff). Als Rabbi Hillel (1. Jh. n. Chr.) erkannte, daß die soziale Intention in der Praxis zu unsozialen Ergebnissen führte, ordnete er den
Prosbol an, durch den der Gläubiger seine Forderungen vor Beginn des
Sabbatjahres in einer Urkunde bei Gericht geltend machte, so daß er sie
auch später noch einziehen konnte. Das Gericht, nicht aber der Gläubiger, drängte den Schuldner. Hillel hatte die halachische Möglichkeit geschaffen, eine Schuld über das Erlaßjahr hinaus aufrechtzuerhalten, indem die Schuldscheine einem Gerichtshof übergeben und dadurch entpersönlicht wurden. Das Sabbatjahr mit seiner Erlaßfunktion war durch
diese Regelung faktisch abgeschafft. Diese Reform des Rabbi Hillel hob
zwar ein biblisches Gebot auf, war aber eine wichtige und mutige Tat zur
578
579
So R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 342.
Vgl. zum Prosbol: H.G. Kippenberg u. G.A. Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 75ff.; vgl. auch den Vertrag eines “Prosbol” in: H.G. Kippenberg u. G.A.Wewers,
Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 76; vgl. auch: J. Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin 1930, 247.Verweise auf die Praxis des
Sabbatjahrs bei: R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, in: Ökumenische Rundschau 44 (1995 ) 307, Anm. 16; vgl. K. Füssel u. F. Segbers (Hg.) “... so lernen
die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 345; vgl. nähere Ausführungen über eine
Kombination von Brache und Schuldenerlaß in Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und 2.
nachchristlichen Jahrhundert unten Abschnitt: 6.1.2.3.
206
580
Erhaltung der sozialen Ordnung. Mit einem juristischen Kniff wurde die
Darlehensverpflichtung abgeschafft und ein am griechischen Recht orientiertes Eigentumsverständnis eingeführt. Hillels Änderung geschah
durchaus im Interesse der bedrängten Armen, und nicht etwa im Interesse der reichen Darlehensgeber, denn er suchte nach einem Weg, Armen
581
Zugang zu einem Darlehen zu verschaffen.
6.1.2.2.3 Zinsverbot als Strategie gegen Verarmung und Verelendung
In seinem Kommentar Die Bibel - eine Deutung sagt Leonhard Ragaz
zum biblischen Zinsverbot: Es sei “nicht bloß eine einzelne wirtschaftlichsoziale Maßregel, sondern ein gewaltiges Prinzip: die Verhinderung der
582
Geldwirtschaft.” Frank Crüsemann nennt Zinsverbot und Schuldener583
laß “Kernstücke biblischen Wirtschaftsrechts” : Sie sind Teil einer Gegenstrategie gegen Verarmung und Verelendung. Das Zinsverbot versteht der Prophet Ezechiel in Ez 18,8ff. als eine Frage der Gerechtigkeit
gegenüber den schwachen Mitmenschen und auch gegenüber Gott. “Der
hohe Stellenwert, den für Ezechiel das Zins- und Aufschlagsverbot einnimmt, zeigt, daß er es nicht nur unter dem sozialpolitischen Aspekt der
Minimierung von Verelendung, sondern als theologisch zentrales Element der Verwirklichung von Gerechtigkeit sieht. In ihm realisiert sich die
584
Forderung Gottes nach Gerechtigkeit in der Welt.”
Rainer Kessler hat in seiner Analyse der Begriffe deutlich herausgearbeitet, daß die hebräische Sprache eine Unterscheidung kennt, die im
Deutschen sprachlich kaum nachvollzogen werden kann. Im Hebräischen wird unterschieden, ob der Zinsnehmer oder der Zinsverleiher im
Blick ist: ausleihen aus der Sicht des Ausleihenden (Dtn 28,12; Jes 24,2;
Ps 37,21 u.ö.), verleihen aus der Sicht des Verleihenden (Ex 22,24; Jes
24,2; Ps 37,26;1 Sam 22,2 u.ö.), Zinszahlen (Hab 2,7), Zins fordern (Am
2,8). Diese doppelte Terminologie spiegelt einen Widerspruch einer
Wirtschaftsweise wieder. Einerseits ist es notwendig, dem in Not geratenen Mitglied der Gesellschaft zu leihen, damit es weiterwirtschaften
kann; andererseits aber begründet das Leihen Abhängigkeit. Schulden
können zu Sklaverei führen: “Nun kommt der Gläubiger, um sich meine
580
Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von R. Meyer, 7. Aufl. München
1963, 317f. Anm. 390.
581
So E.W. Stegemann, W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 108.
582
L. Ragaz, Die Bibel - eine Deutung. Die Urgeschichte / Moses (1947), Neuauflage in vier Bänden, Bd. 1 Fribourg / Brig 1990, 389.
583
F. Crüsemann, Der größere Sabbat, 55.
584
J .Kegler, Das Zinsverbot in der hebräischen Bibel, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.),
Schuld und Schulden, 37.
207
beiden Söhne als Sklaven zu nehmen” (2 Kön 4,1). Der zah585
lungsunfähige Schuldner kann in Schuldsklaverei geraten.
Rechtssystematisch gehört das Zinsverbot deshalb zu der Materie, die
auch mit dem Schuldenerlaß des Sabbatjahres reguliert wird. Im Bundesbuch
(Ex
22,24),
Deuteronomium
(Dtn
23,20-21)
und
Heiligkeitsgesetz des Leviticus (Lev 25,35-38) findet sich ein Zinsverbot.
Dieses in drei unterschiedlichen Schriften der Tora formulierte Zinsverbot weicht sprachlich und sachlich voneinander ab. In der Differenz spiegeln sich verschiedene ökonomische, sozio-ökonomische und rechtliche
Entwicklungsstufen.
(1) Zinsverbot (Ex 22,24)
Die nach übereinstimmender Ansicht vermutlich älteste Formulierung
des Zinsverbotes im Bundesbuch nennt Frank Crüsemann “das älteste
586
biblische Wirtschaftsgesetz” . Mit dem Zinsverbot beginnt das Wirtschaftsrecht der Tora.
Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt,
Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr
sollt von ihm keinen Wucherzins fordern (Ex 22,24).
Das biblische Wirtschaftsrecht greift durch diese Bestimmungen direkt
in ökonomische Mechanismen ein. Das Zinsverbot setzt beim Kern sozialer Abhängigkeit an, nämlich dem Schuldenwesen. Ausdrücklich wird
ein Zusammenhang zwischen der Armut, der Notwendigkeit sich etwas
auszuleihen und der Zinsnahme hergestellt. Eine reiche Oberschicht
existiert bereits. Sie kann gegen Geld (Silber = kesef) Darlehen geben
und Zinsen einfordern. Ziel des Zinsverbots ist es deshalb, jemanden vor
hohen Schulden zu bewahren, der aus purer Not leihen muß, um nicht
hungern zu müssen oder um Saatgetreide bekommen zu können. Geschützt werden sollen verarmte und überschuldete Kleinbauern. Über
das gegebene Darlehen hinaus darf nichts zurückgefordert werden, lautet die Bestimmung. Deutlich wird darin, daß der Zins als Ursache der
Verarmung gewertet wird. Das Zinsverbot schützt gegen das harte antike
Kreditrecht, das die zumeist kleinbäuerlichen Familienbetriebe verarmen
ließ und zur Verdrängung der Kleinbauern von ihrem angestammten
587
Grund und Boden führte.
Ex 22,24a mahnt, der Darlehensgeber solle nicht wie ein “Wucherer”
auftreten. Gemeint ist mit dem “Wucherer” (hebr. noseh) jemand, der
seine Forderung rücksichtslos eintreibt und bei Fälligkeit die verpfändete
585
R. Kessler, Das hebräische Schuldenwesen, 182f.
F. Crüsemann, Die Tora, 217.
587
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 250.
586
208
588
Sicherheit verwertet.
Benno Jacob deutet das Verhalten des Gläubigers ganz schlicht: “Es (das Darlehen, F.S.) ist kein Almosen, und das
Geliehene soll zurückgegeben werden. Der Darleiher soll nichts verlie589
ren, aber auch nichts gewinnen.”
Kreditinteressenten waren wohl verarmte Bauern, die nicht zuletzt Geld zum Erwerb von Saatgut benötigten.
Da die landwirtschaftlichen Erträge nicht voraussehbar sind, sind, mit
denen das geliehene Geld erstattet werden kann, besteht für den Darlehensgeber ein hohes Risiko. Dieses Risiko wälzt der Darlehensgeber auf
den Schuldner ab, wenn er Zinsen erhebt. Sozialökonomischer Hintergrund ist eine Agrarökonomie, in der die kleinbäuerliche Existenz durch
Zinsnahme bedroht ist.
Der Mahnung, sich nicht wie ein “Wucherer” zu verhalten, folgen zwei
Ausführungen: das Verbot der Zinsnahme (Ex 22,24b) und das Verbot
der Pfandnahme (Ex 22,24-26). Zins wie Pfandnahme werden parallel
gestellt, denn sie machen sozial und ökonomisch abhängig. Das biblische Wirtschaftsrecht will diese in Abhängigkeit führenden ökonomischen Mechanismen durchbrechen. Begründet wird dieser Eingriff in
ökonomische Mechanismen theologisch: “Weil Gott gnädig ist, weil er die
Schreie der Armen hört, deshalb ist das Recht der Armen auf Leihen oh590
ne Pfand- und Zinsnahme essentieller Bestandteil der Tora.”
(2) Zinsverbot (Dtn 23, 20f.)
Das Deuteronomium kennt ebenfalls ein Zinsverbot, allerdings präzisiert
gegenüber dem Bundesbuch.
Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld
noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen
nehmen kann. Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen (Dtn 23,
20.21a).
Einschränkend wird jetzt nicht nur das Zinsnehmen für Gelddarlehen
verboten (wie in Ex 22,24), sondern auch für alle anderen Darlehensarten, mit denen man Zinsen erzielen kann (Dtn 23,20). Anders als in Ex
22,24 wird die Bedürftigkeit des armen Darlehensempfängers nicht er588
E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 27f. Er versteht die Formulierung deshalb auch
pädagogisch-paränetisch: Juristisch sei die Bestimmung in Ex 22,24 keine Norm, aus der
Pflichten und Rechte folgen, sondern eine Ermahnung, sich nicht wie ein noseh zu verhalten.
Erst durch eine Spezialnorm werde der Grundsatz als Rechtsprinzip anwendbar. - Die Einheitsübersetzung verwendet das Wort “Wucherer/Wucherzins”. Diese Übersetzung gibt den
Sachverhalt nicht wieder, denn vorausgesetzt ist ein Maßstab, der diese Wucherzinsen von - erlaubten - niedrigeren Zinsen abhebt. Crüsemann spricht zutreffender von “Pfandleiher”(F. Crüsemann, Die Tora, 217).
589
B. Jacob, Das Buch Exodus, 714.
590
F. Crüsemann, Die Tora, 219.
209
wähnt. Das Verbot des Leihens, das in Ex 22,24 auf die Armen beschränkt war, wird auf alle Israeliten ausgeweitet; zugelassen wird diese
Form des Darlehensgeschäftes nur noch gegenüber Ausländern. Fremden konnte die Tora das Zinsnehmen nicht verbieten. Wenn fremde Darlehensgeber Zinsen eintreiben konnten, hätten zinslose Darlehen entsprechend der Tora zu einer einseitigen Benachteiligung und Ausbeutung geführt, denn der fremde Darlehensgeber hätte bei den Israeliten
Zinsen eintreiben können, ihm gegenüber jedoch hätte man auf einen
Zinsgewinn verzichten müssen. Das Zinsverbot gilt deswegen nur für
591
Volksangehörige und ist für Nichtjuden aufgehoben.
Eine aus dem
verwandtschaftlichen Bereich stammende Norm wird auf die Wirtschaftsbeziehung mit Ausländern übertragen. Dadurch soll keine Zweiklassenethik etabliert werden, vielmehr trägt die Bestimmung der Diffe592
renz von Innen- und Außenwirtschaft Rechnung.
Das Verbot der
Zinsnahme im Unterschied zur Praxis der Nachbarvölker begründet
Eberhard Klingenberg mit der sozio-ökonomischen Sonderstellung Israels, aber auch mit der Tatsache, daß Israel politisch und ökonomisch gegenüber den unmittelbar angrenzenden Phöniziern, Kanaanäern und Philistern weniger entwickelt war. So hätten Darlehenszinsen in der vor- und
593
frühstaatlichen Zeit Israels keine ökonomische Bedeutung gehabt.
Erstmals wird in Dtn 23,20f. der Fachbegriff nesek verwendet. Er leitet
594
sich von der Wurzel nasak = beißen, verletzen, schaden ab.
591
Der in Dtn 23,21 gemeinte Fremde (hebr. = nokri) ist der, der nicht dauerhaft im Lande lebt und
sich beispielsweise zum Zwecke von Handelsgeschäften im Lande aufhält, während der mit
dem hebräischen Wort ger bezeichnete Fremde einen freien jüdischen oder nichtjüdischen Landesbewohner ohne Bürgerrecht meint. Vgl. dazu: E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot,
36.
592
So F. Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: G. K. Schäfer, Th.
Strohm, Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, 2. Aufl. Heidelberg 1994, 83f. Gegen M. Weber, der auf eine Logik dieser Ausnahmeregelung in Dtn
23,20f. hinweist: “Die Scheidung von ökonomischer Binnen- und Außenethik ist für die religiöse Wertung der Wirtschaftsgebarung dauernd bedeutsam geblieben.”(M. Weber, Ges. Aufsätze
zur Religionssoziologie (1921), Bd. III.,7. Aufl. Tübingen 1983,357f) M. Weber bestreitet die
Universalität der Tora-Ethik. Der Dualismus der Wirtschaftsethik der Tora konnte bestimmte,
dem Glaubensbruder gegenüber verpönte Arten des Verhaltens dem Nichtbruder gegenüber zu
Adiaphora stempeln (M. Weber, Ges. Aufsätze , Bd. III., 358).
593
E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 24f.
594
Neben nesek verwendet die Tora tarbit (so in Lev 25,36f.; Ez 18,8.13.17, 22,12) als weitere Bezeichnung für Zinsen. Vgl. die Ausführungen und Diskussion: Ebd. 43ff. tarbit ist nur bei
Naturalabgaben denkbar, während nesek einen Vorwegabzug bezeichnet oder einen Betrag
meint, der mit der Darlehenssumme akkumuliert geleistet werden kann (Ebd. 51). Klingenberg
verweist auf eine erklärende Deutung bei Maimonides: “Warum heißt es nesek? Weil der, der
Zins nimmt, seinen Nächsten beißt, ihm Schmerzen zufügt und sein Fleisch ißt.” (43, Anm.
185)
210
(3) Zinsverbot (Lev 25,35f.)
Das Zinsverbot im Heiligkeitsgesetz weist eine ähnliche Struktur auf wie
im Bundesbuch und im Deuteronomium.
Wenn dein Bruder verarmt, (...). Nimm von ihm kein Zins und Wucher!
Fürchte deinen Gott, und dein Bruder soll neben dir leben können. Du
sollst ihm weder dein Geld noch deine Nahrung gegen Zins und Wucher
geben (Lev 25,35a.36.37).
Drei Textstufen in Lev 25,35-38 lassen sich herausarbeiten: V 37: ein
alter, poetisch geformter Rechtsspruch; Vv 35.36: Einführung, die das
Zinsverbot begründet; V 38: Verweis auf Exodus und Landnahme: “Um
euer Gott zu sein” (Lev 25,38). Diese Begründung des Zinsverbotes zeigt
die Aussonderung und Heiligung Israels durch Gott, der das Volk in sei595
nem Verhalten entsprechen soll.
Das biblische Zinsverbot ist eine Gegenstrategie gegen Verarmungsund Verelendungsprozesse in der Gesellschaft. Die Tora ist das einzige
antike Gesetz, das ein ausdrückliches Verbot von Zinsen enthält. Zwar
mißbilligen Aristoteles und Platon das Zinsnehmen, doch ein positives
Verbot des Zinses ist nicht überliefert. Dagegen kennen die altorientalischen Gesetzestexte wie der Kodex Hammurapi ausführliche Bestim596
mungen über Zinsen. Die Tora verbietet dagegen kategorisch und ohne Ausnahme jede Form des Zinses für alle Arten von Darlehen innerhalb des Volkes Israel. Zinsnehmen und Wucher erscheinen von Anfang
597
an als Parallelbegriffe (Ex 22,24).
Die Praxis der Zinsnahme ist urkundlich belegt. Sie scheint dennoch wohl eher uneinheitlich gewesen zu
sein. Vor allem unter den ökonomischen Bedingungen der jüdischen Diaspora wurde zunehmend das Zinsverbot übertreten. Auffallend ist, daß
Amos bei aller Sozialkritik kein Wort über Zinsdarlehen verliert, so daß
davon ausgegangen werden kann, daß es zu seiner Zeit nicht üblich war,
598
Zinsen zu nehmen.
Das frühe Christentum hat sich die alte Forderung nach einem generellen Verbot des Zinsnehmens aus dem Bundesbuch (Ex 22,24) zu eigen gemacht und sie verschärft: Die Solidarität gilt nicht mehr nur dem
Armen, sondern allen Nächsten schlechthin. Die Einschränkung des
Zinsverbots bei Nichtjuden ist aufgehoben, die ursprünglich intendierte
Solidarität des Zinsverbots wird universalisiert (Lk 6,34ff; Mt 5,42; Lk 6,30
595
F. Crüsemann, Die Tora, 352. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 237f.
E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 14.
597
Die Tora macht keinen Unterschied zwischen einem erlaubten mäßigen Zins und einem verbotenen überhöhten Wucherzins. Eine Differenzierung dessen, was im Deutschen mit Zins und
Wucher ausgedrückt wird, kennt die Tora nicht. Die Einheitsübersetzung ist deswegen auch irreführend, wenn sie von Wucher und Wucherzins spricht (Ex 22,24).
598
Vgl. E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 54-56.
596
211
auch Lk 19,23). Die Einschränkung, Zinsnahme bei Nichtjuden zu erlauben (Dtn 23,20f.), ist wieder aufgehoben. Die Solidarität gilt nunmehr uni599
versal gegenüber einem jedem, nicht nur gegenüber dem Bedürftigen.
6.1.2.3 Jobeljahr (Lev 25,8-55): Schuldenerlaß und Umverteilung
Seinen Namen hat das Jobeljahr von einem “Jobel” genannten Widderhorn, das aus seinem Anlaß geblasen wurde. Jobel, wohl über das akkadische jabilu = Hammel ins Hebräische gelangt, bedeutet dort Widder
600
(Jos 6, ; Ex 19,13; vgl. Jos 6).
Erwähnt wird es als Jobeljahr (senat
hajjobel) in Lev 25; 27,16-25. Jedes siebente Sabbatjahr ist ein Brachjahr
(Lev 25,1-8.1), das JHWH gehört (V 4) und allen Bewohnern des Landes
Befreiung bringt. Jeder hat das Recht, alle 49 Jahre an seinen angestammten Besitz und zu seiner Großfamilie zurückzukehren. Erwähnt
wird das Jobeljahr nur im Pentateuch. Das priesterliche Gesetz enthält
zwei Teile: das Sabbatjahrgesetz (V 2-7.20-22) sowie das
Jobeljahrgesetz (V 8-55). Es führt die Bestimmungen des Bundesbuches
über die Ackerbrache in Ex 23,10f. und der Sklavenbefreiung in Dtn
15,12-18 weiter. Im sieben mal siebten Jahr, also im fünfzigsten Jahr,
soll es eine allgemeine Wiederherstellung früherer Zustände geben, eine
restitutio ad integrum.
Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner
des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder zu seiner Sippe heimkehren. Dieses
fünfzigste Jahr gelte euch als Jubeljahr. Ihr sollt nicht säen, den Nachwuchs nicht abernten, die unbeschnittenen Weinstöcke nicht lesen. Denn
es ist ein Jubeljahr, es soll euch als heilig gelten. Vom Feld weg sollt ihr
den Ertrag essen. In diesem Jubeljahr soll jeder von euch zu seinem Besitz zurückkehren (Lev 25,10-13).
Das Erlaßjahr stellt eine zweifache Strategie gegen Verarmung dar:
Nach fünfzig Jahren werden erstens die alten Besitzverhältnisse wieder
hergestellt, indem eine Rückübertragung von Besitzrechten an Land erfolgt; zweitens wird die Schuldsklaverei beendet. Alle bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte Akkumulation von Grund und Boden wird rückgängig ge599
600
W. Bindemann, “... Gutes tun und leihen ...”(Lk 6,35). Feindesliebe im Wirtschaftsleben, in: K.
Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 259-265.
A. Meinhold, Jubeljahr, I. Altes Testament, TRE Bd. 16, 280 (Lit.!); G. Robinson, Das JobelJahr.; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 249- 2256; R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 86f.; F. Crüsemann, Die Tora, 330-332; R. Kessler, Zur israelitischen
Löserinstitution, 40-53; R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge,
295 - 310.
212
macht. Über das Bundesbuch und Deuteronomium hinaus hat das
Heiligkeitsgesetz eine Neuerung eingeführt: Der Erwerb von Grund und
Boden ist zeitlich befristet. “Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürger
bei mir” (Lev 25,23). Der eigentliche und ausschließliche Besitzer des
Landes ist Gott (Lev 25,23). Boden ist prinzipiell unveräußerlich. Nur die
Ernte darf veräußert werden (Lev 25,16-19). Verpfändungen des Ackers
sind nicht ausgeschlossen, auch nicht der Handel mit den Ernteerträgen.
Die Regelung will den Handel mit Grund und Boden grundsätzlich ermöglichen, formuliert aber dort eine Grenze, wo die wirtschaftliche Existenz
der Familien gefährdet werden kann.
Im Jobeljahr werden die in Knechtschaft lebenden Menschen befreit
und ihre alten Besitzrechte wiederhergestellt. Martin Buber betont diese
Verbindung von Eigentumsverständnis und sozialer Gerechtigkeit: “In der
Befreiung des Bodens von der Verfügungsgewalt der Besitzer, in der
Hergabe seiner Früchte an alle tritt der Boden immer neu in die göttliche
Weihe ein. In den im gleichen Abschnitt enthaltenen Vorschriften für das
Jobeljahr wird das Verbot, Land „auf Abschluß‟, für immer, zu verkaufen,
und das Gebot, für ein verkauftes Land Auslösung zu gewähren, mit dem
Gottespruch begründet (V.23): „Denn mein ist das Erdland, denn Gäste
und Beisassen seid ihr bei mir‟. Das Land ist nicht Einzelner, es ist aller,
es ist des Volkes, denn es ist Gottes. Alle Besitzverschiebungen, alle
aufgekommene Latifundienwirtschaft wird im „Heimholer‟-Jahr (denn das
scheint jobel zu bedeuten) ausgeglichen, alles wird in das Lehen Gottes
an das Volk „heimgeholt‟. Aber dieselbe Begründung darf auch für das
Sabbatjahr gelten: dadurch, daß immer wieder der Ertrag des Bodens al601
ler wird, wird immer neu bekundet, daß das Land Gottes ist.”
Das Jobeljahr ist nicht nur eine soziale Institution, es enthält auch ein
praktikables Instrumentarium, das soziale Ungleichheiten verhindern und
einen regelmäßigen Lastenausgleich durchführen kann (Lev 25,15f.). Es
dient dem Schutz der Schwachen, der Schuldner (bzw. Verkäufer) gegenüber dem Gläubiger, setzt also Situationen voraus, in denen jemand
verkaufen oder sich verschulden muß. Das Jobeljahr enthält eine handhabbare Regel eines arithmetischen Maßstabes zur Bestimmung des
Wertes von Immobilien: Der Kaufpreis des Bodens (Äcker, Weinberge
u.ä.) wird durch die Anzahl der Ernteerträge bestimmt und richtet sich
deshalb nach dem Gebrauchswert und nicht dem marktwirtschaftlichen
602
Tauschwert. In der wissenschaftlichen Forschung ist umstritten, ob es
601
M. Buber, Israel und Palästina, 1950, 31, zit. nach: A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn und
Eigentum, 121.
602
K. Füssel u. M. Ramminger, Armut und Reichtum - Biblische Erinnerung an einen Widerspruch, in: Demokratiefähigkeit. Jahrbuch Politische Theologie, hg. von Jürgen Manemann,
Bd. 1, Münster 1995, 196ff. Dort auch die folgenden Ausführungen.
213
sich nur um eine ideale Konstruktion handelt, mit deren Hilfe Unrechtsverhältnisse als torawidrig bewertet werden. Die historische Tatsachenfrage entwertet jedoch nicht die Bedeutung dieser Einrichtung, denn sie
drückt zum einen eine Wertentscheidung zugunsten des ökonomisch
Schwachen aus und enthält zum anderen eine handhabbare Regel zur
Bestimmung des Wertes von Immobilien.
Die Jobeljahr-Formel lautet:
C (50) = 50 N = 50 Ca
D.h. der Kapitalwert eines Grundstücks (C) bezogen auf 50 Jahre entspricht 50 Jahresnettoerträgen (N), welche gleich 50 Abschreibungsraten
(Ca) sind.
Die Regel zur Bestimmung des Wertes einer Immobilie ist rechnerisch
durchführbar und praktikabel. Daraus ergeben sich wichtige ökonomische Konsequenzen:
- Die jährlichen Nettoerträge bestimmen den Bodenwert, d.h. der Wert
des Kapitals sinkt von Jahr zu Jahr bis auf Null im fünfzigsten Jahr. Lediglich der Boden bleibt dem Besitzer erhalten;
- Kapital kann prinzipiell nicht verzinst oder vermehrt werden, sondern
nur (gesehen als Guthaben) erhalten oder (gesehen als Schuld) getilgt
werden;
- es besteht kein Anreiz zur Akkumulation von Grund und Boden, da im
Jobeljahr jeder seinen ursprünglichen Besitz zurückerhält;
- Spekulationen sind ausgeschlossen, da der Bodenpreis sich nicht nach
dem Gesetz von Angebot und Nachfrage bildet, sondern nach dem Ertragswert;
- die oberste Grenze für den Bodenpreis ist die Summe, die sich aus der
Anzahl der Ernteerträge ergibt;
- eingerahmt werden die Bestimmungen über die Anwendung der Verkaufsregel mit der Mahnung, einander nicht zu übervorteilen (Lev
25,14.17);
- Grund und Boden können nicht endgültig verkauft werden, denn “Gott
gehört das Land” (Lev 25,23). Die Menschen sind Nutznießer und
Treuhänder des Bodens.
Die Wertbestimmungsregel des Jobeljahres zielt auf jene Verfahrensfragen beim Handel und bei der Preisbildung, die in einer Marktwirtschaft
eine dominierende Rolle spielen. “Es handelt sich nicht um eine
markt(gesetz)liche Lösung, sondern um eine Lösung, durch die die Posi-
214
tion der sozial und ökonomisch Schwächeren geschützt werden soll:
603
Ausbeutung soll ausgeschlossen werden.” Daß es sich dabei um eine
wirtschaftspraktische und nicht religiös-ideologische Maßnahme handelt,
zeigt die Bestimmung, Häuserimmobilien in der Stadt, die nicht als Pro604
duktionsmittel dienten, frei konvertierbar zu lassen (Lev 25,29-31).
Diese Regulierung zeigt, daß die Mechanismen, die Verarmungsprozesse in Gang setzten, bekannt waren und dort ausgeschaltet werden sollten, wo sie sozial schädlich waren. Die Neutralisierung der sozial destruktiven Marktkräfte geschah dadurch, daß mittels der Wertbestimmungsregel des Jobeljahres allein der Gebrauchswert, nicht aber der
Tauschwert den Preis oder Wert des Bodens oder einer Immobilie festsetzen konnte. Keineswegs jedoch sollte die Ökonomie auf eine reine
Subsistenzwirtschaft zurückgedrückt oder der Handel mit Ernteerträgen
ausgeschlossen werden. Lediglich die sozialen und ökologischen Schäden aus einer freien Verfügung über Grund und Boden sollten zurückgedrängt werden.
Eine andere, über Ex 23 und Dtn 15 hinausgehende Regelung im
Heiligkeitsgesetz sieht die Einführung von Löserinstitutionen vor. Wie
Grund und Boden nicht konvertibel sind, so auch nicht der Mensch. Die
Verwandten werden in Pflicht genommen, mit einer Löserregelung bei
Sach- und Personalhaftung einzustehen. Lev 25 stellt eine Liste auf, in
welcher Reihenfolge ein Löser dafür einstehen muß, daß das verkaufte
Grundstück eines Familienangehörigen oder auch eines in Schuldknechtschaft geratenen Verwandten ausgelöst werden muß (Lev
25,48f.). Lev 25 schafft zwar durch die Löserinstitution die Schuldknechtschaft praktisch ab. Beliehen werden kann nur noch eine zeitlich begrenzte Arbeit. Der Preis für die Aufhebung der Schuldknechtschaft ist allerdings, daß die Verpfändung der Arbeitskraft, die ursprünglich auf sieben Jahre begrenzt war (Ex 21,2; Dtn 15,12), nun auf 49 Jahre erhöht
wird und wie eine abhängige Lohnarbeiterverpflichtung betrachtet wird.
Lev 25 zählt verschiedene Grade von Verarmung auf: Notverkauf von
Grund und Boden (V 25a); Überschuldung (V 35-38); Selbstverkauf in die
Schuldknechtschaft (V 39-46); Verkauf in die Schuldknechtschaft an einen Nichtisraeliten (V 47-55). Jedes dieser vier Gesetze, die verschiedene Formen von Verarmung behandeln, werden mit der gleichen Formel
eingeleitet: “Wenn dein Bruder verarmt (...)”(V 25.35.39.47). Immer,
wenn diese Notfälle eintreten, soll sich der Clan oder die Großfamilie so605
lidarisch verhalten und einlösen, was der Bruder verkaufen mußte.
603
604
605
T. Veerkamp, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in der Schrift, Berlin,
1992, 96.
E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 286.
J. Kegler, Das Zinsverbot in der Bibel, 29; R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, 43ff.
215
In der Tora gibt es drei Institutionen, die in einem Siebenjahreszyklus
greifen: Ackerbrache, Befreiung der Sklaven und Sklavinnen, Schuldenerlaß. Gnana Robinson versteht das Jobeljahr als Integration dieser drei
606
sozio-ökonomischen Maßnahmen.
Diese Integration bedeutet aber
zugleich, daß die Einrichtung des Jobeljahres nicht nötig gewesen wäre,
wenn Ackerbrache und Befreiung aus der Schuldknechtschaft sowie
Schuldenerlaß treu und regelmäßig praktiziert worden wären. Gnana
Robinson geht deshalb von der These aus, daß das Jobeljahr neu erfunden werden mußte, weil eine sozio-ökonomische Krise eine “radikale
Restitutio ad integrum, die Befreiung der Sklaven, die Erlassung der
607
Schulden und die Wiederverteilung des Landes verlangt” hatte. Dabei
werden nach Jürgen Ebach “die alten Forderungen in einer neuen Situation der Geschichte Israels neu befragt, neu durchdacht und neu auf
608
Praxis hin formuliert” . Dadurch, daß “die alten Vorlagen aus dem Bundesbuch und aus dem Deuteronomium (...) aufgenommen sind”, läßt
609
sich Lev 25 als eine Form “innerbiblischer Schriftauslegung”
lesen.
Das wirtschaftsethische Ziel, das jeweils erreicht werden soll, ist das
gleiche: Akkumulationsprozesse sollen unterbrochen und Reichtum zurückerstattet werden.
Der Ursprung dieser Regelung des Jobeljahres ist ungewiß, zudem
610
fehlen alle Belege dafür, daß es in Israel überhaupt praktiziert wurde.
Praktiziert wurde jedoch das siebenjährige Erlaßjahr des Deuteronomium. Es gibt in Alt-Babylonien Freilassungsakte, doch diese wurden
weder in einem regelmäßigen Zyklus erlassen, noch gab es einen
Rechtsanspruch. Sie belegen allenfalls, daß die Könige mit diesen Erlassen die schlimmsten Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen abwehren wollten. Das biblische Jobeljahrgesetz soll demgegenüber Zukunft in
einer verläßlichen Weise gestaltbar machen. Arndt Meinhold schließt
sich Karl Elliger an, der davon ausgeht, daß mit Lev 25 an einer älteren
Regelung der Befreiung verschuldeter Menschen mit Rückkehr zum angestammten Besitz auch für die nachexilische, privatwirtschaftliche Zeit
festgehalten werden sollte, und deshalb auch das Zugeständnis einer
611
Zeitspanne von 49 Jahren gemacht wurde.
Das Jobeljahrprogramm
hat sich aus Dtn 15 und Ex 23,10ff. unter Aufnahme einer vorexilischen
606
607
608
609
610
611
So die These von G. Robinson, Das Jobel-Jahr.
Ebd. 476.
J. Ebach, Über die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse, in: ders., Theologische Reden, mit
denen man keinen Staat machen kann, Bochum 1986, 113.
Ebd. 120.
Erwähnung findet das Jobeljahr lediglich bei Josephus Ant. III 280ff. - so nach G. Robinson,
Das Jobel-Jahr, 474. E. Otto geht davon aus, daß das Jobeljahrprogramm nicht praktiziert wurde (E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 288.).
A. Meinhold, Jubeljahr I., 280f.
216
Praxis entwickelt, die Verwandten ein Vorkaufsrecht für Grundstücke ge612
währte (Jer 32,6-15; Rut 4). Jes 61,1 und Ez 40,40-48 lassen darauf
schließen, daß das Jobeljahr Hoffnung für die Zeit des Neubeginns nach
613
der Exilzeit geben will (Jer 32,6-15; Rut 4).
Schon bei seiner Erfindung sollte - so Gnana Robinson - das Jobeljahr
614
“die Israeliten religiös und moralisch herausfordern” . Offenbar jedoch
hatte die Einhaltung der Sabbatruhe dem Land große Probleme bereitet,
denn Lev 26,35.43 versteht das Exil als die Zeit, in der Gott dem Land
die von den Menschen vorenthaltene Sabbatruhe gewährte. Rainer Albertz folgert aus den Ausnahmeregelungen (Lev 25,29-34) und den Zugeständnissen (Versklavung von Ausländern bleibt erlaubt, Lev 25,4446), daß das Gesetz für den Vollzug und nicht als utopischer Entwurf ge615
dacht war.
Dennoch ist in der nachexilischen Zeit nicht das Jobeljahr,
wohl aber das Sabbatjahr praktiziert worden. Rainer Albertz vermutet,
daß die aus der Sabbatidee stammende Vorstellung einer Befreiung der
Gesellschaft durch eine regelmäßige Wiederherstellung ursprünglicher
Verhältnisse nur durchführbar gewesen wäre, wenn es zuvor eine gerechte Verteilung von Grund und Boden gegeben hätte. Sonst hätte eine
Rückkehr aus Schuldknechtschaft immer nur die gleichen ungerechten
Ausgangsbedingungen wiederhergestellt. Neh 5, 1-13 geht von dem Erlaßjahr-Gesetz des Dtn aus, nicht aber vom Jobeljahrgesetz.
Das Jobeljahr ist wohl nur Programm geblieben, sein programmatisches Ethos war jedoch bis in die neutestamentliche Zeit hinein bedeut616
sam. In Juda setzte sich mit der Kanonisierung der Tora eine Lösung
durch, die eher schärfer als die Jobeljahrgesetzgebung war: Eine Kombination der allgemeinen Brachregelung des Sabbatjahres (Lev 25,1-7) mit
dem Schuldenerlaß (Dtn 15,1-2). Rainer Albertz verweist auf mehrere
positive Belege für die Einhaltung dieser Kombination von Brache und
Schuldenerlaß in der Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2.
617
nachchristlichen Jahrhundert.
Mehrere Anhaltspunkte verweisen auf
eine Rezeption des programmatischen Ethos von Lev 25 in den Schriften
des Neuen Testaments. Die programmatische Antrittspredigt Jesu (Lk
612
613
614
615
616
617
E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testamentes, 288.
A. Meinhold, Jubeljahr I., 281.
G. Robinson, Das Jobel-Jahr, 478.
R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 307.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 255.
R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 307. Genannt seien: für die Jahre 164/3 v. Chr.: 1 Makk 6,48.53; Josephus, Ant. XII, 378; Josephus, Bell. I, 46; für die Jahre
136/5 v. Chr.: 1 Makk 16,14; Josephus, Ant. XIII, 234.; Josephus, Bell. I, 60; für die Jahre 38/7
v. Chr.: Josephus, Ant. XIV, 475; XV, 7; für die Jahre 54/55 n. Chr.: Muraba‟at 18,7; für die
Jahre 68/8 n. Chr.: rabbinische Quellen; 131/2 Murabaat 24; vgl. H.G. Kippenberg u. G.A.
Wevers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 75ff.
217
4,18f.) läßt die Erinnerung an die Verheißung von Jes 61,1ff. anklingen.
Das Bild von der “Freilassung” und der “Ausrufung des Gnadenjahres
des Herrn” (Lk 4,18.19) bekommt im Kontext der jesuanischen Rede eine eindeutige soziale Ausrich-tung im Sinne des alttestamentlichen Sab618
bat- und Jobeljahres.
Die Vater-unser-Bitte um Schuldentilgung und
die radikale Besitzaufgabe in der Jesusnachfolge enthalten einen Hinweis auf jene Institutionalisierung des Teilens und des Umverteilens, die
619
mit dem Sabbat-/Jobeljahr gemeint war.
Die urchristliche Gütergemeinschaft (Apg 4) kann als Praxis der Vision
von Lev 25 verstanden werden. Private Eigentumsverhältnisse werden
zurückgeführt. Besitz an Grund und Boden, der im Laufe der Jahre akkumuliert wurde, wird rückgängig gemacht, wie die Erzählung über
Hananias und Saphira berichtet (Apg. 4,34ff.; 5,1-11). Die Folge: “Es gab
auch keinen unter ihnen, der Not litt”(Apg. 4,34). Die urchristliche Gemeinde vollzog die Maxime der Wirtschaftsethik der Tora: “Doch eigent620
lich sollte es bei euch keine Armen geben”(Dtn 15,4). Aus der Tatsache, daß Grundforderungen der Tora in der neutestamentlichen Tradition
nicht genannt werden, darf nicht gefolgert werden, daß sie keine Geltung
gehabt hätten. Die Geltung der Tora stand nicht zur Disposition, gerungen wurde um die Gesetzespraxis. Rainer Kessler ist zuzustimmen,
wenn er sagt, daß die Toraforderungen ganz selbstverständlich gelten
und deswegen nicht wiederholt werden müssen, denn “nicht ein einziges
621
Jota” (Mt 5,18) vom Gesetz solle verändert werden.
6.2 Die Wirtschaftsethik der Tora und ihre Wirkungsgeschichte
In sozialstaatlich geprägten Ökonomien mit ihren Mechanismen des sozialen Ausgleichs zeigt sich nach Eckart Otto wirkungsgeschichtlich ein Impuls der bib-lischen Tradition. “Wenden wir uns der Wirtschaftsethik im
antiken Israel zu, so zeigt sich, daß wir es bei diesem Ausgleich nicht nur
mit einer modernen Herausforderung zu tun haben, sondern mit einer
618
619
620
621
So R. Albertz, Die “Antrittsrede” Jesu im Lukasevangelium auf ihrem alttestamentlichen Hintergrund, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 74 (1983) 198.
W. Bindemann, “Wir haben alles aufgegeben.” (Mk 10,29) Christusnachfolge zwischen Besitzverzicht und Hoffnung auf soziale Reintegration, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die
Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 266 - 274, hier: 269f.; so auch F. Crüsemann “... wie wir
vergeben unseren Schuldigern.” Schulden und Schuld in der biblischen Tradition, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden, 90 - 103.
G. Jankowski, “... und hatten alles gemeinsam.” (Apg 4,32) Ökonomische Fragen in der Apostelgeschichte, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 139 - 148. So auch R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 308.
R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 93.
218
wirtschaftspolitischen Universalie aller Ökonomien, die im Horizont der
622
jüdisch-christlichen Tradition stehen.” Sie bestehe in einem Ausgleich
zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. In der Ackerbrache (Ex 23,11), in
der Schuldenbefreiung (Dtn 15,1-11) oder im Jobeljahr (Lev 15) zeige
sich, daß die Wirtschaftsethik des Alten Testamentes von der durchgängigen Linie geprägt ist, Eigennutz dadurch zu begrenzen, daß das
Wohl des Anderen und der Zusammenhalt der Gesellschaft mitbedacht
623
werden.
Wichtig ist, daß der soziale Ausgleich im Deuteronomium doppelt begründet wird: zum einen theologisch durch die Erinnerung an Ägypten,
zum anderen ökonomisch durch die Vernunft. So wird beim Zinsverbot,
dem Jobeljahr, der Beschränkung der Sachhaftung und den anderen
Regulierungen des Wirtschaftssystems in der Tora nicht allein moralisch
argumentiert, sondern es werden wirtschaftspraktische Überlegungen
einbezogen: “Die Grenzen der Realisierung des Eigeninteresses werden
so gezogen, daß eine komplexe Ökonomie einschließlich des Handelns
mit Grund und Boden möglich ist, sofern dadurch nicht die wirtschaftliche
Existenz der Familien als Basiseinheiten des Wirtschaftsprozesses gefährdet und die Ärmsten schutzlos der Personhaftung ausgeliefert
624
sind.” Darin zeigt sich eine Ethik, die das Leben schützen will und die
auch ökonomisch sinnvoll ist.
In der Vielzahl von Ethiken innerhalb der Hebräischen Bibel zeigt sich
ein konsistentes Normensystem, das trotz aller Divergenzen in den Traditionen gleichwohl eine Einheit erkennen läßt, die sich in der Verschränkung von Ethos und Recht in Fragen der Wirtschaftsordnung als ethische Substanz der biblischen Überlieferung ausformuliert. “Recht und
Ethos bleiben, der Ausdifferenzierung des Ethos aus dem Recht zum
625
Trotz, stets miteinander verbunden.”
Das Ethos entfaltet sich als ein
Ethos der Gerechtigkeit, das Eigeninteresse und Gemeinwohl ausbalancieren will.
Eckart Otto nennt den sozialen Ausgleich durch eine Verschränkung
von Eigennutz und Gemeinwohl eine Universalie aller Ökonomien, die in
einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang mit der christlichjüdischen Tradition stehen. Die Frage jedoch lautet: Ist diese Verschränkung von Eigennutz und Gemeinwohl bereits ein Motiv der Wirtschaftsethik der Tora gewesen? Was meint die Spannung von Eigennutz
und Gemeinwohl? Adam Smith (1723-1790) hat als einer der ersten
Ökonomen den Eigennutz zwar ethisch legitimiert, jedoch die Legitimati622
623
624
625
E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 281f.
Ebd. 289.
Ebd. 288.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 265.
219
on an Bedingungen gebunden. Diese ethische Legitimation konnte er
erst durch eine Argumentation erreichen, nach welcher der Eigennutz der
Vielen sich zur Summe des Gemeinwohls aller addiere. Smith argumentierte gleichsam auf zwei Ebenen, hielt jedoch am gesellschaftlichen Ziel
des Gemeinwohls fest. Erst dadurch konnte eine Wertung des Eigennutzes als Untugend aufgehoben werden. Zum Klassiker wurde sein
Standardwerk Reichtum der Nationen (1776), nicht aber seine siebzehn
Jahre zuvor veröffentlichte moraltheologische Abhandlung Theorie der
626
ethischen Gefühle (1759) . Die integrative Konzeption von Ethik und
Ökonomie bei Adam Smith wurde in der ökonomischen Theoriebildung
nicht rezipiert. Vielmehr wurde er entgegen den Anschauungen in seiner
Abhandlung Theorie der ethischen Gefühle zum Gewährsmann eines
ökonomischen Handelns, in dem der Eigennutz sich als kategorischer
Imperativ einer auf Konkurrenz basierenden Markwirtschaft aufspielen
konnte. Die Tora will Motivation und Ziele zusammenhalten, indem sie
durch ein Ethos der Brüderlichkeit zur Solidarität motivieren will. Wirtschaftliches Handeln besteht nach Adam Smith darin, “lediglich nach ei627
genem Gewinn” zu streben. Wenn Eckart Otto den Ausgleich von Eigennutz und Gemeinwohl als wirtschaftshistorische Universalie ausmacht, projiziert er die ethische Voraussetzung der liberalen Marktökonomie der Moderne in die Zeiten des Alten Israel zurück. Eine Kategorie
“Eigennutz”, die sich zu einem Gemeinwohl aller summiere, ist der Tora
fremd. Was Eckart Otto eine Universalie der Ökonomien nennt, ist lediglich ein tragendes Motiv der liberalen Marktwirtschaft. Das liberale Verständnis von Markt und Ökonomie wird gleichsam verewigt, wenn es als
ökonomische Universalie verstanden und zur Grundlage bereits der
Ökonomie des Alten Israel erklärt wird.
Die Tora ist in ihrer Wirtschaftsethik sehr konkret, wenn es darum
geht, Gerechtigkeit aufzurichten. Das Wirtschaftsrecht der Tora kennt Institutionen und Maßnahmen, die regulierend in ökonomische Abläufe
eingreifen. Deshalb ist Rainer Albertz zuzustimmen, der den wirtschaftsethischen Gehalt der Tora in der Unterbrechung wirtschaftlicher
Sachzwänge ausmacht und die Regulierungen der Wirtschaft in der Tora
als Institutionen der Gerechtigkeit “gegen die unterdrückenden Zwänge
628
wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit” versteht. Zu diesen Regulierungen
der Wirtschaft gehören u.a. folgende Institutionen: das Zinsverbot (Ex
22,24; Dtn 23,20ff.; Lev 25,35ff.), der Schuldenerlaß (Dtn. 15,1f), das Jo626
627
628
Frankfurt 1949.
A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seine Ursachen.
Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung herausgegeben von
Horst Claus Recktenwald, 6. Aufl. München 1978, 371.
R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 309.
220
beljahr (Lev 25,10ff). Der Sabbat unterbricht die Zeit und begrenzt den
Zugriff der Ökonomie auf die Zeit. Nicht lediglich Ausgleichsmechanismen zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, sondern eine Regulierung
des Marktes will die Wirtschaftsethik der Tora erreichen, indem sie in die
Mechanismen des Marktes eingreift und die Marktgesetze selber reguliert. Nicht allein die Tatsache, daß es soziale Ausgleichsmechanismen
gibt, sondern wie sie wirken, mit welchen Regeln, vor allem aber zu wessen Nutzen und Interesse, ist von Bedeutung. Auf diese Aspekte jedoch
geht E. Otto nicht ein.
Während Eckart Otto der bis in die Moderne reichenden Wirkungsgeschichte alttestamentlicher Motivik nachgeht, fragt Eilert Herms in seinem Beitrag zur bibeltheologischen Begründung theologischer Wirtschaftsethik nach einer gegenwartsbezogenen Relevanz biblischer Sozialtradition, die nicht in der Applikation der Wirtschaftsregeln der Tora bestehen kann. Welche Begründungen kann die biblische Überlieferung für
ökonomisches Handeln bieten? Wie Eckart Otto fragt auch Eilert Herms,
ob den biblischen Regeln wirtschaftlicher Interaktion eine universale Regel zugrunde liege, die über den Zeitkontext der Bibel hinausreiche. Eilert
Herms eruiert zwei solcher universal gültigen Grundregeln in der Bibel,
die allen möglichen wirtschaftlichen Tätigkeiten zugrunde liegen und zugleich auch inhaltlich bestimmte Vorzugskriterien zur Geltung bringen.
1. Regel: Die Regel der Gerechtigkeit
“Diese Grundregel des gerechten Wirtschaftens zielt nicht auf Gleichheit
des Besitzes, sondern auf etwas anderes: nämlich die Regeltreue in der
Interaktion, den Verzicht auf Übervorteilung und die Wahrung einer
629
gleichberechtigten Reziprozität aller Beteiligten.”
Eilert Herms will die
Gerechtigkeitsregel verstanden wissen als eine Regel, die nicht nur für
wirtschaftliche, sondern für jede Art von Interaktion gilt. Wirtschaftliche
Gerechtigkeit ist deshalb gesellschaftlich eingebettet und Moment einer
gesamtgesellschaftlichen Ordnung, die insgesamt der Regel der Gerechtigkeit folgt.
2. Regel: Die Regel der bewußten Relativierung des Wirtschaftens auf
die Bedingungen und Ziele der Gesamtexistenz hin
Der Gottesbezug relativiert die Ansprüche der Ökonomie genauso wie al630
le anderen Loyalitäten und Verpflichtungen des Menschen.
Die beiden zunächst abstrakt anmutenden Grundregeln sind von praktischer Bedeutung. Sie beziehen sich zwar nicht direkt auf wirtschaftliches Handeln, sorgen aber dafür, daß wirtschaftliches Handeln in gesell629
630
E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 97.
Ebd. 98f.
221
schaftlichen Zielen eingebettet bleibt. Von dieser Grundlage her wirken
sie auf die Ordnungsgestalt der Wirtschaft und können diese letztlich
durch Recht gestalten. Interessant an der Argumentation von Eilert
Herms ist, daß er das Spezifikum christlicher Wirtschaftsethik in universal gültigen und materialen ethischen Gehalten ausmacht. Das aber bedeutet, daß zwischen biblischer Ethik und Fragestellungen der Wirtschaftsethik materialethische Verbindungen hergestellt werden können.
In der Tora gibt es einen konstitutiven Zusammenhang zwischen
631
“Ethos und Recht” . Erst diese Verschränkung sichert, daß das Ethos
nicht in die Beliebigkeit des einzelnen oder eines individuellen Bewußtseins gestellt bleibt, sondern zu einem Rechtsanspruch gerade auch der
sozial und ökonomisch Schwachen wird. Der Arme ist ein Rechtsträger,
der ein Recht darauf hat, daß ihm Barmherzigkeit eben in der Gestalt von
Rechtsansprüchen zuteil wird. Er ist Subjekt und nicht bloßes Objekt der
Barmherzigkeit der Starken. Darin entfaltet sich der spezifische Inhalt
des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs, der Gerechtigkeit aus der Perspektive des Armen wahrnimmt. Auch wenn Eilert Herms materialethisch theologische Ethik qualifizieren will, so ist dennoch kritisch anzumerken, daß
er den Rechtsaspekt biblischer Ethik übergeht. Letztlich lassen sich dann
wirtschaftsethische Positionen legitimieren, die mit neoliberalen Forderung nach Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung kompatibel
sind: Der Neoliberalismus hat zwar ein Interesse an Ethik; er braucht sie
auch, denn er will den rechtlichen Rahmen des Wirtschaftens reduzieren.
Rechtliche Regulierungen werden als Beschränkung der Freiheit des
Marktes wahrgenommen. Diese Absicht gerät jedoch in ein Dilemma,
denn der Markt braucht trotz aller Ablösung von rechtlichen Beschränkungen Sicherheiten für seine Funktionsfähigkeit. Eine Ethik, die nicht in
Rechtsansprüche überführt wird, erscheint daher als Ausweg aus diesem
Dilemma. Ethische Orientierungen dienen dann als Ersatz für die fehlende rechtliche Regulierung.
631
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 265.
222
7. BIBEL IN DER WIRTSCHAFTSETHIK:
ZUR REZEPTION BIBLISCHER TRADITIONEN IN
KIRCHLICHEN ERKLÄRUNGEN
Immer mehr Kirchen sehen sich auch in den Industriegesellschaften mit
sozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert, die längst überwunden schienen. Auf diese sozialen Verwerfungen und ökonomischen Krisen haben die Kirchen in den letzten Jahren mit zahlreichen Erklärungen,
632
Hirtenbriefen oder Sozialworten reagiert. Welche Rolle nehmen in diesen Äußerungen biblische Bezüge ein? Wie nehmen die Kirchen in ihren
wirtschaftsethischen und sozialethischen Verlautbarungen die biblische
Tradition auf?
Aufsehen erregte 1985 der Hirtenbrief der US-Bischöfe mit dem Titel
633
Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle , der wie die wirtschaftsethische
Erklärung der protestantischen Church of Christ aus dem Jahre 1989
634
Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit und die 1985
veröffentlichte Studie der anglikanischen Kirche unter dem Titel Faith in
632
633
634
Vgl. die Übersicht in: F. Segbers, Soziale Marktwirtschaft - Lösung oder Teil der Krise? In: Die
Kehrseite der Medaille. Ein Glaubensbrief über die Wirtschaft von christlichen Gruppen und
Organisationen aus den Niederlanden, Nachwort zur deutschen Ausgabe, Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Reihe B Nr. 23, Heidelberg
1995, 68ff. sowie den Überblick über kirchliche Äußerungen in: M. Huhn u. F. Segbers u. W.
Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. - Anhang, 165-169.
Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA
“Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle”. Aus deutscher Sicht kommentiert von F. Hengsbach,
Freiburg 1987. Ausführliche Analyse bei: H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf
dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993.
Eine 1. Fassung veröffentlicht in: epd-Dokumentation Nr. 13 / 1989; Schlußfassung in einer
Dokumentation der Ev. Akademie Iserlohn (1989).
223
635
the City
im Kontext der neoliberalen Wirtschaftspolitik von Ronald
Reagan und Margaret Thatcher zu lesen ist. 1987 begann der Ökumenische Rat der Kirchen mit einem Studienprogramm, das 1992 in eine Erklärung zur Ökonomie unter dem Titel Leben und volle Genüge für alle.
636
Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft mündete. Die österreichischen Bischöfe veröffentlichten 1990 einen Sozialhirtenbrief,
637
dem ein fast zweijähriger Konsultationsprozeß vorausgegangen war.
Nur wenige Jahre nach der Wende suchte die Evangelische Kirche in
Deutschland 1991 mit der Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz. Wirt638
schaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft
einen Beitrag
zur Debatte um die Fragen der Wirtschaftsordnung zu leisten. Christliche
Gruppen und Organisationen aus den Niederlanden haben 1992 einen
Glaubensbrief über die Wirtschaft unter dem Titel Die Kehrseite der Me639
daille geschrieben. Die Sozialkommission der Französischen Bischofskonferenz legte 1993 eine Erklärung mit dem Titel Face au chomage 640
changer le travail(dt.“Angesichts der Arbeitslosigkeit - Arbeit ändern”)
vor und lud die gesellschaftlichen Kräfte zu einer Debatte über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft ein. Im Herbst 1994 gaben die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD) eine Diskussionsgrundlage für einen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in die gesellschaftliche Öffentlichkeit und
reihten sich mit diesem Text in die lange Reihe ähnlicher Projekte anderer europäischer Kirchen ein. Das Neue sind nicht die eingebrachten
Vorschläge, sondern das Verfahren. Die Kirchen treten nämlich nicht mit
einem fertigen Text einer Denkschrift oder eines Hirtenwortes an die Öffentlichkeit, sondern laden zu einem Konsultationsprozeß ein, der ein
641
endgültiges Wort der Kirchen in Deutschland vorbereiten soll. Vorbild
635
636
637
638
639
640
641
Faith in the City. A call for action by Church and Nation. The Report of the Archbishop of Canterbury´s Commission on Urban Priority Areas, London, published by the General Synod of the
Church of England, 1985.
Veröffentlicht in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992.
Hrsg. vom Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 1990.
Gütersloh 1991.
Veröffentlicht mit einem Nachwort von Franz Segbers, FEST, Heidelberg 1995.
Commission sociale de l´épiscopat, Face au chomage - changer le travail. Déclaration de la
Commission sociale, Paris 1993.
Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage über ein gemeinsames Wort der Kirchen, hg. vom Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Vgl. dazu den Kommentarband: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit. Kirchliche und gewerkschaftliche Beiträge zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Mit dem gemeinsamen Sozialwort der Kirchen, Reinbek
1995; vgl. auch die Dokumentation der Stellungnahmen zum Konsultationsprozeß in: epdDokumentation Nr. 15/1995 (Presseübersicht) sowie epd-Dokumentation Nr. 16/1995 (Tagung
in der Sozialakademie Friedewald und Stellungnahme des DGB-Bundesvorstandes) sowie die
Dokumentationen, die vom Rat der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam
224
für das konsultative Verfahren waren die Konsultationsprojekte der Österreichischen Bischofskonferenz für das Sozialwort und der Wirtschaftshirtenbrief der US-amerikanischen Bischöfe, der nach drei Diskussionsentwürfen veröffentlicht wurde. Auch der Erklärung des ÖRK Leben und
volle Genüge für alle. Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft (1992) ging ein mehrjähriger Konsultationsprozeß voraus. Wie
wenig er jedoch in Deutschland wahrgenommen wurde, zeigt sich daran,
daß er nicht einmal als Vorbild für den Konsultationsprozeß in Deutschland erwähnt wurde. 1997 wurde als Ergebnis des Konsultationsprozesses das Gemeinsame Wort der Kirchen in Deutschland unter dem Titel
642
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit veröffentlicht.
1998
haben auch die Schweizer Bischofskonferenz und der Schweizerische
Evangelische Kirchenbund ein vergleichbares Konsultationsverfahren zur
643
sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz eröffnet.
Interessant ist, daß die Kirchen in fast all diesen Erklärungen nicht allein sozialethisch argumentieren oder biblische Bezüge lediglich zur Illustration der Argumentation herstellen. Es zeichnet sich eine Wende in
der Begründung des sozialethischen Argumentierens ab: Es gibt einen
Aufbruch zu einer neuen Aufmerksamkeit für das biblische Argument bei
der christlichen Urteilsbildung in wirtschafts- und sozialethischen Fragen.
Wie aber nehmen diese Verlautbarungen der Kirchen Einsichten und Kategorien der biblischen Tradition auf? Anhand von drei Veröffentlichungen soll exemplarisch gezeigt werden, wie die Kirchen das biblische Argument zur wirtschaftsethischen Urteilsbildung nutzen.
642
643
herausgegeben wurden: Wissenschaftliches Forum zum Konsultationsprozeß (Gemeinsame
Texte Nr. 7, Bonn, Hannover - 1996); Aufbruch in einer solidarische und gerechte Zukunft
(Gemeinsame Texte Nr. 8, Bonn, Hannover - 1997).
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in
Deutschland, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, Hannover 1997. Erste Kommentare: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, eingeleitet und kommentiert von M. Heimbach-Stein u.
A. Lienkamp, München 1997; F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland. Das Sozialwort der Kirchen und das DGB-Grundsatzprogramm im Vergleich; F.
Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring - Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel. Was
kommt nach dem Sozialwort der Kirchen? Freiburg 1997; K. Gabriel u. W. Kremer (Hg.), Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt. Der Konsultationsprozeß und das Sozialwort “Für eine
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”, Münster 1997; M. Huhn u. F. Segbers u. W. Sohn
(Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar; die Zeitschrift für evangelische Ethik 41 (1997) Heft 4 widmete ein ganzes Themenheft dem Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen.
Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Welche Zukunft
wollen wir? Diskussionsgrundlage für eine ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz, Bern, Freiburg 1998.
225
7.1 Studie der United Church of Christ:
“Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit”
Diese Erklärungen der Kirchen lassen sich nach einem analytischen,
normativen oder perspektivischen Umgang mit biblischen Motiven und
Traditionen differenzieren. Der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle und die Erklärung der US-amerikanischen protestantischen
United Church of Christ (UCC) Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und
644
Gerechtigkeit können als Beispiele für eine sehr ausdrückliche analytische und perspektivische Orientierung an der biblischen Tradition gelten.
Die UCC stellt das biblische Bild von Gott als einem Ökonomen, einem
“Haushalter”, in den Mittelpunkt. Gott ist wie ein Ökonom, der für das Leben sorgt. Sehr elementare wirtschaftsrelevante Aussagen, die sich ausdrücklich auf die Tora als Hausordnung des Haushaltes Gottes beziehen,
schließen sich dem biblischen Bild von Gott als einem Ökonomen an.
“Wiederholt betont der Bund des Alten Testaments die Bedürfnisse und
Rechte derer, die oft aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Die
Regeln des göttlichen Haushaltes fordern, daß den Armen (2 Mos 23,6; 5
Mos 15,7-11), den Fremden (2 Mos 22,21-24), den Gästen (5 Mos
10,19) und den Witwen und Waisen (2 Mos 22,22) besonderer Schutz
gewährt wird und Zugang zum Lebensraum des Haushaltes um der
Gnade Gottes willen, die Israel gewährt wurde (“denn ihr wart Fremde im
645
Lande Ägypten”, 2 Mos 22,20).”
Die UCC steht in einer ganz ausdrücklichen Tradition der Bundestheologie reformatorisch-reformierter Prägung und geht von einer verpflichtenden Ordnung des Bundes Gottes aus. Aus diesem biblischen Impuls
heraus versucht die Erklärung, Grundregeln für wirtschaftliche Gerechtigkeit zu formulieren. “In der Ausübung von Gerechtigkeit im Rahmen
des öffentlichen Wirtschaftssystems wird der Bund des menschlichen
646
Haushalts mit Gott erfüllt und Gott wird verehrt.” Ein biblisch begründeter Begriff von gerechter Wirtschaft wird so aus dem biblischen Kontext
in den Kontext einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, wie sie in den USA
praktiziert wird, übersetzt. Das biblische Bild einer Ökonomie als Haushalt kann dadurch zu einem kritischen Gegenbild einer Ökonomie werden, die dem Markt unbedingten Vorrang vor der Politik einräumt. “Verglichen mit der Vision des göttlichen Haushaltes zeigt das Leiden innerhalb unseres eigenen Haushaltes, daß wir schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen gegenüberstehen, die die Märkte nicht vermindert ha-
644
645
646
United Church of Christ (UCC), Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit (Erklärung), Hrsg. von der Ev. Akademie Iserlohn 1989.
Ebd. 4.
Ebd. 21.
226
647
ben.” Die Erklärung der UCC stellt einen Versuch dar, die wirtschaftsethische Relevanz der biblischen Tradition so auszulegen, daß aus dem
biblischen Gerechtigkeitsbegriff Kriterien für wirtschaftliche Gerechtigkeit
entwickelt werden, die einen Maßstab setzen, “an dem man gegenwärtige Wirtschaftssysteme messen kann, und geben eine Vision davon, wie
größere wirtschaftliche Gerechtigkeit in der Welt von heute zu schaffen
648
ist.”
Der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle macht ebenso
wie die Erklärung der UCC Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit Gerechtigkeit zum Hauptkriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse. Im US-amerikanischen Kontext neoliberaler
Wirtschaftspolitik, die jegliche Orientierung an Gerechtigkeitskriterien
verdrängt, erkennen die Kirchen ihrerseits neu, daß die biblische Gerechtigkeit einen Schlüsselbegriff christlicher Orientierung darstellt.
7.2. Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland:
“Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln
in Verantwortung für die Zukunft”
Ganz anders die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft (1991). Sie fragt
zwar auch nach biblischen Motiven und Richtungsimpulsen für das, was
Gottes Wille auch für den Bereich der Ökonomie ist (Ziff. 103-107).
Haushalterschaft im Lebensraum der Erde, Feiertag und Arbeit, Armut
und Reichtum, Eigentum, Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Gemeinwohl
sollen die biblischen Richtungsimpulse für die ethische Verantwortung
auslegen. Doch die biblischen Bezüge bleiben eher beliebig. Unklar ist,
welche biblische Tradition aus welchen Gründen beerbt wird. So bleibt
auch der Ertrag der biblischen Richtungsimpulse und Motive eher blaß
und unbestimmt. Der Zugang zu biblischen Motiven ist normativ. Die
analytische oder perspektivische Dimension biblischer Tradition wird
kaum genutzt. Hier rächt es sich, daß die Denkschrift verschiedene biblische Impulse unvermittelt nebeneinanderstellt, ohne diese als Entfaltung
eines Grundmotivs oder gemeinsamen Ethos zu verstehen. Die UCC hat
ihr wirtschaftsethisches Urteil an den biblischen Zentralbegriff der Gerechtigkeit gebunden und diesen Gerechtigkeitsbegriff auf dem Hintergrund neoliberaler Politik entfaltet, die sich von einer Orientierung an Gerechtigkeit als Maßstab ethischen Handelns verabschiedet hat.
647
648
Ebd. 16.
Ebd. 21.
227
Biblisch gut begründet, werden die Armen und Schwachen als Maßstab für die Korrektur und Weiterentwicklung der Marktwirtschaft bezeichnet (Ziff. 171). Doch wenn es darum geht, Perspektiven und Folgerungen aus den biblischen und ethischen Urteilen zu entwickeln, dann
bleibt das biblische Urteil kaum mehr identifizierbar. Da ist zwar von der
“Übermacht des Ökonomischen” (Ziff. 159 ff) die Rede. Die “Vergötzung
der Wirtschaft” (Ziff. 162) trete überall und immer dort auf, wo von der
Wirtschaft mehr verlangt werde, als sie geben könne. Die Bibel jedoch
meint mit “Vergötzung” nicht ein Problem des Zuviel. Es geht um die Alternative Gott oder Mammon (Lk 17,10; Mt 6,24). Die Ökumene hat gelernt, die Verantwortung für die Wirtschaft zum Thema nicht allein der
Ethik zu machen, sondern auch der Theologie, der Rede also von Gott
oder den Götzen. Auf diese ökumenischen Einsichten läßt sich die
Denkschrift der EKD erst gar nicht ein und bezieht dezidiert eine Gegenposition. “Fragen der Wirtschaftsordnung sollen damit nicht in den Rang
von Bekenntnissen gestellt werden”(Ziff. 97).
Die Denkschrift stellt ihren Teil III unter die Überschrift “Biblische Motive und Richtungsimpulse” und betont grundsätzlich: “Die Bibel ist jedoch
kein Rezeptbuch, aus dem unmittelbar Anweisungen für bestimmte
Maßnahmen in Wirtschaft und Politik entnommen werden können. In der
Auslegung der Bibel geht es um die „Erneuerung unseres Sinnes‟, und
um die Veränderung unserer Wahrnehmung dessen, was wir tun sollen”(Ziff. 106). Die Denkschrift deutet die biblischen Motive und Richtungsimpulse verhaltens- und individualethisch. Haltungen sollen verändert werden. Auch wenn die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung
nicht in Abrede gestellt werden soll, so ist es dennoch eine Verkürzung
der biblischen Tradition, wenn sie nur als Appell zur “Erneuerung unseres
Sinnes” ausgelegt wird. Die Bibel beläßt es nicht allein bei einer individualethischen Veränderung, deshalb hat die Tora Institutionen der Gerechtigkeit (Sabbat, Sabbatjahr, Jobeljahr u.a.) geschaffen. Von dieser
Einsicht her hätte die Denkschrift den institutionellen Rahmen als ethische Gestaltungsaufgabe ansprechen können.
Faktisch jedoch verzichtet die Denkschrift auf eine Konkretion der biblischen Richtungsimpulse. Zur Thematik “Gerechtigkeit und Gemeinwohl”
(Ziff. 151 - 164) formuliert die Denkschrift beispielsweise zunächst die
Grundthese (Ziff. 151), nach der Gerechtigkeit dann herrsche, “wenn die
öffentlichen Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens so bestellt sind,
daß alle ihnen zustimmen können” (Ziff. 151). In der folgenden Ziff. 152
werden nach der dicta - probantia - Methode drei Bibelverse aufgezählt,
die jedoch lediglich durch das gemeinsame Stichwort “Gerechtigkeit”
miteinander verbunden sind (Spr 14,34; Am 5,24; Mt 5,45). Im erläuternden Text heißt es dann: “Der Einsatzpunkt der Suche nach Gerechtigkeit
228
ist nicht das Anprangern von Ungerechtigkeit, sondern - in der Orientierung am Wohl der Armen - die Bereitschaft, denen gerecht zu werden,
die der Hilfe und der Unterstützung bedürfen” (Ziff. 155). Der von der
Denkschrift als Beleg genannte Prophet Amos ist jedoch geradezu Repräsentant einer Prophetie, die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft
anprangert und soziale Kritik übt. H.W. Wolff charakterisiert den Propheten Amos deshalb auch als einen Mann, der “Protest gegen das gesell649
schaftliche Leben seiner Zeit” ausspricht, die Recht und Gerechtigkeit
mit Füßen tritt (vgl. Am 2,6ff.; 3,16; 5,11; 6,11). Die Denkschrift stellt also
nur einen äußerlichen und zudem sinnentstellenden Zusammenhang
zwischen dem Grundthema “Gerechtigkeit” und den Bibelzitaten her. Die
biblischen Bezugstexte sind allenfalls als Motto zu lesen, finden aber argumentativ keine Aufnahme. Dadurch nimmt sich die Denkschrift selber
die Möglichkeit, biblische Impulse wirklich zu rezipieren.
7.3 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der
Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in
Deutschland:
“Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”
Die Kirchen haben für ihre ökumenische Erklärung zur wirtschaftlichen
und sozialen Lage in Deutschland eine gemeinsame Basis in der Bibel
gefunden. Sie äußern sich nicht bloß wirtschafts- und sozialpolitisch,
sondern kommen aufgrund der gemeinsamen biblischen Basis für das
ethische Urteil zu gesellschaftspolitisch bedeutsamen Aussagen. Wie nie
zuvor haben sich die Kirchen in ihrem gemeinsamen Wirtschafts- und
Sozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit ausdrücklich
der biblischen Grundlagen vergewissert (Ziff. 91 - 125). Darin zeigt sich,
daß es trotz weiterhin bestehender dogmatischer Differenzen in sozialethischer Hinsicht eine gesellschaftspolitisch relevante Ökumene gibt.
Der bibeltheologische Teil III. (Ziff. 91 - 125) ist eine kurzgefaßte ökumenische Wirtschafts- und Sozialethik. Das Wort der Kirchen kann als Beispiel für ein kontextuelles theologisches und sozialethisches Reden für
Deutschland gelten. Es zeigt deutliche Einflüsse der Theologie der Befreiung, die in der Vergangenheit nur zu oft auf kirchlichen Widerstand
gestoßen ist. Der Impuls der lateinamerikanischen Theologie prägt also
649
H.W. Wolff, Die Stunde des Amos, Prophetie und Protest, München 1969, 54; H.W. Wolff.
Dodekapropheton 2 Joel und Amos, Biblischer Kommentar Altes Testament. Bd 14/2, Neukirchen 1969; W. Rudoph, Joel - Amos - Obadja - Jona. Kommentar zum Alten Testament, Bd.
13/2 Gütersloh 1971; K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, in: H.W.
Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 242-257; M.
Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München 1991.
229
auch europäische Theologie. Nur angemerkt werden soll, daß es reizvoll
wäre, genau zu untersuchen, wo die amtskirchliche Rezeption der Theologie der Befreiung diese korrigiert und angepaßt hat. Diese Einflüsse
aus der Theologie der Befreiung zeigen sich besonders in folgenden drei
Aspekten: Zunächst im methodischen Dreischritt
“Sehen-UrteilenHandeln” zur sozialethischen Urteilsbildung, bei dem das Kirchenwort die
befreiungstheologische Hermeneutik beerbt (vgl. Ziff 107). Zweitens verdankt das Sozialwort der Kirchen der Theologie der Befreiung den hermeneutischen Ausgangspunkt in einer Option für die Armen (vgl. Ziff.
105ff.). Drittens wählt das Wort der Kirchen wie die Theologie der Befreiung das Exodusgeschehen als zentrale Orientierung sozialethischen und
theologischen Denkens (vgl. 97).
Die Kirchen regen an, das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausforderungen zusammenzulesen: Diese Vorgehensweise erlaubt erstens,
“ethische Orientierungen für das eigene Handeln” (Ziff. 108) zu gewinnen
und kann zweitens ethische Einsichten formulieren, “die sich auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft beziehen” (Ziff. 108). Bibellektüre
soll also für das Individuum handlungsmotivierend sein und einen kritischen Maßstab zur Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen abgeben.
Zwar sprechen die Kirchen in Deutschland erstmals in einem kirchenamtlichen Text von der Option für die Armen. Doch was das Wort der
Kirchen die Option der Armen, Schwachen und Benachteiligten nennt,
ist um die eigentliche Sinnspitze gebracht, wie sie in der Theologie der
Befreiung entwickelt wurde. Fast durchgängig wird die Option für die Armen zu einer Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten erweitert. Die in Theologie und Sozialethik mit guten biblischen Gründen
eingeführte Formulierung “Option für die Armen” soll durch die Zufügung
650
weitere Attribute wohl bewußt entschärft werden.
Die Option für die Armen wie sie Theologie und Sozialethik der Theologie der Befreiung verstehen, hat immer die Ermächtigung oder das
Subjektwerden der Armen gewollt. Die Option für die Armen versteht sich
als eine partizipative Option, bei der die Armen Subjekt sind und für die
651
Einlösung ihrer Projekte selber einstehen können. Diese Sinnspitze ist
politisch und gesellschaftlich relevant, denn erst dadurch wird die Option
für die Armen einer patriarchalen Fürsorge enthoben. Dieses Verständ-
650
651
Vgl. meine Kritik an derselben Tendenz, die sich bereits in der Diskussionsgrundlage abgezeichnet hat: F. Segbers, Eine Welt. Hausordnung für den globalen Markt, in: F. von Auer u. F.
Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 289 - 292.; ders., Ökumene auf der Bremsspur? Zum
Sozialwort der Kirchen, in: epd-Dokumentation Nr. 16 vom 10.4.1995, 31-36.
vgl. G. Collet, “Den Bedürftigen solidarisch verpflichtet”. Implikationen einer authentischen
Rede von der Option für die Armen, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften Bd. 33,
Münster 1992, 67-84.; P. Rottländer, Option für die Armen; C. Boff u. J. Pixley, Die Option für
die Armen, 235-240, 244-251; H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 151-166.
230
nis der Option für die Armen wird im Wort der Kirchen nicht rezipiert.
Dieses Defizit hat zur Folge, daß auch die Akteure und Träger kaum genannt werden. Das Wort der Kirchen ist deswegen in einem eigentümlichen Sinne subjektlos. Die Option “hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstandes leben. (...) Sie
verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität” (Ziff. 107). Friedhelm Hengsbach und Mitautoren kritisieren, daß das, was die Kirchen “Option für die Armen” nennen, ein
ethischer Appell an die Reichen, Starken und gesellschaftlich Integrierten
652
sei . Das Wort der Kirchen bleibt hinter den biblischen Einsichten zur
Begründung einer Option für die Armen zurück. Es hat den Anschein,
daß nunmehr, da der Einfluß der Theologie der Befreiung zurückgegangen ist, kirchenoffiziell zentrale theologische Begriffe der Theologie der
Befreiung zwar aufgenommen werden, jedoch um den Preis der Abschwächung.
In einem zweiten leitmotivischen Argumentationsstrang neben dem einer Option für die Armen bezieht sich das Kirchenwort auf ein Ethos der
653
Barmherzigkeit (Ziff. 13, 96, 97, 103, 248, 249). In ihrem Kommentar
nennen Friedhelm Hengsbach und Mitautoren die “Ethik des Erbarmens”
654
eine theologische Meta-Ethik.
Gottes Erbarmen drängt die Menschen
dazu, selbst barmherzig zu sein. Sein Erbarmen hat Gott in der Befreiung
aus Ägypten gezeigt. Die Exoduserfahrung wird zur grundlegenden Erfahrung des Gottesvolkes, das sich eine Lebensordnung gegeben hat,
welche die im Exodus geschenkte Freiheit bewahren will (Ziff. 97). Diese
biblische Linie reicht bis zu Jesus und seiner Einladung “zu einem Leben,
das ganz auf Gott und seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit setzt und
sie im mitmenschlichen Leben bewährt” (Ziff. 99). Aus der Meta-Ethik
des Erbarmens werden zwei Handlungsorientierungen abgeleitet: Die
“Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” (Pkt. 3.3.2, Ziff.
105 - 107) und die Gerechtigkeit als “Ordnungsprinzip der Gesellschaft”
(Ziff. 109).
Die Kirchen verweisen auf eine biblische und christliche Tradition, die
“eine Kultur des Erbarmens” (Ziff. 13) entwickeln kann. “Den Blick für das
fremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur. Erbarmen im Sinne
der Bibel stellt dabei kein zufälliges, flüchtig-befristetes Gefühl dar. Die
Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. Dieses Erbarmen
652
653
654
F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 83.
F. Segbers, “... im Gottesdienst hat nicht nur der Choral, sondern auch der Schrei der Armen
seinen Platz.” Zu einer Spiritualität der Gerechtigkeit von Mystik und Politik, in: M. Huhn u.
W. Sohn u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 43-48.
F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 81.
231
655
drängt auf Gerechtigkeit”(Ziff. 13). Friedhelm Hengsbach und Mitautoren nennen das Leitmotiv des Erbarmens einen Fehlgriff, denn das Leitmotiv der Barmherzigkeit habe den Nachteil, daß es “für eine Bewertung
von Institutionen, Strukturen und Veränderungsprozessen nicht taugt und
dazu verleitet, die christliche Ethik auf eine Individualethik zu verkür656
zen” . Diese Befürchtungen teile ich nicht. Der biblische Befund gibt
nämlich keinen Anhalt für solche Einwände. Ein Ethos der Barmherzig657
keit ist Grundlage und Ausgangspunkt biblischer Ethik. In der prophetischen Tradition, in der Gesetzesliteratur und auch in den Psalmen zeigt
sich, daß der Gott des Erbarmens sich in der Bibel als Beschützer der
658
Schwachen und Hilflosen erweist. “Gott als der Barmherzige begründet ein Ethos der Solidarität und der Barmherzigkeit mit den Schwachen
659
in der Gesellschaft.” Dieses Ethos der Barmherzigkeit entfaltet sich in
den Schutzbestimmungen der Tora. Wie Gott das Recht der Schwachen
schützt, so soll auch der Mensch das Recht des Schwachen schützen.
Das sich zum Ethos entwickelnde Recht fordert die permanente Solidarität des wirtschaftlich Stärkeren mit dem Schwächeren. Das Ethos des
Erbarmens steht deshalb auch biblisch nicht in einem Gegensatz zu
strukturellen Aspekten der Gerechtigkeit. Das Erbarmen wird in der Bi655
656
657
658
659
In den Vorentwürfen und Vorarbeiten fehlt der Rekurs auf das Ethos des Erbarmens. Erst in der
Schlußredaktion, die von der Katholischen Bischofskonferenz und dem Rat der EKD verantwortet wurde, wurde dieser Bezug auf die Kultur und das Ethos des Erbarmens eingefügt. Diese Ergänzung trägt wohl die Handschrift des damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Landesbischof K. Engelhardt. Auf der EKD-Synode 1996 hatte er in seinem Rechenschaftsbericht ausführlich Bezug genommen auf diese Ethik des Erbarmens als eines christlichen Propriums. Vgl.
Bericht des Rates an die Synode der Ev. Kirche in Deutschland (Ratsbericht 1996), Borkum,
3.11.1996, Landesbischof Klaus Engelhardt, “Für eine Kultur des Erbarmens”, in: epdDokumentation Nr. 49/1996, 1-7. “Erbarmen” wird auch in der ökumenischen Sozialethik unter dem Einfluß orthodoxer Theologie zunehmend zu einem sozialethischen Zentralbegriff, der
nicht in einem Gegensatz zur strukturellen Gerechtigkeit steht. Die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 hat im “Basistext” dem Kapitel zur Wirtschaftsethik das
Motto vorangestellt: “Schutz der Schwachen - Wirtschaft im Zeichen von Barmherzigkeit” (A
27). “Im Spiegel der Barmherzigkeit Gottes erscheint unsere von engen Geldinteressen und forcierter Profitgier geprägte Wettbewerbsgesellschaft als zutiefst rücksichtslos und unbarmherzig.
Wir treten in den Kirchen für die Entwicklung ökonomischer Systeme ein, die auf den Schutz
der Schwachen in allen Teilen der Welt abzielen und auf die inhärenten Werte aller Menschen
gerichtet sind.” (A 28). Abgedruckt in: epd-Dokumentation Nr.35/1997, 10. “Erbarmen/Barmherzigkeit” kann als ein Paradigma ökumenischer Sozialethik verstanden werden.
Die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung 1997 in Graz nahm die Metapher einer
“Schule des Erbarmens” auf. “Barmherzigkeit” wurde als Zentralbegriff für eine Wirtschaftsethik entfaltet, die Widerstand gegen die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern leisten
will (vgl. Basistext A 27f., A 32 in: epd-Dokumentation Nr. 35/1997).
F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 88.
Vgl. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 84-86, 88f.; 156f.
Vgl. C. Boff u. J. Pixley, Option für die Armen, 62.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85.
232
bel “nicht als irgendeine mildtätige Wohltat gegenüber den Schwachen
660
angesehen, sondern als ein Akt der Aufrichtung von Gerechtigkeit.”
Die Kirchen stellen ganz in der Tradition der Befreiungstheologie die
Exodustradition an den Anfang ihrer sozialethischen Überlegungen. “Das
Volk Gottes lebt aus der Erinnerung an die Geschichte des Erbarmens
Gottes” (Ziff. 96). Diese Erinnerung wird eine Motivation “zur barmherzigen und solidarischen Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteiligten” (Ziff. 96). Die Exoduserfahrung nennen die Kirchen eine
“grundlegende geschichtliche Erfahrung” (Ziff. 97). Die Zehn Gebote
werden als Lebensordnung verstanden, die Weisungen zu einem Leben
in Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit darstellen. “Als
solche sind sie kein biblisches Sonderethos; sie nehmen vielmehr allgemeinmenschliche Einsichten auf, bestätigen und bekräftigen sie aufgrund
der Erfahrungen in der Geschichte Gottes mit seinem Volk” (Ziff. 97).
Die einzelnen Elemente der Ethik der Hebräischen Bibel unterscheiden sich nicht substantiell von Ethiken ihrer altorientalischen Umwelt. In
Ägypten und in Mesopotamien gibt es wie in Israel auch ein Ethos der
661
Hilfe für den Schwächeren. Es gibt zwar zahlreiche Parallelen, aber ein
Unterschied fällt auf: Die biblische Ethik ist anders begründet. Die Elemente der biblischen Ethik sind anders zusammengesetzt und miteinan662
der verbunden.
Recht und Gerechtigkeit werden im altorientalischen
Recht nur dadurch vermittelt, daß Recht zeitweise außer Kraft gesetzt
wird. In Juda jedoch werden Recht und Gerechtigkeit durch das barmherzige Handeln Gottes garantiert, zusammengehalten und begründet.
“Damit war das Recht in Juda davor geschützt, in der staatlichen Organi663
sation aufzugehen und ihr dienstbar zu werden.”
Soziale und gesellschaftliche Reformen, aber auch Kritik der bestehenden Verhältnisse
konnten so zu einem permanenten und konsistenten Bestandteil israelitischen Rechts werden. Solidarität der Starken mit den Schwachen fand
darin eine viel wirksamere Rechtsbegründung. “Die judäische Idee eines Ethos der Gerechtigkeit führt über die Aporie der altbabylonischen
664
Außerkraftsetzung von Recht zugunsten der Gerechtigkeit hinaus.”
Nicht der König, Gott selber ist in der Tora Quelle des Rechts. Das Ethos
der Bibel ist immer staats- und gesellschaftskritisch. “Nicht die Einordnung in einen von König und Staat gesetzten Ordnungsentwurf läßt das
660
661
662
663
664
M. Welker, Gottes Geist, 117.
J. Assmann, Ma‟ at. Gerechtigkeit und Unterdrückung im Alten Ägypten, München 1990; E.
Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 86f.;143 - 152; 220-224.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88.
Ebd. 89.
Ebd. 89.
233
Ethos zu sich selbst kommen, sondern die im Anruf Gottes des Barm665
herzigen angesprochene Einsicht des je einzelnen Menschen.”
Neben dieser Differenz des biblischen zum altorientalischen und ägyptischen Ethos zeigt sich im Begriff der Heiligkeit des Volkes Israel das
Bemühen, ein unterscheidendes Ethos zu entwickeln. Israel ist durch den
Exodus geheiligt und ausgesondert worden (Lev 22,33). “Die Grundlage
aber, die das Gesellschaftsmodell erst funktionieren läßt, ist die innere
Haltung der Nächstenliebe (Lev 19), die auf den vordergründigen wirtschaftlichen Vorteil (Lev 25) verzichtet. Eine solche Haltung gewinnt der
Mensch nicht aus eigenem, ihm von Natur gegebenen Vermögen, sondern sie wird ihm erst durch Gott ermöglicht. Der heilige Gott heiligt sein
Volk, damit es sich in seinem Ethos heiligt. (...) Israel soll sich im Halten
666
der Gebote Gottes heiligen.”
Leider hat das Wirtschafts- und Sozialwort diese exegetisch unbestrittene Einsicht nicht rezipiert. Es hat sich
dadurch selber um einen spezifischen Beitrag im wirtschaftsethischen
Diskurs gebracht. Mit dem Verweis darauf, daß es kein biblisches Sonderethos gebe, verpaßt das Wort der Kirchen die Chance, die materialethischen Elemente des biblischen Ethos aufzunehmen und sie nach ihrer Tragweite für ökonomische und soziale Themenstellungen in der Moderne zu befragen.
Das Wort der Kirchen bezieht sich auf die prophetischen Traditionen
und auf die Gesetzestradition (Ziff. 98). Es fällt auf, daß das Kirchenwort
lediglich auf Bibelverse verweist, nicht jedoch deutlich macht, welche Inhalte angesprochen werden. Auf folgende Bibelverse wird verwiesen:
- Ex 22,20-26:
Waisen
- Ex 23,6-9:
Ausbeutungsverbot der Fremden, Witwen und
(V 20-22)
Zins- und Pfandverbot (V 24-26);
Verbot der Rechtsbeugung (V 6-8),
Rechtsschutz für den Armen (V 9);
- Lev 19,11-18.33f.:
Ethos der Individualethik in der Nächstenliebe
667
(V 11-18),
Verhalten gegenüber Fremden (V33f.);
- Dtn 15,7-11:
665
666
667
Kredithilfe an verarmte Israeliten, Leihen gegen
Ebd. 90.
Ebd. 257.
So ebd. 243f.; leider verweist das Wort der Kirchen in seiner Begründung des Doppelgebotes
der Gottes- und Nächstenliebe (Ziff. 103) nicht auf die Tora, sondern lediglich auf die ntl. Bezugsstelle bei Mk 12, 28-31 und verdrängt dadurch, daß atl. und ntl. Ethik verbunden sind,
auch wenn in Ziff. 99 davon die Rede ist, daß Jesu Botschaft und Auftreten auf der Linie der
Gottes- und Geschichtserfahrung seines Volkes liegt.
234
Pfand, Zuwendung zum verarmten Nächsten als
Pflicht (V 7-11);
- Dtn 24,17f.:
Recht der Armen.
Wie beerben die Kirchen die wirtschaftsethische Tradition der Tora?
Wichtige Elemente der biblischen Tradition, die sozial- und wirtschaftsethisch relevant sind, werden ausgespart. Das israelitische Eigentumsrecht mit seinen Eingriffen in sozio-ökonomische Prozesse durch das
Sabbat- und Jobeljahr fehlt. Das Wort der Kirchen erwähnt mit gutem
Grund die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG in Ziff.
143) und fordert auch eine “gerechtere Vermögensverteilung” (Ziff.
215ff.). Ein Verweis auf eigene biblische Traditionen für diesen sozialausgleichenden Umgang mit Eigentum hätte die Argumentation stützen
können. Die Sabbattradition wird ebenfalls nicht erwähnt, auch nicht in
dem Absatz, der sich mit der Sicherung des Sonntags beschäftigt (Ziff.
223). Insofern das Wort der Kirchen in seiner Begründung für die ethischen Perspektiven “das biblische Ethos als Gemeinschaftsethos” (Ziff.
103) versteht, nimmt es den biblischen Begriff von Gerechtigkeit sachgemäß auf und nennt ihn einen “Schlüsselbegriff der biblischen Überlieferung” (Ziff. 108). Auffallend jedoch ist, daß jene biblischen Traditionen,
die Instrumentarien des sozialen Ausgleichs kennen, ebensowenig rezipiert werden wie jene biblischen Traditionen, die eher utopischen Charakters sind.
Der biblisch und theologisch so gehaltvolle Begriff der Haushalterschaft klingt leider nur an. Kern der “verantwortlichen Haushalter668
schaft” ist, daß der Mensch das, was er mit der Schöpfung macht, wie
ein Hausverwalter verantworten muß. Daß er die Pflicht habe, als Sachwalter Gottes “haushälterisch und bewahrend” (Ziff. 123) mit der Schöpfung umzugehen, wird nur erwähnt. Insgesamt gerät der ökologische Aspekt zu kurz. Das Wort der Kirchen meint eingestehen zu müssen, daß
die “biblischen Aussagen kein ökologisches Ethos im modernen Sinn”
(Ziff. 124) enthalten. Allerdings entfaltet das Kirchenwort nicht, was unter
einem “ökologischen Ethos im modernen Sinn” zu verstehen sei. An dieser Stelle fällt das Wort der Kirchen weit hinter die ökumenische sozialethische Diskussion zurück, die gerade durch die Lektüre der biblischen
Tradition in älterem in der Bibel tradierten Wissen eine Aktualität erkennt,
668
Die “verantwortliche Haushalterschaft” wurde noch in der Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland erwähnt (Ziff. 15). Vgl.: R. Kessler, Keine Freiheit ohne materielle Grundlage, in: F.von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 107f.
235
die Perspektiven zu einer Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie
669
(Sabbattradition, Brachjahr, Jobeljahr u.a.) eröffnen können.
7.4 Zusammenfassung
Es lassen sich insgesamt drei unterschiedliche Grundmuster biblischer
Argumentation in den dargestellten wirtschaftsethischen Erklärungen der
Kirchen ausmachen. Die UCC (wie der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche
Gerechtigkeit für alle) nimmt die biblische Argumentation in einer Weise
auf, die eher analytisch und perspektivisch denn normativ zu nennen ist.
Auf der Folie der in der biblischen Tradition überlieferten Orientierungen
werden die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse kritisch
wahrgenommen und als Herausforderungen für Christen und Kirchen interpretiert, sich politisch zu engagieren. Die Realität des Neoliberalismus
führt zu einer Neuentdeckung von Gerechtigkeit als einer zentralen Orientierung christlicher und biblischer Ethik. Durch eine biblische Perspektive auf die Wirtschaft wird die ökonomische Realität selber zu einem Anliegen des Glaubens. Diese Erklärungen dokumentieren einen kirchlichen Aufbruch, der Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff christlicher Orientierung in wirtschaftsethischen Fragen zu begreifen gelernt hat. Der biblische Gerechtigkeitsbegriff mit seinen deutlichen Konturen schärft umgekehrt auch die Wahrnehmung ökonomischer Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit in der Gegenwart.
Die römischen Enzykliken geben eher das Gegenbild ab. Zwar kennt
Laborem exercens einen ausdrücklichen biblischen Bezug, jedoch nur im
Anhang. Spätere lehramtliche Verlautbarungen nutzen biblische Aussagen weiterhin eher wie einen Steinbruch für die eigene Argumentation.
Die biblische Tradition wird dabei nicht als eine eigenständige Erkenntnisquelle für wirtschaftsethisches Urteilen wahrgenommen. Centesimus
Annus (1991) verzichtet ganz auf einen biblischen Bezug. Die römischkatholische Kirche hat in der Enzyklika Laborem exercens (1981) erstmals eine ausdrücklich bibeltheologische Fundierung als Basis ihres
670
ethischen Urteilens gewählt. Laborem erxercens nennt es eine Grund669
670
Vgl. dazu M. Robra, Ökumenische Sozialethik, bes. 180ff.
Vgl. dazu J. Ebach, “damit er ihn bebaue und bewahre”. Die Aufnahme biblischer Texte zur
Arbeit in Laborem exercens, in: W. Klein u. W. Krämer (Hg.), Sinn und Zukunft der Arbeit,
Mainz, 1982, 48-59. Das Schwergewicht der biblischen Begründung liegt hier in der Rede vom
Menschen als dem Bild Gottes (Gen 1,26 f), im Herrschaftsauftrag an den Menschen (Gen
1,28), aber auch in den Fluchsprüchen über die aus dem Gottesgarten vertriebenen Menschen.
Laborem exercens wurde bei Erscheinen als eine Enzyklika gewertet, in der die Abkehr von naturrechtlicher Argumentation und die Hinwendung zu biblischen Quellen für die sozialethische
Urteilsbildung deutlich wurden.
236
linie der Soziallehre, daß die “menschliche Arbeit der entscheidende
Dreh- und Angelpunkt der gesamten sozialen Frage” (3, 2) ist. Daß Arbeit Bezugspunkt für die kritische Analyse ökonomischer Prozesse und
Institutionen ist, wird biblisch-normativ begründet. Centesimus annus
(1991) - erschienen zum 100. Jahrestag der ersten Sozialenzyklika - rezipiert nur noch die eigene Lehrtradition und weiß sich angesichts der
Ereignisse von 1989 in ihrer doppelten Frontstellung gegen Sozialismus
und Liberalismus bestätigt. Leider jedoch wird diese Linie von Laborem
exercens in späteren lehramtlichen Texten nicht mehr weiter verfolgt.
Auch im Text, mit dem die römisch-katholische Kirche in Deutschland
1993/94 zunächst noch ohne Beteiligung der evangelischen Kirchen einen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage eröffnete, sucht man nach einer biblischen Vergewisserung oder Argumenta671
tion vergebens.
Die römisch-katholische Kirche meint wohl, ein wirtschaftsethisches Urteil wieder eher naturrechtlich und ohne biblische
Grundlagen gewinnen zu können.
Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz nimmt eine mittlere Position ein. Sie knüpft zwar an biblische Traditionen an, beerbt sie
jedoch nur insoweit, wie sie dem Projekt einer Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft eine zusätzliche Begründung zu geben vermögen. Ihr
Umgang mit biblischen Traditionen ist normativ zu nennen; ausdrücklich
heißt es, daß die Denkschrift eine Brücke schlagen wolle “zu der Bedeutung von Motiven und Orientierungen der christlichen Tradition für die
Soziale Marktwirtschaft” (Ziff. 100).
Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland befragt
die bib-lische Tradition ebenfalls hauptsächlich normativ. Die kritische
perspektivische und die analytische Aussagekraft der biblischen Tradition bleibt dagegen auch hier deutlich ausgespart und ungenutzt. Normativ
soll die Konzeption einer Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft begründet
werden. Ergänzt wird die biblische Argumentation im Wirtschafts- und
Sozialwort der Kirchen durch Denkfiguren wie jene der Subsidiarität, die
der naturrechtlichen Lehrtradition der römisch-katholischen Kirche entstammen (Ziff. 3.3.3 zu Solidarität und Subsidiarität). Die Bibel wird als
eine ethische Ressource gelesen; die ethische Urteilsbildung wird durch
sozialethische Leitlinien ergänzt, die säkular vermittelbar und kompatibel
sind. Perspektiven für die gesellschaftliche Entwicklung sollen nicht allein
ethisch postuliert werden, sondern “als Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft” (Ziff. 126) ausgewiesen werden. Indem die Kirchen in
Deutschland biblische Begriffe in auch säkular vermittelbare sozialethi-
671
Unsere Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft 1993, Arbeitshilfe Nr. 116, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994.
237
sche Leitlinien übersetzen, vermeiden sie eine nur innerkirchlich verstehbare Argumentation.
Die Marktwirtschaften sind in die Krise gekommen. Deshalb habendie
Kirchen nicht ein Konsultationsverfahren eröffnet, das zur Veröffentlichung eines gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland führte. Die Kirchen in Deutschland verstehen die Soziale Marktwirtschaft als eine Wirtschaftsordnung, der sie sich aus histori672
schen und auch ethischen Gründen verpflichtet fühlen. Im Wirtschaftsund Sozialwort sprechen sich die Kirchen für die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft aus und “sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft (...) den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschaftsund Sozialpolitik” (Ziff. 9). Für deren “strukturelle und moralische Erneuerung” und “ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global
verpflichteten Marktwirtschaft” (Ziff. 11) beziehen sie sich auf biblische
und theologisch-sozialethische Traditionen, um das Konzept der Sozialen
Marktwirtschaft normativ zu begründen. Während das Wirtschafts- und
Sozialwort auf die real existierende Marktwirtschaft verändernd einwirken
und sie zu einer ökologischen und global verpflichteten Marktwirtschaft
erweitern will, identifiziert die Denkschrift der EKD die real existierende
Marktwirtschaft mit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Kirchen
im Kontext neoliberaler Marktwirtschaften lesen die biblische Tradition
anders als jene Kirchen, die es mit dem sog. Rheinischen Kapitalismus
oder Sozialen Marktwirtschaften zu tun haben. Die Erklärung der UCC
wie auch der US-Hirtenbrief lesen die biblische Tradition eher analytisch
und können so aus der biblischen Tradition auch Perspektiven entwickeln, die zu einer Suche nach ökonomischen Alternativen inspirieren.
Dadurch gewinnen sie einen kritischen Abstand zur vorgegebenen Wirtschaftspolitik.
Zwischen dem Umgang mit der Bibel und der Wahrnehmung der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit gibt es einen dialektischen Zusammenhang. Abhängig vom jeweiligen Zugang zur Wirklichkeit, von der eigenen gesellschaftlichen Erfahrung und ihrer Verarbeitung, aber auch
von den mit dem Erkennen verbundenen Interessen vollzieht sich ein je
unterschiedlicher Umgang mit der biblischen Tradition oder mit dem biblischen Argument, der als analytisch, normativ oder perspektivisch charakterisiert werden kann. Der gesellschaftliche Kontext bedingt das Lesen des biblischen Textes. Aber umgekehrt gilt auch: Das Lesen des biblischen Textes führt dazu, den gesellschaftlichen und ökonomischen
Kontext kritisch zu lesen.
672
Vgl. die kritische Würdigung bei: E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 269-276.
238
239
DRITTER TEIL
ÖKONOMIEN IM WIDERSTREIT
240
8. MARKTWIRTSCHAFT IM PLURAL
Undifferenziert von der Marktwirtschaft zu sprechen verkürzt die Realität.
Marktwirtschaft gibt es in Theorie und Praxis immer im Plural. Arthur
Rich unterscheidet deshalb zu Recht in seiner zweibändigen Wirtschaftsethik sechs verschiedene Ordnungstypen der Marktwirtschaft, in denen
der Markt die konstitutive Grundlage für ein wettbewerbliches Koordinati673
onssystem darstellt. Nicht alle marktwirtschaftlichen Konzeptionen sind
realpolitisch von Bedeutung. Da die real existierenden Marktwirtschaften
faktisch in zwei grundlegend verschiedenen Ordnungsgestalten auftreten, empfiehlt es sich, den Vorschlag des französischen Ökonomen Mi674
chel Albert
in seinem Buch Kapitalismus contra Kapitalismus aufzugreifen und zwei Wirtschaftsstile innerhalb der Marktwirtschaft zu unterscheiden, hinter denen jeweils auch zwei sehr verschiedene Menschenund Gesellschaftsbilder, aber auch implizite Ethiken stehen:
Auf der einen Seite ist die “bewußt sozial gesteuerte Soziale Markt675
wirtschaft” (Müller-Armack)
oder auch der “Rheinische Kapitalismus”
673
674
675
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. II, 259- 344. A. Rich unterscheidet zwischen “Wirtschaftssystem” und “Wirtschaftsordnungen”. Wirtschaftssystem bezeichnet das Grundsystem, die prinzipielle Grundlage einer Wirtschaftsordnung, und Wirtschaftsordnung die jeweils konkretwirkliche und konkret-mögliche Ausprägung eines bestimmten Wirtschaftssystems (A. Rich,
Wirtschaftsethik, Bd. 2, 176f.).
M. Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt 1992.
Üblich geworden ist es, die von A. Müller-Armack konzipierte Form der Sozialen Marktwirtschaft mit einem kleinen „s‟ zu schreiben, wohl um das „sozial‟ als Adjektiv zu verstehen. Müller-Armack hat jedoch bereits in seiner ersten Schrift, in der er “Umrisse einer Sozialen Marktwirtschaft” skizzierte, von einer “Sozialen Marktwirtschaft” gesprochen (mit großem „S‟), wohl
um zu verdeutlichen, daß das Soziale kein Anhängsel oder Attribut, sondern ein integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ist: A. Müller-Armack,Die Wirtschaftssordnungen, sozial gesehen, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, o.O.
1948, 150-154.
241
zu nennen. Charakteristikum dieser Wirtschaftsordnung ist ihre Einbet676
tung in die Gesellschaft. Staat und Verbände greifen in den Markt ein,
um unsoziale Entwicklungen im vorhinein zu verhindern, oder aber, um
sie im nachhinein abzufedern. Die Soziale Marktwirtschaft als ein Wirtschaftsstil im Rahmen des Rheinischen Kapitalismus geht von der
Grundentscheidung aus, daß der Markt von sich aus kein Gemeinwohl
hervorbringen kann. Erst eine politische Rahmenordnung, die dem Markt
vorgegeben ist, kann das Entstehen von Gemeinwohl in einer Wirtschaftsordnung garantieren, deren treibendes Motiv der individuelle Eigennutz ist. Der Eigennutz, der durch den Markt befördert wird, kann erst
durch spezifische Rahmenbedingungen zum Gemeinwohl werden. Die
ökonomische und soziale Effizienz des Marktes ist nicht Resultat des
Marktes, sondern einer politischen Rahmenordnung.
Das Gegenbild zum Rheinischen Kapitalismus und zur Sozialen
Marktwirtschaft bildet der “neo-amerikanische Kapitalismus” des neoliberalen Marktes, der insbesondere in den anglo-amerikanischen Ländern
eine geistig-moralische Wende bewirkt hat, die ihrerseits mit zu einem
Umbruch der Sozialtraditionen und eines sozial orientierten Interventionismus beigetragen hat. Das ökonomische System des Marktes wird als
ein sich selbst regulierendes System betrachtet. Die Aufgabe des Staates besteht einzig darin, die Funktionsmechanismen des Marktes ungehindert zu ermöglichen.
Die Bezeichnung neoliberal ist sehr diffus und unscharf. Gemeinsam
ist in den verschiedenen Begriffen das Anliegen: eine Revision des Liberalismus aufgrund der Erfahrung des Scheiterns freier Märkte in der
Weltwirtschaftskrise. Alle Denkrichtungen, die aus dieser Erfahrung heraus nach einer neuen Begründung der Funktionsfähigkeit einer Marktökonomie gefragt haben, nannten sich seit den dreißiger Jahren neoliberal. Gesucht wurde nach einer neuen Basis für eine Marktökonomie,
nachdem der Laisser-faire-Kapitalismus gescheitert war. Der Neoliberalismus ist ein revisionistischer Liberalismus, der das Scheitern des Liberalismus reflektierte, nach seiner Neubegründung suchte und eine Alternative zum Laissez-faire-Kapitalismus und zum Totalitarismus entwickeln
wollte. Er umfaßt eine recht unterschiedlich zusammengesetzte Gruppierung, zu der anfangs u.a. Friedrich August Hayek, Karl Popper, Alexander Rüstow, Walter Eucken gehörten. Der Name Neoliberalismus tauchte zum ersten Mal 1938 in Paris bei einer Zusammenkunft von Ökonomen verschiedener liberaler Richtungen auf, die sich besonders durch
den erstrebten Freiheitsgrad und in der Frage nach Intensität, nach Qua676
Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Konzeptionsentwürfen der Sozialen Marktwirtschaft besonders unter sozialethischen Aspekten bei: E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik
und Soziale Marktwirtschaft.
242
lität und Quantität der staatlichen Interventionen unterschieden, und um677
faßte folgende drei Richtungen:
1. US-amerikanische oder Chicagoer Richtung:
die Neoklassiker um Ludwig von Mises und Friedrich August von
Hayek, die sich gegen jegliche Intervention des Staates aussprechen;
2. englische Richtung:
die Keynes- und Oxford-Liberalen, die konjunkturpolitische Maßnahmen zur Vollbeschäftigung fordern;
3. kontinentale Richtung:
die Ordoliberalen, die marktkonforme Interventionen befürworten und
sich von den beiden anderen Gruppen dadurch unterscheiden, daß sie
mit dem Wettbewerb sozial- und gesellschaftspolitische Forderungen
durchsetzen wol-len. Die Soziale Marktwirtschaft wurde bis in die
sechziger Jahre als eine Richtung innerhalb des (neoliberalen)
678
Ordoliberalismus verstanden.
Der Vortrag von Alexander Rüstow
1932 auf der Tagung des “Vereins für Socialpolitik” mit dem Thema
“Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Liberalismus” gilt als ein Gründerdokument der Konzeption der Sozialen
679
Marktwirtschaft.
677
678
679
So Ph. Herder-Dorneich, Der Markt und seine Alternativen in der freien Gesellschaft, Freiburg Hannvover 1968, 123, Anm. 90. Herder-Dorneich gibt auch das folgende Schema einer Einteilung der neoliberalen Richtungen wieder. Er nennt jedoch keinen Hinweis, wann und durch
wen der Begriff “Neoliberalismus” aufgebracht wurde. E.E. Nawroth betrachtet die “Mont
Pélérin Society” als Zentrum der neoliberalen Bewegung, gibt jedoch keine Jahreszahl an, die
in Verbindung mit dem Entstehen des Neoliberalismus gebracht werden könnte: E.E. Nawroth,
Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 2. Aufl. Heidelberg 1962, 5.
Zu den Vertretern dieser Richtung gehören u.a. Walter Eucken, Franz Böhm, Alexander
Rüstow, Constantin von Dietze, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack. Vgl. dazu: E.E.
Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 6-12. Neben Walter Eucken, Franz Böhm, Constantin von Dietze, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow gehörte auch
Friedrich August Hayek anfangs zu den Mitherausgebern des Jahrbuchs ORDO. Dies zeigt die
konzeptionelle Nähe und belegt, daß diese neoliberalen Konzeptionen eine Antwort auf die
Weltwirtschaftskrise geben wollten.
Abgedruckt in: A. Rüstow, Rede und Antwort, Luwigsburg, 1963, 249-258. Darin fordert
Rüstow 1932 ein Bekenntnis zu einem “starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik”
und zu “liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines starken Staates” (S. 258). Von “Neoliberalismus” ist an dieser Stelle noch nicht die Rede, wohl aber von einem Interventionismus nicht
gegen, sondern in Richtung der Marktgesetze. - Rüstow bezeichnet diese Rede als Gründungsdokument und “Programm dieser theoretisch fundierten Sozialen Marktwirtschaft”, so in: A.
Rüstow, Wirtschaftspolitik und Moral, in: ders., Rede und Antwort, 20. Rüstow spricht davon,
daß er und Walter Eucken zeitgleich und unabhängig voneinander 1932 aus der Krise des Liberalismus, die durch marktwidrige Interventionen gegen Ende der Weimarer Republik verschärft
wurde, die Grundidee eines dritten Weges in Gestalt des Neoliberalismus entwickelt hätten, die
in marktkonformer Intervention des Staates bestehe. Mitgeteilt in: A. Rüstow, Paläoliberalis-
243
Daß zunächst alle wirtschaftstheoretischen Antworten auf die Weltwirtschaftskrise als Neoliberalismus bezeichnet wurden, trägt zur begrifflichen Verwirrung bei. Die Soziale Marktwirtschaft ist in der frühen wirtschaftstheoretischen Debatte von der Genese her also keineswegs als
ein Gegenkonzept zum Neoliberalismus, sondern als Teil des Gesamtan680
liegens eines Neoliberalismus verstanden worden. Alexander Rüstow
bekräftigt die Nähe von Sozialer Marktwirtschaft zum Neoliberalismus:
“Unser Neoliberalismus unterscheidet sich vom Paläoliberalismus gerade
dadurch, daß er nicht wie der Paläoliberalismus alles nur auf wirtschaftliche Größen bezieht. Wir sind vielmehr der Meinung, daß die wirtschaftlichen Dinge überwirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet werden
müssen. Dieser Meinung sind wir nicht erst seit heute, sondern diese
681
Meinung herrschte schon seit den Anfängen des Neoliberalismus.”
Und Alfred Müller-Armack wehrte sich Mitte der sechziger Jahre offensichtlich im Gegensatz zu seiner früheren Auffassung dagegen, die Soziale Marktwirtschaft “als bloße Abart des Neoliberalismus” einstufen zu
lassen: “Man braucht die Nähe zum Neoliberalismus keineswegs zu
leugnen, wir verdanken ihm zahlreiche entscheidende Anregungen, aber
gegenüber einem den Wettbewerbsmechanismus als ausschließliches
Gestaltungsprinzip betrachtenden Neoliberalismus ist der Gedanke der
Sozialen Marktwirtschaft aus anderen Wurzeln entstanden. Sie liegen in
der dynamischen Theorie und der philosophischen Anthropologie, die
beide in den zwanziger Jahren entwickelt wurden, mithin in einer anderen
Auffassung von Staat und in einer Weiterführung des vom Neoliberalismus meist abgelehnten Stilgedankens. Die koordinierenden Funktionen
680
681
mus, Kollektivismus und Neoliberalismus, 166.- Bereits 1933 mußte Rüstow wegen seiner demokratischen und liberalen Überzeugung aus Deutschland in die Schweiz und dann nach Istanbul emigrieren.
Vgl. den Beitrag von O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 8198, sowie E.E. Nawroth, der sich in seiner Monographie zum Neoliberalismus aus Gründen begrifflicher Stringenz ausschließlich mit dem Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft auseinandersetzt: E.E.Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 12.
A. Rüstow, Die staatspolitische Krise unserer Gesellschaft, in: ders., Rede und Antwort, 73.
Rüstow eröffnete die Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft 1961 mit
einer Klarstellung: “Da nun leider heutige Vertreter jenes Paläoliberalismus sich neoliberal
nennen, obwohl unser Neoliberalismus ja gerade im Gegensatz und in Abgrenzung gegen jenen
Altliberalismus, gegen jenen Paläoliberalismus entstanden ist, trägt das natürlich sehr dazu bei,
eine Verwechslung zu begünstigen.” A. Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit,
in: ders., Rede und Antwort, 76. - O. von Nell-Breuning merkte bereits 1951 an: “Allerdings
wird die Flagge des Neo-Liberalismus und Sozial-Liberalismus auch in erschreckenden Ausmaßen mißbraucht, um brutalen manchesterlichen Liberalismus damit zu bemänteln.” In: O.
von Nell-Breuning, Art. Liberalismus, in: Wörterbuch der Politik, hg. von H. Sacher, O. von
Nell-Breuning, Heft V. - Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg 1951, Sp. 220.
244
der Sozialen Marktwirtschaft entsprechen nicht ausschließlich den mechanischen Regeln des Wettbewerbs. Die Gestaltungsprinzipien beziehen sich auf Staat und Gesellschaft, die beide ihre Wertvorstellungen
und Verantwortungen im Gesamtsystem der Sozialen Marktwirtschaft
682
ausprägen.”
Wann und wo der Begriff “Neoliberalismus” zuerst entstanden und
verwendet wurde, ist nicht genau auszumachen. In den wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Debatten nach 1945 jedenfalls wird
häufig in der politischen Auseinandersetzung um sozialistische und antisozialistische Bestrebungen ein “Neoliberalismus” als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus und synonym für jene ökonomischen Neuordnungsvorstellungen des Liberalismus formuliert, die aus
den Erfahrungen mit der Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre und
dem Hitler-Faschismus ihre Folgerungen ziehen wollten. Erst Mitte der
sechziger Jahre kam es zu einer deutlichen begrifflichen Scheidung der
revisionistischen liberalen Positionen innerhalb des Neoliberalismus, indem zwischen der Richtung der Sozialen Marktwirtschaft / Rheinischer
Kapitalismus auf der einen Seite und dem Neoliberalismus USamerikanischer Prägung auf der anderen Seite unterschieden wurde: Die
Bezeichnung Neoliberalismus wurde nunmehr ausschließlich auf die
Chicagoer Richtung eines radikal marktorientierten Kapitalismus ange683
wendet. F.A. Hayek und M. Friedman begründeten eine wirtschaftspolitische und wirtschaftstheoretische Richtung des Neoliberalismus, die
den Wettbewerb und das Marktsystem als ein sich selbst regulierendes
System betrachtete und deshalb von einer strikten Trennung von Ökonomie und Staat ausging. Dieser Neoliberalismus war jahrzehntelang
eher bedeutungslos und fristete eine Nischenexistenz. Erst mit Beginn
der siebziger Jahre wurde er von interessierter Seite bewußt gefördert
und erlangte zunehmend Bedeutung, so daß er schließlich in den ökonomischen Wissenschaften hegemonial werden konnte. Aus einer ökonomischen Außenseitermeinung war in der ökonomischen Theoriebildung ein ökonomischer Mainstream und in den Reaganomics und im
Thatcherismus eine herrschende Wirtschaftspolitik geworden.
682
683
A. Müller - Armack, Wirtschaftspolitische Chronik, Heft 3, Köln 1962, 10 zit. in: E. Nawroth,
Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft, Köln 1965, 31f.
Diese begriffliche Trennung zwischen einem Marktradikalismus und einem Neoliberalismus mit
seinen verschiedenen Ausprägungen macht Otto Schlecht zur Rehabilitation des ursprünglichen
Begriffs von Neoliberalismus wieder rückgängig, wenn er es als falsch bezeichnet, “Neoliberalismus als Synonym für Marktradikalismus oder ungezügelten Kapitalismus zu benutzen. (...)
Soziale Marktwirtschaft fußt auf neoliberalen Vorstellungen, die ihrerseits auf den klassischen
Liberalismus zurückgehen.” (Otto Schlecht, Begriffsverfälschung. Der Neoliberalismus ist besser als sein Ruf, in: Evangelische Kommentare 10/1998, 596f.)
245
Der Neoliberalismus steht in der Tradition der Ökonomen Ludwig von
Mises und Friedrich August von Hayek. Er ist keine marginale Wirtschaftstheorie, sondern wurde gezielt gefördert und unterstützt. Seit Mitte
der 70er Jahre erhielten vornehmlich Vertreter dieser wirtschaftstheoretischen Richtung die Nobelpreise für Ökonomie, so Friedrich August von Hayek (1976), Milton Friedman (1976), George J. Stigler (1982),
James M. Buchanan (1986), Garry S. Becker (1992). Im Zentrum des
neoliberalen Konzeptes steht die Annahme, daß der Markt als Institution
und der Wettbewerb als Organisations- und Entwicklungsmethode der
Politik einer bewußten Kooperation von wirtschaftlich handelnden Personen, die sich an normativen Zielen orientieren, überlegen sei. Damit der
Markt diese Ziele erreichen könne, müsse er befreit werden. Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung sind deshalb auch die zentralen
Anliegen. Die freie, neoliberale Marktwirtschaft anglo-amerikanischen
Typs geht von einer anthropologischen Grundlage aus, die Eigennutz als
Ausdruck der Natürlichkeit des Menschen versteht. Das Gemeinwohl
wird deshalb gleichsam automatisch als Summe des individuellen Eigennutzes erwartet. Das Gemeinwohl resultiere aus der konsequenten und
weder durch Politik noch Ethik beschränkten Verfolgung des Eigeninteresses. Das mechanistische Bild der Wirtschaftsabläufe, das sich aus
der strikten Befolgung der Marktmechanismen ergibt, erübrigt wirtschaftsethische Orientierungen und kennt a priori auch nicht die Frage
nach dem, was gerecht genannt werden könne. Diesen Wirtschaftsstil
nennen die Kirchen in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort “Marktwirtschaft
pur” (Ziff. 146). Trotz einer gemeinsamen Ursprungssituation muß der
Neoliberalismus in seiner aktuellen Bedeutung gegenüber der Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft deutlich abgegrenzt werden.
Der Grundkonzeption einer Sozialen Marktwirtschaft attestiert Trutz
Rendtorff eine ethische Qualität: “Die Soziale Marktwirtschaft enthält (...)
zureichende, wenn auch meist implizite ethisch beachtliche Strukturen
und Kriterien, (...) auf die sie auch von der Ethik direkt angesprochen
684
werden kann.”
Auch eine Marktwirtschaft ohne jegliches Adjektiv besitzt nach dem Urteil des Wirtschaftsethikers Karl Homann bereits eine
684
T. Rendtorff, Die soziale Marktwirtschaft in der Perspektive theologischer Ethik, in: LudwigErhard-Stiftung (Hg.), Die Ethik der sozialen Markwirtschaft. Thesen und Anfragen, Stuttgart
1988, 57f. Polemisch nennen A. Gutowski und R. Merklein es eine “orakelnde Verheißung”,
daß die Väter der Sozialen Marktwirtschaft dieser Konzeption “eine besondere, jenseits der
sonst praktizierten kapitalistischen Wirtschaftsmethode angesiedelte moralische Qualität” zumessen wollten. A. Gutowski u. R. Merklein, Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 30 (1985)
50, zit. nach: S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens,
in: W. Jacob u. J. Moneta u. F. Segbers (Hg.), Die Religion des Kapitalismus. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes, Luzern, 1996, 52.
246
moralische Qualität, denn belohnt werde in der Marktwirtschaft, wer das
Wohl seiner Mitmenschen fördere. “Die moralische Vorzugswürdigkeit
der Marktwirtschaft liegt darin, daß sie das beste bisher bekannte Mittel
685
zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen darstellt.” Der normative Gehalt des Marktes liege in nichts anderem als in der güterschaffenden Effizienz von Wettbewerb und Markt. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans Olaf Henke, geht ebenfalls davon
aus, “daß die Marktwirtschaft an sich moralisch ist und daß sie es nicht
686
dadurch wird, daß man sozialpolitische Argumente hereinbringt.” Beide
Wirtschaftssysteme - die Soziale Marktwirtschaft ebenso wie der Neoliberalismus - sind also eine bereits ethisch geprägte Realität. Das zeigt,
daß Ökonomie und Ethik nicht im Vakuum abstrakt vermittelt werden,
sondern in der existierenden Wirklichkeit immer schon real vermittelt vorhanden sind. Die Realität muß nicht nachträglich mit ethischen Gehalten
oder Normen versehen werden. Sie ist immer schon ethisch gehaltvoll.
Auch der Markt folgt einer normativen Logik und wird nicht erst dadurch
ethisch gehaltvoll, wenn er explizit in einen Zusammenhang mit Ethik gebracht wird. Es wird deshalb darauf ankommen, nach der tatsächlichen
Ethik der Ökonomien zu fragen und sich darüber Rechenschaft abzulegen, welche ethischen Gehalte verstärkt oder gegebenenfalls korrigiert
werden müssen. Nur so kann Wirtschaftsethik der voluntaristisch-appellativen Attitüde entgehen, die sich immer schon außerhalb der realen
Auseinandersetzungen und der mit Macht verbundenen Interessen
glaubte. Eine an der Realität interessierte Wirtschaftsethik wird daher die
Soziale Marktwirtschaft und ihr Gegenbild, den Neoliberalismus, als Referenzrahmen aufnehmen müssen. Dabei soll keineswegs die Soziale
Marktwirtschaft als die Inkarnation einer menschengerechten und lebensdienlichen Ökonomie ausgemacht werden, während ihr Gegenbild
als unethisch demaskiert wird. Die Gegenüberstellung beider Ökonomien
und ihres jeweiligen Wirtschaftsstils soll lediglich als Folie für den Ansatz
dienen, nach dem Ertrag eines wirtschaftsethischen Impulses zu fragen,
der sich biblischen Inspirationen verdankt und keineswegs mit einer historisch vorfindlichen Wirtschaftsordnung identifiziert werden soll. Jenseits
des Streits um Kapitalismus und Sozialismus, jenseits des Streits um
Wirtschaftsordnungen geht es wirtschaftsethisch allein um den Streit um
eine Ökonomie, die dem Leben dient.
8.1 Soziale Marktwirtschaft
685
686
K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 49 (im Original in kursiv);
vgl. auch K. Homann, Wirtschaft - Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 98f.
Zit. in: FAZ vom 13.1.1995.
247
8 .1.1 Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft
Viel zu wenig ist bekannt, daß der Soziale Protestantismus entscheidend
die Traditionen der sozialen Reform und institutionellen Transformation
687
des Kapitalismus inspiriert hat. Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen haben die ins 19. Jh. zurückreichenden protestantischen Wurzeln
688
einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft herausgearbeitet und belegt.
An Aufbau und Ausbau des Sozialstaates hatten die christlichen Konfessionen und besonders der Protestantismus einen bedeutenden und nur
zu oft übersehenen Anteil. Auf protestantischer Seite entsprach dem politische Bündnis von Thron und Altar ein ordnungs- und staatspolitisches
Denken besonders im Luthertum, das den Staat nicht nur politisch, sondern auch sozial in Pflicht nehmen wollte. Nicht allein nationaler Machtstaat, auch Kultur- und Sozialstaat sollte der Staat sein. Beamte der
preußischen Ministerialbürokratie erarbeiteten die gesetzlichen Grundla689
gen für den Aufbau des Sozialstaates. Ökonomen und Theologen kamen auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß zusammen, der 1891 ge690
gründet wurde. Er hatte sich in seiner Satzung das Ziel gesetzt: “die
sozialen Zustände unseres Volkes vorurteilslos zu untersuchen, sie an
dem Maßstab der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums
zu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbarer
691
und wirksamer zu machen als bisher.”
Diese Aufgabenbeschreibung versucht ausdrücklich, zwischen Ökonomie und biblischer Tradition eine Verbindung herzustellen. Die biblische Tradition bildet die ethische Grundlage. Dem Evangelium wird eine
doppelte Rolle zugedacht: Es ist Norm und kritische Instanz. Dabei sollen
687
688
689
690
691
Vgl. u.a. : F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung; K. Heienbrok u. H. Przybylski u. F. Segbers (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethik und
Reform des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß; Bochum 1991.
G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1994, bes. die Einleitung: S. 13 - 37.
U.a. haben Theodor Lohmann (1831-1905), H. von Berlepsch (1843-1926) und Graf
Posadowsky (1845-1932) ihr sozialpolitisches Engagement immer als Konkretisierung christlicher Nächstenliebe oder praktisches Christentum verstanden. Vgl. dazu: G. Brakelmann, Theodor Lohmann - ein protestantischer Sozialpolitiker aus der Inneren Mission, in: ders., Zwischen
Widerstand und Mitverantwortung. Vier Studien zum Protestantismus in sozialen Konflikten,
Bochum 1994, 85 - 131; G. Brakelmann, Evangelische Sozialtheoretiker vor dem Problem der
Gewerkschaften, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung, 17-38; vgl. J.- Chr. Kaiser u. W.Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich.
Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart-Berlin-Köln 1997.
K. Heienbrok u. H. Pryzbylski u. F. Segbers (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethik und Reform des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß; G. Kretschmar, Der Evangelisch-soziale Kongreß. Der Protestantismus und die soziale Frage, Stuttgart, 1972.
Abgedruckt in: G. Kretschmar, Der Evangelisch - soziale Kongreß, 21.
248
das Evangelium oder allgemein die biblischen Kategorien einen kritischen Maßstab abgeben und zugleich beitragen, das “Wirtschaftsleben”
gerechter zu gestalten. Der Komparativ, “die sittlichen und religiösen
Forderungen des Evangeliums (...) fruchtbarer und wirksamer zu machen als bisher”, verweist jedoch auf ein offensichtliches Manko in Theologie und Kirche, das behoben werden soll. Zwischen biblischen Orientierungen und gesellschaftlicher Gestaltung eine positive Beziehung herzustellen, wird zum zentralen Anliegen des Evangelisch-sozialen Kongresses. In der Satzung deutet sich bereits eine Methode sozialethischer Urteilsbildung an, die später kurzgefaßt als die Schritte “Sehen-UrteilenHandeln” bezeichnet werden. Wenn gesagt wird, daß es darauf ankomme, die sozialen Zustände “vorurteilslos zu untersuchen” (= Sehen), “am
Evangelium zu messen” (= Urteilen) und das Evangelium “fruchtbarer
und wirksamer zu machen” (= Handeln), dann wird das Verhältnis von
biblisch-begründeter Sozialethik und politischer Gestaltung nicht als
normativ-deduktiv, sondern empirisch-induktiv beschrieben. Vorausgesetzt ist, daß die biblische Tradition ökonomisch und gesellschaftlich relevant ist und auf diese Bedeutung hin auch ausgelegt werden soll.
8.1.2 Denkschrift:
“Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer
Zeit” (1943)
Die sozialprotestantischen Traditionen stehen für den Versuch, ökonomische Rationalität und Effektivität auf der einen Seite und Gerechtigkeit
und Achtung der personalen Würde auf der anderen Seite gemeinwohlorientiert zu kombinieren. In der Zeit des Nationalsozialismus waren es
gerade evangelische Christen, die diese sozialprotestantischen Traditionen aufgenommen und “das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft pro692
grammatisch und interdisziplinär formuliert” haben. Es gibt eine direkte
Verbindungslinie zwischen dem sozial engagierten Protestantismus und
ökonomischen und politischen Neuordnungsvorstellungen, wie sie im
Widerstand in der NS-Zeit entwickelt wurden. Hingewiesen sei besonders auf die Beiträge zweier Arbeitskreise, des “Kreisauer-Kreises” um
693
Helmuth Graf von Moltke und des “Freiburger Kreises”
um die Ökonomen Wilhelm Eucken, Adolf Lampe, Constantin von Dietze und Ge692
693
G. Brakelmann, Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, in:
ders., Für eine menschliche Gesellschaft. Reden und Gegenreden, Bochum, 1996, 194.
K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, Tübingen 1996, 98 - 110; G. Brakelmann u. T. Jähnichen
(Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 309.
249
rhard Ritter, den Juristen Erik Wolf, Franz Böhm u.a. Vertreter des Freiburger Kreises traten an Bischof Theophil Wurm mit der Bitte heran, einen theologischen Mitarbeiter zu benennen. Auf Vermittlung von Bischof
694
Wurm stieß der Theologe Helmut Thielicke zu dem Kreis.
Mit dem Rückgriff auf die zentralen Motive der protestantischen Tradition suchte der Freiburger Kreis evangelischer Christen im Widerstand
nach einem Grundkonzept einer freiheitlichen und sozialen Wirtschafts695
und Sozialordnung.
Angeregt wurde die Ausarbeitung einer Wirtschaftskonzeption im Anhang zu einer Denkschrift durch einen Vortrag
über Nationalökonomie und Theologie, den Constantin von Dietze im Juni 1941 in Alpirsbach vor der “Gesellschaft für evangelische Theologie”
696
gehalten hatte.
Constantin von Dietze übernahm auch die Federführung für die Ausarbeitung der Anlage 4 “Wirtschafts- und Sozialordnung”
der Denkschrift mit dem Titel Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen
697
Nöten unserer Zeit (1943) .
Die Denkschrift fordert eine sozial abgesicherte und vom Staat in ihrem Bestand geschützte Wettbewerbsordnung. Freiheit und soziale Gerechtigkeit sollen harmonisch miteinander verbunden sein. In protestantischer Tradition steht die starke Betonung eines handlungsfähigen und
handlungswilligen Staates, der die Rahmenordnung für die Wirtschaft zu
setzen hat und Zielkonflikte auflösen soll. Von einer solcher Wirtschaftsverfassung erwartet man, daß die Würde des Individuums und das Wohl
der Gemeinschaft am besten geschützt werde. Ordnungspolitisch sucht
man einen dritten Weg zwischen Wirtschaftsliberalismus und Planwirtschaft.
8.1.3 Biblische Fundierung der Denkschrift
694
695
696
697
H. Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg 1984, 189ff. Die Leitung der Bekennenden Kirche hatte über Bonhoeffer 1942 C. von Dietze gebeten, auf der Basis
seines Vortrags den “Anhang Wirtschafts- und Sozialordnung” zu erarbeiten.
So K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 106; F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder Neoliberalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit Abschied geben.”
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie. Mit Anhang: Grundsätze einer Wirtschaftsund Sozialordnung in evangelischer Sicht, Tübingen-Stuttgart 1947, 7. Während des Krieges
konnte dieses Referat nicht veröffentlicht werden. Ausführlich wird die Vorgeschichte der
Denkschrift dargestellt in: Ph. von Bismarck, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk der Stunde Null, Freiburg1992, 21-31. Nach dem mißglückten Attentat am 20. Juli 1944 gelangte die
Gestapo in den Besitz von Teilen einer Denkschrift des Freiburger Kreises und konnte die Verbindung des Freiburger und Kreisauer Kreises zum Widerstand aufdecken.
Veröffentlicht unter dem Titel “In der Stunde Null”, mit einem Vorwort von H.Thielicke und
einem Nachwort von Philipp von Bismarck, Tübingen 1979.
250
Constantin von Dietze verwies in seinem Vortrag 1941 vor der Gesell698
schaft für Evangelische Theologie in Alpirsbach auf Werner Sombart,
der 1934 in seinem Buch Deutscher Sozialismus den Kapitalismus eine
699
“Wirtschaftsordnung des Teufels”
genannt hatte. Auch wenn sich
Constantin von Dietze begrifflich distanziert, so teilt er doch das Anliegen
Sombarts, eine Alternative zu einer freien Marktwirtschaft zu entwickeln,
die in Theorie und Praxis gescheitert war.
Constantin von Dietze entwickelte seine ökonomischen Neuordnungsvorstellungen für die Denkschrift anhand von Thesen, die 1937 in BerlinDahlem zum Thema “Kirche und Wirtschaftsordnung” formuliert wur700
den.
An dieser “Ökumenischen Arbeitstagung der Bekennenden Kirche” zur Vorbereitung auf die Oxforder Weltkirchenkonferenz nahmen
neben Bonhoeffer die Wirtschaftswissenschaftler von Dietze, Karrenberg
und Eucken teil. Die dort verabschiedeten Thesen übertragen auf den
Bereich der Wirtschaft, was die Barmer Theologische Erklärung über den
Staat formuliert hat. Wie die Barmer Theologische Erklärung gegenüber
dem Staat, so betonen auch die Dahlemer Thesen, daß die Kirche sich
der Wirtschaftsordnung gegenüber nicht neutral verhalten könne. Dies
bedeutet zugleich: Die Wirtschaft läuft nicht nach wertfreien und ethikneutralen Gesetzmäßigkeiten ab, sondern nach ethischen Kriterien. “Die
Kirche kann keine Wirtschaftsordnung als heilbringend verherrlichen,
aber auch keiner eine Unabhängigkeit von den Geboten des alleinigen
Herren zugestehen. Keine menschliche Wirtschaftsordnung kann die
Macht der Sünde überwinden, jede muß eine Bekämpfung dieser Macht
701
erstreben.” Abgelehnt wird die Auffassung der Eigengesetzlichkeit der
Ökonomie, nach welcher Wirtschaft sich zur religiösen Ethik neutral verhalte. Die Dahlemer Thesen betonen, daß “der Anspruch des Herrn sich
nicht nur an den einzelnen Menschen richte, sondern auch für den Inhalt
702
der Wirtschaftsordnung gelte.”
Diese Aussage richtet sich vor allem
gegen die Lehre von der ökonomischen Eigengesetzlichkeit, die nicht nur
698
699
700
701
702
Alpirsbach war der Tagungsort der Theologen, die sich der Bekennenden Kirche zuzählten.
Zit. in: C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 22. - Ohne Zitationsangaben. Constantin von Dietze kommentierte Sombart: “Die Menschen unserer Zeit haben dann, wie Sombart
sagt, den Herrn der Unterwelt angebetet. (...) Sombart gelangt damit zu einer eigenen Theologie. Er sieht eine bestimmte Wirtschaftsordnung als Teufelswerk an und meint, man könne und
müsse durch eine neue Wirtschaftsordnung, durch stationäre Wirtschaft und deutschen Sozialismus, dem Teufel sein Werk zurückschicken. (...) Das innere Anliegen Sombarts wird uns alle
ergreifen. Es wird sicherlich nicht herabgesetzt, wenn wir feststellen: Sombarts Auffassung
vom Teufel und seinen Wirkungsmöglichkeiten und die Theologie, auf welcher er diese Gedanken aufbaut, entsprechen nicht in allen Stücken dem, was wir als evangelische Christen zu sagen haben.” Ebd. 22.
Die Arbeitsgruppe 3 “Kirche und Wirtschaft” leitete der Velberter Unternehmer Friedrich Karrenberg. Mitgeteilt von H. Prolingheuer mit Schreiben vom 27.9.1997.
Zit. ohne Quellenangaben bei: C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 22f.
Ebd. 23.
251
von ökonomischer, sondern auch von theologischer Seite als eine sachgemäße Scheidung der Bereiche und Zuständigkeiten formuliert worden
war. In der Formulierung klingt jene Zweite These der Barmer Theologischen Erklärung von “Gottes kräftigem Anspruch auf unser ganzes Leben” an. Diese Aussage wendet sich gegen die von Bonhoeffer in seiner
Ethik später charakterisierte Absicht, “die Sache Christi zu einer partiel703
len, providentiellen Angelegenheit innerhalb des Wirklichkeitsganzen”
zu machen. Auf die Frage, wie die Einheit dieses Anspruchs zu begründen sei, sagt Bonhoeffer: “Hier muß die Bibel selbst um Rat gefragt wer704
den.” Wenn der biblischen Botschaft also ein Anspruch auf das ganze
Leben zukommt, dann sind von der biblischen Ethik auch inhaltliche
Aussagen zur Wirtschaftsordnung zu erwarten. Aus biblischen Normen
sollen nach Dietze Leitlinien für die Wirtschaftsordnung entwickelt werden: “Die Kirche müsse von jeder Wirtschaftsordnung verlangen, daß sie
dem göttlichen Gebote, also namentlich dem Dekalog zu entsprechen
705
suche.” Gegen Leitlinien, die sich aus der Eigendynamik und Eigenlogik der Ökonomie ergeben, wird eine normative Basis für eine Wirtschaftsordnung gesucht. Hier deutet sich bereits eine wirtschaftsethische
Begründung an, die später in der Denkschrift 1943 ausführlicher zur
Sprache kommt. Alfred Müller-Armack wird 1948 in einem Artikel, der
wohl erstmals den Begriff “Soziale Marktwirtschaft” verwendet, von einer
doppelten Zielsetzung sprechen: von der “Aufgabe sozialer Gerechtigkeit
706
und einer Versittlichung des Wirtschaftlichen” . Constantin von Dietze
selber nannte die Dahlemer Thesen von 1937 einen “ernste(n) Versuch
(...), aus einer sauberen evangelischen Theologie die Stellungnahme zur
Wirtschaftsordnung abzuleiten, also nicht aus noch so verständlichen,
auch achtungswerten Einschätzungen des irdischen Geschehens eine
707
eigene Theologie zu entwickeln” .
Die Autoren der wirtschafts- und sozialpolitischen Anlage 4 zur Denkschrift über die Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur
Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten
unserer Zeit bedauern, daß insbesondere die evangelische Ethik sich
bislang kaum Fragen der Wirtschaftsordnung zugewandt, und das, was
existiere, keine allgemeine Zustimmung gefunden habe. Bis in die Mitte
des 19. Jahrhunderts reicht zwar eine sozialprotestantische Tradition.
1927 war die erste Evangelische Wirtschaftsethik von Georg Wünsch erschienen. Es hat in der Weimarer Zeit im Umfeld des religiösen Sozialismus eine intensive Auseinandersetzung um den liberalen Kapitalismus
703
704
705
706
707
D. Bonhoeffer, Ethik, 12. Aufl. München 1988, 209.
Ebd. 220.
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 23.
A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 151.
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 23. Dem Sinn enstprechend muß es wohl heißen: “einen ersten (nicht: ernsten) Versuch...”
252
gegeben. Doch diese sozialprotestantischen Traditionen scheinen den
Autoren entweder nicht bekannt gewesen zu sein, oder sie wollten bewußt an diese nicht anschließen. 1937 hatte in Oxford eine wichtige
ökumenische Konferenz zu Fragen der Wirtschaftsordnung stattgefunden, an der jedoch leider kein Vertreter der Bekennenden Kirche teil708
nehmen konnte.
Von den dort gewonnenen Einsichten der ökumeni709
schen Christenheit war deshalb die Bekennende Kirche abgeschnitten.
Die Autoren der Freiburger Denkschrift fingen trotz schwacher, wenngleich vorhandener sozialprotestantischer Traditionen wirtschafts- und
sozialethisch in einer “Stunde Null” an. Ausgangspunkt waren jene wirtschaftsethischen Überlegungen, die im Anschluß an Barmen 1937 im
Rahmen einer Konferenz der Bekennenden Kirche in Dahlem formuliert
wurden.
Im Vorwort der Anlage 4 zur Wirtschafts- und Sozialordnung der Freiburger Denkschrift wird programmatisch die Aufgabe beschrieben: “Unsere Arbeit gilt in erster Linie der Gesamtordnung des Wirtschaftslebens,
weniger den Pflichten und Geboten, die nach christlicher Lehre für das
710
Verhalten des einzelnen im Wirtschaftsleben gelten.”
Die Denkschrift
will also ordnungspolitisch und sozialethisch, nicht individualethisch argumentieren. Der Freiburger Kreis hat sich in seiner Denkschrift dabei
von drei Leitlinien leiten lassen:
708
709
710
Bedauert wird, daß keine Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland teilnehmen konnte (Kirche
und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat,
hg. von der Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1938,
12); beschlossen wurde, eine Abordnung der Konferenz nach Deutschland zu entsenden (ebd. 268). C.
von Dietze bedauert, daß er an der ökumenischen Tagung in Oxford nicht teilnehmen konnte (Hinweis
in: C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 22). H. ten Doornkaat nennt die Rengsdorfer
Konferenz zur Vorbereitung auf die Oxforder Konferenz einen “ersten Versuch, die Probleme (der
Ökonomie, F.S.) grundsätzlicher zu erfassen” (H. ten Doornkaat, Die Oekumenischen Arbeiten zur sozialen Frage, Frankfurt 1954, 176). Sie sei “der definitive Uebergang von der nur-pragmatischen Fragestellung zur grundsätzlichen Besinnung” (ebd. 177f.).
Unter dem Titel Kirche, Volk und Staat in ihrer Beziehung zur Wirtschaftsordnung wurde auf
der Konferenz in Oxford 1937 ein Konferenzbericht gebilligt, der den Kirchen zu “ernster und
wohlwollender Erwägung” anempfohlen wurde. Die Konferenz nennt den “Grundsatz der Gerechtigkeit” jenes “Richtmaß für alle sozialen Regelungen und Einrichtungen, alle wirtschaftliche Gestaltung und alle politischen Systeme, die dem Leben des Menschen eine Ordnung geben” ( Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkonferenz von Oxford über
Kirche, Volk und Staat, hg. von Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches
Christentum, Genf 1938, Bericht der II.Sektion, 159f.). Die Konferenz wertet die Entstehung
des Sozialismus und des Kommunismus als Folge des Kapitalismus. Der Sektionsbericht betont
eigens, daß in den verschiedenen Ländern der Kapitalismus nicht nur unterschiedlich ausgeprägt sei, sondern daß “das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien
Wirtschaftssysteme entwickelt (hätten), die in wichtigen Punkten von denen anderer kapitalistischer Länder abweichen” (ebd. 164 ). - Nichts jedoch deutet darauf hin, daß der Freiburger
Kreis die Ergebnisse der Konferenz von Oxford rezipieren konnte.
In der Stunde Null, Vorwort, 128.
253
I.
II.
III.
Richtschnuren und Verbote, die sich nach unserem
Glauben aus Gottes Gebot für die Wirtschaft ergeben, die also
die Kirche vertreten kann und muß;
Grundsätze, die sich aus Sachnotwendigkeiten des Wirtschaftens ergeben und die für seine Ordnung dauernde Geltung
besitzen;
eine sachliche Würdigung der gegenwärtigen und der
nach menschlicher Voraussicht bevorstehenden wirtschaftlichen
711
Lage.
Gesucht wird nach einer ethischen Grundlage für die Neukonzeption
der Wirtschaft. Die Gebote Gottes werden als eine solche Grundlage bezeichnet. Bezeichnend jedoch ist, daß der inhaltlich-materiale Aspekt der
biblischen Tradition fehlt. Andererseits wird differenziert zwischen ethischer Grundlage und vernunftgemäßer Ausgestaltung der Ökonomie.
Diese Unterscheidung zwischen der Zuständigkeit von Ethik und Ökonomie ist wichtig. Die Scheidung will nicht die Zuständigkeiten so aufteilen, daß einerseits in der Wirtschaft die ökonomische Eigenlogik gelten
soll und ethische Normen in diesem Bereich sachfremd sind, andererseits Ethik allenfalls im Bereich personaler Beziehungen Geltungen besitzt. Die Differenzierung geht vielmehr von der Einsicht in die Einheit des
ethischen Anspruchs auf alle Lebensbereiche aus. Das aber bedeutet,
daß die Ökonomie auf die Ethik angewiesen ist. Der Mitverfasser der
Freiburger Denkschrift, Constantin von Dietze, hatte sich bereits im Vorwort der Veröffentlichung seines Referates Nationalökonomie und Theologie für eine Konzeption ausgesprochen, die “eine auf christlichem
Glauben gegründete, mit der Vernunft entwickelte Ausrichtung der Wirt712
schafts - und Sozialpolitik”
ermöglicht. Die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ist also eine Sache der Vernunft, ihre Grundlagen jedoch
eine der Ethik. Constantin von Dietze stellt angesichts des Scheiterns
des freien Marktes fest: “Die sittlichen Grundlagen der Wirtschaftsordnung hatten - namentlich zwischen den Volkswirtschaften, aber auch im
713
Innern - sich nicht als stark genug erwiesen.”
Die Denkschrift unterstreicht, daß nicht eine “besonders evangelische oder auch nur allge714
mein-christliche Wirtschaftsordnung” entworfen werden soll. “Denn wir
können nicht aus den Grundlagen unseres Glaubens für die Wirtschaftsordnung genaue Regelungen mit dem Anspruch auf unverbrüchliche
715
Gültigkeit ableiten.”
Deutlich trennt die Denkschrift zwischen einer
711
712
713
714
715
Ebd. 128.
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 7.
Ebd. 21.
In der Stunde Null,Vorwort, 128.
Ebd. 128.
254
normativen Grundlegung und den “Sachnotwendigkeiten des Wirtschaftens”. Die normative Kompetenz kommt der Kirche zu, die sachliche den
Fachleuten, die jedoch ihrerseits unter dem Anspruch der Ethik stehen.
“Was die Kirche nicht selbst zur Wirtschaftsordnung zu sagen berufen
716
ist, hat sie den christlichen Laien zu überlassen.”
Diese Unterscheidung kann sich auf Dietrich Bonhoeffer beziehen, der sich in seiner Ethik
gegen das Denken in zwei Räumen wendet, denn “es gibt nicht zwei
717
Wirklichkeiten, sondern nur eine Wirklichkeit.”
Die Denkschrift des Freiburger Kreises will sich ausdrücklich ihrer
ethischen Grundlagen vergewissern und fordert, “die Grundlagen der
Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen, gerade nach evangeli718
schem Verständnis” . Eine allgemein christliche Begründung reicht ihnen nicht aus. Was aber kann es bedeuten, eine Ökonomie “gerade
nach evangelischem Verständnis” zu konzipieren?
Erstens wird von der Wirtschaftsordnung gefordert, daß es den Akteuren in der Wirtschaft “nicht unmöglich gemacht oder systematisch er719
schwert wird, ein Leben evangelischer Christen zu führen” . Die Denkschrift wendet sich gegen einen Dualismus, der Ethik im Bereich des individuellen Verhaltens ansiedelt und wirtschaftliches Handeln ethikfrei
versteht. Die Denkschrift steht in der Tradition der Zweiten These der
Barmer Theologischen Erklärung und der Thesen der “Ökumenischen
Arbeitstagung der Bekennenden Kirche” von 1937 in Berlin-Dahlem zum
Thema “Kirche und Wirtschaftsordnung”, wenn sie sagt: “Die Gebote des
Herrn richten sich nicht nur an die einzelnen Menschen. (...) Sie gelten
auch für die Gemeinschaften des Lebens und Schaffens, für den Inhalt
720
der sie bestimmenden Ordnungen.”
Gesucht wird nach einer ethisch
begründeten Wirtschaftsordnung. Ethik hat ihren Ort nicht allein in der
Rahmenordnung. Diese muß vielmehr auch so beschaffen sein, daß sie
moralisches Handeln der Akteure ermöglicht. Die Wirtschaftsordnung
entscheidet also darüber, ob ein individualethisches Verhalten überhaupt
möglich ist. Ein Ökonomieverständnis, nach dem Ethik allein in der
Rahmenordnung ihren systematischen Ort hat, kann sich nicht auf die
Inspiratoren der später Soziale Marktwirtschaft genannten Wirtschafts721
konzeption beziehen.
Gesucht wird nach einer Gesamtordnung des
Wirtschaftslebens, die den “ewigen Grundforderungen christlich begrün716
717
718
719
720
721
Ebd. 130.
D. Bonhoeffer, Ethik, 210.
In der Stunde Null,Vorwort, 128.
Ebd. 128.
Ebd. 129.
Gegen K. Homann, der den systematischen Ort der Moral in der Rahmenordnung ansiedelt. So
in: K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 20-53; ders., Wirtschaft
- Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 97ff.
255
722
deter Individual-Wirtschaftsethik” Rechnung trägt. Gefordert wird deshalb eine sozialethisch begründete Ordnungspolitik, die nicht in einem
Gegensatz zu einer Individualethik steht, sondern beides ermöglicht:
ethisches Verhalten des wirtschaftlich Handelnden und eine ethisch
grundgelegte Wirtschaftsordnung.
Zweitens müsse der Wirtschaftsordnung eine Anthropologie zugrunde
liegen. “Der Mensch kann an seiner sittlichen Person und an seiner Seele Schaden leiden, wenn er sich in freiem Wettbewerb hemmungslos
dem Ringen um irdischen Besitz ergibt, nicht minder jedoch auch, wenn
er im Dienst eines vergötzten Kollektivs ausgebeutet wird oder gar andere ausbeutet. Immer wird die Gesinnung entscheidend sein, welche die
723
Durchführung einer Wirtschaftsordnung beherrscht.” Eine Wirtschaftsordnung müsse sachlichen Zweckmäßigkeiten entsprechen und “den
denkbar stärksten Widerstand gegen die Macht der Sünde ermögli724
chen” . In dem zwangs- und kommandowirtschaftlichen System des
Nationalsozialismus hat die Denkschrift eine “Macht der Sünde” erblickt.
Drittens müsse eine ethisch verantwortbare Wirtschaftsordnung biblisch fundiert sein. Von den Geboten des Dekalogs aus werden “Anforde725
rungen an die Wirtschaftsordnung”
formuliert. Die Denkschrift sucht
eine Wirtschaftsordnung in der Perspektive des Dekalogs zu konzipieren:
“Der Dekalog ist keine Zusammenstellung von Gesetzesparagraphen,
die juristisch zu interpretieren wären. Er ist für uns auch nur im Zusam726
menhang mit der ganzen Heiligen Schrift verbindlich.”
An anderer
Stelle hatte Constantin von Dietze einen Hinweis gegeben, der den Bezug auf die Bibel noch genauer erklärt. Während katholische Christen
sich auf das Naturrecht beziehen könnten, sei dem evangelischen Christen “die Heilige Schrift die einzige Offenbarung, und aus ihr kann man ein
vollständiges, für alle Zeiten gültiges Weltbild nicht unmittelbar ableiten,
727
noch weniger eine Wirtschaftspolitik” . Wie sehr die Wirtschaftskonzeption des Freiburger Kreises einer biblisch begründeten Ethik verpflichtet
ist, betont Constantin von Dietze ausdrücklich: “Die eigentliche Aufgabe
der Theologie besteht dabei in der Feststellung der unabänderlichen, aus
Gottes Geboten zu entnehmenden Grundsätze für die wirtschaftliche und
soziale Ordnung; dagegen wird ihr nicht zugemutet, die konkreten wirt728
schaftlichen und sozialen Fragen zu meistern.”
Gleichsam als Ersatz
722
723
724
725
726
727
728
In der Stunde Null, Vorwort, 128.
Ebd. Teil I. 5, 130.
Ebd. 129.
Ebd. Teil I. 3, 129.
Ebd. Teil I. 3, 129.
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 31.
Ebd. 41.
256
für ein fehlendes Naturrecht wurde von der biblischen Tradition eine unmittelbare ethische Maximenkompetenz erwartet.
Gegen die Versuchung zur “Vergötzung irdischer Güter und Mächte”
verweist die Denkschrift auf die ersten drei Gebote des Dekalogs. Das 5.
Gebot des Dekalogs wird ausgedeutet als Schutz des Menschen vor
Ausbeutung. “Aus dem 7., 9. und 10. Gebot folgt, daß eine Ordnung bestehen muß, in welcher ein Wirtschaftender der Nächste des andern sein
729
kann, also echte Gemeinschaft möglich ist.” Ausgehend von den Geboten des Dekalogs muß die Kirche:
a)
b)
Grenzen abstecken, also Verbote verkündigen, welche von der
Wirtschaftsordnung nicht überschritten werden dürfen;
einige feste Richtschnuren für den Inhalt der Wirtschaftsordnung
geben. Dabei muß sie aller Welt Verantwortung für die wirtschaftli730
chen Nöte der Mitmenschen zum Bewußtsein bringen.
In seiner Schrift Aussagen evangelischer Christen in Deutschland zur
Wirtschafts- und Sozialordnung (1946) erläutert Constantin von Dietze
Grundlagen für die Konzipierung der ökonomischen Neuordnung. “Als
Grundlegung für unsere Stellungnahme zur Wirtschafts- und Sozialordnung gibt uns die Heilige Schrift Richtschnuren und Verbote (Ziff. 4). (...)
Da wir keine zwingenden Gesetze des Wirtschaftslebens anerkennen,
haben wir in jeder Lage die rechte Ordnung zu suchen. Dabei müssen
wir den göttlichen Geboten entsprechen, aber auch die jeweilige Lage
und sachnotwendige Grundgesetze des Wirtschaftslebens beachten
731
(Ziff.5)”.
Hier klingt an, was Arthur Rich später in seiner Wirtschaftsethik die Verschränkung von Sachgemäßem der Ökonomie und Men732
schengemäßem der Ethik bezeichnen wird.
Was es bedeutet, Grundlagen einer Wirtschaftsordnung nach evangelischem Verständnis zu formulieren, hat Adolf Lampe, Mitglied des Freiburger Kreises, nach dem Krieg in einem Vortrag 1948 vor der Evangeli733
schen Akademie Echzell ausgeführt.
Im Unterschied zur evangelischen Ethik argumentiere die Katholische Soziallehre naturrechtlich.
Evangelische Theologie jedoch sei an das biblische Schriftprinzip gebun729
730
731
732
733
In der Stunde Null, Teil I. 3, 129.
Ebd. Teil I. 5, 130.
Zit. nach G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen
Marktwirtschaft, 366. Die Schrift Aussagen evangelischer Christen in Deutschland zur Wirtschafts- und Sozialordnung (1946) ist das deutsche Vorbereitungspapier zur Frage der Wirtschaftsordnung für die Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam und nimmt ausdrücklich die
Ergebnisse der Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 auf.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1, 73.
A. Lampe, Gefallene Wirtschaft, (Kirche und Welt. Schriftenreihe der Evangelischen Akademie
in Hessen und Nassau) Heft 2, Frankfurt 1949.
257
den: “Entgegen der im Säkularisierungsprozeß (Smith, Mises) verblüffend schnell in Vergessenheit geratenen metaphysischen Bindung, ist
christliche Weltanschauung nur von der Schrift her möglich. Wie ist aber
biblische Wirtschaftssicht möglich, wenn das Wort Wirtschaft in der Bibel
gar nicht vorkommt? (...) Aber die Bibel gibt doch völlig eindeutige Weisungen für das irdische Leben der Menschen. (...) Deshalb muß nach
den ganz grundlegenden Entscheidungen der Bibel über das Verhältnis
zwischen Gott und den Menschen Ausschau gehalten werden in der Zuversicht, daß dann von dort her zwingende Anweisungen auch für die
734
konkrete Gestaltung des Wirtschaftslebens abzuleiten sein müssen.”
Adolf Lampe hat in seinem Vortrag mit dem Thema Gefallene Wirtschaft darauf hingewiesen: “Statt Machtausgleich zur Sicherung der
menschlichen Freiheit kam es zur Machtübersteigerung und damit zur
735
Verleugnung der Schöpfungsordnung.”
Der wirtschaftliche Entmachtungsprozeß durch Wettbewerb wird hier als eine schöpfungsgemäße
Ordnung verstanden. Adolf Lampe verwendet dabei Argumentationsfiguren, die eine deutliche Nähe zum neoliberalen Denken eines Friedrich
August Hayek zeigen, wenn er sagt: “Die Schöpfungsordnung der Preis736
bildung ist eine Tatsache und muß mit Ehrfurcht behandelt werden.” Er
737
begreift die “Wirtschaftsordnung als Schöpfungsordnung” , die ordnungspolitisch durch Planwirtschaft und Gewerkschaften mißachtet werde, und begründet die Mechanismen einer Marktökonomie dort schöpfungstheologisch, wo Hayek auf den sich selbstregulierenden Markt verweist, den er evolutiv und damit naturgemäß versteht. Dieser Markt fordere nach Hayek eine Haltung der “Demut vor den unpersönlichen und
738
anonymen sozialen Prozessen” . Adolf Lampe formuliert diesen Gedanken theologisch: “Wir müssen der Vergötzung der Wirtschaft und der
734
735
736
737
738
Ebd. 14f.
Ebd. 22f.
Ebd. 23.
Ebd. 23.
F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus , in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung
von Wirtschaft und Gesellschaft, o.O. Bd. 1, 1948, 25. Hier zeigt sich die Nähe der Freiburger
Ordoliberalen zum Gesamtanliegen einer neoliberalen Erneuerung der Wirtschaft, aber auch die
ursprüngliche Nähe der Sozialen Marktwirtschaft zu neo- und ordoliberalen Vorstellungen.
Hayek, Röpke, Eucken u. a. waren sich in der Ablehnung der kriegswirtschaftlichen Lenkung
der Produktion einig. Der Staat solle sich aus der Wirtschaft zurückziehen. A. Müller-Armack
schließt sich den Erkenntnissen von Eucken, Hayek, von Mises und Röpke ausdrücklich an,
daß Wirtschaftslenkung wohlstandshemmend sei (A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 131ff.). Urbild der Wirtschaftslenkung sei die Kriegswirtschaft (Ebd.,
141). Müller-Armack erwartet sich mehr soziale Gerechtigkeit nicht durch den “utopischen Ansatz” (Ebd. 141) direkter Verfolgung ergebnisorientierter ethischer Ziele. Sie ergeben sich indirekt, wenn der Staat sich auf “Maßnahmen zur Schaffung und Sicherung der Wettbewerbswirtschaft” beschränkt (Ebd. 152).
258
Wirtschaftsmacht absagen und nach einer schöpfungsgemäßen Wirt739
schaft Ausschau halten.” Adolf Lampe spricht von einer “schöpfungsgemäßen Wirtschaft”, in der sich eine “Unterordnung der eigengesetzli740
chen Wirtschaft unter die Gebote Gottes”
vollziehe, wo Hayek von
“Demut vor ... sozialen Prozessen” spricht. “Von dorther strahlt ein eigenes Licht auf den Gedankengang auch des Wirtschaftstheoretikers, der
741
nüchtern und unbefangen Wirklichkeit zu analysieren versucht.”
Die
Folgerungen des Denkens bei Lampe und Hayek sind beide Male gleich:
wie gegenüber der Schöpfungsordnung so muß der Mensch sich auch
gegenüber den Marktprozessen unterordnen.
Wenn man also fragt, auf welche theologischen Traditionen sich die
protestantischen Väter des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft bezogen haben, und was mit dem Anliegen gemeint war, “die Grundlagen
der Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen, gerade nach evange742
lischem Verständnis” , so fällt auf, daß sie nicht bloß von einer
christentumsgeschichtlichen Motivation geleitet waren, wie vielfach angenommen wird, sondern auf einer ausdrücklichen biblischen Begründung bestanden. Sie standen dabei vor dem Dilemma, eine ethisch fundierte Wirtschaftsordnung konzipieren zu wollen und erfahren zu müssen, von der Theologie keine Zuarbeit erwarten zu können. Es läßt sich
als Ergebnis festhalten, daß in der Denkschrift des Freiburger Kreises
wie auch in den Beiträgen von den Mitverfassern der Denkschrift Constantin von Dietze und Adolf Lampe die biblisch-ethische Begründung als
das kennzeichnende protestantische Prinzip schlechthin verstanden wird.
Günter Brakelmann hat Recht, wenn er bei den Begründern der Sozialen
Marktwirtschaft Wurzeln in philosophischen, theologischen und ethischkulturellen Traditionen, die sich der Reformation verdanken, aus743
macht. Doch dieser theologische Ansatz läßt sich genauer fassen: Der
Freiburger Kreis hat nicht bloß aus einem unbestimmten Erbe der Reformation geschöpft, sondern vielmehr die Wirtschaftsordnung ausdrücklich mit solchen ethischen Begründungen ausstatten wollen, die
sich an der biblischen Tradition und insbesondere am Dekalog orientierten. Das nannten sie eine Begründung der Wirtschaftsethik, “gerade
744
nach evangelischem Verständnis.”
Die Verfasser der Denkschrift haben der Theologie und Sozialethik ein
fundamentales Versagen in politischen und wirtschaftsethischen Fragen
739
740
741
742
743
744
A. Lampe, Gefallene Wirtschaft, 24.
Ebd. 25, Anm. 1. Diese Aussage fiel in der Diskussion im Anschluß an ein Referat.
Ebd. 24.
In der Stunde Null,Vorwort, 128.
G. Brakelmann, Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, 202.
In der Stunde Null,Vorwort, 128.
259
vorgeworfen. Constantin von Dietze hat die Dialektische Theologie kritisiert, die meinte, “die Welt sei im Grunde verderbt und verloren; sie zu
ordnen, sei entweder ganz unmöglich oder doch eine Angelegenheit, die
745
den Christen, vollends den Theologen nichts angehe.”
Auch Alfred
Müller-Armack schließt sich dieser Kritik in seinem Aufsatz Soziale Ire746
nik an und plädiert für eine friedvolle Zusammenarbeit der verschiedenen weltanschaulich geprägten Sozialbewegungen. Selbst evangelischer
Christ, bemängelt er die damals vorherrschende Dialektische Theologie,
die mit ihrem Ideal einer entmachteten Kirche eine Einstellung habe entstehen lassen, “die es als solche ablehnt, zur Frage der konkreten Welt747
gestaltung irgendeine bestimmte Position zu beziehen.”
Den Verfassern der Denkschrift fehlten sachkompetente theologische Gesprächspartner. Constantin von Dietze hat keinen Zweifel daran gelassen, daß
der Nationalökonom die Theologie braucht. “Es ist ein Hilferuf aus inne748
rer Bedrängnis,”
klagt er beinahe verbittert den wirtschaftsethischen
Beitrag der Theologie ein. Die Erfahrung mit dem Versagen von Theorie
und Praxis des freien Marktes, aber auch die Katastrophe, in die
Deutschland sich durch den Nationalsozialismus manövriert hatte, ließen
Constantin von Dietze nach der gesellschaftlichen Verantwortung der
Theologie fragen. Christentum und Theologie schuldeten der Gesell749
schaft “moralische Grundlagen und Ziele des öffentlichen Lebens.” In
seinen Augen ist “für einen dauernd gültigen Gehalt der Gerechtigkeit
750
das Christentum die einzige Quelle.” Der Rückgriff auf biblische Normen spricht dem Begriff der Eigengesetzlichkeit die theologische und
ethische Legitimität ab und stellt zugleich eine Theologie infrage, die sich
getrennt und abseits von Ökonomie eingerichtet hatte. Die Autoren haben direkt auf die Bibel und den Dekalog zurückgegriffen. Dieser unmittelbar erfolgte Rückgriff mag theologisch bedenklich sein. Doch dieser
Vorwurf fällt auf eine Theologie und Sozialethik zurück, die das Gespräch
mit der Ökonomie nicht nur nicht gesucht, sondern aus ihrem theologischen Selbstverständnis heraus erst gar nicht für nötig erachtet hatte.
745
746
747
748
749
750
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 31. Emil Brunner nennt es unverständlich,
daß Wirtschaftsprobleme von der Ethik nicht beachtet werden, zumal diese in der Bibel Alten
und Neuen Testaments im Mittelpunkt des Blickfeldes stünden. “Eine Ethik, die sich der wirtschaftlichen Problematik entzieht, hat jedenfalls auf den Namen einer christlichen oder biblischen keinen Anspruch.” So E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, Nachdruck o.O., o.J.,
380.
Münster 1949, als Manuskript gedruckt; später veröffentlicht in: A. Müller-Armack, Soziale
Irenik, in: ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, 559-578.
Ebd. 569.
C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 40.
Ebd. 40.
Ebd. 40.
260
Resümierend läßt sich sagen: Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl
und Eigennutz verweist zur ethischen Begründung der Sozialen Marktwirtschaft auf die kulturell “bestimmende Weltsicht” (Ziff. 99) und auf jene
rationale Lebensführung, die ihre “Wurzeln im Christentum” (Ziff. 99) haben. Traugott Jähnichen spricht von einer “Affinität des christlichen Ethos
751
zu diesem wirtschaftspolitischen Ordnungsmodell” , das Alfred MüllerArmack später als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen wird. Eckart Otto
stellt eine Verbindung zwischen biblischen Motiven und den Ursprüngen
des westlichen Wirtschaftsmodells her: “Diese ethischen Grundorientie752
rungen speisen sich aus den Wurzeln ihres religiösen Ursprungs.” In
der Sozialen Marktwirtschaft zeigen sich nach Otto eine “biblische Moti753
754
vik” oder nach Rendtorff “Gemeinwohltraditionen des Christentums” .
Diese Aussagen weisen auf einen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen christlicher Ethik und Sozialer Marktwirtschaft
hin. Eckart Müller differenziert die Aussage von Günter Brakelmann und
Traugott Jähnichen, die in den Konzeptionsentwürfen der Sozialen
Marktwirtschaft explizite sozialprotestantische Traditionslinien ausmachen. “Der christliche Glaube und die protestantische Tradition standen
vielmehr oftmals unausgesprochen im Hintergrund und wirkten von
755
dort.” Ob diese Einschätzung Müllers auf die zutrifft, die nach 1945 die
Soziale Marktwirtschaft entwickelt haben, steht hier nicht zur Debatte;
doch diese Einschätzung trifft keineswegs auf die Verfasser des wirtschafts- und sozialpolitischen Anhangs zur Freiburger Denkschrift zu, die
ganz wesentlich die Konzeptionsentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft inspiriert und geprägt haben. Christlicher Glaube und protestantische Traditionen standen dort keineswegs bloß unausgesprochen im
Hintergrund, sondern bildeten zusammen mit einer ausdrücklichen biblischen Bezugnahme die ethische Grundlage für eine Wirtschaftskonzeption, die die Theoriebildung der Sozialen Marktwirtschaft ganz wesentlich
beeinflussen sollte.
8.1.4 Die konzeptionelle Entfaltung der Sozialen Marktwirtschaft
751
752
753
754
755
T. Jähnichen, Protestantische Impulse für das Konzept “Soziale Marktwirtschaft”, in: G.
Brakelmann, T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft,
312.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 115.
Ebd. 115.
T. Rendtorff, Die Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.),
Gerechtigkeitsfähiges Deutschland, 31-38.
E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 10, vgl. auch 23f.
261
Die Wirtschaftskonzeption, die nach 1945 zur Sozialen Marktwirtschaft
führen sollte, ist nicht theoretisch konzipiert worden. “Ihre ethischen Fundamente und konkreten Strukturen wurden von christlich geprägten Wissenschaftlern in den Jahren 1938 - 43 im Widerstand gegen den Natio756
nalsozialismus offengelegt.”
Sie formulierten auf diesem Hintergrund
ein ordnungspolitisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sozialethisch inspiriert war. Die Denkschrift des Freiburger Kreises hat Philipp von Bismarck “Fundament und Maßstab der unter dem Namen Sozi757
ale Marktwirtschaft zusammengefaßten Gesamtkonzeption”
genannt.
Deren ethische Fundamente und die ordnungspolitischen Prinzipien
prägten die Soziale Marktwirtschaft nachhaltig. “Die auf ihnen basierenden, zahlreichen, die verschiedenen wirtschafts- und sozialpolitischen
Bereiche betreffenden Anregungen (...) haben sowohl die rechtliche Absicherung der Wirkungsbedingungen als auch die politische Einführung
der Sozialen Marktwirtschaft in den Jahren von 1948 bis 1960 wesentlich
758
mit beeinflußt.” Die Soziale Marktwirtschaft kann deshalb durchaus als
eine sozialethisch inspirierte Antwort auf das Scheitern von Theorie und
Praxis einer freien Marktwirtschaft angesehen werden.
Ein zweimaliges katastrophales Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Theorie und Praxis wurde 1945 offenkundig. Die Wirtschaftspolitik des schwachen Staates der Weimarer Zeit mit ihrer Inflation und Massenarbeitslosigkeit hatte den Kapitalismus diskreditiert. Auch
die staatlich gelenkte Zwangswirtschaft während der NS-Diktatur war untragbar. Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft zogen aus den bitteren
Erfahrungen mit dem Scheitern des schwachen Staates in der Weimarer
Republik und dem Scheitern autoritärer Konzepte in der NS-Zeit die Lehre und formulierten einen dritten Weg zur Bändigung der Marktkräfte. Sie
hatten einerseits in der Weimarer Republik die Erfahrung gemacht, daß
die Marktökonomie so mächtig ist, daß nur ein handlungsfähiger und
handlungswilliger Staat ihr Grenzen setzen kann. Angesichts der Erfahrungen mit der NS-Diktatur andererseits sollte Freiheit gegen autoritäre und totalitäre Lösungen gesichert bleiben. Das Konzept der Sozialen
Marktwirtschaft ist deshalb auch eine “konsequente wirtschaftspolitische
und sozialphilosophische Lehre aus den Erfahrungen der Weimarer Re759
publik und des Dritten Reiches” . Die Soziale Marktwirtschaft wurde von
Männern konzipiert, die vom Nationalsozialismus in die äußere Emigrati756
757
758
759
Ph. von Bismarck, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk der Stunde Null, Freiburg 1992, 7.
Ebd. 31.
Ebd. 31.
K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 98.- Erst später im Zuge des kalten Krieges wurde er als ein
Dritter Weg zwischen totalitärem Staatssozialismus und Liberalismus bezeichnet.
262
on gezwungen wurden, so u.a. Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow,
und von Wissenschaftlern wie Wilhelm Eucken und Alfred MüllerArmack, die in der inneren Emigration die NS-Zeit zu überleben suchten.
Nie wieder autoritärer Faschismus und nie wieder ungebändigter Kapitalismus ist der Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg. Alexander
von Rüstow will mit dem Projekt einer Revision des Liberalismus einen
dritten Weg zwischen dem zusammengebrochenen historischen Liberalismus und dem drohenden Kollektivismus finden, in dem “Gerechtigkeit
und Freiheit einerseits und höchste wirtschaftliche Ergiebigkeit ander760
seits”
vereinigt sind. Die Soziale Marktwirtschaft ist also das weitreichende Reformprojekt einer Revision des Liberalismus, das sich mit
einem dreifachen Anti gegen Theorie und Praxis eines freien Marktes
761
abgrenzt: antikapitalistisch, antifaschistisch, antisozialistisch.
Protestantische Laien haben in einer bestimmten historischen Konstellation unter Rückgriff auf zentrale Motive protestantischer und biblischer
Tradition das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt.
Daß die Soziale Marktwirtschaft zur Traditionslinie des sozial engagierten
Protestantismus gehört, ist weithin unbekannt. Die katholische Sozialethik hatte an der Konzipierung der Sozialen Marktwirtschaft nur geringe762
ren Anteil.
Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil fand die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft auch keineswegs ungeteilte Zustimmung innerhalb der katholischen Sozialethik. Die Skala reichte nach
Josef Stegmann von einem “vorsichtigen „Ja, aber‟ bis zu einem „beinahe
763
Nein‟” . Im Umfeld der evangelischen Ethik und Theologie hat es allerdings keine vergleichbar kontroverse Auseinandersetzung um die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft gegeben, wie sie im Katholizismus
geführt wurde. Die Debatte im Protestantismus begnügte sich mit einer
pauschalen Befürwortung oder Ablehnung des Konzeptes des Sozialen
760
761
762
763
A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 100.
F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder Neoliberalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit Abschied geben.” 13.
So auch K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 106.
J. Stegmann, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: ders., Die Katholische Kirche in der
Sozialgeschichte. Die Gegenwart, München - Wien, 1983, 2. Die kontroverse innerkatholische
Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft, die als Spielart des Neoliberalismus verstanden
wird, ist nachgezeichnet in: J. Stegmann, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: ders.,
Die Katholische Kirche in der Sozialgeschichte; E. E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Nawroth kommt zu dem Resümee, daß, entgegen einem Diktum von Müller-Armack, das neoliberale System (i.e. die Soziale Marktwirtschaft) keineswegs
eine “neue dritte Form” sei, sondern wie Röpke zu Recht sage, eine “ungestüme Renaissance”
altliberalen Gedankenguts (so die Einschätzung und Bewertung von E. E. Nawroth, Die Sozialund Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 242f.). - Im Umfeld evangelischer Ethik wurde und wird nicht vergleichbar um das Ökonomiekonzept einer Sozialen Marktwirtschaft, sondern eher um die Fundamentalalternative Marktwirtschaft versus Sozialismus gerungen.
263
Markwirtschaft. Erst im Gemeinsamen Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit haben sich die beiden Kirchen einmütig zur Unterstützung der
Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft zusammengefunden und dieser Wirtschaftsweise eine besondere Nähe zur christlichen Sozialethik
zuerkannt.
Die Ordnungsidee der Sozialen Marktwirtschaft stellt Alfred MüllerArmack in einen Zusammenhang von Anthropologie und Gerechtigkeit,
wenn er sie eine “zwischen Individualismus und Kollektivismus hindurch764
gehende Wirtschaftspolitik”
nennt. “Einzig die christliche Haltung ist
geeignet, die Zerrissenheit in die Formen individualistischer und kollektivistischer Haltungen aus der Tiefe ihres überlegenen, beide Antagonismen umschließenden Personalismus zu überwinden und schon aus ihrer Distanz zur Welt der gefährlichen Verstrickung in jene formalen
765
Grundsätze zu steuern.” Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft
bettet die Ökonomie in eine soziale, ökonomische und politische Rahmenordnung ein. Ökonomie wird zu einem kulturellen Projekt. Unstrittig
war den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft, daß an die Wirtschaftspolitik moralische Forderungen zu stellen sind. Alexander Rüstow streicht
deutlich die ethische Bindung der Ökonomie heraus: “Die Wirtschaftspolitik untersteht der Forderung der Moral, und alle wirtschaftspolitischen
Fehler, die gemacht werden, und leider in großem Maße gemacht wer766
den, lassen sich gleichzeitig als Verstöße gegen die Moral auffassen.”
Nicht anders Müller-Armack, der das Anliegen so beschreibt: “Aufgabe
767
sozialer Gerechtigkeit und einer Versittlichung des Wirtschaftlichen”.
Die Soziale Marktwirtschaft versteht sich deshalb auch als eine Ökonomie, die ihr Selbstverständnis nicht gegen oder ohne Ethik, sondern nur
mit ihr definiert. In ihr schlägt sich eine bewußte und nicht nur implizite
Vermittlung von Ethik und Ökonomie nieder.
764
765
766
767
A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, in: ders., Religion und Wirtschaft, Stuttgart
1959, 508.
Ebd. 507.
A. Rüstow, Rede und Antwort, 13f.
A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 151. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen sieht die Soziale Marktwirtschaft als Teil einer Gesellschaft, deren Grundkonsens durch Menschenrechte und freiheitlich-soziale Demokratie geprägt ist (vgl. Kap. 4,
bes. Ziff. 129). Strukturen und Rahmenbedingungen reichen allerdings nicht aus. Deshalb heißt
es im Kirchenwort: “Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im allgemeinen bewußt ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur” (Ziff. 12). In
deutlicher Abgrenzung von neoliberalen Ökonomie-Konzeptionen bekräftigen die Kirchen, daß
nicht der Markt allein schon durch einen funktionierenden Wettbewerb sozial erträglich werde.
“Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben”
(Ziff. 12).
264
Ungeachtet zahlreicher Unklarheiten und auch Widersprüche in der
Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nennt Alfred Müller-Armack
als Voraussetzungen für das Funktionieren einer Marktwirtschaft u.a. folgende soziale Interventionen oder Lenkungsmaßnahmen in den Markt:
-
die konjunkturpolitische Stabilisierung des Arbeitsmarktes;
die Korrektur der durch den Markt herbeigeführten Einkom769
mensverteilung;
770
die Schaffung eines sozialen Rechts.
768
Alfred Müller-Armack will also die sozialen Rechte, den Arbeitsmarkt
und die Einkommensverteilung nicht dem Markt überlassen. In einer Metapher nennt er den Markt einen “Halbautomaten, der seiner vollen Be771
dienung bedarf.”
Für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist
ein programmatischer Interventionismus zentral, der Marktversagen
überwinden und gesellschaftspolitische soziale Ziele erreichen will. Weder der neoklassisch theoretisch begründete Wettbewerbsmarkt noch ein
Staat, der jenseits gesellschaftlicher Interessenkonflikte steht, können
das Gemeinwohl begründen. Deshalb kann auch der Wettbewerb nicht
ein normatives Ordnungsprinzip der Wirtschaft sein. Alfred MüllerArmack hat die negativen Effekte des wettbewerblichen Marktsystems
sehr wohl erkannt: “Die Wettbewerbsordnung (...) vermag nicht, die Gesellschaft als Ganzes zu integrieren, gemeinsame Haltungen und Gesinnungen (...) zu setzen, ohne die eine Gesellschaft nicht zu existieren
772
vermag. Sie zehrt an der Substanz geschichtlicher Bindungskräfte.”
Was unter Sozialer Marktwirtschaft zu verstehen ist, ist keineswegs
eindeutig. Selbst bei Alfred Müller-Armack finden sich sehr verschiedene
Konzeptionen und Vorstellungen einer Sozialen Marktwirtschaft. Er versteht die Soziale Marktwirtschaft bereits in der frühesten Darstellung als
“Synthese der marktwirtschaftlichen Kräfte und einer sozialen Ord773
nung” . Die Ordoliberalen der Freiburger Schule wissen um die Defizite
der Marktwirtschaft und erwarten deshalb von einem starken Staat, daß
er Wettbewerb und Geldwert sichert. Die Funktionsfähigkeit des Marktes
jedoch soll allemal gesichert werden und darf durch die vom Staat erwar768
769
770
771
772
773
Ebd. 153; auch in: ders., Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. 2. erw. Aufl. Bern - Stuttgart 1976,107; ders., Das Jahrhundert
ohne Gott, 507.
A. Müller-Armack, Die Soziale Marktwirtschaft und ihre Widersacher, in: ders., Genealogie der
Sozialen Marktwirtschaft, 2. erw. Aufl. Bern 1981, 150.
A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 152.
A. Müller-Armack, Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. Bern-Stuttgart 1976, 234f.
Ebd. 235.
A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 153.
265
tete Funktion des sozialen Ausgleichs nicht beeinträchtigt werden. Für
die extremen Neoliberalen ist eine Marktwirtschaft dagegen schon dann
sozial, wenn ein funktionsfähiger Wettbewerb existiert und eine Anbietermacht bricht. Der Wettbewerb bringt aus sich heraus das Soziale hervor. Deshalb sind lenkende Interventionen durch die Politik nicht nur
überflüssig, sondern auch schädlich. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR definiert die Soziale Marktwirtschaft “durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung
und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und
Dienstleistungen” (Art. 1, Abs. 3). Der Vertrag benennt die “Prinzipien der
Sozialen Marktwirtschaft mit der freien Entscheidung der Unternehmer
über Produkte, Mengen, Produktionsverfahren, Investitionen, Arbeitsverhältnisse, Preise und Gewinnverwendung” (Art. 11 Abs. 2). Worin das
“Soziale” der Sozialen Marktwirtschaft bestehen könnte, erklärt diese Definition von Sozialer Marktwirtschaft nicht. Für den Osten Deutschlands
wurde die Soziale Marktwirtschaft von vornherein im Sinne der extremen
Neoliberalen definiert. Mit diesem Selbstverständnis ist sie auch dort angekommen. Der Ökonom Siegfried Katterle bemängelt denn auch, daß
“Wirtschaftspolitiker wesentliche Traditionen der Sozialen Marktwirtschaft
aufgegeben und sich im Vollzug ihrer neoklassisch-angebotspolitischen
774
Orientierung dem Typ einer „freien‟ Marktwirtschaft angenähert”
haben.
Konstitutiv für das von den Kirchen im Wirtschafts- und Sozialwort verteidigte Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft ist ein Sozialstaat, der
“nicht als ein nachgeordnetes und je nach Zweckmäßigkeit beliebig zu
„verschlankendes‟ Anhängsel der Marktwirtschaft” zu verstehen ist, sondern einen “eigenständigen moralischen Wert” (Ziff. 133) darstellt. Die
Soziale Marktwirtschaft ist nicht bloß eine effiziente Wirtschaftsform. Sie
gründet vielmehr “auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht herstellen und auch nicht garantieren kann” (Ziff. 91), nämlich in ethischen und
anthropologischen Vorentscheidungen. In Abwandlung einer Begründung
von Demokratie durch Ernst-Wolfgang Böckenförde, nach der “der freiheitliche, säkularisierte Staat (...) von Voraussetzungen (lebt), die er
775
selbst nicht garantieren kann” , verweist das Wort der Kirchen darauf,
daß der freiheitliche Rechtsstaat wie die Soziale Marktwirtschaft sich sel774
775
S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 63.
E.W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat,
Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt 1976, 60.
W. Röpke hat ebenfalls auf die ethischen Voraussetzungen der Sozialen Marktwirtschaft hingewiesen: “Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen jene sittlichen Reserven nicht. Sie setzen sie voraus und verbrauchen sie.” (W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach - Zürich, 1966, 186.)
266
ber weder begründen noch hervorbringen oder in ihrem Bestand garantieren können. Die Marktwirtschaft kann ihre eigenen Bestandsvoraussetzungen nicht sichern. Die Ökonomie zehrt demnach von einer normativen Substanz, die sie nicht aus sich selbst produzieren kann. “Die Rolle
von handlungsleitenden Prinzipien, von normativ geprägten Selbstverständnissen des modernen Sozialstaates werden leicht unterschätzt,
doch lassen sich Verteilungskonflikte und sozialpolitische Auseinandersetzungen, aber auch freiwilliges Engagement nur dann erfolgreich politisieren und kollektivieren, wenn sie kulturell eingebunden sind, also mit
776
normativer Bedeutung versehen sind.”
Die Soziale Marktwirtschaft wird als Teil eines Ensembles von Werten
aus Menschenrechten, freiheitlich-sozialer Demokratie und einer Sozialkultur verstanden. Der Markt trägt seine Rechtfertigung nicht in sich. Erst
dieses Wechselspiel von materieller Sicherheit, politischen und sozialen
Rechten legitimiert eine Marktökonomie westlichen Zuschnitts. Die Kirchen warnen davor, nur auf den Markt setzen zu wollen, weil dadurch
auch die Funktionsvoraussetzungen der Marktwirtschaft selber zerstört
werden. “Mit der Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel
der sozialen Gerechtigkeit gefährdet” (Ziff. 146). Die ökonomische Effizienz der Marktökonomie führen die Kirchen nicht auf den Markt allein zurück, sondern binden die Effizienz der Marktwirtschaft an “wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Ausgleich als gleichrangige Ziele”, wobei “jeweils der eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen begriffen” (Ziff. 143) wird.
Die Kirchen haben sich mit diesem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft in den Definitionsstreit um die Soziale Marktwirtschaft eingeschaltet. Ausdrücklich machen sie sich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu eigen. “Die Kirchen sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin (...) den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige
Wirtschafts- und Sozialpolitik” (Ziff. 9). Die Kirchen beziehen sich einmal
auf eine Soziale Marktwirtschaft als einer “bewußt sozial gesteuerten
Marktwirtschaft” (Müller-Armack, zit. in: Ziff. 143) und zum anderen auf
ein Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft, das durch Freiheit des
Marktes und einen sozialen Ausgleich als den beiden Säulen sich kennzeichnen läßt (Ziff.9). “Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und
die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke”
(Ziff. 9, auch 142, 143, 145, 156). “Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft stellt einen produktiven Kompromiß zwischen wirtschaftlicher
776
J. Schmid, Wohlfahrtstaaten im Vergleich. Soziale Sicherungssysteme in Europa. Organisation,
Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen 1996, 292.
267
Freiheit und sozialem Ausgleich dar” (Ziff. 143, auch Ziff. 9). Zwischen
beiden Definitionen jedoch besteht ein deutlicher Widerspruch. Das Bild
für die Soziale Marktwirtschaft mit ihren beiden Pfeilern macht nicht mehr
deutlich, daß das Soziale integrativer Bestandteil des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft ist. In dieser letzten Definition bekommt die “wirtschaftliche Freiheit” daher eine eigenständige Bedeutung. Der Marktapparat soll nicht beeinträchtigt werden. Nur im nachhinein soll es nunmehr
bei den Ergebnissen des Marktes zu einem “sozialen Ausgleich” kommen. Der Marktprozeß jedoch soll sich selber überlassen bleiben. Die
andere Definition, die von einer “bewußt sozial gesteuerten Marktwirtschaft” ausgeht, betrachtet den Marktprozeß nicht als selbsttätiges System, sondern erwartet von einer Steuerung des Marktprozesses die gewünschten sozialen Wirkungen. Zwischen beiden Definitionen von Sozia777
ler Marktwirtschaft besteht eine Spannung.
Über ein bloß ordoliberales Konzept von Sozialer Marktwirtschaft geht
das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen aber hinaus, wenn es jene
fünf Komponenten erläutert, mit denen sich die Marktwirtschaft in
Deutschland das Adjektiv “sozial” verdient:
-
eine gerechte Verteilung und Beteiligung der Menschen am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben;
Verantwortung von Arbeitgeber und Gewerkschaften für die
Aushandlung fairer und gerechter Arbeitsbedingungen;
marktwirtschaftliche Effizienz und der soziale Ausgleich durch
den Sozialstaat als sich wechselseitig bedingende Momente;
gerechte Verteilungsprozesse;
ein Wirtschaftsbürgerrecht, das die Objektstellung der Arbeitnehmer überwindet und sie zu Subjekten des Sozialprozesses der
778
Güterherstellung macht (Ziff. 143, auch Ziff. 172).
Diese Klarheit in der Begriffsbestimmung ist zu begrüßen, denn nur zu
viele sprechen von Sozialer Marktwirtschaft, ohne zu klären, was sie mit
dem Begriff bezeichnen. Die verschiedenen Inhalte, die mit dem Begriff
“Soziale Marktwirtschaft” in Verbindung gebracht werden, zeigen, daß die
Soziale Marktwirtschaft ein offenes System ist, das immer wieder eine
“strukturelle und moralische Erneuerung” (Ziff. 9) braucht.
Oswald von Nell-Breuning urteilt über das Verständnis von Sozialer
Marktwirtschaft des späteren Müller-Armack: “Sein sozialer Gehalt hat
777
778
Vgl. F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder Neoliberalismus? “... der regulativen Idee der
Gerechtigkeit Abschied geben.”, in: Martin Huhn u. Franz Segbers u. Walter Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen, Bochum 1997,
11-16.
So F. Hengsbach, B. Emunds, M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 216f.
268
779
sich als reichlich mager herausgestellt.” An der Wirtschafts- und Sozialpolitik der frühen Bundesrepublik kritisiert Oswald von Nell-Breuning,
daß tatsächlich noch keine Ausrichtung auf eine bewußte soziale Gestaltung der Wirtschaft erfolgt sei. Deshalb führe die Soziale Marktwirtschaft
780
“den Beinamen „sozial‟ vorerst noch auf Kredit.”
Wann aber verdient
die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft das Attribut “sozial” zu
Recht? Oswald von Nell-Breuning nennt folgendes zentrale Kriterium:
“Als „sozial befriedigend‟ können wir eine Wirtschaft erst anerkennen,
wenn sie so geordnet ist, daß jeder Mensch Subjekt des Sozialprozesses
781
der Wirtschaft ist und keiner bloßes Objekt.”
Sozial befriedigend sei
eine Wirtschaft darüber hinaus nur, wenn sie jedem Arbeitswilligen und
Arbeitsfähigen Arbeit und Verdienst verschaffe, humane Arbeitsbedingungen existieren, die Wirtschaftspolitik die Wirtschaft bewußt lenke und
der Ertrag der Wirtschaft sozial gerecht verteilt werde. Er bedauert später
zurückblickend, daß die scharfen Konturen der ursprünglichen Konzeption einer sozial befriedigenden Marktökonomie in der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik dann gänzlich zerflossen seien. Übriggeblieben
782
sei nun nicht mehr als ein “sozial temperierter Kapitalismus” . NellBreuning hat zum großen Verdruß von Müller-Armack die praktizierte
783
Soziale Marktwirtschaft eine “theoretische Begleitmusik”
der Wirtschaftspolitik genannt. Nicht grundsätzlich anders urteilt der katholische
Sozialethiker Franz Klüber, wenn er sagt, daß die Soziale Marktwirtschaft
ihren Namen nur verdiene, wenn sie sich als Antwort auf die soziale Frage verstehe. “Diese umschließt in ihrem Kern auch heute noch trotz aller
„Temperierung‟ des Kapitalismus das gleiche Problem wie im Hochkapitalismus: Konzentration des Produktionsvermögens in den Händen weniger, Ausschluß der Lohnarbeiterschaft vom Kapitaleigentum und ihre
784
Degradierung zum Objekt des Produktionsprozesses.”
Nicht nur diese Skepsis der Ethiker ist nunmehr dahin, auch die Kriterien für das Soziale einer Sozialen Marktwirtschaft werden nicht mehr
formuliert. Früher als die katholische hatte die evangelische Kirche sich
die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft bereits in der Denkschrift
Gemeinwohl und Eigennutz (1991) offiziell zu eigen gemacht. Im Wirtschafts- und Sozialwort haben sich die Kirchen positiv zur Programmatik
779
780
781
782
783
784
O. von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1990, 233.
O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und Katholische Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und
Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 88.
O. von Nell-Breuning, Die soziale Marktwirtschaft im Urteil der katholischen Soziallehre, in:
ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 101.
So Götz Briefs, zit. ohne Angaben bei: O. von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen, 237.
Ebd. 236.
F. Klüber, Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Bonn 1976, 57.
269
einer Sozialen Marktwirtschaft ausgesprochen. Kirchen hätten zu einem
785
“zustimmend-konstruktiven Verhältnis”
zum Ordnungsrahmen und
Handlungskonzept der Sozialen Marktwirtschaft gefunden, urteilt Trutz
Rendtorff. In einem umgangssprachlichen Sinn könne man durchaus von
einem Bekenntnis der Kirche zur Sozialen Marktwirtschaft in der Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz sprechen, resümiert Trutz
786
Rendtorff. Arthur Rich hingegen ist vorsichtiger, wenn er sagt: “Trotzdem weist die praktizierte Soziale Marktwirtschaft (...) strukturelle Defizite
787
auf, so daß man nicht schlechthin bei ihr stehen bleiben kann.” Worin
bestehen diese strukturellen Defizite? Eine maßvolle ökonomische Makroplanung sei umstritten, marktmachtverhindernde Vorkehrungen würden
kaum greifen und die ökologischen Folgen des Wirtschaftswachstums
seien nicht zu rechtfertigen. Die Soziale Marktwirtschaft müsse deshalb
weiterentwickelt werden, denn sie “deckt sich zwar nicht einfach mit den
Ansprüchen, die sich aus den Kriterien der Humanität an Glauben, Hoffnung, Liebe ergeben, doch gibt es eine Konvergenz zu ihnen. (...) Darum
ist sie für uns grundsätzlich rezipierbar. Das gilt freilich nicht ohne Vorbehalt . (...) Sie ist zumindest in der real existierenden Form kein ordnungs788
politisches Optimum.”
Arthur Rich kritisiert die Wirtschaftspraxis, die
nur mit Abstrichen dem originalen Konzept entspreche. Rich und von
Nell-Breuning geben sich mit jenem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft besonders des späteren Müller-Armack nicht zufrieden. NellBreuning meldet sozialethische Bedenken an und sucht deshalb nach
Wegen, “einen Schritt über das, was wir heute sozial temperierten Kapi789
talismus nennen, hinaus zu tun.”
Auch Siegfried Katterle plädiert für
790
eine Position “jenseits der Sozialen Marktwirtschaft.”
Skeptisch ist
ebenfalls der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich. Der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armacks wirft er vor, “in entscheidenden Punkten ver785
786
787
788
789
790
T. Rendtorff, Die Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, 33.
So T. Rendtorff, Gemeinwohl und Eigennutz - Perspektiven für den Dialog zwischen Kirche
und Wirtschaft, in: P. Bocklet u. G. Fels u. H. Löwe (Hg.), Der Gesellschaft verpflichtet. Kirche
und Wirtschaft im Dialog, Köln 1994, 164. Günter Brakelmann hält es dagegen für unangemessen, sich zur Sozialen Marktwirtschaft bekennen zu können. Jede pseudoreligiöse Sprache sei
hier fehl am Platz. G. Brakelmann, Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, 201.
A. Rich, Wirtschaftsethik , Bd. 2, 343. Zur kritischen Auseinandersetzung mit A. Richs Rezeption der Sozialen Marktiwrtschaft vgl. : E. Müller, Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 263f.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 329.
O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung. Wer mit Wem? Freiburg 1969, 50 (mit Bezug auf das
Ahlener Programm der CDU), 65.
S. Katterle, Jenseits der Sozialen Marktwirtschaft. Zurück in die Vergangenheit oder ordnungspolitische Innovation? In: ders., Alternativen zur neoliberalen Wende. Wirtschaftspolitik in der
sozialstaatlichen Demokratie, Bochum 1989, 32-42.
270
791
schwommen und ambivalent bis widersprüchlich”
zu sein. Auch die
Kirchen sprechen im Wirtschafts- und Sozialwort davon, daß die Soziale
Marktwirtschaft eine strukturelle und moralische Erneuerung brauche
(Ziff 9-13; 142-150). Letztlich - so Ulrich - unterscheide Müller-Armacks
Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft von einer neoliberalen Position
weniger eine dogmatische denn eine pragmatische Grundhaltung. Diese
Nähe zum Neoliberalismus zeige sich an einem ökonomistischen Legitimationszirkel, wenn Müller-Armack behaupte, “dass wirtschaftspolitische
Entscheidungen ... in erster Linie Fragen wirtschaftlicher Vernunft
792
sind.”
Daß die Zweckdienlichkeit der Marktwirtschaft sich an außerökonomischen, ethischen Kriterien zu legitimieren hat, sieht MüllerArmack zumindest hier nicht, denn er argumentiert ökonomistisch, wenn
er davon ausgeht, daß wirtschaftliche Entscheidungen in erster Linie
wirtschaftlicher Natur seien. Darin zeigt sich, daß Müller-Armacks Theorie nicht eindeutig ist und auch vor einem Rückfall in neoliberale Positionen keineswegs völlig gefeit ist.
8. 2 “Marktwirtschaft pur”: Vom Mythos, daß der Markt sich selber regelt
Ein Alternativkonzept zu einer Sozialen Marktwirtschaft, die kulturell und
gesellschaftlich eingebettet ist, bildet das neoliberale Konzept des freien
Marktes, das vom Vertrauen eines sich selbst regelnden Marktes getragen wird, der für Effizienz sorgt. Ein von Eingriffen befreiter Markt sorge
von sich aus für ein Gleichgewicht. Probleme des Arbeitsmarktes und
der Ökologie regulierten sich aus dem freien Spiel der Kräfte selbsttätig.
Erst ein freier Markt könne jene Wohlstandsgewinne erzielen, die ökonomisch möglich seien. Politisch motivierte Eingriffe in den Markt, die
soziale oder ökologische Korrekturen erzielen wollten, seien ökonomisch
kontraproduktiv. Zentrale Instrumente, die eine Dynamisierung des freien
Marktes fördern, sind daher in der neoliberalen Theorie Flexibilisierung,
Deregulierung und Privatisierung. Der Wettbewerb befördere die Effizienz, denn im Wettbewerb setzten sich die effektiver wirtschaftenden Anbieter durch. Ein wesentlicher Teil der freigesetzten Konkurrenz drücke
auf die Kosten. Niedrigere Kosten bei Arbeitsentgelt, Umweltschutz oder
Infrastruktur setzten sich durch. Der Wettbewerb belohne niedrige Preise
und bestrafe die, die im Wettbewerb nicht mithalten könnten. Kostenvorteile und eine daraus resultierende Wettbewerbsstärke seien ein strategischer Vorteil.
791
792
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 356.
A. Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende
Konzepte, Bern / Stuttgart 1974, 204, zit. nach P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 357.
271
8.2.1 Der Markt als Garant des Gemeinwohls
In der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft kommt dem Staat eine
zentrale Rolle als Ordnungsinstanz zu. Diese Ordnungsfunktion des
Staates wird in der neoliberalen Wirtschaftskonzeption modifiziert. Er ist
nicht mehr die Ordnungsinstanz, die die Rahmenordnung erstellt und den
Markt reguliert. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft rechnet mit
Marktversagen und will deswegen in den Marktprozeß eingreifen. Doch
in der neoliberalen Doktrin gibt es kein Marktversagen, sondern umgekehrt nur ein Staats- oder Politikversagen. Ökonomische, soziale oder
ökologische Krisen werden systematisch dem Staat zugerechnet, der
freie Markt dagegen ist in der Lage, eine Ordnungsfunktion zu erfüllen.
Die Zuordnung der Ordnungsfunktion an das System Markt stellt die
Frage nach dem ethisch verantwortlichen Handlungssubjekt. Kann man
in einem Regelsystem überhaupt von der Kategorie Verantwortung sprechen? Wo der Markt und seine Prozesse selber als Garanten des Gemeinwohls gelten, gibt es keine ethischen Gestaltungsräume, denn ökonomisch richtiges Handeln folgt zwingend den Erfordernissen der Märkte
und reagiert auf Wettbewerb und Konkurrenz. Sachzwänge bestimmen
793
das ökonomische Handeln.
Sachzwänge gibt es nur dort, wo Naturgesetze herrschen, die zwischen Ursachen und Wirkungen unumstößliche und immer geltende Beziehungen herstellen. Ein derartiges Verständnis von Ökonomie ist naturalistisch, funktional deterministisch und
kennt nicht nur keine ethisch relevanten Gestaltungsmöglichkeiten; es
geht vielmehr sogar davon aus, daß jeder - auch der ethisch motivierte Eingriff in die Marktprozesse ökonomisch schädlich sei.
Das System ersetzt das handelnde Subjekt. Deutlich wird dies in einer
zugespitzten Aussage Milton Friedmans, eines der einflußreichsten
Schüler Hayeks: “Die wirtschaftenden Personen sind letztlich nichts an794
deres als Marionetten der Gesetze des Marktes.” Der Markt wird von
Naturgesetzen bestimmt, nicht vom Menschen als einem handelnden
Subjekt. Milton Friedman überträgt die Verantwortung des wirtschaftlich
tätigen Menschen auf den Markt. Der Markt hat die Stelle des handelnden Menschen als Verantwortungssubjekt übernommen. Die wirtschaftlich Handelnden sind somit ethisch entlastet als “Marionetten der
793
794
Vgl. dazu: F. Segbers, “... eine gewissermaßen adjektivlose Marktwirtschaft ist ein Irrglaube.”
Das Evangelium des Neoliberalismus, in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 21-31.
Zit. bei: F. Blohm, Unterm Strich nicht genug. Die Gesetze des Marktes verlieren als ökonomische Leitidee an Faszination, in: Die Zeit Nr. 15 vom 7. April 1989.
272
Gesetze des Marktes”. Man handelt nicht eigenständig, sondern vollzieht
die Gesetze des Marktes. Der Markt ist im Gegenzug zu einem agierenden Subjekt avanciert. Für wirtschaftliche Nöte oder soziale Ungerechtigkeiten gibt es von diesem ökonomischen Denkansatz her keine Verursacher. Das handelnde Subjekt wird zum bloßen Vollstrecker dessen,
was sich ohnehin vollzieht. Ökonomische Entscheidungen werden zu
Sachzwängen stilisiert, die keiner ethischen oder politischen Legitimation
bedürfen. Das Wort von den “Marionetten” oder den Sachzwängen
entmoralisiert und entläßt aus der Verantwortung. Es gibt keine Täter, jeder ist nur willenloser Exekutor oder Rädchen in einem großen Getriebe,
in dem alle Opfer bringen müssen. Alle müssen mitmachen, da es keine
Alternativen gibt. Emil Brunner nennt eine solche Ordnung der Wirtschaft
795
“System gewordene Verantwortungslosigkeit.”
Peter Ulrich bestätigt
diese Diagnose, die aus der Erfahrung der dreißiger Jahre stammt, auch
für das Denken des Neoliberalismus: “In der idealen Marktgesellschaft ist
daher die Moralität der Personen nicht mehr erforderlich; es reicht hin,
wenn sie ihre ökonomische Rationalität in Form des strikt erfolgsorientierten, eigennutzmaximierenden Handelns voll zur Geltung bringen. Das
“Marktprinzip” selbst ist die Gewährsinstanz für das ethisch-normativ
796
richtige Handeln!”
Sich dem Gang einer gleichsam biologischevolutiven und ökonomischen Auslese anzuvertrauen, allein darin besteht für die Neoliberalen wirtschaftlich verantwortliches Handeln. Stört
man die natürliche Ordnung nicht durch Eingriffe, sind Freiheit und
Wohlstandsgewinn Lohn für die Unterwerfung unter die Regeln von
Markt und Wettbewerb.
Friedrich August von Hayek illustriert die ethische Entsorgung des
ökonomischen Subjekts mit einer Verantwortung für den Ausbruch eines
Vulkans. So wenig man einen Vulkan für seine Zerstörung verantwortlich
machen könne, so auch nicht den Markt. Ob Arbeitslosigkeit, Hunger,
Obdachlosigkeit oder ein Vulkanausbruch - es existiert “kein Subjekt, von
797
dem eine solche Ungerechtigkeit begangen werden kann” . Für von
Hayek ist es folgerichtig auch ein Kategoriefehler, vom Markt die Erfüllung moralischer Forderungen zu erwarten, weil die Marktwirtschaft ein
autonomes, sich selbst steuerndes System darstellt. Markt und Wettbewerb dienen dabei ausschließlich der Lenkung der Wirtschaft, nicht aber
der Erfüllung von Gerechtigkeitsnormen. Gerechtigkeit wird als eine
Leerformel verstanden, die verzichtbar ist. Deshalb sagt von Hayek lapidar: “Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit‟ gehört nicht in die Kategorie
des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck „ein morali795
796
797
E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen (1932), 408.
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 115.
F.A. von Hayek, Illusion der Gerechtigkeit, Landsberg am Lech 1981, 111.
273
798
scher Stein‟.”
Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek wendet sich gegen jeden Versuch, Marktwirtschaft mit dem Adjektiv “sozial”
zu verbinden. Jede Anwendung des ethischen Maßstabs der Gerechtigkeit auf eine marktwirtschaftliche Ordnung lehnt er ab. Er warnt sogar vor
den “zerstörerischen Folgen, die die Propagierung der sogenannten so799
zialen Gerechtigkeit für unser Moralgefühl mit sich gebracht hat.” Statt
dessen gilt eine andere ethische Perspektive: “Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig.”
Wenn Friedrich August von Hayek Gerechtigkeit einer Schmähkritik
unterzieht und als ethisches Kriterium verwirft, dann steht dahinter die
Überzeugung, daß der Markt quasi automatisch “Gerechtigkeit” schafft.
Gerechtigkeit als ethische Orientierung wirtschaftlichen Handelns wird
abgelehnt. Über Gerechtigkeit läßt sich nicht mehr sagen als das, was
der Markt nun einmal hervorbringt. Der wirtschaftlich handelnde Mensch
als verantwortliches Subjekt hat in einem solchen Ökonomiekonzept
längst abgedankt. Die Rede vom Sachzwang ist die neoliberale Version
der ehedem im Osten beheimateten kommunistischen Parteidisziplin.
Stefan Baron belegt diese Parallelität, wenn er sagt: “Die Globalisierung
in ihrem Lauf hält, anders als den Sozialismus, niemand und nichts
800
auf.”
Sozialethisch bedeutet dies, daß implizit in einem solch rigiden
System ein Vorrang des Marktes vor dem Menschen besteht - im Umkehrschluß eine Unterordnung des Menschen unter den Markt.
Die Rede von der Selbsttätigkeit des Marktes will die Marktökonomie
als eine alternativlose Ökonomie, die naturgemäß sei, begründen. Sie
folge lediglich unumstößlichen Sachnotwendigkeiten. Sachzwänge verstanden wie Naturgesetze des Marktes können nicht außer Kraft gesetzt
werden. Auch Aristoteles legt Wert auf eine Ökonomie, die natürlich oder
im Einklang mit der Natur sei. “Natürlich” nennt Aristoteles das, was für
801
eine Gesellschaft “nötig und nützlich”
sei. “Und es scheint sich der
802
wahre Reichtum aus diesen Dingen zusammenzusetzen.”
Der Neoliberalismus dagegen versteht die Naturgemäßheit der Ökonomie nicht
aus ihrer Funktion heraus, die Menschen mit Gütern des Bedarfs zu versorgen, sondern nennt Ökonomie natürlich, da sie Naturgesetzmäßigkeiten unterworfen sei. Da ist die Rede von einem “natürlichen Arbeitslohn”
(Johann Heinrich von Thünen), einem “natürlichen Zins” (Knut Wicksell),
798
799
800
801
802
F.A. von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ordnung, Bd. 2, Landsberg am Lech 1980, 112.
F.A. von Hayek, Interview, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 11 vom 6.3.1981, 38.
St. Baron, Traurige Gestalten, in: Wirtschaftswoche Nr. 50 vom 3.12.1998, 3.
Aristoteles, Politik, A 8 p 1256 b 29.
Aristoteles, Politik, A 8 p 1256 b 30.
274
803
einer “natürlichen Arbeitslosenrate” (Milton Friedman). Was aber meint
die Bezeichnung “natürlich”? Der Neoliberalismus nennt eine Ökonomie
dann natürlich, wenn die Gesetze des Marktes zur Geltung kommen.
Was Aristoteles als “naturgemäß” bezeichnet, ist deshalb geradezu das
Gegenteil von dem, was neoliberale Ökonomen “natürlich” nennen. Soweit die Gesetze des Marktes nur befolgt werden, ist das, was der Markt
dann hervorbringt, rational, optimal und “gerecht”. Jedes inhaltliche Kriterium wird ausgeschlossen. Ob ein Lohn so niedrig ist, daß man lediglich
ein menschenunwürdiges Leben damit fristen kann, hat mit der Frage, ob
ein Lohn gerecht ist oder nicht, gar nichts zu tun. Hayek betont dies ausdrücklich: “Selbstverständlich ist die Gerechtigkeit nicht die Frage des
Objekts einer Handlung, sondern ihres Gehorsams gegenüber den Re804
geln, denen sie unterworfen ist.”
Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat überzeugend dargestellt, wie
sich seit dem 17. Jahrhundert nicht gleichsam naturwüchsig, sondern
vielmehr durch planmäßiges Vorgehen des Staates eine freie Marktökonomie entwickelte, die von den Neoliberalen aber wie eine natürlich805
biologische Evolution gedeutet wird. Der politisch zweckbewußt durchgesetzte Entstehungsprozeß des modernen Marktes wie auch die Vorgänge auf dem Markt werden auf die naturgeschichtliche Stufe nicht willentlich gestaltbarer, weil natürlicher Ereignisse gestellt. Der Wettbewerb
am Markt ist dann nichts weiter als der gesellschaftliche Ausdruck naturwissenschaftlicher Abläufe. Eine Ökonomie mit solchem Selbstverständnis immunisiert sich gegen jede kritische Infragestellung und
macht sich unveränderbar, politisch nicht gestaltbar und erlaubt bereits
denkerisch keine Alternativen. Die real existierende freie Marktwirtschaft
wird als die einzig denkbare Möglichkeit immunisiert. Wo Alternativen
aber nicht zugelassen werden, bildet sich ein wirtschaftlicher Fundamentalismus, der keine strategischen Unsicherheiten kennt und sich vom Ansatz her als nichtreformierbar versteht. Die aristotelische Trias von Ökonomie, Politik und Ethik ist aufgelöst.
Mit Rekurs auf Adam Smith wird von dem Chefökonomen der Deutschen Bank, Norbert Walter, die “Eigenliebe, also letztlich ein natürlicher
803
804
805
Belege bei: P. Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, 189. Ähnlich der HarvardÖkonom Jeffrey Sachs: “Die Gesetze der Schwerkraft gelten in der Wirtschaft genauso wie in
der Physik.” (Zit. in: Die Zeit Nr. 45 vom 31.10.1997, 26)
F.A. von Hayek, El ideal democrático y la contención del poder. Estudios Públicos 1 (1980) 56,
zit. in: F. J. Hinkelammert, Diskursethik und Verantwortung: eine kritische Stellungnahme, in:
R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen
Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, 136.
K. Polanyi, The Great Transformation, 99f.
275
806
Affekt” , als Triebfeder oder Motiv des individuellen und auch des ökonomischen Handelns gedeutet. Durch soziale und politische Interventionen in den Marktprozeß würden Freiheiten eingeschränkt und Wohlstand
gemindert, da “aufgrund der Abweichungen von einer natürlichen Ordnung, das heißt einer solchen, die dem Wesen des Menschen gerecht
wird, die allgemein akzeptierten Ziele jeder Gesellschaft (...) nur in gerin807
gerem Maße erreichbar sind” . Mit anderen Worten: “Die Behinderung
der Marktkräfte steht im Widerspruch zur Natur unserer Welt und ihren
808
evolutiven Wesenszügen” . Adam Smith hatte sich in seiner Theorie
der ethischen Gefühle (1759), die siebzehn Jahre vor dem Standardwerk
Reichtum der Nationen (1776) erschien, kritisch mit anthropologischen
Aussagen auseinandergesetzt, die Eigenliebe als zentrale Triebkraft
menschlichen Handelns verstanden. Zu Beginn seiner Ausführungen in
der Theorie der ethischen Gefühle setzt er sich mit eben jener Denkhaltung auseinander: “Wie selbstsüchtig auch immer der Mensch eingeschätzt werden mag, so liegen doch offensichtlich Grundveranlassungen
in seiner Natur, die ihn am Schicksal anderer Anteil nehmen und ihm die
Anteilnahme an deren Glück notwendig werden lassen, obwohl er keinen
anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu
809
sein.”
Die Sozialphilosophie des Adam Smith wäre also mißverstanden,
wenn man ihm - wie neoliberale Theoretiker es tun - unterstellte, er sähe
den einzigen Beweggrund des Handelns in der Eigenliebe. Den Menschen so zu sehen, wie er ist, bedeutet für Adam Smith, ihn als Doppelnatur anzunehmen, das zu altruistischem Verhalten fähig ist und ein egoistisches Wesen sein kann. Adam Smith kennt sehr wohl Sympathie und
Anteilnahme als eine in der menschlichen Natur begründete Haltung.
“Was immer jedoch die Ursache der Sympathie sein und auf welche
Weise sie auch erregt werden mag, so bereitet uns nichts mehr Wohlgefallen, als bei anderen Menschen Mitgefühl mit allen unseren eigenen
Gemütsbewegungen zu sehen; und durch nichts werden wir so er810
schreckt, als wenn das Gegenteil der Fall ist.” Smith setzt sich explizit
mit Bernard Mandeville (1670-1733) auseinander, der sich in seiner be811
rühmten Bienenfabel ausdrücklich gegen die Sozialität der Menschen
ausgesprochen hatte. Von Natur aus sei der Mensch selbstsüchtig und
806
807
808
809
810
811
N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, in: R. Baader (Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing 1995, 79.
Ebd. 82.
Ebd. 81.
A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, bearbeitet nach der letzten Ausgabe von H. G. Schachtschnabel, Frankfurt 1949, 25.
Ebd. 31.
B. Mandeville, Die Bienenfabel. Mit einer Einleitung von W. Euchner, Frankfurt 1980.
276
werde nur durch die Gesetze daran gehindert, diese Selbstliebe auf Kosten der Gesellschaft auszuleben. Ohne Gesetz, so Mandeville, “gibt es
kein Geschöpf auf Erden, das ungeeigneter für die Gesellschaft wäre als
812
der Mensch” . Der Mensch kenne keine Veranlassung zu altruistischen
Handlungen. Der Selbsterhaltungstrieb und die unmittelbar damit verbundene Eigenliebe sei der mächtigste Grundtrieb des Menschen. Adam
Smith kritisiert diese Anschauung und besteht auf der in der Aufklärung
gewonnenen - aber von den neoliberalen Theoretikern nicht rezipierten Unterscheidung zwischen Selbstliebe (amour de soi-meme) und Eigenliebe (amour propre). Bei Jean Jacques Rousseau heißt es: “Man darf
die Eigenliebe und die Selbstliebe nicht durcheinanderbringen - zwei Eigenschaften, die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr verschieden
sind. Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu ver813
anlaßt, über den natürlichen Selbsterhaltungstrieb zu wachen.” Sie ist
also identisch mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb. Die Eigenliebe
jedoch setzt gesellschaftliche Beziehungen voraus, angesichts derer sich
die Bedürfnisse nicht nur am eigenen Ich orientieren, sondern auch die
Bedürfnisse des Anderen berücksichtigen. Der Morallehrer und Ökonom
Adam Smith wird verkürzt, wenn seine sozialphilosophischen und sozialethischen Äußerungen zur Selbstbegrenzung des Eigennutzes nicht rezipiert werden. Horst Claus Recktenwald, Herausgeber des Werkes Wohlstand der Nationen, spricht deshalb von einem “geläuterten, einem aufgeklärten und einem sozialen und rechtlichen Regeln unterworfenen
814
Egoismus” . Der Eigennutz wird durch Mitgefühl und Sympathie in
Schranken gehalten, wobei jedoch die Konkurrenz nur ein Motiv unter
anderen sei. Recktenwald betont: “Ohne diesen Sinn für Gerechtigkeit ist
815
keine Gemeinschaft lebensfähig.”
Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz rezipiert diesen
aufgeklärten Begriff von Eigennutz, wenn sie fordert, “Eigennutz in eine
Ordnung der Gegenseitigkeit einzubinden” (Ziff. 139). Die Unterscheidung zwischen Selbstliebe und Eigenliebe will einen naturalistischen
Kehrschluß verhindern, der nicht zwischen Geschichte und Natur zu unterscheiden weiß. Diese seit der Aufklärung und auch bei Adam Smith
vollzogene Unterscheidung ist dem Neoliberalismus fremd. Zu Unrecht
816
bezieht er sich auf Adam Smith. Neoliberale Theoretiker sind viel nä812
813
814
815
816
Ebd. 378.
J. J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, 2. Aufl. Paderborn-München-Zürich 1990, Anm.
XV, 369, zit. in: M. Ramminger, Die neoliberale Umwertung der Werte, in: Orientierung 61
(1997) 201-205. - Diesem Aufsatz verdanke ich Anregungen zur anthropologischen Kritik des
Neoliberalismus.
H. C. Recktenwald, Würdigung des Werkes, in: A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, XLI.
Ebd. XLI.
So auch: E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive, 220f.
277
her bei Mandeville, von dem sich bereits Smith kritisch absetzte, und wollen diesen Erkenntnisfortschritt bei Adam Smith rückgängig machen. Sie
knüpfen sozialphilosphisch wieder bei Bernard Mandeville und der frühen
englischen Aufklärungsphilosophie von Thomas Hobbes, John Locke
oder Francis Bacon u.a. an, die mit dem traditionellen Aristotelismus und
Thomismus gebrochen hatten.
Sozialphilosophisch gehen neoliberale Denker von anthropologischen
Voraussetzungen aus. Das gesellschaftliche Leben kann nicht einzig auf
Konkurrenz als einer angeblich der Natur des Menschen entsprechenden
Grundstruktur aufgebaut werden. Christliche Sozialethik begreift den
Menschen als ein Wesen aus Personalität und Sozialität, das deshalb
auch nicht den Anderen nur als Bedrohung des eigenen Ichs wahrnimmt.
Eine allein auf Siegen hin angelegte Konkurrenz des Menschen ist keine
anthropologische Konstante, wie neoliberales Denken über die Natur des
Menschen unterstellt. Neoliberales Denken gründet auf einer vermeintlich naturwüchsigen Anthropologie, die jedoch bereits Adam Smith wegen ihres reduktionistischen Menschenbildes abgelehnt hatte. Der Neoliberalismus legitimiert somit seinen Anspruch nicht allein ökonomisch,
sondern auch anthropologisch und sozialphilosophisch, und - wie im folgenden aufgezeigt werden soll - auch theologisch.
8.2.2 Metaphysik des Marktes
8.2.2.1 KULT-Marketing
Seit einigen Jahren mehren sich Argumentationen zur Begründung neoliberaler Konzepte, die sprachlich Anleihen bei Begriffen nehmen, die der
Religion und Theologie entlehnt sind. So haben Norbert Bolz, Professor
für Kommunikationstheorie an der Universität Essen, und David
Bosshart, Trendforscher am renommierten Schweizer Duttweiler-Institut
für Management, ein Buch mit dem Titel KULT-Marketing. Die neuen
817
Götter des Marktes vorgelegt. Selten zuvor ist die Symbolwelt der Reli-
817
2. Aufl. Düsseldorf , 1996. Daß binnen Jahresfrist eine zweite Auflage erschien, beweist die
Aktualität dieses Marketing-Konzeptes. - Die Ziffern in den Klammern beziehen sich auf die
Seitenzahl. - Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Marketingkonzept, das sich religiöser Symbole bedient, in: F. Segbers, Kult der Ware. Die Religion des Marktes unter theologischer Kritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214; sowie: ders., Eine Ewigkeit für
ein Parfüm. Die Götter des Himmels tauchen als Idole des Marktes wieder auf, in: Junge Kirche
(58) 1997, 200 - 208; ders., Der Götze Markt und die Religion der Ware, in: Reformierte Kirchenzeitung 138(1997)115 - 221. Vgl. dazu nähere Ausführungen in: ders., Gott gegen Gott.
Zur Religion des Alltags im Kapitalismus (im Erscheinen); eine kritische Auseinandersetzung
278
gion für die Zwecke des Vermarktens in einer solchen Offenheit und
Klarheit propagiert worden. Wie lassen sich Produkte auf übersättigten
Märkten absetzen? Eine Antwort auf diese Grundfrage wollen die Autoren mit der Strategie des “KULT-Marketing” geben. Norbert Bolz und
David Bosshart entwickeln darin eine Konzeption, dank derer banale
Produkte auf gesättigten Konsumgütermärkten in etwas heiß “Begehrtes”
verzaubert werden können, wenn die Werbung sich an die vakant gewordene Funktionsstelle der Religion plaziert. Ihre zentrale These lautet:
“Die postmoderne Werbung übernimmt die Funktion der Religion. Sie
entfaltet die Spiritualität des Konsums.” (206, auch: 355) Versprochen
wird, die spirituelle Sehnsucht mit Waren befriedigen und gerade dadurch religiöse Bedürfnisse erfüllen zu können. “Die Schöpfergötter der
kapitalistischen Konsummärkte produzieren endlos und bringen ihre
neuesten Kreationen auf die Umlaufbahn der Sehnsüchte von Konsumentenseelen. (...) Der Kapitalismus im Stadium gesättigter Märkte hat die
Kraft, Waren ins Zentrum des menschlichen Begehrens zu stellen. Er
verbürgt die integrale Übernahme der religiösen Funktionen.” (22f.) Deshalb folgern die Marketing-Fachleute: “Der Kapitalismus selbst ist zur
stärksten aller Religionen geworden. Die Waren selbst werden zur
stärksten aller Religionen.” (248) “Gerade in unserer so coolen Zeit ist
der Götterbedarf enorm groß,” (76) diagnostizieren Bolz und Bosshart die
religiöse Gegenwartslage. “ Deshalb haben auch gottlose Zeiten wie die
unsere eine Religion - man darf sie nur nicht in den offiziellen Kirchen
suchen. Nicht die Kirchen, sondern die Konsumtempel sind heute der Ort
moderner Religiosität.” (217f.) Theologie und Kirche sollten Bolz und
Bosshart für die Deutlichkeit ihres Konzeptes des KULT-Marketing dankbar sein. Sie sprechen aus, was bislang nur von einer interpretierenden
theologischen Kritik gesagt wurde.
Marx spricht in seinem Hauptwerk Das Kapital von einem Doppelcha818
rakter der Ware. Sie hat einen Gebrauchs- und einen Tauschwert. Die
Waren sind nicht einfach nur Güter für den Konsum, sie verkörpern
Sehnsüchte. Das sei “eine grandiose Einsicht” (199) von Marx, attestieren die Werbestrategen. Aus der marxschen Fetischismuskritik des Kapitalismus ziehen die Werbeleute die Folgerung: “Das Geheimnis der Ware
und das Geheimnis der Religion sind dasselbe.” (199) Deshalb fordern
sie eine “Entübelung des Warenfetischismus” (210). Es ist geradezu eine
Ironie, daß der zentrale Begriff der Kapitalismuskritik bei Karl Marx ausgerechnet von Werbestrategen dazu genutzt wird, einem in die Sackgasse überfüllter Märkte geratenen Kapitalismus einen Ausweg zu zeigen.
818
mit meinen Thesen: O. Meyer, Die reale Volkskirche des Marktes, in: Junge Kirche 58 (1997)
684-690
K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 49ff.
279
Den Religions- und Kapitalismuskritiker Karl Marx machen die Marketingfachleute zum Gewährsmann einer Absatzsteigerung der Waren mittels
Religion. Sie teilen zwar die Analyse von Marx; doch sie haben ein anderes Interesse. Marx will den Menschen vom Fetischkult, vom Kult der
Ware befreien. Die Fetischismuskritik ist deshalb emanzipatorisch. Bolz
und Bosshart jedoch wollen genau das Gegenteil: eine “ästhetische Wiederverzauberung” (11) und einen “Kult der Ware” (223).
Wie können die Kunden angesichts der verwirrenden Vielzahl der
Produkte sich orientieren und den Marken treu bleiben? Komplexe Sachverhalte zu reduzieren, ist nach Niklas Luhmann eine wichtige Funktion
von Religion. Religion kann eine Orientierung in einer unübersichtlich
gewordenen Welt vermitteln. Unübersichtlich ist auch der Warenmarkt.
Denn Nike ist nicht Reebok und nicht Adidas und nicht Puma. Nicht
Turnschuhe sollen gekauft werden. “Der Kunde soll nicht einfach nur
kaufen und verbrauchen, sondern eine rituelle Handlung vollziehen.”
(207) Die Auswahl ist dann keine Frage der Ergonomie, sondern wird zur
Glaubensfrage. Der Turnschuh-Kauf wird zum Bekenntnis: Neben Adidas sollst du keine anderen Turnschuhe haben, so spricht der Herr, dein
Gott - lautet das Credo des KULT-Marketings. Turnschuhe sind ein banales Produkt, nützlich für den Sport. Sie werden nun zum Erkennungsmerkmal einer Glaubensgemeinschaft. Ein Markenfetischismus greift um
sich: der Vierzehnjährige trägt nur noch Nike-Turnschuhe und nichts Billigeres; die Dreizehnjährige will das T-Shirt von Diesel und kein anderes.
Nach Bolz und Bosshart zeigt sich hier Religion: “Nun tauchen die Götter,
die aus dem Himmel der Religionen verschwunden sind, als Idole des
Marktes wieder auf.” (12) Der Verbraucher alten Zuschnitts suchte nach
Gütern, weil er sie brauchte. Jetzt verführen die Marken den Käufer zu
Waren, die er nicht braucht. Da die Märkte längst übersättigt seien, müsse zum Kaufen verführt werden. Die Grundthese der Werbeleute lautet
daher:“In gesättigten Märkten ist Marketing nicht primär damit beschäftigt, (kalkulierbare) Bedürfnisse zu befriedigen, sondern ein endloses Begehren zu ködern.” (245) Die Sehnsucht nach Spiritualität soll in einer
Sehnsucht nach Waren aufgehen.
Bolz und Bosshart wissen, daß Wohlstand und Armut in einer Überflußgesellschaft nahe beieinander liegen. Deshalb plädieren sie für einen
Konsum ohne schlechtes Gewissen im Angesicht der Armut. Erst Güter,
die zu Kultmarken oder Kultprodukten hochstilisiert sind, können den
Konsum entschulden. “Der Konsum kann eine transzendente Erfahrung
transportieren, das heißt, das Konsumentenverhalten trägt gewisse Aspekte des Heiligen zur Schau. So entfaltet sich der Konsumismus als Religionssystem.” (207) Kaufen allein genügt nicht. Erst wenn es gelinge,
“den Akt des Einkaufens als eine Form des Gebets zu stilisieren” (206f.),
280
verliere der Konsum sein schlechtes Gewissen. Bolz und Bosshart wissen, daß ihr Kult der Ware Millionen Opfer hervorbringt. “Was unser Gewissen quält ist ja nicht nur das Wissen vom Elend der Welt, sondern
das Bewußtsein, daß unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends ist. ...
Werbung verführt nicht nur zum Genuß, sondern erspart auch die Reue.”
(207) Der Götze vergibt selber die Sünden, zu denen er verführt. KULTMarketing narkotisiert das Bewußtsein und fördert eine unbekümmerte
Kultur des Hedonismus mit dem Rücken zu den Opfern.
Während Max Weber in seiner berühmten These über Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von einer Einbettung des Kapitalismus in der religiös bestimmten Lebenshaltung des Calvinismus
sprach, befürchtete Walter Benjamin, daß der Kapitalismus selber zur
Religion werde. Walter Benjamin war 1921 einer der ersten, der im Totalanspruch des freien Kapitalismus eine Funktion ausmachte, die traditionellerweise der Religion zugeschriebenen war: “Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so
819
genannten Religionen Antwort gaben.”
Diese Sorge Benjamins verstehen nun aber Bolz und Bosshart geradezu als Ermutigung, einen Kapitalismus zu begründen, der eben jene Funktionen der Religion erfüllen
will. “Marketing bearbeitet die “religiösen” Fragen und schafft Weltvertrauen.” (226) Überleben könne der Kapitalismus gesättigter Märkte nur,
wenn er sich eben als Religion darstelle und einen Kult der Ware inszeniere. Benjamin frei zitierend fordern sie deshalb: “Der Kult der kapitalistischen Religion dauert permanent an; jeder Tag ist ein Festtag des Warenfetischismus. ... Der Kult der kapitalistischen Religion ist natürlich ein
Kult der Ware. Das heißt konkret, daß der Tauschwert zum Gegenstand
religiöser Verklärung und zum Medium eines religiösen Rausches wird.”
(223f.)
Menschen werden hier beschrieben als Konsumenten, die nur diejenigen Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen, die sich in Warenform
präsentieren lassen. Glück wird zur käuflichen Ware. Bedürfnisse werden ökonomisiert. Der Streit um den Umgang mit der gesellschaftlichen
Zeit kann die herrschende Religiosität illustrieren. Mehr Wachstum, mehr
Umsatz, größere Kundennähe sind die sachlichen Argumente. Diese
ökonomischen Gründe jedoch, die vorgetragen werden, verdecken den
religiösen Kern: Kein Sonntag, keine Zeit, die für Produktion und Konsum
zur Verfügung stehen könnte, darf ungenutzt bleiben. Die Ladenöffnungszeiten müssen verlängert, Sonntage abgeschafft, der Buß- und
Bettag geopfert werden. Denn diese Zeiten des Konsums sind heilige
819
W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100.
281
Zeiten; sie sind Zeiten, in denen der Götze in einem Kult der Waren verehrt sein will. Das Weihnachtsfest kann auf dem Hintergrund dieser Marketingstrategie als ein zutiefst synkretistisches Fest betrachtet werden.
Die Religion der Ware hat sich mit der Religion des Christentums verschmolzen. Das Römische Imperium liefert ein anschauliches Beispiel
für den in der Moderne praktizierten Religionspluralismus: Die verschiedenen Kulte durften nebeneinander praktiziert werden und wurden auch
ins Pantheon aufgenommen, jedoch lediglich solange wie sie den zentralen Kaiserkult nicht in Frage stellten. Heute gilt derselbe religiöse Pluralismus und dieselbe postmoderne Toleranz, wenn denn nur die zentrale
und faktisch verehrte Religion der Ware nicht angerührt wird.
Die beiden Autoren Bolz und Bosshart treten ausdrücklich für eine
Wiederbelebung des Fetischismuskultes ein. Wir haben es hier mit dem
Phänomen einer interessengeleiteten Inszenierung von Religion zu tun,
die sich nicht einmal als Religion zu erkennen gibt, aber alle Funktionsmerkmale der Religion erfüllt. “Gott” in einem Kult der Ware zu verehren,
ist ein Vorhaben, das ernsthafter als je zuvor in der Geistesgeschichte
Europas zur Debatte stellt, was mit Religion, ja mit dem Namen Gott gemeint ist.
Das KULT-Marketing verführt zu einer Religion, die eine ganz andere
Religion ist als jene, die in den Kirchen ihren Ort hat. “Das vagabundierende, nie stillbare Begehren nach immer neuen Göttern bedeutet die
Rückkehr des heidnischen Polytheismus. Der Tick mit den Labels, das
ganze „Name-Game‟ der Kids, von Nike über Fucts bis Levi‟s, gibt ein gutes Beispiel ab. Vielgötterei ersetzt den monotheistischen Mythos des einen Erlösergottes.” (23) Hier zeigt sich eine kapitalistische Religion, die
bereits Karl Marx als Kern des Kapitalismus identifiziert hat. Der wichtigste Begriff der marxschen Kapitalismuskritik ist eine theologische Metapher: der Fetischismus. In seinem Hauptwerk Das Kapital nennt Marx
die Ware “ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitz820
findigkeiten und theologischer Mucken.” Er kritisiert jene mythen- und
religionsproduktive Funktion des Kapitalismus und bedient sich dabei mit
der Kategorie “Fetischismus” ausdrücklich eines religionswissenschaftlichen Begriffes zur Kritik eines Kapitalismus, dem alle Lebensäußerungen der Gesellschaft untergeordnet werden. Seine Kapitalismuskritik ist
deshalb im Kern auch eine Religionskritik. Er sieht im Kapitalismus eine
821
“Religion des Alltagslebens” . Norbert Bolz rezipiert ausdrücklich Karl
Marx, wenn er forsch konstatiert: “Die Marktreligion hat den Eingott gestrichen. Das ist aber kein Verlust, sondern ein Gewinn an religiöser Flexibilität. Man könnte sagen, der eine und einzige Gott ist eliminiert wor820
821
K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 85.
K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 838.
282
den, um die religiösen Gefühle leichter handhaben zu können. Um einen
berühmten Satz abzuwandeln: Die postmodernen Waren sind das Opium
fürs Volk. Wir Konsumenten sind umfangen von einem Polytheismus der
Marken und Trends; das sind die neuen Götter des Marktes. (...) So verwandelt sich der Konsumismus in ein Religionssystem. (...) Wir können
von primitiven Religionsgemeinschaften lernen, wie triviale Güter mit spi822
rituellem Mehrwert aufgeladen werden.”
Seit den Tagen der biblischen Propheten gibt es im Namen des biblischen Gottes einen jahrtausendelangen Kampf gegen eine polytheistische Welt. Im Stadium gesättigter Märkte soll erneut ein Fetisch “Ware”
verehrt und dem Volk zum Opium verabreicht werden. KULT-Marketing
ist gegen die mythenkritische Tradition der Bibel, gegen den jüdischchristlichen Monotheismus und die Aufklärung gerichtet. Es will deren
Freiheitsimpuls durch die Inszenierung eines neuen Polytheismus überwinden und letztlich beseitigen. Bolz will “religiöse Gefühle handhaben”
können. KULT-Marketing entpuppt sich demnach als eine gezielte Manipulation des Menschen. Die biblische Grundfrage, die mit der Götzenkritik formuliert wird, stellt sich ausdrücklich: Götze als Synonym für Unfreiheit und Gott als Synonym für Freiheit.
Dem Kapitalismus der gesättigten Märkte empfehlen Bolz und
Bosshart im Interesse der Mystifizierung den Weg von der Ökonomie zur
Religion, um die wahren ökonomischen Absichten zu verschleiern. Marx
geht ebenfalls einen Weg von der Ökonomie zur Religion, doch im Interesse der Aufklärung über eine mystifizierende Ökonomie. Das Ausklärungsprojekt der Moderne wird abgebrochen. Im Interesse der Freiheit
des Menschen kritisierte Marx die “Religion des Alltagslebens”; Bolz und
Bosshart dagegen wollen diese “Religion des Alltagslebens” im Interesse
des Warenabsatzes fördern. Der in Legitimationszwänge geratene Kapitalismus ist erneut in einen Zustand geraten, in dem er eine religiöse Hülle braucht. Eine Theologie in der mythenkritischen Tradition der Bibel
sollte dem Marxschen Hinweis Beachtung schenken, wenn Marketing
sich daran macht, eine Wiederverzauberung der Welt durch einen “Kult
der Ware” zu inszenieren.
In dem Buch KULT-Marketing. Die neuen Götter des Marktes wird
nicht von außen in einer gleichsam delegitimatorischen Absicht das Götzenkriterium eingeführt, sondern aus dem ökonomischen Denksystem
selber wird ein Kult der Ware im Rahmen einer Religion des Marktes inszeniert. Religion wird zur Legitimation herangezogen. Bemerkenswert
ist, daß die beiden Marketingfachleute Bolz und Bosshart sich der Sprache und Begrifflichkeit von Theologie wie auch des funktionalen Religi822
Norbert Bolz, Die magische Welt von Nike Town. Über die Wiederkehr der Rituale und die
Marktreligion, in: Geborgenheit im Chaos, Publik-Forum - extra, o.O. 1997, 8.
283
onsbegriffs von Niklas Luhmann im Rahmen einer Marketingstrategie
bedienen. Wenn aber schon die Promotoren des Marktes in theologischen Begriffen von den “Göttern des Marktes” (248) reden, dann reichen für eine Auseinandersetzung sozialethische Kategorien allein nicht
aus. Eine Auseinandersetzung mit diesen Thesen muß deshalb gerade
auch von der Theologie begrifflich auf dem gleichen Feld, nämlich dem
der Religion und Theologie, geführt werden. Wer sonst, wenn nicht gerade die Theologie hat die fachliche Kompetenz, dort mitzureden, wo von
Gott und den Göttern die Rede ist? Das Buch will nach eigener Einschätzung ein “Sachbuch” (12) sein. Es liest sich in der Tat auch wie ein theologisches Sachbuch über die Religion des Kapitalismus. Es beerbt theologische Fachbegriffe und spricht von “Gott” und “Göttern”, von “Spiritualität” (206), “Devotion” (207), “Rechtfertigung” (155), “Bekenntnis” (253),
“Kult” (356), “Heiligkeit” (17ff., 266), von “Theodizee” (154). Diese Sprache und Begrifflichkeit sind eine Herausforderung, die sich nicht allein auf
die Ökonomie beschränkt, sondern die Theologie direkt betrifft. Mit der
Konzeption und Begrifflichkeit des KULT-Marketings liegt erstmals eine
affirmative Bezugnahme auf Religion und Theologie innerhalb der Ökonomie vor, die gerade von einer theologischen Wirtschaftsethik nicht ignoriert werden sollte. Zur Aufgabe der Theologie wird es deshalb, mitten
in der Komplexität heutiger Ökonomie über jene Wirklichkeit nachzudenken, die neoliberale Theoretiker selber mit theologischen Begriffen bezeichnen. Werden mit dem Gebrauch der Begriffe auch deren Inhalte
verändert? Welche Bedeutung kommt dem Phänomen zu, daß religiöse
und theologische Begriffe für den Umgang mit ökonomischen Sachverhalten verwendet werden?
Mitten in einer sich so säkular und aufgeklärt gerierenden Gesellschaft
feiert ein religiöser Fetischismus seine Wiedergeburt. Es zeigt sich, daß
die Unterschätzung der Religion in der Moderne ein folgenschwerer
Trugschluß war, denn sie verstellte den Blick auf die tatsächliche Anwesenheit von Religion. Religion ist im Prozeß der Aufklärung nicht einfach
verschwunden, sondern hat sich andere Ausdrucksformen gesucht.
Deshalb lautet das Gegensatzpaar auch in der sich so säkular gebenden
Moderne nicht Gottesglaube versus Atheismus, sondern Gottesglaube
versus Götzenglaube. Nicht der Atheismus ist deshalb das Problem, mit
dem sich die Kirche auseinandersetzen muß, sondern eine götzendienerische Religiosität, die sich als Teil der modernen kapitalistischen Welt
entwickelt hat. Der herrschenden Religiosität ihre Säkularität nicht zu
glauben, wird zu einer theologischen Aufgabe. Die Moderne und mit ihr
die Theologie ist Opfer einer gewaltigen Täuschung, wenn sie meint, den
Götzendienst zu einer Sache zu machen, die der Vergangenheit zuzuordnen sei und mit exotischen Kulten unterentwickelter Völker zu tun ha-
284
be. Nur weil die Götter der Moderne nicht die Gestalt von Baal oder Astarte haben, ist die Frage nach Gott und den Göttern noch nicht erledigt.
Die Moderne hat den Götzenkult irrigerweise als überwunden geglaubt
und den Theologen schien die biblische Götterkritik ohne wirkliche Bedeutung für die Gegenwart zu sein. Die durch die Aufklärung verdrängten
Götzen tauchen nunmehr wieder auf.
Weil der Kapitalismus sich selber als Religion geriert, ist Theologie auf
der Höhe der Zeit, wenn sie die biblische Tradition der Götzenkritik erinnert. Die Fassade der Säkularität verbirgt eine religiöse Grundstruktur.
Nicht nur materielle Güter, auch Götzen produziert der Kapitalismus, wie
er hier gepriesen wird. Diese Götzenreligion ist eine Form der Machterweiterung. Eine Gesellschaft, die sich der Religion hingibt, ist dann nicht
nur ökonomisch, sondern auch spirituell beherrscht. Deshalb ist die kultische Verehrung der Ware im Kapitalismus gesättigter Märkte nicht nur
eine theologische Verirrung oder eine Pervertierung des Bewußtseins,
sondern eine Form der Machterweiterung. Diese Macht ist höchst real,
auch wenn der Kult der Ware falsch ist. Das Marketingkonzept, das einen Kult der Ware inszenieren will, muß deshalb theologisch kritisiert
werden. Denn die Moderne ist keineswegs gottlos, sie dient Götzen. Diese Aussage ist analytisch und theologisch zugleich.
Bolz und Bosshart stehen mit ihrem Projekt der religiösen Aufladung
von Marktprozessen nicht isoliert. Auffallend häufig spricht Friedrich August von Hayek von “Demut” und “Wunder”, wenn es um die Haltung gegenüber den Marktprozessen geht. Die dem Menschen entsprechende
Haltung gegenüber den Marktgesetzen nennt Hayek eine “Demut ge823
genüber den Vorgängen” des Marktes. “Demut vor den unpersönlichen
824
und anonymen sozialen Prozessen”
soll der Mensch nach Hayek
üben. Ausdrücklich nimmt Hayek die religiöse Haltung des Vertrauens
zum Vorbild für die Einstellung zu den Prozessen des Marktes: “Dabei
spielt es keine Rolle, ob die Menschen sich früher infolge von Anschauungen unterworfen haben, die heute vielfach als Aberglaube angesehen
825
werden: aus einem religiösen Gefühl der Demut.”
Jene Haltung “de826
mütiger Ehrfurcht, die die Religion (...) einflößte” , empfiehlt Hayek als
Vorbild für eine Haltung gegenüber den Vorgängen des Marktes. Der
Begriff “Demut” gehört seinem ursprünglichen Sinn nach in die Dialektik
des Verhältnisses von Herr und Knecht. Sprachgeschichtlich abgeleitet
823
824
825
826
F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, 47.
F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus , in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung
von Wirtschaft und Gesellschaft, o.O., Bd. 1, 1948, 25.
F.A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich, o.J., 254.
Ebd. 254.
285
aus dem Althochdeutschen bezeichnet Demut eine Haltung tiefer Erge827
benheit und der Bereitschaft, sich zu unterwerfen.
Aber nicht nur diese Haltung der Demut ist gefordert. Friedrich August
von Hayek bestaunt den sich selbst regulierenden Markt als ein “Wun828
der” : “Ich habe absichtlich das Wort „Wunder‟ gebraucht, um den Leser aus der Gleichgültigkeit herauszureißen, mit der wir oft das Wirken
dieses Mechanismus als etwas Selbstverständliches hinnehmen.” In seiner Dankesrede bei der Verleihung des Nobelpreises hat Friedrich August von Hayek unter dem Titel Anmaßung des Wissens gesagt: “In dem
Glauben, daß wir die Kenntnis und die Macht besitzen, die Vorgänge in
unserer Gesellschaft nach unserem Gutdünken zu gestalten, eine
Kenntnis, die wir in Wirklichkeit nicht besitzen, werden wir nur Schaden
829
anrichten.” Religöse Begriffe sollen offenkundig ein Legitimationsdefizit
verdecken.
827
828
829
Demut, in: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd.2, Mannheim 1977, 508.
F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 116.
F.A von Hayek, Die Anmaßung des Wissens, in: ORDO 26 (1975) 12-21, zit. in: Jung Mo
Sung, Das Böse in der Ideologie des freien Marktes, in: Conc 33 (D) 1997, 609.
286
8.2.2.2 Umdeutung christlicher Ethik
Ganz anders geht Roland Baader in einem Sammelband über einen
stringenten (Neo-) Liberalismus Wider die Wohlfahrtsdiktatur mit Begriffen der Religion um. Während Norbert Bolz und David Bosshart religiöse
Begriffe direkt mit dem Kapitalismus in einen Zusammenhang bringen
und mittels Religion einen Kult der Ware inszenieren wollen, verwendet
Roland Baader Begriffe der Religion, um das Konzept einer neoliberalen
Wirtschaftstheorie gegen sozialstaatliche Konzepte zu legitimieren. Dadurch werden die Begriffe der Religion gleichsam zu Kampfbegriffen.
830
Den Sozialstaat nennt er einen “wohlfahrtsstaatlichen Aberglauben”
und einen der “leersten aller mystischen Worthülsen des Wohlfahrtsstaa831
tes” . Es sei ein “Irrglaube(n)”, daß der Sozialstaat die “humane”, “aufgeklärte”, “moralische” und “menschenwürdige” Variante der eigentlich
832
“kalten” und “erbarmungslosen” kapitalistischen Marktwirtschaft sei. “In
Wahrheit handelt es sich beim einen (dem „hard-core‟-Sozialismus) wie
beim anderen (dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat) um einen quasi833
religiösen Götzenkult, um eine Ersatz-Religion.”
Der Sozialstaat zerstöre “das Gefühl der Nächstenliebe und des menschlichen Erbar834
mens” und verschütte die Fähigkeit zur Hilfe, mit der Folge: “Der Götze
des Kollektiv-Sozialen hat das göttliche Feuer des wahrhaft Menschli835
chen ausgelöscht.” Baader nennt “soziale Gerechtigkeit” eine “Inthronisierung der Götzen”, die sich “in letzter Konsequenz als Gottesläste836
rung”
erweise. In jeder über eine solide Ordnungspolitik hinausreichenden politischen Intervention zeige sich ein “sozial-, wirtschafts- und
gesellschaftspolitische(r) Machbarkeitswahn”; man könne auch sagen:
“Als Frevel an dem auf Kreativität und Erneuerung, auf Wandel und Verbesserung gerichteten Schöpferauftrag an den Menschen, im Schweiße
seines Angesichts das Gesicht und die Fruchtbarkeit der Erde mitzugestalten. (...) Hinter der ökonomischen Effizienz- und Wertminderung des
Faktors Arbeit wird dem metaphysisch sensibilisierten Auge der tiefere
830
831
832
833
834
835
836
Anmerkung des Herausgebers R. Baader zu einem Beitrag in: ders. (Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995, 147.
R. Baader, Die Angst des Lohnes und der Lohn der Angst, in: ders.(Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995, 232.
R. Baader, Vorwort, in: ders. (Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen,
Gräfelfing 1995, 9.
Ebd. 9.
Ebd. 10.
Ebd. 12.
R. Baader, Die Angst des Lohnes und der Lohn der Angst, 242.
287
Kern des Geschehens sichtbar: ein ersatzreligiöser blasphemischer
837
Kult.”
Wenn nur der Markt Freiheit bekäme, dann könnte er seine Wohltaten
erweisen. Jeder wirtschafts- oder sozialpolitische Eingriff in den Markt
aber sei nicht nur ökonomisch schädlich, sondern “gleichzeitig Sinnbetrug an den arbeitenden Menschen und Verhöhnung des göttlichen Auftrags zur schöpferischen Mitgestaltung der Erde und ihrer Fruchtbar838
keit” . Und ökonomische Subventionen, die den freien Markt korrigierten, liefen zudem auch “dem biblischen Gebot von der verantwortlichen
839
Umsicht des „guten Verwalters‟” zuwider. Solche staatlich verursachten
Interventionen in den Marktprozeß, die das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage störten, raubten den einen die “göttlichen Geschenke namens Erde, Leben und Fortschritt”. In “der Unfreiheit staatlich
strangulierter Märkte” erhielten die anderen “dank der Erpressungsgewalt
der Kartellfunktionäre, mehr als ihre Arbeit wert ist (auch im Sinne des
840
gestalterischen Schöpfungsauftrags).”
Man mag diese Redeweise als reichlich abstrus bewerten, doch immerhin findet sie sich in einem Sammelband, in dem bedeutende Autoren wie Václav Klaus, Ministerpräsident a.D. der Tschechischen Republik, Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, oder der ungarisch-amerikanische Philosoph Anthony de Jasay mitgearbeitet haben.
Mit einer theologisch aufgeladenen Sprache und Begrifflichkeit versucht
Roland Baader in dieser Streitschrift, den Neoliberalismus als eine
schöpfungsgemäße Wirtschaftsordnung zu legitimieren und dadurch
prinzipiell unangreifbar zu machen. Er inszeniert dabei den Streit um die
richtige Wirtschaftspolitik als einen Religions- oder Glaubenskrieg. Seinen Widersachern in der Gestalt der Befürworter eines Sozialstaates
wirft er “Gotteslästerung” vor. Die freie, neoliberale Marktwirtschaft wird
in den Rang einer Glaubenssache und gottgewollten Ordnung erhoben.
Die Botschaft lautet: Wer zu anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten
als den neoliberalen greift, vergreift sich an der Schöpfungsordnung. Der
Neoliberalismus macht sich sakrosankt: Seine Unantastbarkeit wird mit
religiösen Begriffen untermauert. Sachargumente aber werden in diesem
Glaubenskrieg nicht genannt; sie werden vielmehr durch Begriffe aus der
Sphäre des Religiösen ersetzt. Ökonomische Überzeugungen erhalten
den Status dogmatischer Gewißheiten.
Ganz in der Tradition von Bernard Mandeville deutet Norbert Walter,
Chefökonom der Deutschen Bank, den Sozialstaat und mit ihm die ethi837
838
839
840
Ebd. 242.
Ebd. 240.
Ebd. 240.
Ebd. 241.
288
sche Grundhaltung der Barmherzigkeit und Sympathie als gemeinschaftsschädigend, da sie möglichen Wohlstand verhindere und Eigeninitiative blockiere. Er spricht von einem “Samariter-Dilemma”, das darin
bestehe, daß der Sozialstaat wie der Samariter intentional das Gute zwar
tun wolle, mit seinem Einsatz für soziale Gerechtigkeit jedoch das Gegenteil bewirke. Der Wohlfahrtsstaat befinde sich in einem Dilemma,
denn “er kann nicht mehr moralisch rechtfertigen, einen Menschen fortgesetzt zu unterstützen, der aufgrund der Unterstützung potentielle Ei841
genanstrengungen unterläßt.”
Eine Unterstützung sozial Schwacher
sei zwar gut gemeint, aber schädlich. Sie sei eine “Paradiesillusion einer
Geschenkewirtschaft”, die “letztlich wenig mit Ethik, wenig mit Nächsten842
liebe, wenig mit Christenliebe zu tun” habe. Deshalb gibt es ein Paradox: Der gesinnungsethische Samariter verfehlt sein Ziel; doch verantwortungsethisch handelt, wer sozialstaatliche Hilfe zurückweist, auch
wenn solche Entscheidungen auf den ersten Blick hartherzig aussehen
mögen. Deshalb nennt es Walter “im Einzelfall unsozial, ein Gemeinwe843
sen ausschließlich auf Altruismus und Gemeinsinn gründen zu wollen.”
Eine Aufgabenteilung soll herrschen: Der Markt sichert die Wirtschaftlichkeit, für Menschlichkeit sorgt im Einzelfall der Einzelne. Gleichwohl wird eine ethische Basis gesucht. “Kein Wirtschaftssystem kann
844
daher auf Dauer ohne ethische Grundlagen auskommen.”
Dabei vollzieht sich aber eine eigentümliche Umwertung der traditionellen Werte:
“Egoismus kann so tugendhafter sein als Altruismus”, kommentiert der
845
Chefredakteur der WirtschaftsWoche, Stefan Baron. Ethische Traditionen des Erbarmens und der Gerechtigkeit werden im Interesse einer
ethischen Fundierung des freien Marktes umgedeutet. “Denn eine
Marktwirtschaft bereitet wesentlich erfolgreichere Methoden der Nächstenliebe als das bloße Teilen. Anstatt nach dem Vorbild Martins den
Mantel mit dem frierenden Bettler nur solidarisch zu zerschneiden, kann
man sich die Massenproduktion von Mänteln zur Aufgabe machen, so
daß sie für alle erschwinglich werden und viele Dünnbekleidete in Brot
und Arbeit kommen. Nach aller historischen Erfahrung hat die Maxime
des unternehmerischen Handelns mehr für die jeweils Bedürftigen er846
reicht als alle Ethik der Aufteiler.” Diese Ethik des Teilens in der Symbolfigur des Sankt Martin steht für eine europäische Sozialtradition, die
wegmodernisiert werden soll, da sie heute unter den Bedingungen des
841
842
843
844
845
846
N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 72.
Ebd. 74.
Ebd. 79.
S. Baron, Herz und Verstand, in: WirtschaftsWoche Nr. 6 vom 30.1.1997, 3.
Ebd.
W. Weimer, Das Teilen und die Moral der Märkte, in: FAZ vom 24.12.1993, 9.
289
Marktes als gesellschaftliche Ethik überholt gilt. “Diese „Ethik des Teilens‟ bringt kein einziges zusätzliches Brot auf den Markt. Der unternehmerische Imperativ lautet: vermehre die Güter, nicht aber: teile sie!
(...) Es ist wohl sicher, daß die Ethik des Produzierens weit mehr zur
Überwindung der Armut getan hat als alle caritativen Armenpflegesätze
847
oder Sozialhilfe.”
8.2.2.3 Neoliberales Credo: Vertrauen auf den Markt
Da aber ein empirischer Beweis für die Verwandlung des Eigennutzes
des einzelnen in ein Gemeinwohl aller nicht erbracht werden kann, gilt
es, diese Behauptung zu glauben. Aus sich heraus kann der Neoliberalismus keine Legitimation finden. Dieses Defizit sollen die religiösen Begriffe beheben. So muß Norbert Walter auch konzedieren, daß die soziale und ökonomische Überlegenheit eines freien Marktsystems, das auf
der Koordination privater Wünsche aufbaut, “kaum irgendwo als „Beleg‟
848
verfügbar”
sei, denn historisch gebe es - leider - nur Gesellschaften
mit einer Vielzahl staatlicher Eingriffe. Angesichts der historischen Unzulänglichkeit , daß ideale Bedingungen für marktwirtschaftliche Konzepte
real nicht umgesetzt, sondern allenfalls approximiert werden, “tut moralische Aufrüstung not”, die dazu beitrage, “die angemessene Bescheiden849
heit im Anspruchsniveau zu finden.”
Gefordert wird also ein dogmatisches Vertrauen, das die Lücke der fehlenden Empirie ausfüllen soll. Die
neoliberale Ökonomie wird zu einer Orthodoxie oder unfehlbaren Glaubensangelegenheit, die sich auch nicht durch Massenarbeitslosigkeit,
Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich oder ökologische Schäden
erschüttern läßt, da diese a priori nicht durch das Marktsystem, sondern
durch den Fehler des Menschen verursacht würden, der meint, wirtschaftspolitisch in den Markt intervenieren und eingreifen zu dürfen.
Auch Milton Friedman diagnostiziert mangelnden Glauben, wenn er zu
den Kritikern des freien, neoliberalen Marktes sagt: “Hinter den meisten
Argumenten gegen den freien Markt steckt der mangelnde Glaube in die
850
Freiheit selbst.”
Marktkritisches Denken ist demnach ein Glaubens847
848
849
850
G. Habermann, Teilen oder produzieren. Bemerkungen zum Ethos des Unternehmers, in: Neue
Zürcher Zeitung, (Fernausgabe) Nr. 211 vom 12./13. September 1993, 13f.
N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 68.
Ebd. 85.
M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt-Berlin, 1984, 36. - Zur Erinnerung: Bereits
Ludwig Erhard grenzte die Soziale Marktwirtschaft von einer freien Marktwirtschaft ab. Für
ihn gehören Freiheit, Verantwortung und Ordnung untrennbar zusammen. Deshalb sagte er
290
zweifel. Freiheit avanciert zu einem Wert an sich, der sich auch nicht vor
solchen Argumenten wie dem der Gerechtigkeit zu legitimieren braucht.
Letztlich erfüllen also die theologischen und religiösen Begriffe die Funktion, über eben jene Tatsache hinwegzuhelfen, daß die freien Märkte
nicht halten können, was sie verheißen. Der Bezug auf die Begriffe der
Religion dient dann aber nicht der Rationalität oder Aufklärung über die
Sachlage, sondern will diese undurchschaubar machen und dadurch ihre
Akzeptanz erhöhen. In einer solchen Situation ist das Vertrauen auf den
Markt eine Tugend, die zur Konformität mit den Erfordernissen des freien
Marktes anhalten soll.
Das neoliberale Verständnis von Markt kennt keine Alternativen. “Außerhalb des Marktes kein Heil?” fragt die Internationale Zeitschrift für
Theologie Concilium leitmotivisch im Themenheft 4/1997 . Einige Zitate
können belegen, wie Begriffe der Religion in der neoliberalen ökonomischen Debatte verwendet werden. Stefan Baron zitiert den USÖkonomen Paul Romer, der die ökonomische Spitzenstellung der USA
gegenüber Europa darin begründet sieht, daß “das größere Vertrauen in
die Marktmechanismen in Amerika” bestehe. Stefan Baron diagnostiziert
als Grund für den Niedergang der deutschen Wirtschaft fehlenden Glauben: “(...) weil wir den Glauben an unsere eigene Wirtschafts- und Ge851
sellschaftsordnung, die Soziale Marktschaft, verloren haben.” Der Milliardär George Soros sprach in einem viel beachteten Beitrag in der ZEIT
ebenfalls von einem Glauben an den Markt: “Insoweit heute in unserer
Gesellschaft überhaupt von einer vorherrschenden Überzeugung die Rede sein kann, dann ist es der Glaube an die Zauberkraft des Marktes.
(...) Die Doktrin des Laissez-Faire-Kapitalismus verkündet, dem Gemeinwohl werde am besten durch die unbeschränkte Verfolgung der Ei852
geninteressen gedient.”
Das Manifest Grenzen des Wettbewerbs der
Gruppe von Lissabon kritisiert, daß die Globalisierung der Wirtschaft eine
fatale Marktgläubigkeit habe entstehen lassen. Das Manifest kritisiert,
853
daß “der Glaube an die freie Marktwirtschaft” vorherrsche. Der Mitver-
851
852
853
1961: “Freiheit darf nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung,
ohne Wurzel. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf vielmehr der Ordnung.” (Zit. ohne Quellenangabe in: O. Schlecht, Begriffsverfälschung, in: Evangelische Kommentare 10/1998, 597.)
S. Baron, Marktwirtschaft ist menschlich, in: WirtschaftsWoche Nr. 10 vom 26.2.1998, 34.
G. Soros, Die kapitalistische Bedrohung, in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 17. Januar 1997, 25.
Die Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die
Zukunft der Menschheit, München 1997, 63. In einer religiöse Begriffe paraphrasierenden
Ausdrucksweise heißt es dort: “Das Glaubensbekenntnis der Wettbewerbsfähigkeit hat seine
Evangelisten, Theologen, Priester und, natürlich, Gläubige. Letztere sind jene Millionen Menschen der entwickelten Regionen und Schichten der Welt ... Die Evangelisten sind jene Tausende von Wirtschaftswissenschaftlern und Experten aus den USA, Westeuropa ... , die den
quasi naturgesetzlichen Charakter der Prinzipien und Mechanismen der modernen kapitalisti-
291
fasser dieses Manifestes, Ricardo Petrella, zitiert den BangemannBericht der Europäischen Kommission vom 26. Mai 1994, der fordert,
854
man müsse “auf die Mechanismen des Marktes vertrauen.”
In einer
Bildersprache will Petrella das Vertrauen auf den Markt als religiöse Observanz deuten und bezeichnet den Neoliberalismus in Anlehnung an
biblische Metaphorik als “die neuen Gesetzestafeln”. “Die neuen Gesetzestafeln feiern die Idee eines Wettbewerbs zwischen allen Menschen,
allen Gesellschaftsgruppen und allen territorialen Gemeinschaften (Städten, Regionen, Staaten), denn, so verkünden sie, es gibt kein individuelles oder kollektives Heil ohne die Eroberung von Markt- und vor allem
855
Weltmarktanteilen.” Daß eine Ökonomie mit diesem Selbstverständnis
die Stelle der Religion einnehmen kann, befürchtet der Schweizer Ökonom Hans Chr. Binswanger: “Die Wirtschaft gewinnt damit den transzendenten, d.h. grenzüberschreitenden Charakter, den die Menschen früher
856
in der Religion gesucht haben.”
Auch der Wirtschaftswissenschaftler
Siegfried Katterle kritisiert, daß dem Markt und seinem Funktionieren
humane Gehalte einer sozial verpflichteten Ökonomie geopfert werden.
“Diese sinngebende Dimension einer dem Menschenbild des homo
culturalis gemäßen Wohlstandsentwicklung, die durch eine bewußt soziale und ökologische Steuerung des Marktes hergestellt werden müßte,
werden heute weithin dem zur totalen Institution vergötzten Markt geop857
fert.” In diesem Zusammenhang an Alfred Müller-Armack zu erinnern,
kann hilfreich sein. Denn er sah allein in einer Rückbindung an eine
christliche Ethik die Chance zu einer “Ausschaltung aller Idolbildung im
858
Wirtschaftlichen” . Auch der bekannte französische Soziologe Pierre
854
855
856
857
858
schen Marktwirtschaft kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität kodifiziert und etabliert haben.
... Die Theologen schossen in den 70er und 80er Jahren wie Pilze aus dem Boden. ... Priester
des Wettbewerbskultes gibt es zu Tausenden in aller Welt. An den Universitäten wie in den
Parlamenten, in London wie in Sao Paulo ... wie in den deutschen Gewerkschaften. Die Unternehmens- und Managementberater sind die gläubigsten Priester und die am besten ausgestatteten. Die Lehre und die Verbreitung des Credos beschert ihnen eine äußerst profitable Einkommensquelle.” Die Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs, 134-136.
Zit. in: R. Petrella, Die neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt. Ausgabe) vom 2.
Oktober 1995, 2.
R. Petrella, Die neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt. Ausgabe) vom 2. Oktober
1995, 2.
H.Ch. Binswanger, Geld und Magie, Stuttgart 1985, 61.
S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 63. Auch Peter Ulrich nimmt im Neoliberalismus eine “gedankliche Entgrenzung der Idee einer effizienten
Marktwirtschaft zur Ideologie einer totalen Marktgesellschaft” wahr. In: P. Ulrich, Integrative
Wirtschaftsethik, 129.
A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 507. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit
den Politischen Religionen des Stalinismus und des Nationalsozialismus sagte Müller-Armack:
“Nachdem die Geschichte eines Jahrhunderts klargemacht hat, daß man nur zwischen Glauben
und Pseudoglauben und nicht zwischen Glauben und Nichtglauben zu wählen hat, sollte man
292
Bourdieu deutet Theorie und Konzept des Neoliberalismus als ein Glaubenssystem. Es schaffe sich selber Zwänge, um dann behaupten zu
können, sich diesen Zwängen nicht entziehen zu können. “Diese Utopie
bringt (...) eine außergewöhnliche Gläubigkeit hervor, den free trade faith
(...) Sie vertrauen auf Modelle, die sie praktisch nie wissenschaftlich
überprüfen können, und sie verachten die Erkenntnisse anderer histori859
scher Wissenschaften.” In der französischen Debatte wird der Begriff
“la pensée unique” für dieses Denken in selbstgeschaffenen Sachzwängen, das keine Alternativen zuläßt, verwendet. “Der Neoliberalismus
860
zeigt sich uns schließlich im Schein der Unausweichlichkeit.” Man hat
keine Wahl. Es gibt einen Sachzwang, der sich aus den Erfordernissen
des Marktes ergibt. Doch legitimiert wird dieser Sachwang durch ein
Gemeinwohl, das in Aussicht gestellt wird. Für Pierre Bourdieu ist der
neoliberale Diskurs das, was Emile Durkheim über Religion gesagt hat,
861
nämlich ein “wohldurchdachtes Delirium” . Mit einem Gewand ökonomischer Feststellungen würden normative Anschauungen verschleiert
und Tatsachen in der ökonomischen Diskussion überhaupt nicht zur
Kenntnis genommen. Bourdieu sieht in der neoliberalen Argumentation
deshalb “einen neuen Glauben an die historische Unvermeidlichkeit” und
kommt zu dem Resümee: “Wir haben es hier mit Religion zu tun”.
Die Rede von Glauben, Wunder oder Vertrauen im Zusammenhang
mit ökonomischen Sachverhalten ist nicht neu. Bereits Alfred Marshall
(1842-1924), der wohl bedeutendste Vertreter der Neoklassik, rückt die
Haltung des Vertrauens in das Zentrum: “Der Hauptgrund allen Übels (in
der Wirtschaft) ist fehlendes Vertrauen. Der größte Teil der Mißstände
ließe sich beinahe im Nu beseitigen, wäre es nur möglich, das Vertrauen
wiederherzustellen, alle Initiativen mit seinem magischen Zauber in Gang
zu setzen und sie mit ihrer Produktion und ihrer Nachfrage nach den Wa862
ren anderer fortfahren zu lassen.” In den ökonomischen Theorien der
Neoklassik gibt es eine mit dem Attribut “theologisch” zu qualifizierende
Traditionslinie, die über Adam Smith bis zu Bernard Mandeville zurückreicht und von den Neoliberalen unserer Tage aufgenommen wurde.
859
860
861
862
heute vorsichtiger in der Anwendung dieses Argumentes (nämlich, daß die Zeit des Glaubens
vorüber sei, F.S.) sein.” (A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 494)
P. Bourdieu, Die Sachzwänge des Neoliberalismus, in: Le Monde diplomatique (dt. Ausgabe),
März 1998, 3.
P. Bourdieu, Der Mythos “Globalisierung” und der europäische Sozialstaat, in: ders., Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion, Konstanz
1998, 40.
zit. in: P. Bourdieu, Krise des Wohlfahrtsstaates. Eine Polemik des französischen Soziologen
Pierre Bourdieu, in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 1. November 1996, 2.
Zit. in: H. Assmann u. F. J. Hinkelammert, Götze Markt, Düsseldorf 1992, 89.
293
8.2.2.4 Neoliberale Glaubensgemeinschaft
Bereits 1945 hatte Alexander Rüstow mit seiner Schrift Das Versagen
863
des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem
die
ethische und theologische Dimension der Begründung des sich selbst
regulierenden Markt-mechanismus, wie sie Adam Smith formuliert hatte,
in einer detaillierten Studie nachgewiesen. Von der Kosmostheologie Heraklits über das philosophische Denken der Stoa, insbesondere ihrer
Anthropologie, Ethik und Politik führe eine Entwicklungslinie zu Adam
Smith. Smith habe die “unsichtbare Hand” als Teil eines deistischen
Weltbildes verstanden. Damit habe er zwar eine ethische Begründung
der Marktwirtschaft ausgearbeitet, die jedoch nicht auf der Grundlage
christlich-theologischer Prinzipien beruhe, sondern auf einem deistischen
864
Weltbild. Der zu Beginn der Aufklärung im 17. Jahrhunderts geprägte
Begriff “Deismus” bezeichnet eine Weltanschauung, die die “christlichen
Glaubensaussagen auf eine universale „natürliche‟, aller geschichtlichen
865
Elemente, vor allem der Heilsbedeutung Jesu entschränkte Religion”
reduziert. Die zeitgenössische anglikanische Theologie war sich der stoischen und epikureischen Grundlagen des Deismus bewußt gewesen und
setzte sich deshalb mit dieser vorchristlichen Weltanschauung der Antike
866
kritisch auseinander.
Nach Binswanger zeige sich die Distanz zur
christlichen Ethik darin, daß Smith in der sechsten - der ersten überarbeiteten - Auflage seiner Theorie der ethischen Gefühle alle früheren Hin867
weise auf das Christentum gestrichen hat.
Smith sah in der Welt ein göttliches Wesen wirksam, “dessen Wohlwollen und Weisheit seit aller Ewigkeit die ungeheure Maschine des
Weltalls so ersonnen und gelenkt hat, daß sie zu allen Zeiten das größt868
mögliche Maß von Glückseligkeit hervorbringe.” Dieses göttliche We863
864
865
866
867
868
A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, (Istanbuler Schriften Nr. 12) Istanbul - Zürich - New York 1945; vgl. auch: ders., Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus in der Wirtschafts- und Sozialordnung, in: Christentum und Liberalismus. Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, Heft 13,
München 1960, 149-178.
So neben Rüstow auch: N. Monzel, Die weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus, in: ders., Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München - Wien, 1980, 218-231; H. Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa. Essays zur Kultur der Wirtschaft, München 1998, 47-64; M. Büscher,
Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible Hand” in
der säkularisierten Industriegesellschaft, 123-144.
W. Michaelis, Deismus, III. Englischer Deismus, in: RGG 3. Aufl. 1958, Bd. 2, Sp. 60.
Ebd. Sp. 64.
Hinweis bei: H. Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 55f.
A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 299.
294
sen ist nicht der christliche Gott, sondern die Weltvernunft der Stoa. Eine
869
“Vorsehung”
leite in Güte das Weltgeschehen. Ihr sei es deshalb zu
verdanken, daß egoistisches Verhalten in Gemeinwohl umgewandelt
werde. Die Welt wird als ein mit mechanischer Gesetzmäßigkeit ablaufendes System verstanden, das durch Gottes Güte in seinem ungehinderten Ablauf garantiert wird. Die Koinzidenz von Gemeinwohl und Eigennutz ist keineswegs eine Erfahrungstatsache, sondern wird bei Smith
mit dem Hinweis auf das stoische Vertrauen auf die Vorsehung theologisch erklärt und begründet.
Smith konnte bei dem Philosophen Epiktet (50- ca.140 n. Chr.), einem
Hauptvertreter der Stoa, lesen: “Daher ist es auch keine Sünde wider das
Gemeinwohl, wenn man alles um seiner selbst willen (aus Eigenliebe)
870
tut.”
Das marktwirtschaftliche Vertrauen in die Umwandlung des Eigennutzes in das Gemeinwohl ist also keineswegs Ausdruck eines wertfreien ökonomischen Gesetzes, sondern Teil einer von stoischen und
epikuräischen Elementen inspirierten deistischen Weltanschauung. Alexander Rüstow hat in überzeugende Weise eine Traditionslinie belegt,
die seit der Stoa bis in den Liberalismus immer wieder ökonomische Abläufe wie beispielsweise einen freien Außenhandel als gottgewollt gedeutet werde: Um die Völker auf die Notwendigkeit gegenseitigen Austausches und Handels hinzuweisen, habe Gott in seiner Weisheit die Güter
871
absichtlich auf die verschiedenen Völker verteilt.
Auch wenn Smith lediglich an zwei Stellen die für das ökonomische
Denken so bedeutungsvolle Metapher “unsichtbare Hand” verwendet, so
ist der Überzeugungsstandpunkt dennoch häufiger anzutreffen. So heißt
es in seinem Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen: Wer seinen eigenen Gewinn vergrößern wolle, werde “von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beab872
sichtigt hat.” Und in der Theorie der ethischen Gefühle spricht Smith
den verteilungsgerechten Aspekt so an: “Sie (die Reichen, F.S.) werden
von einer unsichtbaren Hand dazu geführt, nahezu die gleiche Verteilung
lebensnotwendiger Güter vorzunehmen, die gemacht worden wäre, wenn
die Erde zu gleichen Teilen unter all ihre Bewohner aufgeteilt worden wä869
870
871
872
Ebd. 231. Diese Vorsehung ist jedoch nicht mit jenem Begriff von Vorsehung identisch, den die
christliche Theologie kennt. Das christliche Verständnis von Vorsehung hat sich seit der Auseinandersetzung mit der Stoa in der Patristik immer gegen einen Fatalismus abgegrenzt und
sich nicht auf die Weltordnung als ganze oder auf die Wirksamkeit allgemeiner Gesetze bezogen, sondern immer auf den einzelnen. Vgl. die näheren Ausführungen bei: N. Monzel, Die
weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus, 227f.
Epiktet, Teles und Musonius, Zürich 1948, 123f, zit. nach: H.Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 55.
A.Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 114ff.
A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 371.
295
re, und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ohne es zu wissen, das
Interesse der Gesellschaft und bringen die Mittel zur Vermehrung der
873
Gattung auf.”
Weil eine unsichtbare Hand allemal für das Gemeinwohl sorge, kann
sich Smith dem Rat der Stoiker anschließen: “Jeder Mensch ist, wie die
Stoiker zu sagen pflegen, in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenen Fürsorge empfohlen, und jeder Mensch ist gewiß in jeder Hinsicht
874
geeigneter und fähiger, für sich zu sorgen als irgend jemand anders.”
Das Vertrauen auf die “unsichtbare Hand” nennt Smith theologisch eine
“großherzige Ergebenheit in den Willen des großen Lenkers des Welt875
alls.” Die Ethik des Marktes ist theologisch begründet: “Die Verwaltung
des großen Systems des Weltalls indessen, die Sorge für die allumfassende Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist die
876
Aufgabe Gottes und nicht des Menschen.”
Das Vertrauen auf den
universalen Schöpfergott, der in seiner Güte die Welt mit “unsichtbarer
Hand” erhält und lenkt, ist demnach der ökonomische Ausdruck des
weltanschaulich begründeten Optimismus der Stoa. Ebensowenig wie
Gott in die Welt eingreift, soll der Staat in den Markt eingreifen.
Die “Vorsehung” lenkt und garantiert nach dem deistischen Weltbild
und Glauben des Adam Smith den Marktmechanismus so, daß die subjektiven Absichten eines eigennützigen Vorteilskalküls aufgehen und zugleich das Gemeinwohl gefördert wird. Das der Marktwirtschaft zugrunde
liegende Gesetz war demnach zugleich göttliches Gesetz und natürliche
Ordnung. Der in der Tradition christlicher Sozialethik beargwöhnte Eigennutz kann nunmehr eine für die Gemeinschaft positive Funktion erhalten und ist ethisch legitimiert, da er eine Bedingung für den wirtschaftlichen Wohlstand darstellt.
Die Doktrin der Umwandlung eigennütziger Interessen in ein Gemeinwohl vertrat bereits fast ein halbes Jahrhundert zuvor Bernard Mandeville, wie die Verse in der berühmten Bienenfabel verdeutlichen:
Der Allerschlechteste sogar
Fürs Allgemeinwohl tätig war.
So herrscht im ganzen Einigkeit,
877
Wenn auch im einzelnen oft Streit.
Mandeville will die Menschen nehmen, “wie sie in Wirklichkeit sind (
...), den Menschen schlechthin, im Naturzustand und ohne Kenntnis des
873
874
875
876
877
A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 231.
Ebd. 272.
Ebd. 298.
Ebd. 299.
B. Mandeville, Die Bienenfabel. Mit einer Einleitung von Walter Euchner, Frankfurt 1980, 84f.
296
878
wahren Gottes.” Der konkret vorfindliche Mensch sei egoistisch und allein auf seinen Vorteil bedacht, lautet die anthropologische Grundaussage. Deshalb spöttelt Mandeville auch über “eine unvernünftige Neigung
zu einer Art Verehrung für die Armen (...), die einer Mischung aus Mitleid,
879
Albernheit und Aberglauben entspringt.”
In diesen hier zynisch abgewehrten Anschauungen klingt eine vorkapitalistische Wertüberzeugung
nach, die Barmherzigkeit und Sorge für die Armen als oberste ethische
Zielsetzung und nicht als Verstoß gegen die individuellen Bereicherungsinteressen ansah. Was Mandeville hier als Unvernunft abtut, ist die Vernunft der christlich-jüdischen Gerechtigkeitstradition. Diese ethische Vernunft ist für die liberal-kapitalistische Ökonomie unvernünftig geworden.
Sie wird deshalb delegitimiert, um die Vernunft des eigennützigen Interesses zu legitimieren.
Erst eine Anthropologie, die Eigennutz zu einer dem Menschen eigentümlichen Eigenschaft erklärte und zuließ, konnte den Boden freimachen, auf dem sich eine am Konkurrenzparadigma orientierte Ökonomie
entwickeln konnte. Die Renaissance stoischen Gedankenguts hat eine
christliche Wirtschaftsethik verdrängt, die seit der Scholastik ethische
Einschränkungen und korrigierende Eingriffe des Staates kannte, die gerechte Verteilung des Sozialproduktes oder den gerechten Preis nicht
den Marktkräften überließ, sondern an der Idee der Gerechtigkeit orien880
tierte.
Adam Smith hat einen ausdrücklichen Gegenentwurf zu einer
christlichen Wirtschaftsethik entwickelt, der die ethischen Fesseln spren881
gen sollte, welche die freie Entfaltung der Marktkräfte hemmten.
Der lutherische Theologe Georg Wünsch kennzeichnete zu Recht den
Optimismus, wie er sich in der ökonomischen Harmonieerwartung der
“unsichtbaren Hand” niederschlägt, als “einen recht kräftigen Glauben”:
“Dieser Anschauung liegt der religiöse Glaube zugrunde, daß die Vorsehung alle Dinge so geordnet habe, daß, indem jedes seinen Vorteil
sucht, es gleichzeitig die Wohlfahrt des Ganzen fördert. Damit rückt der
philosophische und ökonomische Liberalismus wieder näher an die Religion, ohne sich freilich immer bewußt zu sein, daß diese Art Optimismus
nur durch Glauben, und zwar einen recht kräftigen Glauben, möglich
878
879
880
881
Ebd. 93.
Ebd. 343.
Bereits im römischen Imperium hatte die Stoa die politischen und wirtschaftlichen Expansionsbestrebungen einer Marktwirtschaft gestützt. Zur Rehabilitation eines freien Marktes konnte
demnach Smith auf eine vorchristliche Weltanschauung zurückgreifen, die bereits in der Antike
einen freien Markt legitimiert hatte. Vgl. die Hinweise von H. Chr. Binswanger auf: M.
Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer Bewegung, Göttingen 1947 sowie C. ten Brink, Die Begründung der Marktwirtschaft in der Römischen Republik, Diss. St. Gallen 1994; T. Kopp, Die
Entdeckung der Nationalökonomie in der schottischen Aufklärung, Diss. St. Gallen 1995.
H.Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 50ff.
297
882
ist.” Auch der große englische Ökonom John Maynard Keynes merkte
an, daß die heutigen Nationalökonomen “keine Beziehung mehr zu den
theologischen und politischen Philosophien hätten, aus denen das Dog883
ma der Gesellschaftsharmonie entstanden ist.”
Und Alexander
Rüstow, bedeutender Inspirator der Sozialen Marktwirtschaft, prägte den
884
Begriff “Wirtschaftstheologie” , mit dem er eben diese metaphysischen
Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften ansprechen wollte. Er kritisierte, daß seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr in Vergessenheit
geraten sei, daß die liberale Theorie, in deistischer Theologie befangen,
die positive Herausarbeitung der staatlichen Randbedingungen der
885
Marktwirtschaft vernachlässigt habe. Rüstow spricht von dem Glauben
an die prästabilisierte Ordnung als einer “heidnischen, deistischen Theologie” und von einem Deismus, “der in Wirklichkeit die antike stoische
886
Moraltheologie, die stoische Religion” war. Das Christentum stehe mit
seinen diesseitsverneinden, pessimistischen und asketischen Strömungen seit Jahrhunderten - so Rüstow - in einem “schärfsten Gegensatz”
zur optimistischen, diesseitsbejahenden Erlösungslehre der Stoa und
887
des Liberalismus.
Über die Ordnungsvorstellungen des klassischen
Liberalismus schreibt Walter Eucken: “Man war von dem Glauben beherrscht, endlich die allein richtige, natürliche, göttliche Ordnung entdeckt
888
zu haben und zu verwirklichen.”
Der Begründer des Konzeptes der
Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, kritisierte an der liberalen Marktbegründung: “Man sah nicht, daß das Zentrale hier ein Glaube
war, ein handfester, weit über seine rationale Begründung hinausge889
hender Glaube an die wirtschaftliche Vernunft.” Der christliche Glaube
habe seine Form gewechselt. Auch wenn dieser Glaube sich säkularisiert
habe, so habe es einen Zwang gegeben, sich “einem neuen partiellen irdischen Wert anzuvertrauen und ihn mit den Qualitäten des höchsten
890
Wertes auszustatten.”
“Eine weltlich gewendete Glaubensposition
schon von ihrem Ursprung her” nennt Müller-Armack die liberale Theorie
882
883
884
885
886
887
888
889
890
G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 454.
J.M. Keynes, Das Ende des Laisser-faire, München 1926, 20, zit. nach: M. Büscher, Gott und
Markt, 123.
A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 11ff.
A. Rüstow, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung
von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 2, Godesberg 1949, 102f.
A. Rüstow, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus in der Wirtschafts- und Sozialordnung, in: Christentum und Liberalismus. Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, Heft 13, München 1960, 155.
A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 40.
W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern - Tübingen 1952, 27.
A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, in: ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, 440.
Ebd. 445.
298
und kommt zu der Folgerung: “Ihr Harmonieglaube ist nicht wissen891
schaftliche Einsicht, sondern Gestein aus religiösen Schichten.” In der
Sozialen Markwirtschaft dagegen will Müller-Armack einen Wirtschaftsstil
begründen, dessen Kennzeichen gerade darin bestehe, daß er nicht auf
einem Glaubensmotiv beruhe. Für den katholischen Sozialethiker Egon
Edgar Nawroth ist der Glauben an die Wirksamkeit der unsichtbaren
Hand nichts weiter als eine “„Personifizierung‟ jenes „erstaunlichen‟ Me892
chanismus”
eines automatischen Ausgleichs von Eigennutz und Gemeinwohl.
Rüstow nennt diese Ökonomen, die sich auf das Paradigma der unsichtbaren Hand beziehen, “Gläubige einer falschen deistischen Theolo893
gie”
und Binswanger spricht von Mitgliedern einer “stoischen Glau894
bensgemeinschaft” . Der Liberalismus verfolge zwar das Ziel der religiösen Säkularisation und politischen Befreiung, doch zugleich zeigt sich
eine Mystifizierung: Das rationale Argument wird durch ein weltanschauliches ersetzt, und an die Stelle einer rationalen Begründung tritt ein
Glaubensmotiv. Die Metapher “unsichtbare Hand” begründet also ein geradezu religiöses Vertrauen auf die Funktionsfähigkeit des Marktes.
Die Folgen sind weitreichend. Die Soziale Marktwirtschaft versteht sich
als eine ökonomische Theorie, die aus der Erfahrung mit dem Scheitern
der freien Marktwirtschaft die alte Lehre des Laisser-faire-Kapitalismus
mit ihrem Glauben an die natürliche Harmonie der Märkte überwinden
will und die Wettbewerbstheorie auf eine neue Basis stellt. Wettbewerb
werde nicht durch eine prästabilisierte Ordnung von außen vorgegeben
und auch nicht von außen garantiert, sondern sei eine gesellschaftliche
Einrichtung, die immer wieder von neuem nicht zuletzt durch eine ethische Einbettung hergestellt werden müsse. Diese Erkenntnis wird im USamerikanisch geprägten Neoliberalismus wieder rückgängig gemacht.
Martin Büscher kommt in seiner Analyse der religionsgeschichtlichen Ursprünge dieser Haltung zu dem Ergebnis, daß Hayek von den naturtheologischen Grundlagen des Deismus her denke: “Der Markt hat den
895
wohlwollenden Schöpfergott ersetzt.”
In der neoliberalen Doktrin begegnet man im Argument der “unsichtbaren Hand” erneut diesem längst
überwunden geglaubten theologischen Argument des Paläoliberalismus.
Ein Kommentar des Herausgebers der WirtschaftsWoche, Stefan Baron,
illustriert anschaulich, wie das deistische Weltbild des Adam Smith in sä-
891
892
893
894
895
Ebd. 503.
E.E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalimus, 125.
A. Rüstow, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus, 157.
H. Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 56.
M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible
Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 128.
299
kularer Gestalt weiterhin ungebrochen lebendig ist, ja, verbunden mit der
Absicht einer Legitimierung neoliberaler Wirtschaftspolitik, derzeit eine
mächtige Renaissance erlebt: “So bewirkt die unsichtbare Hand des
Marktes, daß Topmanager, die scheinbar unsozial und egoistisch die
Maximierung des Gewinns und damit ihrer Bezüge verfolgen, gleichzeitig
896
auch das Gemeinwohl mehren.”
Lohn- und Einkommensdifferenzen
werden nicht nur mit Verweis auf eine Ausgleich schaffende “unsichtbare
Hand” wegdefiniert, sondern ungewöhnlich hohe Einkommen werden
auch noch zu einer sozialen Wohltat umgedeutet. Die Bereicherungssucht geht nicht zu Lasten der Armen, sondern verwandelt sich auf wundersame Weise zu einem Gemeinwohl. Jürgen Jeske von der Wirtschaftsredaktion der FAZ verweist auf das “schonungslose Walten der
897
unsichtbaren Hand” , das alle Versuche, marktwidrig in den Markt einzugreifen, abstrafen und zunichte machen würde. Sozial- oder wirtschaftsethisch verantwortliches Handeln besteht in der Exekution von
Sachzwängen, die keiner ethischen Rechtfertigung unterliegen. Nach
Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, hat die “unsichtbare
Hand” sogar eine zivilisatorische Funktion: “Letztlich ist die „List der Natur‟
oder
die
„unsichtbare
Hand‟
monopolistischem
und
interventionistischem Taktieren überlegen (...) Diese Prinzipien sind so
machtvoll, daß sie den Menschen teils wider seinen eigenen Willen in die
898
Zivilisation führen.” Die “unsichtbare Hand” wird hier gleichgesetzt mit
einer “List der Natur”, also einem natürlichem Prinzip. Diese Beispiele
belegen, daß neoliberale Ökonomievertreter in ein Wirtschaftsverständnis zurückgefallen sind, das gerade nach der Weltwirtschaftskrise 1929
revidiert werden sollte. Der Harmonieglaube, den die “unsichtbare “Hand”
garantiert, macht das eigentliche ideologische Zentrum des Neoliberalismus aus.
Auch wenn neoliberale Ökonomen immer wieder zur ethischen Begründung der Marktökonomie auf die “unsichtbare Hand” des Marktes
verweisen und sich in der Tradition des Adam Smith glauben, so eignen
sie sich diese Tradition zu Unrecht an. Martin Büscher nennt folgende
Motive, durch die ein geradezu antagonistisches Bild entsteht: Neoliberale Ökonomen erwarten eine gesellschaftliche und ökonomische Harmonie als Folge des frei funktionierenden Marktes, während Smith den
Glauben an eine prästabilisierte Harmonie als Bedingung für einen funk-
896
897
898
St. Baron, Unsichtbare Hand, in: WirtschaftsWoche Nr. 21 vom 16.5.1996, 3.
J. Jeske, Die unsichtbare Hand, in: FAZ vom 26.1.1995, 1.
N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 81.
300
899
tionierenden Markt ansah. Adam Smith verstand das Vertrauen auf die
“unsichtbare Hand” als einen Akt, dem Weltenschöpfer Gott die Ehre zu
geben. Ohne diesen religiösen Bezug allerdings wird im Denkmodell des
freien Marktes aus dem Akt, Gott die Ehre zu geben, ein Akt, bei welchem dem Markt und seinen Funktionsbedingungen die Ehre gegeben
wird. Es hat also eine diametrale Motivverschiebung in der Begründung
der Marktökonomie stattgefunden. Da Smith die Metapher der “unsichtbaren Hand” einem göttlichen Weltplan zuordnet, ist das Marktgeschehen auch ein Mittel innerhalb einer umfassenden Ordnung. Diese Mittel
jedoch mutiert ohne diese Einbettung zu einem Selbstzweck und wird
selber zu einem höchsten Ziel, dem alles andere unterzuordnen sei. Der
normative Gehalt der Rede von einer “unsichtbaren Hand” zur Begründung der Systemlogik eines Marktes, der sich selbst reguliert, steckt in
einer Fiktion eines Marktgeschehens, das subjektlos und gänzlich von
ethischer Verantwortung losgelöst abläuft. Die weltanschauliche und philosophische Fundierung des Marktgeschehens bei Smith wird hier nicht
mehr erkannt, sondern naturalistisch oder mechanistisch verkürzt. Der
weltanschaulich begründete Glaube an die “unsichtbare Hand” gibt sich
in der neoliberalen Doktrin säkular als selbstheilende Marktkräfte aus.
Auf diese zu vertrauen, bildet die neoliberale ökonomische Grundüberzeugung, die sich von einer “unsichtbaren Hand” getragen weiß. Das un900
bedingte Vertrauen in die Selbsttätigkeit des Marktes, jene “Demut”
901
gegenüber dem “Wunder”
der Marktes, die Hayek lobt, zeichnet die
ökonomische Frömmigkeit des religiösen Menschen in der Marktreligion
aus. Peter Ulrich spricht deshalb auch von einer “Metaphysik des markt902
wirtschaftlichen Systems” .
Die Metapher “unsichtbare Hand”, wie sie der Neoliberalismus nutzt,
ist eine Ideologie der organisierten Alternativlosigkeit. Sie fordert, Sachzwänge als unausweichlich zu akzeptieren. Diese Metapher will eine organisierte Alternativlosigkeit legitimieren, die zwei Folgen zeigt: erstens handelnde Subjekte werden durch das Reden von der “unsichtbaren
Hand” unsichtbar gemacht; zweitens - enthebt das Wort von der “unsichtbaren Hand” die Subjekte ihrer Verantwortung und macht alle zu hilflosen Opfern ungestaltbarer Prozessen. Markt und das, was sich auf
dem Markt und durch den Markt durchsetzt, erscheint legitim, so daß
sich jede verantwortete Rechenschaft erübrigt. Die Rede von der “un-
899
900
901
902
M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible
Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 135; so auch: E.E. Nawroth, Die Sozial- und
Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 308.
F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, 47.
Ebd. 116.
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 144, auch 167.
301
sichtbaren Hand” entschuldet. Tatsächliche soziale Unrechtsverhältnisse
können deshalb guten Gewissens hingenommen werden. In ihrem Kern
bricht die Rede von der “unsichtbaren Hand” die Aufklärung als einem
permanenten Prozeß der Moderne vorzeitig ab. Der Glaube an die “unsichtbare Hand” ist ein Grunddogma der neoliberalen Wirtschaftstheorie
und begründet den neoliberalen Freiheitsbegriff wirtschaftstheoretisch.
Da die Begründungsfigur der “unsichtbaren Hand” Relikt einer deistischen Theologie ist, kann sie keine Grundlage für eine wertfreie ökonomische Gesetzmäßigkeit hergeben. Deshalb ist den vermeintlichen Gesetzes des Marktes auch nicht sachzwanghaft wie Gesetzen der Natur
Beachtung zu schenken. Religionsgeschichtlichen, philosophischen oder
weltanschaulichen Ursprungs sind sie, wie die im Markt vermutete “unsichtbare Hand”, Teil eines stoischen Glaubenssystems. Nach dem Wirtschaftsethiker Peter Ulrich zeigt sich in den neoliberalen Argumentationsmustern “die kryptoreligiöse Tiefenstruktur der neoliberalen Markt903
vergötterung” . Wenn diese theologisch-philosophischen Vorgaben und
religionsgeschichtlichen Grundlagen nicht beachtet werden, avanciert der
Markt von einem Zweck im Sinne des Adam Smith zu einem Selbstzweck innerhalb neoliberalen Denkens und von einem Teil einer metaphysischen Ordnung zu einem Sachzwang, der alternativlos respektiert
werden will.
Den neoliberalen Fachökonomen sind die philosophischen Grundlagen des Denkens von Smith kaum mehr bekannt. Noch weniger aber
wird das philosophisch-theologische Gedankengebäude als ethische
Rechtfertigung für die ökonomischen Annahmen, die nach wie vor zu den
Grunddogmen der Marktwirtschaft gehören, beachtet. Diese weltanschauliche Vorgabe mit den normativen Implikationen bei Smith wird
verkannt und in scheinbar naturgesetzliche Abläufe marktwirtschaftlicher
Prozesse umgedeutet. Die philosophisch-theologisch fundierte Theorie
interpretiert man nun als ganz und gar säkular. Normative und allein religionsgeschichtlich zu erklärende Begründungen für eine Marktwirtschaft
begegnen also gerade dort, wo neoliberale Theoretiker auf naturgegebene Abläufe verweisen.
Markt und Wettbewerb sind keine Mechanismen, die sich selber regeln, sondern Gegenstand ethischer Verantwortung. Es kommt also auf
ein wirtschaftsethisches Verhalten an, bei dem es um eine “Ausschaltung
904
aller Idolbildung im Wirtschaftlichen”
geht, wie Müller-Armack sich
ausdrückte. Die Idole oder Götzen, vor denen Müller-Armack ausdrücklich warnte, sind zurückgekehrt. Peter Ulrich nennt es die Aufgabe einer
903
904
P. Ulrich, Arbeitspolitik jenseits des neoliberalen Ökonomismus - das Kernstück einer lebensdienlichen Sozialpolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 38 (1997) 139.
A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 506.
302
Wirtschaftsethik, welche die Lektion der Geschichte dieses Jahrhunderts
mit dem Scheitern des freien Marktes gelernt hat, “Aufklärung gegen den
wieder auflebenden Marktfundamentalismus, der buchstäblich auf der al905
ten Marktvergötterung beruht,” zu erbringen. Theologie und Ethik bekommen angesichts dieser Wiedergeburt der Idole und Götzen eine
ideologiekritische Aufgabe. Wenn sie die religiösen Vorgaben zur Begründung der Funktionsfähigkeit des Marktes zum Thema machen, können sie einen Beitrag zu einem rationalen und analytisch-aufklärenden
Diskurs leisten, indem sie einerseits die religionsgeschichtlichen Begründungen des Marktgeschehens freilegen und andererseits auf eine rationale Begründung dringen. Ein ökonomischer Fatalismus, zu dem die Argumentation mit der “unsichtbaren Hand” verleitet will, wird ideologiekritisch ausgeräumt und zugleich dort handlungsfähig gemacht, wo die Rede von der “unsichtbaren Hand” demütige Unterwerfung unter Sachzwänge einfordern will. Von seinen Ursprungsimpulsen her war der Liberalismus eine Bewegung, die von religiöser und politischer Bevormundung befreien wollte. Dieser Emanzipationsimpuls ist jedoch auf halber
Strecke steckengeblieben, denn für Adam Smith sind die ökonomischen
Prozesse keineswegs autonom, sondern vielmehr weltanschaulich begründet. Das Sachzwangargument, dem sich nach neoliberaler Anschauung Politik und Gesellschaft zu unterwerfen haben, baut erneut einen Zwang auf, der den ursprünglichen Freiheitsimpuls des Liberalismus
konterkariert. Eine theologische Wirtschaftsethik, die den verdeckten religionsgeschichtlichen Grund des neoliberalen Verständnisses des Marktes freilegt, wird mit dem Gott- und Götzenkriterium ihren ideologiekritischen Beitrag zu einer rational begründeten und aufgeklärten Wirtschaftstheorie leisten können, die religiöser Begründungen zur Mystifikation ihrer Markthandlungen nicht bedarf.
Die Funktionsfähigkeit des Marktes ethisch zu begründen, ist durchaus im Sinne von Adam Smith. Anachronistisch ist es allerdings, weiterhin vertrauensvoll auf eine gütige “unsichtbare Hand”, die im Markt waltet, zu rekurrieren. Das Wiederaufleben der Rede von einer “unsichtbaren Hand” zeigt, daß der Neoliberalismus auf den Stand des religiös begründeten Liberalismus zurückgefallen ist. Das Glaubensmotiv der “unsichtbaren Hand” oder - wie Alexander Rüstow sagt - “der theologisch906
metaphysische Ursprungscharakter der liberalen Wirtschaftslehre”
ist
in säkularisierter Form zurückgekehrt. Der Neoliberalismus ist also keineswegs neu. Er ist sehr alt und knüpft heute lediglich in säkularer Sprache an der weltanschaulich-metaphysischen Begründung des längst
überwunden geglaubten Manchesterliberalismus an.
905
906
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 176.
A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 48.
303
Das Sozial- und Wirtschaftswort der Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit kritisiert einen solchen Ökonomismus: “Das
ökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf die
ökonomische Dimension einzuengen und so die kulturellen und sozialen
Zusammenhänge menschlichen Lebens zu vernachlässigen” (Ziff.129).
Das Marktprinzip bekommt eine über ökonomische Wirkungszusammenhänge oder Funktionen hinausreichende Geltung und droht alle privaten und gesellschaftlichen Lebensbereiche zu vereinnahmen, indem
es allem die Regeln und Rationalitäten des Marktes aufzwingt. Der
marktradikale Neoliberalismus unterscheidet sich von anderen marktwirtschaftlichen Konzeptionen durch einen Anspruch, der einen gleichsam totalitären Charakter hat: Das Marktprinzip soll über seinen originären Geltungsbereich hinaus in allen Lebens-, Kultur- und Gesellschaftsbereichen durchgesetzt werden.
8.2.2.5 Totaler Markt
Das neoliberale Ökonomieverständnis, das sich dem Sachzwangdenken
unterwirft und keine Alternativen zuläßt, trägt Aspekte des Totalitären in
sich. Totalitarismus besteht nach Hannah Arendt dort, wo keine Alterna907
tiven zugelassen sind. Seit Eric Voegelin und Raymond Aron wird der
Totalitarismus aber auch als Ausdruck einer Religion gedeutet, die politi908
schen Zwecken dient und deshalb Politische Religion genannt wird. In
aufklärerischer und religionskritischer Absicht versteht Raymond Aron totalitäre Systeme insofern als religiös, als sie die moderne und auch
christliche Scheidung der beiden Gewalten Religion und Politik rückgän909
gig zu machen bestrebt sind. Ergebnis der Aufklärung ist die Trennung
von Ordnungen der Wertsetzungssysteme. Das Modell “Gottesstaat”
kennt nur ein Wertesystem, dem sich alle gesellschaftlichen Subsysteme
unterzuordnen haben. Wenn der Markt mit seinem Wertsetzungssystem
sich als ein alle anderen Wertsysteme überwölbendes Wertsetzungssystem etabliert, zeichnet sich eine Entwicklung ab, die diese neuzeitliche Errungenschaft der Trennung der Ordnungen auflöst. Es kommt
zu einer Re-Installierung des Modells “Gottesstaat” unter veränderten
Vorzeichen: Das allgemeinverbindliche Wertsetzungssystem wird nicht
von der Politik auferlegt und definiert, sondern selber einem Subsystem,
907
908
909
H. Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 593ff.
H. Maier, Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995, 937.
Ebd. 29f.
304
910
nämlich dem Markt, untertan. Aus einem Gottesstaat, in dem Religion
das Gemeinwesen definierte, wird ein “Gottesstaat”, in dem die Ökonomie das Gemeinwesen definiert. Eine zivil-politische Religion wechselt
das Kleid. Sie wird zu einer zivil-ökonomischen Religion. Der Wirtschaftswissenschaftler Siegfried Katterle kritisiert diese Enwicklung zu
einem totalen Markt, indem er auf eine religiöse Dimension hinweist. Die
sinngebende Dimension einer Wohlstandsentwicklung, die durch eine
bewußte soziale und ökologische Steuerung des Marktes hergestellt
werden müßte, habe man “heute weithin dem zur totalen Institution
911
vergötzten Markt geopfert.”
8.2.3 Götzenkritik der Hebräischen Bibel im theologischen Erbe
8.2.3.1 Biblische Kritik an den Götzen
Auch wenn von einem Monotheismus Israels zumindest in vorexilischer
Zeit nicht gesprochen werden kann, stellt sich die Frage, wie sich die Alleinverehrung JHWHs gerade in Israel entwickeln konnte. Rainer Albertz
sieht einen Anhalt zu dieser Entwicklung in Strukturen der Jahwereligion,
die beim Propheten Hosea als religiöses Schlüsselerlebnis so formuliert
wird: “Aber ich, ich bin der Herr, dein Gott, seit der Zeit in Ägypten; du
sollst keinen anderen Gott kennen als mich. Es gibt keinen Retter außer
912
mir” (Hos 13,4).
Diese sozial- und religionsgeschichtliche Ausgangskonstellation beförderte die Alleinverehrung JHWHs.
Das Gebot der Alleinverehrung JHWHs und das Bilderverbot müssen
vom Exodus her gelesen werden, auf den sich der Dekalog in seinem
Prolog bezieht: “Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt
hat, aus dem Sklavenhaus” (Dtn 5,6). Als erstes Gebot wird das Verbot
des Götzendienstes genannt:. “Du sollst neben mir keine anderen Götter
haben” (Dtn 5,7). Die Formulierung des Ersten Gebotes des Dekalogs
setzt die Existenz fremder, anderer Götter geradezu voraus. Erst seit der
Exilszeit gibt es nach einer übereinstimmenden Meinung der alttesta913
mentlichen Wissenschaft einen wirklichen Monotheismus.
Nicht ein
allgemeiner religionstheologischer oder kultischer Monotheismus ist für
die biblische Tradition bedeutsam. Der biblische Monotheismus ist vor al910
911
912
913
F. Müller u. M. Müller, Macht Markt Sinn? In: dies., Markt und Sinn. Dominiert der Markt unsere Werte? Frankfurt 1996, 7-15.
S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 63.
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 98f.
Vgl. F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 43.
305
lem ein sozialer Monotheismus. Psalm 82 zeigt, daß JHWH in einer Götterrunde auftritt und die anderen Götter nicht kultisch, sondern wegen ihrer sozialen Ignoranz verstößt. Der biblische Gottesglaube ist darin
monotheistisch, daß er ein sozialer Monotheismus ist, der sich an das
Recht der Armen bindet. In der Religion Israels kann die Lage einer sozi914
al unterdrückten Gruppe zum Zentrum des Gottesbildes werden. Deshalb wird eine Versöhnung JHWHs mit dem Unrecht abgelehnt, das mit
“Ägypten”, “Kanaan”, “Mammon” und “fremden Göttern” bezeichnet wird,
da diese im Polytheismus soziales Unrecht nicht richteten. Israels Monotheismus ist durch eine Leidensfähigkeit am sozialen Unrecht gekennzeichnet. In Auseinandersetzung mit Fremdreligionen, die Unrecht und
Ungerechtigkeit stützen, entwickelte Israel eine polemische und pejorative Position zu den fremden Göttern. Diesen Göttern wird eine wirkende
und wirkliche Kraft abgesprochen, hier einzuschreiten. Besonders
Deuterojesaja predigt einen exklusiven Monotheismus, der nicht nur die
Verehrung fremder Götter ablehnt, sondern deren Existenz leugnet. Das
Gebot der Alleinverehrung JHWHs ist begründet im Befreiungshandeln
und dem Auszug aus Ägypten. Gebotsgehorsam ist Dankbarkeit gegen915
über dem Retter.
Wenn Israel “keine anderen Götter kennt” (Dtn
11,28; 13,3.7.14; 29,25), dann will das Deuteronomium mit dieser Formulierung ausdrücken, daß Israel neben dem als freiheitsstiftende Beziehung gedachten Gottesverhältnis keine anderen Beziehungen hat. Die
eigene Freiheit, die JHWH zu verdanken ist, würde riskiert durch die Be916
ziehung zu anderen Göttern.
Die biblische Kritik an den Götzen und am Götzendienst formuliert das
zweite Gebot des Dekalogs mit dem Bilderverbot: “Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgend etwas darstellt am Himmel droben, auf der
Erde unten oder im Wasser unter der Erde” (Dtn 5,8). Das Kultbildverbot
von Ex 20,23 geht in das Bilderverbot des Dekalogs ein (Dtn 5,8). Für die
alttestamentliche Rede von den Göttern/Götzen ist typisch, daß nicht
zwischen ihrer Präsenz im Kultbild und ihrer Existenz unterschieden wird.
Die biblische Götzenkritik unterstellt eine Identität zwischen Kultbild und
Gottheit, die dem Selbstverständnis der fremden Religion nicht gerecht
wird. Vielmehr zeigt sich wie beim Verbot der Verehrung fremder Götter,
daß mit dem Bilderverbot das alleinige Befreiungshandeln JHWHs zum
Ausdruck kommen soll. “Gehört Israels Freiheit zu Gottes Selbstdefinition und zwar eine in der Beziehung zum Gott des Exodus liegende und
erfahrene Freiheit, dann kann nichts anderes zum Offenbarungsmedium
werden. Bei diesem Gott bleiben heißt auch, die in dieser Beziehung er914
915
916
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 11, 569-576.
Ebd. 336.
F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 46f.
306
917
fahrene Freiheit nicht in einem Bild verdichten.” Erst in nachexilischer
Zeit kann sich das Bilderverbot wie auch der Ausschließlichkeitsanspruch
JHWHs durchsetzen. Für den Deuteronomiker sind Fremdgötter- und
918
Bilderverbot nahezu identisch. Israels Umgang mit den fremden Göttern läßt sich als eine Entwicklung beschreiben: Die ursprüngliche Verwendung des Götzenbegriffs als eines Moments der eigenen Identitäts919
wahrung wird zu einem Instrument einer theologischen Ideologiekritik.
Der biblische Gott ist im Dekalog und ihm verwandten Texten inhaltlich
festgelegt: Es ist ein Gott, der sich selbst durch die Befreiung der Hebräer aus ägyptischen Verhältnissen definiert, wie der Prolog des Dekalogs
begründet (Ex 20,2; Dtn 5,6). Er ist die einzige Freiheitsmacht, und nur
durch die Beziehung zu ihm kann Israel seine Freiheit bewahren. Biblische Götzenkritik ist deshalb immer von einem mythenkritischen Pathos
begleitet. Die geradezu ironische, beißende Götzenkritik bei Jes 44,9-20
wirft den Götzenverehrern einen Mangel an “Aufklärung” vor: “Unwissend
sind sie und ohne Verstand; denn ihre Augen sind verklebt (...) sie überlegen nichts, sie haben keine Erkenntnis und Einsicht” (Jes
44,18a.b.,19a). Drastischer läßt sich Götzendienst nicht beschreiben. Mit
dem begrifflichen Gegensatz “Gott/Götze” bewahrt die biblische Tradition
ein Wissen davon, daß Menschen durch das Werk ihrer Hände sich selber entfremden oder zu Sklaven ihrer eigenen Werke werden, sich vor
ihnen beugen oder in die Knie gehen können.
Erich Fromm verbindet in der Tradition der Theologia negativa die Anerkennung Gottes mit der Ablehnung von Götzen: “die Anerkennung Got920
tes ist grundsätzlich die Negation von Idolen” . In seinen eindrucksvollen Ausführungen zur “Götzenproduktion” in Jes 44,9-20; 46,4-7 stellt er
einen Zusammenhang her zwischen Freiheit und Verantwortung einerseits und Unterwerfung und Demut andererseits. “Wenn das Idol die entfremdete Äußerung der eigenen Kräfte des Menschen ist und wenn die
Verbindung mit diesen Mächten ein unterwürfiges Verhältnis zum Idol ist,
so folgt daraus, daß der Götzendienst notwendigerweise mit Freiheit und
921
Unabhängigkeit unvereinbar ist.” Die Wahrnehmung von Entfremdung
und der Widerstand gegen sie reicht weit in die biblische Tradition zurück. Karl Elliger bestätigt in seinem Kommentar zu Jes 44,9-20 diesen
aufklärerischen und mythenkritischen Charakter biblischer Götzenkritik:
“Bilderdienst ist Verehrung eines Geschöpfes anstatt des Schöpfers,
917
918
919
920
921
Ebd. 50f.
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 337.
Dem gleichen Anliegen - wenn auch mit anderen methodischen und philosophischen Ansätzen
- ist Peter
Ulrich in seinem Buch “Integrative Wirtschaftsethik” verpflichtet.
E. Fromm, Die Herausforderung Gottes und des Menschen, Zürich 1970, 47.
Ebd. 51.
307
noch dazu eines Geschöpfes, das selbst erst durch ein Geschöpf, den
Menschen, zustande kommt. (...) Denn Götter gibt es auch in der modernen Gesellschaft, Götter in anderer Gestalt als damals, aber auch von
922
Menschenhand gemacht.”
Für die biblische Tradition ist die Unterscheidung zwischen der Verehrung des wahren Gottes und einer Verehrung von falschen Götzen leitend. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die biblische Tradition dasselbe meint, was Gegenstand neuzeitlicher Ideologiekritik ist.
Das säkulare Selbstverständnis von Moderne und Aufklärung schloß
mit der Absage an die Existenz Gottes auch die Existenz des Gegenbildes, nämlich die Existenz von Götzen, aus. Was in der biblischen Tradition mit der Antinomie Gott / Götze benannt wird, glaubte man im Zuge
der Aufklärung als vormodern überwunden zu haben. Doch dadurch
wurde zugleich auch jener Referenzrahmen beseitigt, der die Existenz
von Götzen überhaupt wahrnehmen konnte. Religion galt als unaufgeklärter Rest der Menschheitsgeschichte. Mit der Aufklärung sollte im Interesse der Freiheit ein Aufbruch aus einer mythisch verzauberten Welt
angestoßen werden. Die biblischen Traditionen kennen eine Tradition
der Mythenkritik, die den Rationalitätstypus der Aufklärung an Radikalität
übertrifft.
Erich Fromm nimmt diese mythenkritische Kraft der biblischen Traditionen auf, wenn er es eine ideologiekritische Aufgabe nennt, “das Wesen
der Götzen und des Götzendienstes aufzuzeigen und die verschiedenen
Götzen zu identifizieren, die bis zum heutigen Tag in der Geschichte der
923
Menschheit verehrt wurden und weiter verehrt werden” . Produktion
oder Konsum können zu solchen Götzen werden. “Aber weil der offizielle
Gegenstand der Verehrung Gott ist, erkennt man die Götzen von heute
nicht mehr als das, was sie sind - als reale Objekte menschlicher Vereh924
rung.”
Der vermeintlichen Säkularität der Moderne ihre Säkularität
nicht zu glauben wird deshalb zu einer ideologiekritischen und theologi925
schen Aufgabe. Wenn Erich Fromm den Gottesgedanken mit Ideologiekritik in einen Zusammenhang bringt, dann steht er in der Tradition
des biblischen Gottesgedankens, der immer auch sein Gegenteil, den
Götzen, mitdachte. Religion bezeichnet keineswegs ein System, das
notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder einem System verbunden ist, das sich selber als Religion anerkennt oder bezeichnet. Von
zentraler Bedeutung ist, daß in der Religion der Mensch sich einer frem922
923
924
925
K. Elliger, Deuterojesaja, 1. Teilband Jes 40,1-45,7, Neukirchen-Vluyn 1978, 440f.
E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition, in: ders., Gesamtausgabe Bd. VI., Stuttgart 1989, 112.
Ebd. 112.
Vgl. dazu: F. Segbers, Wider den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe.
308
den Macht anvertraut. Fromm definiert deshalb Religion als “jedes von
einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bie926
tet.” Diese Definition von Religion ist weit genug, alle Phänomene einzubeziehen, bei denen es ein “Objekt der Hingabe” gibt. Der Inhalt der
Hingabe ist keineswegs spezifisch. Objekt können Tiere, Bäume, ein unsichtbarer Gott, eine Klasse oder eine Partei, Geld, Erfolg, der Markt
oder ein Fußballverein sein. Wichtig ist ein Unterscheidungskriterium von
Religion: Religion kann den Hang zur Destruktivität oder die Fähigkeit
und Bereitschaft zu Liebe und Solidarität fördern. Von diesem “Objekt der
Hingabe” empfängt der Verehrer Orientierung. Religion ist deshalb mehr
als nur eine Überzeugung von Glaubenssätzen. Sie orientiert Denken
und Handeln. Zu Recht betont Fromm, daß die entscheidende Frage
nicht lautet: Religion oder nicht? Sondern vielmehr: Welche Religion?
“Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch
927
menschlicher Kräfte, oder lähmt sie das menschliche Wachstum?”
Fromm entwickelt also ein Kriterium, das klären soll, ob der Mensch sich
Gott oder Götzen anvertraut. Die Folgerung lautet: Religion, die dem Leben dient, verehrt Gott; Religion jedoch, die destruktiven Mächten oder
928
Todesmächten nutzt, ist Götzendienst. Gott und Götze unterscheiden
sich wesentlich darin, welchen Anspruch sie an den Menschen erheben.
Bei den Götzen bestehe der Anspruch nicht in “Liebe und Gerechtigkeit”,
929
sondern in “Macht über Menschen” . “Götzendienst verlangt seinem
Wesen nach Unterwerfung - die Verehrung Gottes dagegen verlangt Un930
abhängigkeit.”
Der Gegensatz Gott / Götze steht deshalb biblisch in
der Dialektik Exodus / Ägypten.
Götzenkritik kann zu einer Verführung werden, wenn sie meint, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Auch Götzenkritik selber bedarf einer Götzenkritik und muß sich einem Prozeß permanenter Reflexion
aussetzen. Die Rede von den Götzen muß deshalb vor einem Verbalradikalismus geschützt werden, der nur sich selbst im Besitz der Wahrheit
dünkt und andere Anschauungen theologisch abqualifiziert. Auch die
Götzenkritik kann also zum Götzen werden. Unterschieden wird mithin
nicht nur zwischen Gott und den Götzen wie zwischen gut und böse,
sondern die theologische Rede von Gott und den Götzen setzt in theologischer Sprache eine permanente Götzenkritik in Gang. Dadurch bezieht
926
927
928
929
930
E. Fromm, Haben oder Sein, 135.
Ebd. 135.
E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. VI - Religion, Stuttgart
1989, 248f.; auch: ders., Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religion
und Religiosität, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. VI - Religion, Stuttgart 1989, 298f.
E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, 248.
E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, 111.
309
sie sich in diesen kritischen Prozeß der Kritik auch selber mit ein und
baut einem Fundamentalismus vor. Deshalb ist die Götzenkritik einer
Götzenkritik im Interesse der Freiheit des Menschen allemal immanent.
8.2.3.2 Götzenkritik in der theologischen Tradition
Die mythenkritische Götzenkritik der biblischen Tradition ist von der Theologie der Befreiung wiederentdeckt, rezipiert und auf die sozioökonomischen Verhältnisse in Lateinamerika hin neu zur Sprache ge931
bracht worden. Es gibt in der europäischen Theologiegeschichte allerdings eine theologische Traditionslinie des Redens von Gott und den
Götzen, die einer aufklärerischen und ideologiekritischen Absicht verpflichtet ist. In Martin Luthers theologischem Denken ist der Zusammenhang von Vertrauen, Gott und Mammon von zentraler Bedeutung. Mammon ist eine entscheidende Konkurrenzgröße zu Gott. Es fällt jedoch auf,
daß diese theologische Argumentation Luthers kaum rezipiert wird, obwohl sie ein ideologiekritisches Potential enthält, das auf Fragen der Ge932
genwart hin ausgelegt werden kann. Nicht zuletzt den lutherischen Kirchen des Südens ist es zu verdanken, die Kirchen des Nordens an die933
sen Luther und seine Götzenkritik erinnert zu haben. Einige Hinweise
können hier genügen, denn Friedrich-Wilhelm Marquardt hat in einer
überwältigenden Fülle von Belegen nachgewiesen, daß Martin Luther die
biblische Redeweise von den Götzen nicht allein auf ein individuelles
Verhalten von Personen bezieht, sondern auch auf das ökonomische
System des Frühkapitalismus angewendet und dieses als götzendienerisch qualifiziert hat. Ökonomische Fragen sind in theologischer Hinsicht
ethisch bedeutsam, gehören aber zunächst in den Zusammenhang der
934
Rede von Gott.
931
932
933
934
Bes. sei erwähnt: H. Assmann u. F.J. Hinkelammert, Götze Markt; H. Assmann u.a. (Hg.), Die
Götzen der Unterdrückung und der befreiende Gott; M. Löwy, Der Götze Markt. Die Kapitalismuskritik der Befreiungstheologie aus marxistischer Sicht, in: J. Moneta u. W. Jacob u. F.
Segbers (Hg.), Die Religion des Kapitalismus. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen
Marktes, Luzern 1996, 106-119.
Vgl. dazu u.a. H. Barge, Luther und der Frühkapitalismus, Gütersloh 1953, 33-40; H. J. Prien,
Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen, 1992; U. Duchrow, Weltwirtschaft heute. Ein Feld für Bekennende Kirche? München 1986, 79ff.; K. P. Lehmann, Der Mammon ist aller Welt Gott.
Rechtfertigungslehre und Kapitalismuskritik bei Martin Luther, in: Lutherische Monatshefte
1/1996, 14-16; F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon. Aber: Theologie und Ökonomie bei Martin Luther, Einwürfe, Bd. 1, München 1983, 176-216; vgl. auch: F. Wagner, Geld oder Gott?
Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984.
Vgl. Die Rede des Präsidenten des Lutherishen Weltbundes Gottfried Brakemeier: unten Anm.
946.
F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon., 183.
310
Ausgehend vom ersten Gebot bestimmt die Anithese Gott oder Mammon Luthers wirtschaftsethisches Denken. Im Großen Katechismus heißt
es in der bekannten Auslegung zum ersten Gebot: “Ein Gott heißt das,
von dem man alles Gute erwarten und bei dem man Zuflucht in allen Nöten haben soll, so daß „einen Gott haben‟ nichts anderes ist, als ihm von
Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Vertrauen und Glauben des Herzens beide macht: Gott und Abgott. Sind
Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht; und umgekehrt:
wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott
nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran Du
nun (sage ich) Dein Herz hängst und Dich darauf verläßt, das ist eigent935
lich dein Gott.” Der Mensch kann seinen Glauben und sein Vertrauen
auf den “rechten Gott” oder auf einen “falschen Gott, den Abgott”, setzen.
Ob der Mensch an Gott oder einen Abgott glaubt, zeigt sich daran, auf
wen er faktisch vertraut.
In seiner zweiten Katechismuspredigt am 14.9.1528 sagt Martin Luther, daß es Götter gibt, die beanspruchen, Gott zu sein. Doch sie sind
falsche Götter:“Das heißt den einigen Gott haben, daß du von Herzen
ihm traust und glaubst, denn Trauen und Glauben macht Gott. (...) Jemand traut auf Gott - solange er es (das Geld, F.S.) hat, ist er befriedigt:
936
durch sein Vertrauen macht er sich Mammon zum Gott.” Auf den der
Mensch vertraut, den hat er auch durch diesen Akt des Vertrauens zu
seinem Gott gemacht.“Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles
genug, wenn er Geld und Gut hat; er verläßt und brüstet sich darauf so
steif und sicher, daß er niemand etwas gibt. Siehe: dieser hat auch einen
Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz
937
setzt, was auch der allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist.” Mammon
und Gott sind als funktionales Äquivalent nur insofern austauschbar, als
Mammon sich eine Funktion aneignet und der Mensch auf diesen Mammon sein Vertrauen in einer Weise setzt, die der “rechte Glaube” Gott
vorbehält und eben nicht dem Mammon zukommen läßt. Ob das Geld
zum Gott gemacht wird, hängt nach Luther also von dem vertrauenden
Verhalten des einzelnen ab. Falk Wagner kommt deshalb zu dem
Schluß: “Die Konkurrenz von Gott und Geld, die Luther beschreibt, bewegt sich also in der Perspektive des personalen Vertrauens und Glaubens und liegt insofern auf der Linie der überlieferten Einsicht: „Ihr könnt
938
nicht Gott dienen und dem Mammon‟ (Matthäus 6,24).”
935
936
937
938
M. Luther, Der Große und der Kleine Katechismus, 9.
Zit. nach F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon, 182.
M. Luther, Der Große Katechismus, 10.
F. Wagner, Geld oder Gott? 102.
311
Gott und Mammon als konkurrierende Gottesverständnisse werden
von Luther als Folie genommen, die klären kann, was und wer Gott oder
Götze ist. Damit aber wird bei Martin Luther die “Ökonomie (...) zu einem
Problem im Bereich der Rede von Gott, aus einer ethischen zu einer
939
dogmatischen Frage” . Marquardt hat aus der ökonomischen Debatte
bei Martin Luther die Folgerung gezogen, daß “Luther die Wirtschaftsfrage zur Mammonfrage gemacht hat und umgekehrt die Gottesfrage an die
940
Wirklichkeit des Abgotts, des realen Anti-Gottes gebunden hat.”
Eine theologische Argumentation, die die Gottesfrage mit der
Mammonfrage verbindet, reicht von Luther über die religiösen Sozialisten
941
und den russisch-orthodoxen Religionsphilosophen Nikolaj Berdijaev
942
bis zur Theologie der Befreiung und Enzykliken von Papst Johannes
Paul II. Einige Zitate sollen diese Traditionslinie belegen: Georg Wünsch
hat in seiner evangelischen Wirtschaftsethik von einer “Wirtschaftsdä943
monie” gesprochen. Immer dann, wenn Wirtschaft sich verabsolutiere,
obgleich sie lediglich ein gesellschaftliches Teilsystem sei, “ist Wirtschaft
an die Stelle Gottes getreten”. Der “liberale Kapitalismus ist die geschichtliche Verkörperung dieser Dämonie. (...) Der Kapitalismus ist von
der christlichen Ethik her zu beurteilen als ein gewaltiges System der
Versuchung zur Abgötterei, was man - da er stets seine „ethischen Seiten‟ herausstellt - nicht einmal merkt.” In der Enzyklika Sollicitudo rei
socialis (1988) warnt Papst Johannes Paul II. vor einer “Versuchung zum
Götzendienst” (Ziff. 30) und prangert Entscheidungen in Wirtschaft und
Politik an, die in ihrer Gier nach Profit “wahrhafte Formen von Götzendienst verbergen” (Ziff. 37). In der Enzyklika Centesimus annus (1991)
spricht er von der “Gefahr einer „Vergötzung‟ des Marktes” (Ziff. 40) und
registriert, “daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die
(...) ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der
Marktkräfte überläßt” (Ziff. 42). Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl
und Eigennutz nennt die Überbewertung rein ökonomischer Ziele eine
“Vergötzung der Wirtschaft” (Ziff. 162). Der Glaubensbrief über die Wirtschaft, den christliche Organisationen in den Niederlanden geschrieben
haben, mündet in einem Bekenntnis: “Wir glauben, daß unsere Wirtschaftsordnung sich an der menschlichen Habsucht orientiert und darum
939
940
941
942
943
F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon, 183.
Ebd. 209.
N. Berdijaev, Mensch und Technik (Wien 1937), Talheim 1989, 216-218.
H. Assmann u. F. J. Hinkelammert, Götze Markt, 132ff.; H. Assmann, u.a. (Hg.), Die Götzen
der Unterdrückung und der befreiende Gott, Münster, 1984.
G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 475. Emil Brunner verweist darauf, daß wohl Paul
Tillich den Begriff des Dämonischen , auf die Wirtschaft angewandt, eingeführt habe. Verwendet wurde er auch von Brunners Lehrer L. Ragaz: E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen,
634, Anm 17.
312
944
abgöttische Züge trägt.” Der Reformierte Bund in Deutschland hat auf
seiner Hauptversammlung 1996 zu einem Anti-Mammon-Programm aufgerufen. Der Reformierte Weltbund hat auf seiner 23. Generalversammlung vom 8.-20. August 1997 in Debrecen, Ungarn, bekräftigt, daß “unsere Ökonomien wieder unserem Herrn unterzuordnen” seien: “Wenn wir
sagen, daß wir gegen den Mammon sind, dann lehnen wir nicht nur die
Götzen ab, sondern wir bekräftigen unser Vertrauen, daß Gott uns zum
945
Leben führen wird.”
Aus dieser Einsicht heraus hat der Reformierte
Weltbund erklärt: “Heute rufen wir zu einem verbindlichen Prozeß der
wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus
confessionis) auf allen Ebenen der Mitgliedskirchen des Reformierten
Weltbundes bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer
Zerstörung auf.” Letztlich wollen diese Argumentationen mit dem Gegensatzpaar “Gott oder Götzen”, “Leben oder Tod”, die Rede von dem Gott
des Lebens gegen die Götzen des Todes in konkreten ökonomischen
und sozialen Verhältnissen plausibel machen. Immer geht es dabei um
die destruktive Beherrschung von Menschen mittels Götzen. Zusätzlich
zur sozialen, politischen und ökonomischen Beherrschung wird der Götze als ein weiterer Mechanismus zur Beherrschung des Menschen. Götzenkritik will über diese ideologischen Mechanismen aufklären. Das biblische Götzenkriterium, das auch in der Theologiegeschichte rezipiert
wurde, fungiert deshalb einerseits als Religionskritik, die theologisch argumentiert, und dient andererseits ideologiekritisch der Dechiffrierung
und Delegitimierung von destruktiver Herrschaft.
Jähnichen stellt sich in einen deutlichen Gegensatz zu theologische
Positionen, die mit dem Götzenkriterium eine grundlegende Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsweise verbinden wollen. Allenfalls im Kontext
politischer Diktaturen in Lateinamerika sei eine Götzenkritik berechtigt.
Hier rächt es sich, daß Jähnichen auf eine ideologiekritische Analyse der
verschiedenen Ordnungsgestalten von Marktwirtschaften und besonders
des Neoliberalismus verzichtet. Denn die befreiungstheologische Rede
von der Götzenkritik bezieht sich keineswegs vorrangig auf totalitäre politische Regime Lateinamerikas, sondern ist eine analytische und ideologiekritische Kategorie, die Theorie und Praxis eines totalitäre Züge tragenden Neoliberalismus mit dem Begriff Götze theologisch zur Sprache
946
zu bringt. Ihren Ursprung hat die befreiungstheologische Rede von den
944
945
946
Die Kehrseite der Medaille. Ein Glaubensbrief von christlichen Gruppen und Organisationen
aus den Niederlanden, mit einem Nachwort von F. Segbers, Heidelberg, Reihe B Nr. 23 Texte
und Materialien der FEST, 1995, 58.
Beschluß Sektion 2, Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach ungedruckten Unterlagen
des Reformierten Weltbundes.
T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 35, 46, 163ff., 268f.
313
Götzen in der Auseinandersetzung mit dem ökonomischen System des
Neoliberalismus und richtet sich keineswegs gegen eine marktwirtschaftliche Koordination an sich, sondern ausdrücklich gegen eine freie, neoliberale und insofern kapitalistische Marktwirtschaft. Jähnichen ignoriert
jenen sozialethisch entscheidenden Unterschied, der gerade der Bezugspunkt der theologischen Debatte ist, die befreiungstheologische Impulse aufnimmt. Deshalb fällt er hinter den theologischen Stand des De947
batte zurück.
Angesichts einer globalen Ökonomie kann es sich eine theologische
Sozialethik nicht leisten, national-ökonomisch beschränkt zu denken. Eine Theologie, die von der Option für die Armen her denkt, wird vielmehr
Einsichten von der ökonomischen Peripherie aus theologischen und politischen Gründen aufnehmen müssen. Dieser Standort ist politisch, ökonomisch und theologisch bedeutsam, denn an den Rändern werden die
Auswirkungen einer globalen Ökonomie, die vom Zentrum aus gelenkt
wird, überdeutlich. Die Rede vom Götzencharakter einer neoliberalen
Ökonomie ist nicht nur für die Länder der Peripherie bedeutsam und insofern kontextbedingt. Sie verweist auf die Auswirkungen einer Globalisierung, die sich im Zentrum in dieser Weise nicht zeigt, sondern eher
verhüllt gibt. Gerade deshalb können Theologien des Südens auch Wesentliches über die globale Ökonomie im Zentrum aussagen, das Theologie und Sozialethik im Zentrum hören und wahrnehmen sollten.
Jähnichens zentraler Einwand ist sozialethischer Natur. Sozialethik
müsse sich auf die Suche nach einem Komparativ und nach graduell
verbesserten Lösungen begeben, die durchaus auch Kompromisse einschließe. Doch dies sei auf der Folie des Gegensatzpaares Gott und
Götze nicht möglich, das nur ein bekenntnishaftes “Entweder - Oder”
948
kenne. Doch eine Ethik des Komparativs ist nicht einfachhin eine Ethik
der Alternativlosigkeit, sondern vielmehr eine Ethik, die zu der Differenzierung anleitet, wie mehr Humanität gefördert werden kann und wo Alternativen aus Gründen der Humanität gefordert sind. Der Götzengedanke ist keine Theologisierung ökonomischer oder gesellschaftlicher Sachverhalte und verhindert deshalb nicht einen rationalen Umgang mit ihnen,
sondern ist eine der Theologie zugängliche analytische Kategorie. Die
Rede vom Götzendienst erfüllt eine kritisch-aufklärerische Funktion, die
nicht konstruktive Verantwortung verbauen, sondern diese vielmehr theologisch formulieren, ermöglichen und inspirieren will. Der biblische Gottesgedanke kann als Kritik eines das ganze Wertesystem überwölben-
947
948
Ebd. 274. - Jähnichen registriert zwar die befreiungstheologische Differenzierung, nutzt diese
jedoch nicht für sein Gesamturteil. Vgl. ebd. 35.
Ebd. 37.
314
949
den Ökonomismus sowie gegen eine “Kolonisierung der Lebenswelt”
durch die Ökonomie zur Sprache gebracht werden und wird dadurch zu
einer theologischen Götzenkritik. Er ist ein Beitrag zur Entkolonisierung
der Lebenswelt von ökonomischer Dominanz und verweist auf den
Sachverhalt, daß ökonomische Rationalität im Sinne der Neoliberalen
sich über den Bereich der Wirtschaft hinaus auf andere Lebenswelten
ausdehnt und eine universale, ja totalitäre Geltung beansprucht.
Diese neoliberale Universalisierung des Marktparadigmas illustriert die
Aussage des Wirtschaftswissenschaftlers Wolfram Engels: “Dem Wettbewerbsprinzip unterliegen nicht nur Unternehmen, sondern auch Parteien, Kirchen oder Forschungsinstitute. Der Markt wird ebenso wie die
Macht, der Glaube oder die Wahrheit im Wettbewerb gewonnen. Das ist
950
das kulturtragende Prinzip unserer Gesellschaft.”
Ein wirtschaftliches
Instrument avanciert hier zu einem kulturtragenden Prinzip, dem alle gesellschaftlichen Institutionen sich unterwerfen müssen. Die Marktwirtschaft erweitert sich zu einer Marktgesellschaft, in der nur ökonomische
Kriterien Geltung haben. Wahrheit, Gerechtigkeit, Forschungsergebnisse, Wettbewerb oder ökonomische Effizienz werden auf einer Ebene angesiedelt. Die 3. EKD-Studie über Kirchenmitgliedschaft hat auf solche
Aspekte hingewiesen. Wenn beispielsweise das ganze Leben einzig um
den wirtschaftlichen Erfolg kreise, liege ein religiöses Phänomen vor.
Immer wenn dies geschehe, dann gelte Luthers Satz: “Woran du dein
951
Herz hängst, das ist dein Gott.”
952
An die Stelle der alles bestimmenden Wirklichkeit Gott
tritt ein neoliberales Verständnis von Ökonomie und Gesellschaft, das einen Totalanspruch auf das Gesamt des Lebens, Religion inbegriffen, erhebt und
Vertrauen, Glauben und Demut gegenüber den universal gültigen Gesetzen des (freien) Marktes einfordert. Der christlich-jüdische Monotheismus
gesteht dagegen nur dem einen Gott das Prädikat der Universalität zu
und entläßt so die Menschen in eine Relativität. Im Interesse der Freiheit
wird ein Protest erhoben, der sich mit dem Gottesgedanken verbindet.
Der unbedingte Herrschaftsanspruch des biblischen Gottes ist darin befreiend, daß er die Ansprüche anderer Herrscher unter einen letzten Vorbehalt stellt.
Im Januar 1998 haben die Schweizer Kirchen ein dem deutschen Vorgang vergleichbares ökumenisches Konsultationsverfahren zur wirtschaftlichen und sozialen Zukunft ihres Landes eröffnet. Die Diskussi949
950
951
952
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, 522.
W. Engels, Moral als politische Waffe, in: WirtschaftsWoche Nr. 52 vom 18.12.1992, 126.
K. Engelhardt u. H. von Loewenich u. P. Steinacker, Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997,
zit. nach einem Vorabdruck in: FR Nr. 290 vom 13.12.1997, 10.
F. Wagner, Geld oder Gott? 134.
315
onsgrundlage spricht von den “gängigen Mythen” der Gesellschaft und
dem “Mythos vom reinen Markt”: “Lange haben die westlichen Gesellschaften geglaubt, sie hätten sich der Mythen entledigt. Doch jede Ge953
sellschaft, jeder Gesellschaftsentwurf bringt eigene Mythen hervor.”
Die Kirchen prüfen die Legitimation der neoliberalen Wirtschaftspolitik
und Wirtschaftstheorie ideologiekritisch und kommen zu dem Schluß:
“Der „reine Markt‟ als gültiges Modell für die wirtschaftliche Wirklichkeit,
die Erwartung, dass Wachstum schlechthin die Probleme der Zukunft
überwinden werde, sind Mythen - für wahr gehaltene Behauptungen, in
die Selbstverständlichkeiten eingepflanzt und so leicht der kritischen Prüfung entzogen werden. Sie dienen der Rechtfertigung gewisser Verhaltensregeln und weisen bestimmte Massnahmen für Politik und Wirtschaft
als scheinbar verbindlich aus - etwa bedingungslose Anpassung an die
954
Globalisierung, Deregulierung und Privatisierung schlechthin.” Mit dieser offiziellen Diskussionsgrundlage der Schweizer Bischofskonferenz
und des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes liegt erstmals
eine ökumenische Erklärung vor, in der Kirchen Europas den Mythenbegriff auf die neoliberale Doktrin anwenden und diese dadurch ideologiekritisch in einen Zusammenhang mit Religion bringen.
8.2.4 Religion des Marktes
Nach Gottfried Brakemeier, dem früheren Präsidenten des Lutherischen
Weltbundes, sei die moderne Gesellschaft keineswegs säkular, sondern
in ihr werde ein “erbitterter Glaubenskampf” geführt: “Auch in einer nichtreligiösen Gesellschaft weiß man sehr wohl, daß Glaube Berge versetzt.
Denn was der Mensch glaubt, das bestimmt sein Verhalten. Niemand hat
die Menschen fester im Griff wie jemand, der ihren Glauben hat. Deshalb
konnte der Sozialismus auf Glaubenserziehung nicht verzichten. Die ideologische Propaganda war eine Säule des Systems. Im Kapitalismus ist
es nicht anders. Die Wirtschaft wird von Dogmen gesteuert, das heißt
von Bekenntnissätzen. Daß der freie Markt die sozialen Probleme wie
etwa die Arbeitslosigkeit von allein lösen wird, ist dafür ein Beispiel. (...)
Jedenfalls bleibt wahr: Glaube trägt die Welt. Die Abwertung des Glaubens ist fiktiv. (...) Die säkulare Welt ist keineswegs bekenntnislos. Nur
hat sie den Hang, ihre Bekenntnisse zu verschleiern.” Daraus zieht
Brakemeier für die Kirche die Folgerung: “Der Kampf gilt nicht dem Un953
954
Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Welche Zukunft
wollen wir? 12.
Ebd. 14.
316
glauben. Unglauben gibt es nicht. Es gibt nur das Nebeneinander von
955
Glaube und Glaube und die Auseinandersetzung zwischen ihnen.” Von
der Religion des Marktes zu sprechen, hat nicht nur eine ideologiekritische Dimension. Es geht auch um eine hegemoniale Auseinandersetzung. Zwischen Glaube und Glaube herrscht ein Konflikt um die Geltung
des Glaubens. Der Glaube an den biblischen Gott gerät in einen Konflikt
mit dem Glauben an andere Göttern - auch mit denen des Marktes. Welcher Glaube soll das Sagen haben?
Kategorien der biblischen Götzenkritik in der theologischen Ethik zu
beerben bedeutet keineswegs, säkulare Prozesse wie die der Ökonomie
so zu theologisieren, daß die Sache der Ökonomie dadurch undeutlich
würde. Umgekehrt - das biblische Götzenkriterium will einen Beitrag zu
einer sachlichen Klärung leisten, denn der Götzenbegriff ist ein analytischer Begriff. Die Sachfrage lautet: Auf wen oder was wird das unbedingte Vertrauen in eine gute Zukunft gesetzt? Wer oder was ist Objekt der
Hingabe? Der Götzenbegriff ist demnach die Antwort auf eine Sachfrage.
Die biblische Götzenkritik erfüllt eine aufklärende Funktion, indem sie
klärt, wo der Name Gottes für etwas, was nicht Gott ist, benutzt wird.
Aufklärung im Erbe des biblischen Götzenkriteriums kann einen objektiven Blick auf die Alltagsreligion geben. Sie demaskiert, wo in einer Gesellschaft Götzen als Gott verehrt werden. In der Sprache der Religion ist
das Götzenkriterium der Hebräischen Bibel eine analytische Kategorie.
Wenn eine theologische Wirtschaftsethik sich also diese Kategorien und
Einsichten zu eigen macht, die der biblischen Götzenkritik entstammen,
dann erfüllt sie eine ideologiekritische Funktion oder die “Funktion einer
956
Warnerin”, von der Arthur Rich gesprochen hat.
Nach Rich ist die
theologische Wirtschaftsethik auf diese Funktion angewiesen, die Menschen davor bewahrt, die “in der Wirtschaft unterschwellig ins Spiel gebrachten und als sachgemäß getarnten Wertorientierungen unbesehen,
um nicht zu sagen dogmatisch, zu akzeptieren”.
Der religiöse Akt des Vertrauens kann sich auch auf anderes als auf
Gott beziehen. “In unserer eigenen Kultur bilden die monotheistischen
Religionen und ebenso atheistische und agnostische Philosophien einen
dünnen Firnis über die Religionen, die in mancher Beziehung weit „primitiver‟ sind als die indianischen, und die als reiner Götzendienst mit den
wesentlichen monotheistischen Lehren sogar noch weniger vereinbar
sind. Als kollektive und mächtige Form modernen Götzendienstes finden
wir die Anbetung der Macht, des Erfolgs und der Autorität des Mark-
955
956
G. Brakemeier, Lutherisches Bekenntis in ökumenischer Verantwortung. Vortrag vor der 8. Generalsynode der VELKD, Lüneburg 1996, 2. - Unveröffentlichtes Manuskript.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 76.
317
957
tes.”
Ausdrücklich kritisiert Erich Fromm hier ein Verhalten, das sich
der Autorität des Marktes unterwirft oder anvertraut. Die Götzen der Moderne heißen nicht mehr Baal und Astarte, und - das ist gerade in einer
sich säkular verstehenden Kultur von entscheidender Bedeutung - sie
gehören nicht zu einer bestimmten fremden “Religion”; ganz im Ge958
genteil, sie tragen respektable Namen und geben sich rational. Diese
vermeintliche Rationalität oder Säkularität erschwert es, diese Mächte als
“Götter” im biblischen Verständnis zu durchschauen und in den Alltagsmythen zu erkennen.
Ökonomen verwenden theologische Begriffe wie “Demut”, “Wunder
des Marktes”, “Glaube an den Markt”, “Vertrauen”, “Götzendienst” zur
Legitimierung der neoliberalen Theorie. Diese massierte Verwendung
theologischer Begriffe ist aber nicht nur in einem analogen Sinn zu verstehen, vielmehr handelt es sich um das Phänomen einer Religion, nämlich einer Religion des Marktes. Von zentraler Bedeutung ist dabei der
Begriff des Vertrauens, von dem bereits Martin Luther sagte, daß es beides begründe: den Glauben an Gott und den an den Abgott. Der besonders von Friedrich August von Hayek immer wieder eingeforderten Haltung der Demut korrespondiert eine Haltung des Vertrauens. Das LThK
sieht “Vertrauen” im Anschluß an Aristoteles und Nikolai Hartmann in
“engem Verhältnis zum Wahrheitsethos, dessen Voraussetzung und
Wirkung es ist. Vertrauen heißt: sich auf den andern verlassen, sich ihm
überlassen, weil man an seine Wohlgesinntheit und Zuverlässigkeit
959
glaubt.”
Wie sich das religiöse Bewußtsein von Gott getragen weiß
und auf Gott vertraut, so soll auch das marktbestimmte Denken auf die
Güte der “unsichtbaren Hand” (Adam Smith) des Marktes vertrauen.
Vom Vertrauen auf den Markt wird also “Wohlgesinntheit” und “Zuverlässigkeit” erwartet. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von einem
“fast grenzenlosen (Ur-) Vertrauen der klassisch-liberalen Ökonomen in
960
die Selbstregulierungskräfte des „freien Marktes‟” . Die “unsichtbare
Hand” des Marktmechanismus wird zu einer steuernden und optimal
ordnenden Zuverlässigkeit, auf die Verlaß ist. Ihr kann vertraut werden.
Wie in der Religion Gott dem Einfluß des Menschen entzogen ist, so ist
auch der Markt dem Einfluß des Menschen entzogen. Wenn Menschen
also nur in einer Haltung der Demut den Vorgängen des Marktes Vertrauen schenken, dann werden sie gewißlich von dem effizienten Markt
mit Wohlfahrtsgewinn belohnt - eben wie von einem guten Gott. “Das
957
958
959
960
E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, 245.
E. Fromm, Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität, 299; ders., Psychoanalyse und Religion, 292.
G. Müller, Art. Vertrauen, in: LThK Bd. 10, 2. Aufl. Freiburg 1986, Sp.751.
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 174.
318
Laisser-faire-Prinzip des Adam Smith als „Gott die Ehre geben‟ ist ersetzt
durch das Prinzip, dem Markt und seinen Funktionsbedingungen
961
(scheinbar) die Ehre geben zu müssen.” Der Wirtschaftsethiker Martin
Büscher nennt es einen Anachronismus, daß eine säkularisierte Marktwirtschaft sich auf Adam Smith bezieht. Der Anachronismus bestehe darin, daß “ der Markt vom zweckgebundenen Teil einer höheren Ordnung
zum Selbstzweck und selbst zur höheren Ordnung geworden ist. Der
Markt hat den wohlwollenden Schöpfergott ersetzt. Die religiös fundierte
Theorie ist durch und durch säkular interpretiert. (...) Der Markt ist zur
allmächtigen Tiefenstruktur geworden. Der Markt ist die heilende und im
962
Hintergrund stehende Instanz der sozialen Entwicklung.”
Enrique Dussel nennt die Verwandlung des Eigeninteresses des einzelnen in eine öffentliche Wohltat einen Vorgang, bei dem es sich “letzten Endes um eine Theologie” handelt, “die die Gegensätze vereint: Es
ist die „Hand Gottes‟ in seiner Vorsehung, die aus dem Chaos, der irrationalen Unordnung (des privaten, egoistischen Eigeninteresses) zwangsläufig und nicht-intentional eine rationalisierte Ordnung (den Markt, den
963
„Raum‟ der Universalität) hervorbringt.”
Auf jeder Dollar-Note steht
das Bekenntnis “In God we trust” . Für den brasilianischen Theologen koreanischer Herkunft Jung Mo Sung hat dieser Aufdruck eine theologische
Bedeutung: “Das macht deutlich, daß das Vertrauen in das Geld und den
Markt genauso grundlegend ist wie das Gottvertrauen, denn letztlich
wurde der Markt in die Sphäre der Götter erhoben. Das nennen die Be964
freiungs-theologen den Götzendienst des Marktes.” Eine Religion tritt
dort wieder auf die Tagesordnung, wo sie gar nicht zu erwarten war: in
der Theorie der neoliberalen Wirtschaftswissenschaften und im Handeln
965
der neoliberalen Wirtschaftspraktiker. Walter Benjamin war 1921 einer
der ersten, der im freien Kapitalismus mit seinem Totalanspruch bereits
eine Funktion erkannte, die traditionellerweise eben der Religion zugeschrieben wurde. “Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der
Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen,
Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort ga966
ben.” Seine Ahnung oder Befürchtung unterstreicht diesen funktiona-
961
962
963
964
965
966
M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible
Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 138f.
Ebd. 135f.
E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive der Theologie der Befreiung, 219.
Jung Mo Sung, Das Böse in der Ideologie des freien Marktes, 611.
Vgl. dazu meine Ausführungen in: F. Segbers, Gott gegen Gott. Zur Religion des Alltags im
Kapitalismus (im Erscheinen) sowie ders., Kult der Ware. Die Religion des Marktes unter theologischer Kritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214.
W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100.
319
len Aspekt von Religion, der sich auf ein Grundvertrauen und eine Bewältigung der existentiellen Krisen bezieht.
Als Schlußfolgerung über die Verwendung religiöser und theologischer
Begriffe zur Begründung des Neoliberalismus ergibt sich: Im Akt des
demütigen Vertrauens als einem genuin religiösen Akt zeigt sich eine
Strukturanalogie zwischen dem Vertrauen auf Gott in der Religion und
dem Vertrauen auf den Markt, eine Strukturanalogie, die von neoliberalen Theoretikern durch die Verwendung religiöser und theologischer Begriffe belegt wird. Diese Strukturanalogie erschöpft sich nicht in religionssoziologischen oder religionsphänomenologischen Aspekten, sondern ist
in strengem Sinne theologisch zu verstehen. Das Vertrauen auf die Ökonomie des neoliberalen Marktes ist religiös und real, nicht metaphorisch
oder in einem analogen Sinn als Vertrauen auf einen Götzen und als
Götzendienst zu qualifizieren. Dieses geforderte unbedingte Vertrauen
will real und konkret Herrschaft über Menschen absichern.
Es ist Aufgabe der Theologie und einer theologischen Wirtschaftsethik, diese Strukturanalogie aufzudecken. Die Theologie sollte sich deshalb mit der Verwendung religiöser Begriffe bei neoliberalen Theoretikern
auseinandersetzen. Denn diese füllen die Begriffe der Religion mit neoliberalen Inhalten, um denselben Anspruch an den Menschen legitimieren
zu können, den auch die Religion auf den Menschen erhebt. Die biblische Götzenkategorie ist eine analytische Kategorie. Sie kann einen Beitrag zur Entmythologisierung ideologischer Rede über den Markt leisten,
der weder dämonisiert noch verteufelt werden soll. Der Markt soll das
sein können, was er wirtschaftlich ist: ein effektives Instrument, das auf
seine Brauchbarkeit für ein jenseits des Marktes liegendes Ziel kritisch
analysiert werden muß. Wo er jedoch mit religiösen Begriffen überhöht
wird, dort muß Theologie ideologiekritisch Einspruch erheben.
Der US-amerikanische nobelpreisgeehrte Ökonom Paul A. Samuelson
zog aus dem Scheitern der freien Märkte in Theorie und Praxis 1981 das
Resümee: “Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, ein Zurück
967
zum Laissez-faire-Kapitalismus gibt es wohl oder übel nicht mehr.”
Das Urteil stammt aus der Zeit vor der Wende durch Ronald Reagan und
Margaret Thatcher, die Siegfried Katterle eine “Konterrevolution” und ei968
nen “Wettlauf in die Vergangenheit” nennt. Es war offensichtlich verfrüht. Ein marktradikaler Neoliberalismus, der jede Abweichung vom institutionellen Arrangement freier Märkte bekämpft, konnte sich seit Beginn der 80er Jahre zunächst in den USA und Großbritannien durchsetzen, hatte aber auch Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft auf dem
967
968
P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 335.
S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 47, 63.
320
europäischen Festland, das bislang vom Wirtschaftsstil des “Rheinischen
Kapitalismus” geprägt war.
321
322
VIERTER TEIL
WIRTSCHAFTSETHIK UND WIRTSCHAFTSPRAXIS
323
9. WIRTSCHAFTSETHISCHE IMPULSE
Wirtschaft gibt es nur, weil es Menschen gibt; sie ist vom Menschen und
für den Menschen geschaffen. Nach Georg Wünsch ist es Aufgabe der
Wirtschaftsethik, “der Wirtschaft als Mittel ein ethisches Ziel zu set969
zen” . Die Wirtschaft ist ein Mittel; Zweck der Wirtschaft ist es, dafür zu
sorgen, daß die Güter bereitgestellt werden, die zu einem guten Leben
und gerechten Zusammenleben dienlich sind. Wohl erstmals wird
Lebensdienlichkeit als entscheidendes Maß von Wirtschaft von Emil
Brunner in seiner Ethik Das Gebot und die Ordnungen genannt: “Die
Dienlichkeit, die Lebensdienlichkeit, ist der primäre gottgewollte Zweck
der Wirtschaft. Damit ist gesagt, daß die Wirtschaft Mittel ist und nicht
970
Zweck.”
Nicht anders Alexander Rüstow, der 1945 solche Zeiten bedauerte, in denen an Selbstverständliches erneut erinnert werden muß:
“Da die Wirtschaft um des Menschen willen da ist, und nicht der Mensch
um der Wirtschaft willen - was ist das für eine Zeit, in der eine solche
Selbstverständlichkeit ausgesprochen werden muß! -, so ist die Vitalsituation des wirtschaftenden Menschen ein überwirtschaftlicher Wert innerhalb der Wirtschaft. Die Wirtschaft ist Mittel, die Vitalsituation aber
971
Zweck.” Die Sozialethiker Arthur Rich und Peter Ulrich haben im Anschluß an Emil Brunner die Lebensdienlichkeit der Wirtschaft das aus972
schlaggebende wirtschaftsethische Kriterium genannt.
Das entscheidende Kriterium der Ökonomie ist also nicht die Effizienz und nicht die
969
970
971
972
G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 427, auch: 363f.
E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 387.
A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 91.
Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Perspektive, Bd. 2, Gütersloh 1990, 23; P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 11, 204,
225, 334, 369, 430, 432
324
Produktivität, sondern die Lebensdienlichkeit: Ökonomie soll dem Leben
dienlich sein. Deshalb hat sie sich an den Bedürfnissen des Menschen
auszurichten und nicht umgekehrt. Wirtschaft ist somit nicht eine Ordnung, die in sich selbst ruht und ihren eigenen, vielleicht sogar quasi natürlichen Gesetzen folgen würde. Sie ist funktional zu verstehen, denn sie
ist ein Mittel zur Erfüllung eines gesellschaftlichen Zweckes.
Der Maßstab Lebensdienlichkeit dringt darauf, daß die Kriterien, an
denen sich wirtschaftliches Handeln auszurichten hat, nicht aus der Wirtschaft selber abgeleitet werden können. Wann immer dies geschieht,
besteht ein ökonomistischer Begründungszirkel. Die Kategorie der
Lebensdienlichkeit verweist auf Bilder, Vorstellungen und normative Aspekte des guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens, die sich
auch in der Bibel finden. Der Rückgriff auf diese biblische Tradition ist
der spezifische Beitrag einer theologischen Wirtschaftsethik. Eine an biblischen Impulsen orientierte Wirtschaftsethik wird dabei ihre normativethische Logik des guten Lebens und der Gerechtigkeit, die an den Armen orientiert ist, in einen kritischen Dialog mit der normativen Logik des
Marktes bringen müssen. Die Frage für eine an biblischen Kategorien
orientierte theologische Wirtschaftsethik lautet deshalb: Kann die wirtschaftsethische Aufgabe, nämlich der Ökonomie ein ethisches Ziel zu
setzen, sich von den ethischen Zielen inspirieren lassen, welche die Tora
in ihrem Umgang mit der Ökonomie ihrer Zeit gesetzt hat? Die Politische
Ökonomie der Tora hatte mit einer Frage zu tun, mit der auch heutige
Wirtschaftsethik zu tun hat: Wie ist das Verhältnis zwischen der Logik
der Ökonomie und der Logik des Humanums zu bestimmen? In ihrem
Umgang mit der Ökonomie verfolgt die Bibel eine Orientierung an “ethi973
schen Zielen” , die zu ihrer Zeit durchaus wirtschaftspraktisch waren.
Die Politische Ökonomie der Bibel muß als eine Ökonomie verstanden
werden, in der Solidarität, Recht und Gerechtigkeit die entscheidenden
Orientierungen bilden, die jede Letztgültigkeit von ökonomischen Zielen
zugunsten einer Logik der Humanität außer Kraft setzen. Diese Logik der
Humanität ist eine Vorzugsregel, die den Gesichtspunkten der
Lebensdienlichkeit einen unbedingten Vorrang einräumt. Das Ethos der
Tora steht dabei in einer direkten Auseinandersetzung mit der ökonomischen Rationalität. “Das Ethos der Solidarität wird gegen diese öko974
nomische Logik aufgerufen.”
Die biblische Rationalität der Solidarität
und Gerechtigkeit soll also gegen die ökonomische Rationalität ihr Recht
behalten und Geltung bekommen. Die Frage lautet demnach für eine
theologische Wirtschaftsethik: Welche Bedeutung kann diese biblische
973
974
O. Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, 74.
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 103.
325
Rationalität unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft
haben?
Ethik und Wirtschaft sind nicht voneinander getrennt, sondern zwei
Aspekte des gleichen Sachverhaltes. Wenn die Wirtschaft verschiedenen Zwecken folgt, dann verfolgt sie dabei verschiedene ethische Zielsetzungen, denn in den Zwecken sind jeweils unterschiedliche ethische
Werte implizit oder explizit enthalten. Darin zeigt sich, daß “alles Ethische
975
eine sachliche und alles Sachliche eine ethische Komponente” hat, wie
Arthur Rich das Ineinander von Ethik und den Sachnotwendigkeiten be976
schreibt. Welche Zwecke verwirklichen nun welche Werte?
Arthur
Rich hat ein wirtschaftsethisches Viereck mit den fundamentalen, humanen, sozialen und ökologischen Zwecken der Ökonomie formuliert. Von
entscheidender Bedeutung jedoch ist die Tatsache, daß die Beziehungen
innerhalb dieses Vierecks von Spannungen gekennzeichnet sind. Zunächst gibt es den fundamentalen Zweck der Wirtschaft, der in der materiellen Existenzsicherung besteht. Der implizite Wert dieses fundamentalen Zwecks der Wirtschaft besteht darin, Leben zu sichern. Wirtschaft
hat aber darüber hinaus auch einen humanen Zweck, der in der Sorge
besteht, daß im Bereich der Wirtschaft und der Produktion auch Ansprüche der Humanität zum Tragen kommen. Humanität der Arbeitsverhältnisse ist der Wert, der dem humanen Zweck der Wirtschaft entspricht.
Wo produziert wird, geht es auch um die ethische Frage der Verteilung.
Der soziale Zweck der Wirtschaft führt zu den Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Solidarität und Gerechtigkeit sind die impliziten Werte des
sozialen Zwecks der Wirtschaft. Wirtschaften hat es immer mit der Nutzung der Schöpfung zu tun. Die ethische Dimension legt die Art und
Weise dieser Nutzung offen. Der ökologische Zweck der Wirtschaft
dringt darauf, das ökonomische Ziel der Wohlfahrt des Menschen so zu
verfolgen, daß das Wohl der außermenschlichen Welt möglichst ungefährdet bleibt. Ethisch bedeutet dies die Preisgabe eines anthropozentrisch verengten Verständnisses des menschlichen Verantwortungsbereichs zugunsten einer ganzheitlichen, die ökologische Dimension der
Wirklichkeit einbeziehenden Perspektive. Ökologische Zwecke, die ausschließlich auf den ökologischen Wert achten, können so zum Beispiel in
Konflikt mit dem fundamentalen Zweck der Wirtschaft geraten, nämlich
materielle Lebensgrundlagen zu sichern oder zu maximieren. Aber auch
das Gegenteil kann der Fall sein: Dem fundamentalen Zweck der Wirtschaft wird alles andere untergeordnet. Wann immer dies geschieht,
herrscht Ökonomismus. Die verschiedenen Zwecke müssen in einer
975
976
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 82.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 21-43. Wohl im Anschluß an: E. Brunner, Das Gebot und die
Ordnungen, 386-400.
326
ausgewogenen Relation zueinander stehen. Der eine Zweck darf sich
nicht auf Kosten eines anderen durchsetzen. Hinter den Zwecken stehen
nicht einfachhin bloß abstrakte Absichten. Sie sind zumeist an Absichten
von Interessengruppen und sozialen Bewegungen gebunden. Die
Relationalität der Zwecke bedingt deswegen auch eine Machtbalance
derjenigen Interessengruppen, die für die unterschiedlichen Zwecke eintreten.
Zielkonflikte zwischen den verschiedenen Zwecken sind nicht zu vermeiden, sondern der Normalfall. In der Suche nach einer Balance der
Zwecke entfaltet sich eine produktive Dynamik, die den Charakter einer
machtförmigen Auseinandersetzung annehmen kann. Das ökonomische
Sachargument kann daher nicht nur eine interessengeleitete Seite wie
die Wirtschaft für sich beanspruchen und erwarten, daß das von der
Theologie vorgetragene ethische Argument gegenüber dem ökonomischen zurücktreten muß, indem auf die ökonomische Inkompetenz der
Theologie verwiesen wird. Die Relationalität der Zwecke will ein solches
Gefälle verhindern, denn das Sachliche und das Ethische sind ineinander
verschränkt. Diese vier Zwecke der Wirtschaft stehen in einem solchen
Beziehungsverhältnis zueinander, daß die Relationalität der Werte ein
977
unabdingbares Kriterium für das Menschengerechte ist und bleibt. Das
Humanum läßt sich folglich nicht auf einen einzigen Grundwert zurückführen, sondern ergibt sich aus einer ausgeglichenen Konvergenz aller
Zwecke. Kommt es zu einer Vorherrschaft eines einziges Zweckes zu
Lasten anderer Zwecke, ist nicht nur das Sachgerechte der Wirtschaft,
sondern auch das Humanum gefährdet. Das Humanum und das Sachgerechte in der Ökonomie sind nämlich ineinander verschränkt.
In Anlehnung an das wirtschaftsethische Viereck von Arthur Rich will
ich im folgenden in einem wirtschaftsethischen Sechsecks darstellen, wie
biblisch begründete Anliegen und Entscheidungen für das Humanum und
das Sachgerechte in der Wirtschaft zur Geltung gebracht werden können. Das biblische Argument mit seinen Einsichten, Werten und Kategorien und das ökonomische Sachargument sollen kritisch integriert werden. Nur so läßt sich ein Fundamentalismus nach zwei Seiten hin verhindern: ein biblischer und ein ökonomischer Fundamentalismus, der jeweils nur seine eigene Rationalität akzeptiert. Die Formel von der kritischen Integration des biblisch-ethischen und des ökonomischsachgerechten Arguments beschreibt eine doppelte Aufgabe. Das biblische Argument muß die Einsichten des Sachgerechten der Ökonomie
und das Sachgerechte der Ökonomie muß die ethischen Einsichten des
biblischen Arguments jeweils kritisch integrieren können. Das vorgelegte
977
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 39.
327
Konzept eines Sechsecks der Wirtschaftszwecke und wirtschaftsethischen Werte kann den Ort beschreiben, wo die Impulse des Menschengerechten der Ethik und des Sachgerechten der Ökonomie aufeinandertreffen. Eine “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” deutet diese widerstrebenden Kräfte ethisch und sucht über Konflikt und Auseinandersetzung einen ethischen Lernprozeß anzustoßen, der politisch ein höheres
Maß an Gerechtigkeit und Humanität zu verwirklichen hilft. Diese Impulse
können keine umfassende Wirtschaftsethik darlegen. Sie weisen jedoch
eine Richtung für eine solche politisch wirksame und ethisch gehaltvolle
Inspiration der Ökonomie, die spezifische Impulse der christlichjüdischen Tradition aufnimmt und wirtschaftsethisch übersetzen kann.
Eine “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” nimmt theologisch das
Exodus-Motiv auf. Theologisch und wirtschaftsethisch bedeutsam ist,
daß der Exodus ein Aufbruch der Arbeitssklaven aus unwürdigen Arbeitsverhältnissen ist. In Erinnerung gehalten, begründet diese Erfahrung
mit unwürdigen Arbeitsverhältnissen eine biblische Würdetradition, die
geschichtlich wirksam war und innovativ in je neue sozio-ökonomische
Situationen wirtschaftsethische Impulse geben konnte. Nach der Befreiung aus dem “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) ging es darum, Leben
und Wirtschaften so zu organisieren, daß die errungene Freiheit auch
978
unter neuen Bedingungen bewahrt wurde.
Durch seine Geschichte
hindurch blieb das Volk Israel dieser Grundlinie verpflichtet, “gerade angesichts der Herausforderung inhumaner wirtschaftlicher und politischer
Zwänge solche Regeln einzupflanzen, die der befreienden Solidarität
Gottes und seinem sich daraus ergebenden Anspruch nach mitmensch979
licher solidarischer Gerechtigkeit mehr entsprachen” .
Eine theologische Wirtschaftsethik wird biblisch begründet jene Themen auswählen, die an der Seite der Schwächeren die Konsequenzen
aller Maßnahmen und ökonomischen Entscheidungen beurteilen hel980
fen. Wenn sie von den Benachteiligten her argumentiert, dann tut sie
es mit jenem hermeneutischen Ansatz, den Enrique Dussel “das rationa981
le kritische Kriterium schlechthin” nennt und als kategorischen Impera982
tiv formuliert: “Befreie den Armen!” . Wie in Abschnitt 5. dargelegt , befinden sich in der real existierenden Marktwirtschaft Arbeitnehmer strukturell in einer abhängigen und gegenüber den Kapitaleignern nicht
gleichberechtigten Position. Die abhängig Beschäftigten sind strukturell
978
979
980
981
982
F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit.
R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 22.
So F. Hengsbach, Wirtschaftsethik, 72; vgl. dazu den Ansatz von E. Dussel, wie er oben in Abschnitt 2.3 diskutiert wurde.
E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811; vgl. dazu oben Abschnitt 3.2.
E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 64, 83.
328
die schwächere Arbeitsmarktpartei. Das Kriterium von Enrique Dussel,
wirtschaftsethisch übersetzt, bedeutet, daß der Mensch und seine Arbeit
als verbindlicher Maßstab einer wertenden Analyse anzusehen sind. In
den “Wirtschaftsethischen Impulsen”, wie sie in den folgenden Abschnitten dargestellt werden, wird dieser verbindliche Maßstab auf verschiedene Problemfelder entfaltet.
Die hier vorgelegten wirtschaftsethischen Impulse stellen den Versuch
dar, ausdrücklich biblisch-exegetische Einsichten zu rezipieren und für
die wirtschaftsethische Reflexion wirksam zu machen. Sie nehmen die
individualethischen Leitlinien der Würde der Person (Würde der menschlichen Arbeit), der Würde der Person in solidarischen Bezügen (Solidarisch arbeiten) sowie des Lebens der Menschen in ihrer Mitwelt (Mit der
Schöpfung versöhnt arbeiten) auf. Diese arbeitsethischen Impulse reichen jedoch nicht aus, die Felder, auf denen die Würde der Person und
die solidarische Verbundenheit der Menschen beschädigt werden, zum
Thema der Gestaltung der Wirtschaft zu machen. Deshalb müssen sie
auch durch institutionenethische Impulse (Marktwirtschaftliche Effizienz
nutzen, Sorgsam haushalten, Bereicherung begrenzen) erweitert werden,
die
die
Wirtschaft
strukturell
gestalten.
Individualund
institutionenethische Motive sollen so verzahnt und integriert werden,
daß eine Verkürzung der Wirtschaftsethik allein auf individualethische
Aspekte oder auf die Rahmenordnung als dem alleinigen Ort der Ethik
vermieden wird.
Die Ausführungen in Abschnitt 8.1 haben gezeigt, daß die Väter der
Sozialen Marktwirtschaft aus einer biblischen Fundierung heraus eine
Neuordnung der Ökonomie nach dem Desaster des freien Marktes in der
Weltwirtschaftskrise und dem Hitler-Faschismus haben inspirieren wollen. Das hier vorgelegte Konzept einer theologischen Wirtschaftsethik,
die sich an biblischen Kategorien und Einsichten orientiert, geht über
Theorie, Geltungsanspruch und Anliegen der real existierenden Sozialen
Marktwirtschaft hinaus. Kann der Umgang der Bibel mit der Ökonomie ihrer Zeit einen Beitrag zur Lösung der derzeitigen globalen Krise der Ökonomie leisten? Oder anders gefragt: Können vom Umgang der Bibel mit
der Ökonomie ihrer Zeit Impulse zu mehr Gerechtigkeit und Humanität
im globalen Markt ausgehen?
9.1 Erster wirtschaftsethischer Impuls: Würde der menschlichen Arbeit
achten
Arbeit ist zwar grundlegend für das Menschsein; Arbeit und Menschsein
sind aber nicht identisch. Wie geht die biblische Tradition mit dieser Ein-
329
sicht um? Was immer biblisch und theologisch über Arbeit zu sagen ist,
muß von dem theologischen, sozial- und wirtschaftsethisch bedeutsamen Grunddatum ausgehen: der Erfahrung der Knechtschaft in Ägypten
und der Befreiung durch JHWH aus dieser Lage. Israel schuf sich in der
Tora ein Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht, das mit seinen zahlreichen sozialen Bestimmungen vor einem Rückfall in ägyptische Verhältnisse bewahren will.
Der Exodus ist ein Ausgang aus ungerechten Arbeitsverhältnissen in
Ägypten und ein Weg in eine Freiheit, die auch am Ort der Arbeit real erlebbar werden soll. Diese Freiheit ist jedoch nicht ein für allemal gegeben, sondern muß immer wieder neu in veränderten geschichtlichen und
ökonomischen Konstellationen realisiert werden. Deshalb ist die Erinnerung an die Arbeit in Verhältnissen der Ungerechtigkeit im Sklavenhaus Ägypten wichtig. Aus der Erinnerung wird ein Ethos lebendig gehalten, das die Verhältnisse der Arbeit normativ beurteilen und gestalten
kann. “Gott als der Barmherzige begründet ein Ethos der Solidarität und
983
der Barmherzigkeit mit dem Schwachen in der Gesellschaft.”
Die biblische Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen will
den Menschen als Statthalter oder Repräsentanten Gottes auf Erden
984
auszeichnen und seine besondere Nähe zu Gott ausdrücken. Wie der
altorientalische Götterhimmel, so kannten auch die griechischen Götter
eine Zweiteilung - wie im Himmel, so auf Erden. Oben ist Muße, unten
Plackerei. Anders die Bibel: Sie reißt Arbeit und Ruhe nicht auseinander
und teilt Arbeit und Ruhe nicht auf Klassen auf. Der Gott der Bibel arbeitet und ruht, nachdem er sein Werk vollendet hat (Gen 2,1f.). Die Schöpfungswerke sind in eine Ganzheit der Zeit eingeordnet. “Die Tage des
985
Wirkens haben ihr Ziel in einem Tag, der anders ist als sie.” Der Sabbat wird mit der Schöpfung gestiftet und als ein Tag verstanden, der eine
Ordnung widerspiegelt, die mit der Schöpfung gegeben ist (Ex 20,11).
Die Schöpfungserzählung sieht wie das ganze Alte Testament, daß die
Arbeit zum Menschsein gehört. Ein Leben ohne Arbeit kann kein volles,
erfülltes Leben sein; es wäre kein menschenwürdiges Dasein. Gerade
weil Menschen zur Sicherung ihrer Existenz arbeiten müssen, ist die
Frage außerordentlich wichtig, unter welchen Verhältnissen und zu welchem Ziel gearbeitet wird. Trotz dieser dem Menschen aufgetragenen
Arbeiten ist die Arbeit nicht sein Lebens- oder Existenzziel. Sein Ziel ist,
wie das der Schöpfungswerke, hingeordnet auf die Ruhe des siebten
Tages. Darin zeigt sich eine Wertentscheidung, die den arbeitenden
Menschen schützt. Er ist nicht für die Arbeit da.
983
984
985
E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85.
Vgl. C. Westermann, Genesis 1, 203-218.
C. Westermann, Schöpfung, Stuttgart 1971, 94.
330
9.1.1 Arbeit ist keine Ware
Ägypten ist eine Hochkultur und nach dem Urteil der Bibel sehr wohl ein
Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Num 16,13); doch dieses Ägypten ist nach Ex 1,14 ebenso ein Land, in dem die Hebräer durch harte
Zwangsarbeit unterdrückt werden. Erlittene Zwangsarbeit, nicht die politische Unterdrückung oder die beachtliche ökonomische und kulturelle
Leistung des Landes sind die zentrale biblische Deutungskategorie für
Ägypten. Die Erfahrungen mit unwürdiger Arbeit in Ägypten werden für
Israel zu einem Impuls, Bedingungen und Regelungen für eine menschenwürdige Arbeit zu schaffen. Ägyptische Verhältnisse sollen also in
Israel nicht herrschen (Dtn 6,12; 8,14; 17,16). Die Tora enthält deshalb
auch Regulierungen für die sozial- und arbeitsrechtlichen Verhältnisse.
Walther Bienert mißt der Tora gar eine solche Gestaltungskraft zu, daß
er schreibt: “Selbst wenn manche Einzelheit unter veränderten Verhältnissen nicht kopierbar ist, bleibt das AT doch die größte Sozialord986
nungskraft der vorchristlichen Antike.”
Detaillierte Untersuchungen
987
müßten im einzelnen erst zeigen, ob dieses Urteil zutrifft.
Einige Hinweise sollen diese Tendenz verdeutlichen. Sklaverei war zur
Zeit des Zweiten Tempels (515 v. Chr bis 70 n .Chr.) als Institution zwar
keineswegs abgeschafft, sondern immer noch verbreitet. Zwischen jüdischen und nicht jüdischen Sklaven wurde jedoch streng unter988
schieden. In Galiläa gab es zur Zeit Jesu keine jüdischen Leibeigenen
989
und auch keine Latifundien mit Sklavenarbeit. Jüdische Sklaven hat es
in talmudischer Zeit nur im Sinne zeitlich befristeter Schuldknechtschaft
gegeben, während die Sklaven immer nichtjüdischer Herkunft waren.
Angesichts dieser Tatsache meint Ben-David, daß es richtiger sei, einzig
und allein von Schuldknechten statt von Sklaven zu sprechen. Sklave im
990
Vollsinn des Wortes ist allein der nicht-jüdische Sklave.
Durch vier
986
W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 112.
Die rabbinische Theologie hat diesen Exodus-Impuls weiterverfolgt und in der Halacha “ein
systematisches Arbeits- und Arbeiterrecht entwickelt, dem bis in die Moderne kein vergleichbar
arbeitnehmerfreundliches zur Seite zu stellen war (wie Vertragsrücktritts- und Streikrecht, Arbeitszeitbegrenzung, Ruhetag, Überstundenverbot bei gleichzeitigem Verbot des Lohnniveaudrucks, Gewerkschaftsbildung.” So M. Brocke, Art. Arbeit II. Judentum, in: TRE Bd. 3, 618.
988
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 69.
989
J. Habbe, Palästina zur Zeit Jesu. Die Landwirtschaft in Galiläa als Hintergrund der synoptischen Evangelien, Neukirchen-Vlyun 1994, 56.66; J. Klausner geht von einer verhältnismäßig
geringen Anzahl von Latifundien aus. J. Klausner, Jesus von Nazareth, 242; auch: J. Jeremias,
Jerusalem zur Zeit Jesu, 125ff.
990
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 70f.
987
331
Umstände konnten nach Arye Ben-David Juden um die Zeitenwende zu
Sklaven werden: Diebstahl, Schuldsklaverei aus Verschuldung in wirtschaftlicher Not, Verkauf eines Schuldners durch den Gläubiger, Kriegsgefangenschaft. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Lage der jüdischen
Arbeiter zur Zeit Jesu besser als die der römischen, ägyptischen oder
991
babylonischen Arbeiter gewesen ist.
Der Terminus “Sklave” ist in der griechisch-römischen und auch altorientalischen Antike ein juristischer Begriff, der jemanden benennt, der als
Person Eigentum eines anderen ist. Grundsätzlich anders war die
Rechtsstellung des jüdischen Sklaven, denn er war kein Leibeigener.
Den rechtlichen Schutz für die jüdischen und nicht-jüdischen Sklaven beschreibt Ben-David folgendermaßen: “Sie (die Sklaven, F.S) galten als
Menschen und durften von ihrem Herrn nicht beleidigt, mißhandelt oder
992
verletzt werden.” Die Rechtsentwicklung in der Tora und später auch
im Talmud führte dazu, den jüdischen Sklaven als gleichwertigen und
freien Menschen anzusehen und mit Rechten auszustatten. Der Talmud
bestimmte: “Der Leib des hebräischen Sklaven wird beim Kauf nicht er993
worben.” Deshalb kommentiert P. Billerbeck die Belegstellen zum Umgang mit Sklaven im Judentum folgendermaßen: “Was sein Herr erwarb,
994
war ausschließlich seine Arbeitskraft.”
Der jüdische Sklave war im
Grunde genommen ein für sechs Jahre verdingter Tagelöhner. Joseph
Klausner weist aber auf eine Tatsache hin, die das Bewußtsein des
Sklaven in Israel im Unterschied zu dem des Sklaven in anderen antiken
Gesellschaften nachhaltig prägte. Der jüdische Sklave wußte, daß er
995
nach sechs Jahren frei wurde. Die Position des jüdischen Sklaven war
rechtlich so geregelt, daß seine personale Würde nicht beschädigt wurde. So regulierte der Talmud die Arbeitsbedingungen sehr ausführlich. Er
verbot beispielsweise, daß der jüdische Sklave Nachtarbeit verrichten
mußte oder zu erniedrigenden Arbeiten (wie Badedienste etc.) herangezogen werden konnte. Darüber hinaus wurde er mit Rechtspositionen
ausgestattet: Er hatte in Nahrung, Kleidung und Ruhelager Anspruch auf
996
Gleichstellung mit seinem Herrn. Der jüdische Sklave war also Träger
991
992
993
994
995
996
J. Klausner, Jesus von Nazareth, 241.
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 71.
BM 99a (Schemuel um 254) und BM 8,3, zit.nach: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der
Bibel, 110. Dort weitere Belege und Ausführungen zur Rechtsstellung der jüdischen Sklaven.
H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd.
IV, 2, München 1922-1928, 709, zit. In: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 110.
J. Klausner, Jesus von Nazareth, 243. Dort auch weitere Ausführungen zur Behandlung nichtjüdischer Sklaven und Sklavinnen, die wie “Wertgegenstände oder Vieh” gekauft wurden (J.
Klausner, Jesus von Nazareth, 244ff.).
so bei: H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und
Midrasch, Bd. IV, 2, München 1922-1928, 709, zit. in: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre
332
von eigenen Rechten, seine Würde als menschliche Person blieb von
den arbeitsrechtlichen Umständen, dem Status als Sklave, unberührt.
Die Rechtsstellung der jüdischen Sklaven unterschied sich wesentlich
997
von dem Sklavenrecht der Antike. Während die Rechtstexte des Alten
Orients beispielsweise bei Personenschäden unterschieden, ob der Geschädigte Sklave oder ein freier Mensch war, kannte die Tora eine sol998
che Unterscheidung nicht. Nach griechischer Vorstellung führen Sklaven ein Leben, das nicht die Bezeichnung menschlich verdient. Deshalb
und nicht aus einem gattungsmäßigen Grund wurde den Sklaven das
Menschsein abgesprochen. Im römischen Recht besaß der Sklavenhalter die “vitae necisque potestas” (die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden). Nach der Tora wurde, anders als im antiken Recht, der Sklave nicht nach dem Sachenrecht behandelt. Die Rechtsentwicklung führte
dazu, daß der jüdische “Sklave” kein Leibeigener war, sondern in einem
Arbeitsverhältnis stand, das faktisch dem eines abhängigen Lohnarbeiters gleichkam. Rechtlich blieb der hebräische “Sklave” als Person frei.
Arye Ben-David spricht angesichts der Bestimmungen und Regulierungen der Arbeitsverhältnisse davon, daß es ein ausgeprägtes Arbeitsrecht
gegeben habe, das ausdrücklich die schwächere Partei am Arbeitsmarkt
schützte. Anders als die benachbarten Ökonomien der Antike, die
menschliche Arbeit geringschätzten, ihre Ökonomien auf Sklavenarbeit
aufbauten und Sklaven die vollen Bürger- oder Menschenrechte, ja sogar
das volle Menschsein nicht zubilligen wollten, hat die Tora und der sie
weiterentwickelnde Talmud die Würde des Menschen und seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft niemals gänzlich suspendiert oder in Frage ge999
stellt.
Sozialethisch ist mit der Sklavenfrage die Stellung des Menschen als
Subjekt und seine personale Würde im Arbeitsprozeß angesprochen.
Der Hannoveraner Theologe Gerhard Uhlhorn hat schon vor über hundert Jahren ähnlich wie die ersten Sozialenzykliken der katholischen Kirche gegen die Behandlung der menschlichen Arbeit als einer Ware Stellung genommen. In einer Zeit, die sich ihrer Humanität so brüste, sei das
Bewußtsein von Menschenwürde gering, so Gerhard Uhlhorn. “Es ist die
Aufgabe der Kirche, das Bewußtsein wieder zu wecken, daß der
Mensch, auch der geringste, mehr ist als bloße Arbeitskraft, daß er Got-
997
998
999
der Bibel, 110. Dort auch weitere Nachweise und Ausführungen. Vgl. auch A. Ben-David,
Talmudische Ökonomie, 69ff.
Vgl. P. Arzt, “... einst unbrauchbar, jetzt aber gut brauchbar.” (Phlm 11) Das Problem der Sklaverei bei Paulus, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”, 132.
Vgl. die Rechtssammlung in: E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 75-78.
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 67.
333
1000
tes Ebenbild ist.”
Die Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 erklärte
im gleichen Sinne: “Im Wirtschaftsprozeß darf darum die Arbeit niemals
1001
als bloße Ware angesehen werden.”
Der Sozialethiker Friedhelm
Hengsbach spricht diese sozialethische Grundüberzeugung so aus, daß
1002
er von einem “Grundwert Arbeit” ausgeht.
Wenn eine theologische
Sozialethik sich weigert, die Arbeit der Menschen im Produktionsprozeß
als Ware oder nach dem Sachenrecht zu verstehen, steht sie in der Traditionslinie eines biblischen Ethos, das an die Erfahrungen mit Sklavenarbeit unter ägyptischen Verhältnissen erinnert. Christliche Sozialethik kann auf eine lange Tradition verweisen, die sich gegen die liberale
Gleichbewertung der Arbeit des Menschen mit anderen instrumentellen
Produktionsfaktoren wendet. Über die Arbeit des Menschen kann aus
sozialethischer Perspektive nicht als Ware oder Produktionsfaktor gesprochen werden. Sozialethik wird daher wegen der Mißachtung der
anthropologischen Qualität der Arbeit Einspruch gegen die ökonomische
Redeweise vom Produktionsfaktor Arbeit erheben.
Die anthropologische Qualität der Arbeit hat für die neoklassische
Ökonomie keine Bedeutung. Sehr deutlich wird dies in der neoliberalen
Doktrin. Sie stellt Arbeit ordnungspolitisch den anderen Produktionsfaktoren gleich. Der Kommentar von Wolfram Engels in der Wirtschaftswoche
illustriert in populär-journalistischer Sprache den Stellenwert von Arbeit
im neoliberalen Wirtschaftsverständnis: “In einer Marktwirtschaft gelten
für Arbeit dieselben Gesetzmäßigkeiten wie für Waren. Arbeit wird nur
gekauft, wenn ihr Wert für den Unternehmer höher ist als ihr Preis. Ideologen wie Gewerkschafter sehen darin ein Entwürdigung des Menschen.
Der Mensch, so sagen sie, sei keine Ware; für Menschen dürfe nicht gelten, was für Blumentöpfe, Apfelsinen oder Aluminiumschrott gilt. Gegen
Naturgesetze gibt es solchen Widerspruch nicht. Wenn ein Mensch aus
dem Fenster springt, dann fällt er mit einer Beschleunigung von 9,81
m/sec2 und damit genauso schnell wie ein Blumentopf - ohne daß die
evangelische Soziallehre das je als entwürdigend angeprangert hätte.”
1003
Vom Standpunkt der ökonomischen Rationalität interessiert an Arbeit
nur der Marktpreis. Die Arbeit wird den Gesetzen des Marktes unterworfen und dadurch zur Ware. Die Bewertung der Arbeit als Ware argumen1000
1001
1002
1003
334
G. Uhlhorn, Katholizismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage (1887), in: G.
Uhlhorn, Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990, 238.
Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkonferenz von Oxford über Kirche,
Volk und Staat, hg. von der Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches
Christentum, Genf 1938, Teil V. A.(iv), 182.
F. Hengsbach, Die Arbeit hat Vorrang. Eine Option katholischer Soziallehre, Mainz 1982, 946.
W. Engels, Stoppsignal, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 18 vom 25.4.1986, 144.
tiert in einer volks- oder betriebswirtschaftlichen Logik, die nicht registriert, daß ethisch die Würde der menschlichen Arbeit in Frage gestellt
wird. Oswald von Nell-Breuning nennt dies den Punkt, in dem am allerschärfsten die Unvereinbarkeit von Neoliberalismus und christlicher So1004
zialethik zum Vorschein kommt.
Unter Neoliberalismus versteht Oswald von Nell-Breuning hier jene wirtschaftspolitische Richtung, zu der
auch die Soziale Marktwirtschaft zählt. Eine Wirtschaftsordnung, die Arbeit ordnungspolitisch den anderen instrumentellen Produktionsfaktoren
gleichstellt, ist nicht wirklich sozial befriedigend. Dies gilt auch für die Soziale Marktwirtschaft. Erst dann kann von einer sozial befriedigenden
Wirtschaftsordnung die Rede sein, wenn ordnungspolitisch die Arbeit in
einer Weise gewertet wird, die dem Subjektcharakter und der anthropologischen Qualität der Arbeit des Menschen gerecht wird.
Von einem anthropologisch-personalen Aspekt aus betrachtet, ist die
Arbeit des Menschen etwas anderes als eine Ware. Sie ist mit der
menschlichen Person als ihrem Träger untrennbar verbunden. Deshalb
tut eine christliche Wirtschaftsethik gut daran, eine Gleichwertigkeit oder
Gleichrangigkeit unterstellende Redeweise von den Produktionsfaktoren
Kapital und Arbeit nicht nur als unsachgemäß abzulehnen. Einer solchen
Begrifflichkeit liegen verfälschende Kriterien zugrunde, die elementare
Aspekte der Wirklichkeit verdrängen. Kapital und Arbeit können nicht auf
einer Ebene als gleichwertige Produktionsfaktoren bezeichnet werden.
Die volkswirtschaftliche Terminologie unterstellt hingegen eine Gleichrangigkeit, gibt aber nur jene dehumanisierende Wertung der lebendigen
Arbeit des Menschen wieder, die das tote Kapital mit der lebendigen Arbeit gleichsetzt. Arthur Rich sieht deshalb zu Recht die Subjekthaftigkeit
des Menschen angesprochen. Ein Vorrang des Kapitals vor der Arbeit
würde die Arbeit unter das Kapital subsumieren und den Menschen als
1005
Subjekt preisgeben.
Für die klassische Ökonomie bei Adam Smith und David Ricardo war
Arbeit prioritär und wurde als Quelle aller wirtschaftlichen Güter verstanden. Das neoklassische ökonomische Denken hat Arbeit vom Zentrum
1006
der Wertschöpfung an den Rand gedrückt.
Der Bericht an den Club of
Rome Wie wir arbeiten werden sieht in der Abkehr von einer Werttheorie
der Arbeit und der Hinwendung zu den Begriffen des Nutzens und der
1004
1005
1006
O. von Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg 1960, 80.
A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 86.
Das verkehrswirtschaftliche Funktionieren des Marktes mit den Produktionsfaktoren wurde
zum erkenntnistheoretischen Ansatz. Für David Ricardo (1772-1823) war die Verteilung noch
das wichtigste Problem. Er suchte alle Produktionsfaktoren auf Arbeit zurückzuführen und sie
so zum Verteilungsmaßstab zu machen. Erst seit A. Smith wird Arbeit unter dem Aspekt des
Mittels interpretiert. Vgl. dazu die Ausführungen bei: F. Segbers, Streik und Aussperrung sind
nicht gleichzusetzen. Eine sozialethische Bewertung, Köln 1986, 290ff.
335
Präferenzen eine Entwicklung, welche dazu geführt habe, daß die Bedeutung der Arbeit aus der ökonomischen Theorie verdrängt wurde.
“Dementsprechend war der Bezugspunkt innerhalb des Wirtschaftssys1007
tems nun nicht mehr der Produzent, sondern der Konsument.”
Ökonomietheoretisch verschwand die spezifische Bedeutung von Arbeit für
den Prozeß der Güterherstellung mit der Folge, daß die Neoklassik die
Produktionsfaktoren ordnungspolitisch gleichstellte und den Wert der Arbeit des Menschen ignorierte.
Die Neukonzipierung der Arbeitsorganisation in neuen Managementkonzepten rückt den Menschen wieder in den Mittelpunkt des Interesses.
Seine kreativen und kommunikativen Fähigkeiten seien im Fordismus
ungenutzt und ignoriert worden. Wissen und Können, das Potential der
Mitarbeiter sei besser auszuschöpfen. Hans-J. Bullinger, Leiter des
Fraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation auf dem
Forum “Mensch - Arbeit - Technik”: “Die Mitarbeiter des neuen Unternehmens werden weder als wegzurationalisierende „Störfaktoren‟ einer
perfekten Organisation noch als bloßes Rädchen einer Maschinerie gesehen, sondern als wertgeschätztes, wesentliches Element des sozio1008
technischen Systems Unternehmen.”
Der Bericht an den Club of
Rome mit dem Titel Wie wir arbeiten werden rückt die Bedeutung des
1009
Humankapitals ebenfalls in den Mittelpunkt.
Es sei ein zentraler Produktionsfaktor. “Von diesem Humankapital hängt vor allem unser Wohl1010
stand und der von künftigen Generationen ab.”
Mit der Stärkung der
Humanressourcen wird die Achtung der Arbeit des Menschen zu einem
Zentralwert. Verschüttete humane Ansprüche an Arbeit können durch die
Reorganisation industrieller Arbeit im Zuge der neuen ManagementStrukturen erreicht werden. Die Neubewertung des bedeutenden Stellenwerts der Arbeit und des Menschen darf allerdings die Zwiespältigkeit
dieser Konzepte der Stärkung des sog. Humankapitals nicht übersehen
lassen. Bereits die Bezeichnung “Humankapital” ist allerdings keines1011
wegs so wertfrei, wie sie sich gibt.
Die Rede vom Humankapital
meint, daß zusätzlich zu den fachlichen Qualifikationen auch die kommunikativen und kreativen Fähigkeiten der Beschäftigten genutzt werden
sollen, und drückt eine Wertentscheidung aus, nach der die Wertschätzung des Wissens und der kreativen Fähigkeiten der Beschäftigten sich
1007
1008
1009
1010
1011
336
O. Giarni u. P.M. Liedke, Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome,
Hamburg 1998, 46.
Zit: in G. Heller, Mensch - Arbeit - Technik. Forum von Gesamtmetall, Handelsblatt Nr. 215
vom 4.11.1992, 24.
O. Giarni u. P.M. Liedke, Wie wir arbeiten werden, 27.
Ebd. 27.
M. Honecker, Art. Wert, Werte, Werturteilsfreiheit, in: G. Enderle u.a. (Hg.), Lexikon der
Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 1263.
aus der ökonomischen Verwertung im Rahmen betrieblicher Organisationstrukturen ableitet. Der Mensch als ein wertgeschätztes und wesentliches Element des Produktionssystems erhält diese Achtung aus der instrumentellen Absicht, die wertvolle und teure Ressource Mensch mit
eben jenen Eigenschaften, die technologisch nicht subsumierbar sind, effektiver nutzen zu wollen. Die Absicht, Mitarbeiter mit ihren einzigarten
Fähigkeiten zur Geltung zu bringen, liegt sicherlich im Interesse der Beschäftigten, und doch ist zu beachten, daß soziale und humane Aspekte
einerseits und Gesichtspunkte der praktischen und ökonomischen Vernunft andererseits sich nicht gänzlich decken, sondern sich nur partiell
überschneiden. Die Würde der menschlichen Person besitzt stets einen
Wert, der nicht auf eine instrumentelle Funktion verengt werden darf.
Nachdem die technische Rationalisierung in nicht wenigen Bereichen an
ein vorläufiges Ende gekommen ist, ergänzen die neuen Managementmethoden die technische Rationalisierung um eine weitere, nämlich arbeitsorganisatorische Rationalisierung. Diese arbeitsorganisatorische
Rationalisierung ist in sich zwiespältig: die Arbeit des Menschen wird als
zusätzliche Ressource für die Rationalisierungsmaßnahmen wertgeschätzt und gleichzeitig wird die Reorganisation von Arbeit nicht selten
1012
als tatsächlicher Humanitätsgewinn erlebt.
Theologisches Reden in der Traditionslinie des Exodus denkt vom
Menschen und seiner Arbeit her und sucht der Mittelpunktstellung des
Menschen eine reale ökonomische, soziale und rechtliche Gestalt zu geben, die der Würde des arbeitenden Menschen gerecht wird. Eine am
realen Menschen und seiner Arbeit orientierte Ethik wird alle Formen der
bloßen Instrumentalisierung menschlicher Arbeit zum Thema ma1013
chen.
Wenn theologische Ethik an mehr Humanität in realen Arbeitsprozessen interessiert ist, dann wird sie sehr wohl den erlebbaren Zuwachs von Humanität in der Arbeit bejahen, aber auf den zwiespältigen
Charakter des Humanitätsfortschrittes aufmerksam machen müssen.
9.1.2 Arbeit begründet Rechte
1012
1013
Vgl. dazu: E. Senghaas-Knobloch u. B. Nagler u.a. (Hg.), Zukunft der industriellen Arbeitskultur. Persönliche Sinnansprüche und Gruppenarbeit, Münster 1996.
G. Brakelmann, Das Recht auf Arbeit, in: J. Moltmann, Recht auf Arbeit. Sinn der Arbeit,
München 1979, 9 - 39; ders., Arbeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft,
Teilband 8, Enzyklopädische Bibliothek, hg. von F. Böckle u. F.X. Kaufmann, Freiburg 1980,
102 - 135; ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum
1988; M. Volf, Zukunft der Arbeit. Arbeit der Zukunft. Der Arbeitsbegriff bei Karl Marx und
seine theologische Wertung, München , Mainz 1988; Chr. Gremmels u. F. Segbers, Am Ort der
Arbeit.
337
Die Rechte der abhängig Beschäftigten auf Mitbestimmung und
Mitberatung werden juristisch aus eingeschränkten Eigentumsrechten
abgeleitet. Günter Brakelmann hat auf diese einseitig auf Eigentumsgarantie aufgebaute Grundrechtslegitimierung demokratischer Rechte der
Mitsprache und Mitbestimmung im Unternehmen hingewiesen: Nach der
Rechtsordnung ist allein das Eigentum eine Institution, die mit Rechten
1014
ausstattet.
Gegen diese auf Verfügung am Eigentum und an Eigentümerrechten gebundene Argumentation wird Sozialethik auf Arbeit als
einem eigenen Rechtsinstitut dringen müssen, das erst der hohen anthropologischen Bedeutung der Arbeit gerecht wird. Es ist der enge personale Bezug, der die Arbeit zu einer Quelle von Rechten macht, die eben
nicht das Ergebnis eingeschränkter Eigentumsrechte sind. In diese Argumentation geht ein Menschenbild ein, das sich dem hohen Stellenwert
der Person und seiner Tätigkeit bewußt ist. Arbeit begründet Recht auf
Arbeit und Rechte aus Arbeit.
9.1.3 Recht auf Arbeit
Daß der menschliche Vollzug der Arbeit ein wirtschaftsethisch relevantes
Anliegen ist, findet im wichtigsten Wirtschaftsrecht der Bibel, dem Sabbat, seinen Niederschlag (Dtn 5,12-15; Ex 20,8-11). Der Sabbat meint
die Würde der menschlichen Arbeit. Er ist eine Einrichtung, die den Arbeitenden schützen will. “Die geforderte Ruhe ist das praktizierte Gegen1015
teil von Sklavenarbeit.”
Die durch den Exodus errungene Freiheit soll
nicht nur bewahrt werden. Der Sabbat ist der Ort, wo diese Freiheit auch
praktiziert wird. Benno Jacob deutet den Sabbat in rabbinischer Tradition:
“Laß deine Arbeitstage bereits durch den Gedanken an den Sabbat beherrscht sein und bereite dich auf ihn vor. Ibn Esra: Der Mensch soll stets
daran denken, welcher Tag der Woche ist, damit er den siebenten Tag
1016
beobachte, keine Arbeit zu tun.”
Der Sabbat ist also mehr als nur eine
Zeit des Ausruhens. Er will die Verhältnisse der Arbeit verändern. Adolph
Stoecker (1835-1909) hat deshalb auch den Sabbat die “magna charta
1017
aller Arbeitenden und Geplagten”
genannt. Der Sabbat ist aus der
Sicht der Arbeitenden eine arbeits- und sozialrechtliche Regulierung, die
sich gegen Interessen an einer permanenten Nutzung der Arbeitskraft
wendet.
1014
1015
1016
1017
338
G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? 318.
F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 58.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 572.
A. Stöcker, Christlich-Sozial, Bielefeld, Leipzig 1885, 311, zit. nach: W. Bienert, Die Arbeit
nach der Lehre der Bibel, 91.
Der Sabbat steht auch für die Einsicht, daß die Arbeitszeit des Menschen keine Ware darstellt, die an der Börse des Marktes gehandelt
werden kann. Deshalb darf sie auch nicht einem wirtschaftlichen Kostenkalkül unterworfen werden. Der Sabbat geht von der Grundeinsicht aus,
die Ansprüche der Ökonomie zu begrenzen. Ökonomie hat nicht das
Recht auf die ganze Zeit des Lebens. Der kollektive Rhythmus von Arbeit
und Ruhe drückt diese Einsicht aus. Vom Sabbat ist in der Bibel das erste Mal die Rede, als es um das rechte Maß der Vorsorge für das Leben
geht (Ex 16,6 ff). Der Sabbat steht im Zusammenhang der Frage, ob
denn die sechs Tage Arbeit genügen oder ob nicht auch dieser freie siebente Tag für die Sicherung des Lebens zur Verfügung stehen müsse.
Diese Frage klärt die Bibel mit dem Sabbat: Die Dinge sollen dem Leben
dienen, aber das Leben dient nicht allein dem Besorgen der Dinge. Deshalb reicht zum Leben, was in den Tagen zwischen den Sabbaten erwirtschaftet wird. Der Sabbat ist eine sozialethische Wertentscheidung zugunsten der Arbeitenden gegen eine Flexibilisierung der Arbeit über die
ganze Zeit.
Der Dekalog sagt im Sabbatgebot ausdrücklich, daß die Arbeitsruhe
sich auf Herrn, Magd und Knecht bezieht (Dtn 5,14; Ex 20,10). Jegliche
Differenz zwischen Herrn und Knecht wird abgeschafft. Die real erfahrene Herrschaft an den Werktagen wird am Sabbat außer Kraft gesetzt
und in einem wöchentlichen Zyklus nivelliert. “Der Sabbat macht also alle
1018
gleich, es gibt an ihm keinen Knecht, alle sind frei.”
Während die Antike eine Verteilung von Arbeit und Ruhe entlang gesellschaftlicher Trennungslinien zwischen oben und unten vornahm, orientierte sich die Bibel
an einer Gleichverteilung von Arbeit und Ruhe. Alle sieben Tage hat für
Herrn und Knecht, Magd, Haus und Vieh die Arbeit ein Ende. Der Sabbat
praktiziert eine Umverteilung von Arbeit und Ruhe nach dem Kriterium
der Gerechtigkeit und nicht nach der Positionsstärke auf dem Arbeitsmarkt.
Wie sehr den Kirchen selber das Wissen um den humanen, sozialen
und auch religiösen Wert des Sonntags verlorengegangen ist, belegt die
EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit Solidargemeinschaft von Arbeitenden
und Arbeitslosen, in der empfohlen wird, “besondere Arbeitsplätze für
das Wochenende bei vollkontinuierlichem Betrieb anzubieten, also die
1019
Zwei-Tage-Woche.”
Dieser Vorschlag hat in Kauf genommen, daß eine ganze Belegschaft oder Schicht aus dem sozialen und gesellschaftlichen Leben (und auch vom sonntäglichen Gottesdienst!) ausgeschlossen worden wäre. Faktisch würde dies nicht allein auf einen Verlust des
Sonntags für eine kleine Gruppe von Betroffenen hinauslaufen. Der
1018
1019
B. Jacob, Das Buch Exodus, 592.
Gütersloh 1982, 53.
339
Sonntag als ein erwerbsarbeitsfreier Tag wäre tendenziell für die ganze
Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Der Sonntag lebt nämlich von dem
Grundgedanken, daß der Griff der Ökonomie nach der ganzen Zeit begrenzt werden soll und die Gesellschaft in einem gemeinsamen Rhythmus von Arbeit und Ruhe lebt. Im Konflikt zwischen Ansprüchen der
Ökonomie und den Ansprüchen des Menschen trifft der Sabbat eine Entscheidung zugunsten des Menschen. Die Schaffung von reinen Wochenendschichten gibt den Ansprüchen der Ökonomie nach. Wenn dieser
Kern des Sabbatgedankens auch nur punktuell suspendiert wird, verliert
der Sabbat insgesamt seine Bedeutung. Die jahrhundertlange Geschichte des Sabbat war immer begleitet von einem Ringen um ein Transformation der Geltung des Sabbatgedankens unter veränderten ökonomischen Verhältnissen. Ausnahmen von dem Grundgedanken der Unterbrechung von Arbeit und der Einschränkung der Ansprüche der Ökonomie hat es immer gegeben. Gerungen werden muß deshalb um die Geltung des sozialethischen Kerns des Sabbat und um eine konkrete Ausgestaltung, die Ausnahmen begründet und ermöglicht. Die Kirchen haben seit der EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit von 1982 den Wert des
Sonntags geradezu wieder neuentdeckt. Seither haben sich die Kirchen
in zahlreichen Erklärungen in die Debatte um den Schutz des Sonntags
eingeschaltet. Im Wirtschafts- und Sozialwort bekräftigen sie den Sonntag als “unersetzliches Gut der Sozialkultur (...), das nicht zur Disposition
gestellt werden darf” (Ziff. 223).
Bereits die Hebräische Bibel berichtet von Widerständen gegen den
Sabbat. Schon die älteste Fassung des Gebots der Arbeitsruhe betont
eigens, auch während der Aussaat und der Ernte die Arbeit ruhen zu lassen. Dieser ausdrückliche Hinweis läßt darauf schließen, daß die Beachtung der Arbeitsruhe immer schon umstritten war und keineswegs als
selbstverständlich angesehen werden konnte (Ex 34,21, vgl. auch Jes
58,13f.; Am 8,4). Der Druck auf einen von Erwerbsarbeit freien Tag reicht
bis in die Anfänge der Industrialisierung zurück und dauert auch heute
noch an. Ab 1820, mit dem Übergang von der handarbeitsorientierten zur
maschinenbestimmen Produktionsweise, expandierte die tägliche und
wöchentliche Dauer der Arbeitszeit. Bis zur Mitte der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts war der Sonntag als arbeitsfreier Tag verschwunden.
Der erste Kongreß für die Innere Mission 1848 in Wittenberg forderte bereits, die Sonntagsarbeit abzuschaffen. 1850 erstellte der preußische
Oberkirchenrat ein Gutachten zur Sonntagsarbeit. Erst die Gewerbeordnung von 1891 erließ ein Arbeiterschutzgesetz, das die Sonntagsruhe
340
1020
schützte.
Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen nennt den
Sonntag “ein unersetzliches Gut der Sozialkultur” (Ziff. 223): “Der Schutz
des Sonntags ist immer mehr dadurch bedroht, daß ihm ökonomische Interessen vorgeordnet werden.” Als gemeinsame Zeit der Familie und für
soziale Kontakte und als Tag des Herrn mit zentralem religiösen Inhalt ist
der Sonntag “ein wichtiges kulturelles Gut, das nicht zur Disposition gestellt werden darf” (Ziff. 223).
Der Rhythmus von Arbeit und Ruhe gerät von zwei Seiten unter Druck:
aus einem produktionstechnischen und einem arbeitsorganisatorischen
Grund. Für eine Bewertung des produktionstechnischen Drucks auf erwerbs- und produktionsfreie Zeit ist die prinzipielle Unterscheidung zwischen einer Arbeit am Sonntag und einer Arbeit für den Sonntag wichtig.
Diese Unterscheidung führt ein Kriterium ein, das klären kann, welche
Arbeiten aus ökonomischen, biologischen oder physikalischen Gründen
am Sonntag durchgeführt werden müssen und welche Arbeiten für den
Sonntag unabdingbar sind. Beim technologischen Zwang zu einem vollkontinuierlichen Betrieb ist nach den Gründen zu fragen. Soweit nicht
physikalische oder biologische Prozesse einen vollkontinuierlichen Betrieb erfordern, liegt kein technischer Sachzwang vor, sondern ein technologischer Grund, der sich als technischer Sachzwang ausgibt. Dieser
ist das Ergebnis von der Vorentscheidungen, die in eine Technologieentwicklung eingehen, von der Voraussetzung ausgeht, daß die ganze
Zeit für die Maschinenlaufzeit zur Verfügung stehe. Ein dem Menschen
gemäßer Arbeitsrhythmus müßte Arbeit am Sonntag und auch Nachtschichtarbeit auf das erforderliche Mindestmaß reduzieren und gemeinsame Zeit ermöglichen. Das Sabbatkriterium gemeinsamer freier Zeit
und der Begrenzung der Zeit für die Ökonomie könnte eine technologiepolitische Innovation auslösen, die sich am Maß des Menschengerechten
ausrichtet. Eine Arbeitszeitpolitik, die jene Vorentscheidung der Technologieentwicklung akzeptiert, vollzieht dagegen letztlich nur diese Prämisse und nimmt sich selber die Chance, über Arbeitszeitpolitik auch die
Technologieentwicklung mitzugestalten.
Die Arbeitszeit wird als eine Rationalisierungsressource zur Erhöhung
der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen genutzt. Wenn rund um die
Uhr und ohne Unterbrechung (an Sonntagen oder Feiertagen) gearbeitet
wird, werden die letzten Zeitporen zur Produktions- und Maschinenlaufzeit. Die arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen zielen
darauf, die ganze mögliche Zeit auszunutzen und zu intensivieren. Die
Zeit des Menschen wird ökonomisiert und in einer betriebswirtschaftli1020
Vgl. dazu die Ausführungen: F. Heckmann, Der Kampf um den freien Sonntag im 19.
Jahrhundert, in: H. Przybylski u. J. Rinderspacher (Hg.), Das Ende gemeinsamer Zeit. Risiken
neuer Arbeitszeitgestaltung und Öffnungszeiten, Bochum 1988, 99-115.
341
chen Rechnung lediglich als Konkurrenzfaktor gewertet und einem ökonomischen Kalkül unterworfen. Gesellschaftliche Zeit, der soziorhythmische Wechsel von Arbeit und Ruhe, kommen in den Griff ökonomischer
Ansprüche. Einer Ethik des Ökonomischen, wie sie sich im Griff auf die
letzten freien Zeiträume des menschlichen Lebens ausdrückt, erscheint
freie Zeit nur als entgangene Produktionszeit, letztlich deshalb als ungenutzte Zeit.
Biblisch steht nicht die Befreiung von der Arbeit im Zentrum, sondern
eine Arbeit, die Teil eines erfüllten und gelungenen Lebens ist. Deshalb
stehen sich nicht Mühsal und Notwendigkeit der Arbeit auf der einen Seite und Freiheit von der Arbeit auf der anderen Seite gegenüber. Der Gegensatz lautet biblisch: erfülltes Leben in der Arbeit versus unwürdige
Arbeit. Auf diesem Hintergrund kann die alte Forderung des “Rechts auf
Arbeit” als ein Recht auf ein erfülltes Leben ethisch gedeutet werden.
Recht auf Arbeit, in diesem Sinne verstanden, geht über Erwerbsarbeit
hinaus, ersetzt sie aber nicht. Das Recht auf Arbeit umgreift dann alle
Tätigkeiten, die in einer Gesellschaft nötig sind und zu der ein jedes Gesellschaftsmitglied seinen Beitrag einbringen muß. Recht auf Arbeit
meint in diesem Sinne mehr als das Recht auf Einkommen, will aber den
Zusammenhang zwischen Einkommen und Arbeit als Beitrag zur Gesellschaft nicht auflösen und gesellschaftlich asymmetrisch verteilen. Das
Recht auf Arbeit gehört in den Zusammenhang eines Rechts auf eine
menschenwürdige Existenz, zu der auch eine Arbeit gehört, durch die ein
Mitglied der Gesellschaft seinen Beitrag für die Gesellschaft einbringt.
Das Recht auf Arbeit darf jedoch nicht auf ein Recht verkürzt werden, am
1021
Markt seine Arbeitskraft zu verkaufen.
Die seit Jahrzehnten beobachtbare Verlagerung der Beschäftigung
von Produktions- in Dienstleistungstätigkeiten verschränkt (industrielle)
Produktionsprozesse und (industrie-bezogene) Dienstleistungsprozesse
immer enger. Die Würde der menschlichen Arbeit ist nicht zu trennen
von dem Problem des humanen Vollzugs der Arbeit selbst. Nicht nur
monetäre Entgelte machen eine Arbeit menschlich, sondern vorrangig
“Arbeitsbedingungen, die ihr die Chancen geben, durch eigene Initiativen
und Verantwortung den Produktions- wie den Sozialprozeß selbst zu be1022
stimmen.”
Konzepte wie jene der Arbeiterselbstverwaltung sind
ethisch bedeutsam. Wenn Günter Brakelmann es eine Frage der Humanität der Arbeit und in der Arbeit nennt, daß “das perspektivische Ziel einer Selbstorganisation der Produzenten” zur Humanität gehört, dann
1021
1022
342
T. Meireis, ”Arbeit macht das Leben süß...”, in: J. Becker (Hg.), Ethik in der Wirtschaft, Stuttgart, Berlin 1996, 170.
G. Brakelmann, Zur anthropologischen und sozialphilosophischen Struktur der Gestaltungskonzepte industrieller Arbeitswelt, in: Die Mitarbeit 31 (1982) 323.
formuliert er eine Wertentscheidung, die biblische Anhaltspunkte hat.
Frank Crüsemann sieht in der Sozialgesetzgebung des Deuteronomium
ein solches Vorhaben: “Die Möglichkeiten, sich die von anderen erarbeiteten Produkte oder die Produzenten selbst anzueignen, werden ent1023
scheidend eingeschränkt.”
Daß Produzenten in den Genuß ihrer Arbeit kommen, ist eine Perspektive, die auch im Psalm ausgesprochen
wird. “Was deine Hände erwarben, kannst du genießen” (Ps 128,2). Die
Arbeit des anderen sich nicht anzueignen, Autonomie und Selbstbestimmung sind Aspekte von Humanität. Humanisierung ist deshalb sozialethisch mehr als die bloße Anpassung der Technik und der technologischen Ausstattungen an den Menschen. Humanisierung der Arbeit betrifft auch strukturelle Rahmenbedingungen der Produktion und der Besitzverhältnisse. Theologische Wirtschaftsethik kann auf eine jahrtausendealte Tradition des Ringens um Arbeitsverhältnisse verweisen, die
Entfremdung und Trennung der Arbeitenden von ihren Produkten aufhebt. Humanisierung der Arbeit reicht deswegen über technische und arbeitsorganisatorische Aspekte hinaus. In Zeiten der Arbeitslosigkeit entsteht oft ein Konflikt zwischen dem Anspruch auf Humanität der Arbeit
und dem humanen Anspruch auf Arbeit. Der Konflikt darf nicht gelöst
werden um den Preis von Arbeitsplätzen, die humanen Ansprüchen nicht
gerecht werden. Gefährlich wäre es, wenn der Skandal einer sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit dazu führen würde, die Debatte um eine
menschenwürdige Gestaltung von Arbeit abzusagen. Zeiten der Arbeitslosigkeit sind keine Zeiten der Humanitätspause.
Arbeit begründet ein Recht auf eine humane Arbeit. Nicht Befreiung
von der Arbeit, sondern Befreiung zur Humanität in der Arbeit ist die gesellschaftliche Aufgabe. Zwischen den Ansprüchen auf humane Arbeit
und der Wirtschaftlichkeit kann es zu Konflikten kommen. Dieser Wertkonflikt darf jedoch nicht vorzeitig zugunsten der Wirtschaftlichkeit gelöst
werden, denn sachlich würde dies die Preisgabe der Humanität zugunsten der Ansprüche von Wirtschaftlichkeit bedeuten. Es gibt einen Vorrang des Menschen, der sich auch in den humanen Ansprüchen im Vollzug der Arbeit äußern muß. Diese Wertentscheidung zugunsten der Arbeit betont der Sozialethiker Günter Brakelmann: “Im Ziel- und Wertekonflikt muß klar im Sinne des „Rechts auf Arbeit‟ entschieden wer1024
den.”
9.1.4 Rechte aus Arbeit
1023
1024
F. Crüsemann, “...damit er dich segne...”(Dtn 14.29), 95.
G. Brakelmann, Zur Arbeit geboren, 65.
343
Im Arbeits- und Sozialrecht der Tora drückt sich eine Einsicht aus, daß
zwischen Würde der Arbeit, Recht für die Armen und der Regulierung
der Arbeitsverhältnisse ein Zusammenhang existiert. Dieser Zusammenhang zeigt sich in der Absicht, Arbeitsbedingungen dadurch zu humanisieren, daß die Interessen der Arbeitenden zum Maßstab werden. Sklaverei wird zeitlich zu begrenzen (Ex 21,2-6); einen Schuldner nach seiner
zeitlich befristeten Knechtschaft mit einer Unterstützung zum Aufbau einer eigenen Existenz auszustatten (Dtn 15,14), Schuldknechtschaft in eine abhängige Lohnarbeiterexistenz umzuwandeln (Lev 25,39-43), Bedingungen der abhängigen Lohnarbeit zu regeln (Dtn 15,18; 24,14), abhängige Lohnarbeiter mit einem Recht auf fristgerechte Lohnzahlung und
humane Behandlung zu versehen (Dtn 24,14f; Lev 25,43) oder dem
Knecht das Recht auf Arbeitsruhe (Ex 20,10; Dtn 5, 14) zu garantieren,
sind nur einige jener arbeitsrechtlichen Regulierungen der Tora, die die
Tendenz aufzeigen, auch den Knecht und nicht allein den Herrn zum
Träger von Rechten zu machen. Durch Arbeitsverhältnisse hervorgerufene Objekt- oder Abhängigkeitssituationen werden minimiert, indem
Freiheitsrechte allen und nicht allein denen zuerkannt werden, die über
eine ökonomisch starke Position verfügen. “Du sollst deiner Herrschergewalt über deinen Knecht freiwillig am Sabbattag in dankender Erinnerung an IHN, deinen Befreier, entsagen. Damit machst du den Sabbattag, der schon seit der Schöpfung als Idee existiert hat, zu einer Wirk1025
lichkeit im Leben.”
Der Sabbat ist eine soziale Errungenschaft, die die
Arbeitsherren achten und garantieren sollen. Der Rabbiner Benno Jacob
nennt die Arbeit an den Werktagen eine “Vorhalle zum Heiligtum”. Denn:
Ebenso wie die Ruhe am siebenten Tag, folgt die Arbeit an den Werktagen dem göttlichen Vorbilde, wenn sie “sinnvolle, zweckmäßige, lebens1026
fördernde Arbeit”
ist. Getragen sind diese Regulierungen des Arbeitsrechts von einem Ethos, das reale Freiheit und Gerechtigkeit für alle will.
Auch der Arme und ökonomisch Schwache hat das Recht auf Freiheitsrechte.
Diese Tendenz fand im Arbeitsrecht des Talmuds ihre Fortsetzung.
Hier zeigt sich die klare Absicht, die Rechtsposition des Arbeitnehmers
1027
zu stärken.
A.Ben-David nennt es deshalb auch einen bemerkenswerten Grundzug der Rechtsauffassung in der Zeit des Talmud, daß beispielsweise im Gegensatz zum römischen wie übrigens auch zum modernen Arbeitsrecht nicht dem Arbeitgeber, wohl aber dem Arbeitnehmer
das Recht eingeräumt wird, das Arbeitsverhältnis einseitig und zu jeder
Zeit zu kündigen. Darin zeige sich eine Rechtsauffassung, die von dem
1025
1026
1027
344
B. Jacob, Das Buch Exodus, 594.
Ebd. 575.
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 67f.
her denkt, der arbeitet, und nicht von dem her, der die Arbeitskraft des
anderen für seine Zwecke nutzen will.
Der biblische Gerechtigkeitsbegriff, der ein gemeinschaftsgemäßes Verhalten meint, verbindet sich mit Freiheitsrechten für den Arbeitenden.
Strukturelle Benachteiligung soll durch ein Recht ausgeglichen werden,
das dadurch Gerechtigkeit schafft, daß es sich zugunsten der Schwächeren einsetzt. Dieses parteiliche Gerechtigkeitsverständnis zugunsten der
Schwächeren am Arbeitsmarkt will eine Rückkehr in “ägyptische Verhältnisse” der Unfreiheit, Unterdrückung und Unterlegenheit abwehren. Gerechtigkeit und Freiheit stehen im biblischen Verständnis nicht in einem
Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig. Wie kann eine solche
ethische Grundentscheidung der Tora zugunsten des arbeitenden Menschen, der ansonsten in struktureller Benachteiligung leben müßte, unter
den Bedingungen einer nach wie vor strukturell kapitalistischen Produktionsweise seine ursprüngliche Wirkung entfalten und weiterführen?
Traugott Jähnichen nennt das Eintreten für Partizipationsrechte der
Arbeitnehmer ein “wesentliches Merkmal des sozialen Protestantis1028
mus” . In der Entschließung des Rates der EKD zur Mitbestimmung
wird auf den Sinn des Mitbestimmungsrechtes verwiesen, nämlich “das
bloße Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden und den Arbeiter als Men1029
schen und Mitarbeiter ernst zu nehmen.”
Das Mitbestimmungsrecht
stellt der Rat der EKD in eine Perspektive, die den “Gedanken der
Selbstverwaltung unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeiterschaft” im
1030
Blick hat.
Das Recht auf Partizipation, Mitbestimmung, Mitgestaltung
oder Mitverantwortung ist ein Recht, das sich aus der Arbeit selber und
nicht aus eingeschränkten Eigentumsrechten begründet. Arbeit selber
konstituiert Freiheitsrechte der Mitsprache, Mitbestimmung und Mitge1031
staltung im Unternehmen.
Es geht dabei um die Freiheitsrechte aller
Wirtschaftssubjekte. Die politischen Freiheitsrechte des Bürgers müssen
zu Freiheitsrechten des Wirtschaftsbürgers erweitert werden. Kapitalistische Marktwirtschaften statten bislang nur die, die Kapital in den Produktionsprozeß einbringen, mit Freiheitsrechten aus. Damit aber wird Freiheit halbiert. Der Unternehmer ist nicht das einzige wirtschaftsethisch
verantwortliche Subjekt. Erst eine Unternehmensverfassung, die eine aktive Beteiligung aller im Unternehmen realisiert, vermag Marktwirtschaft
und Freiheit zu versöhnen.
1028
1029
1030
1031
T. Jähnichen, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der soziale Protestantismus und die
Entwicklung der Mitbestimmung (1848-1955), Bochum 1993, 390.
Rat der EKD, Entschließung zur Mitbestimmung (1950), zit. nach: G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 380.
Rat der EKD, Entschließung zur Mitbestimmung (1950), 381.
Vgl. dazu G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? 316-321.
345
Die Entscheidung über Produktionsvolumen, Produktionsrichtung und
Arbeitsplätze ist in einem kapitalistischen Unternehmen mit dem Eigentumsrecht verbunden und deshalb asymmetrisch verteilt. Erst eine Unternehmensverfassung, die die Unternehmensseite nicht allein von der
Kapitalseite legitimiert, sondern auch von den Kapitalgebern und denen,
die ihre Arbeit in den Prozeß des Unternehmens einbringen, löst das
Demokratiepostulat ein. Das zweipolige Verständnis von Kapital auf der
einen Seite und Arbeit auf der anderen ist durch ein dreipoliges zu erweitern. Kapital und Arbeit bestellen und legitimieren eine dritte Funktion für
ein Unternehmen: die Unternehmensleitung. Es ist ein Zeichen für eine
demokratische Gesellschaft, daß der mündige Wirtschaftsbürger seine
Rechte aus Arbeit nutzen kann zur Ausgestaltung seiner Arbeitsverhältnisse. Die Kirchen haben in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort deshalb auch zu Recht die Schaffung und den Ausbau von “Wirtschaftsbürgerrechten” (Ziff. 143) gefordert.
9.2 Zweiter wirtschaftsethischer Impuls: Solidarisch arbeiten
Die Bibel spricht vom Menschen als Ebenbild eines Gottes, der selber
arbeitet (Gen 1,1-2a). Das Ebenbild Gottes ist ein Mitarbeiter Gottes.
Dieser mitarbeitende Mensch wird wiederum zum Mitarbeiter aller Menschen. Die theologische Rede von der Ebenbildlichkeit des Menschen
begründet die Gleichheit aller Menschen in der Arbeit. Diese Gleichheit in
der Arbeit stiftet zugleich Solidarität. Arbeit verbindet die Menschen miteinander. Die soziale Dimension der Arbeit ist nicht von der personalen
zu trennen. Diese biblische Sicht der Arbeit des Menschen soll an zwei
Folgerungen exemplarisch ausgeführt werden: dem gerechten Lohn und
der Umverteilung von Arbeit.
9.2.1 Gerechter Lohn
Eine Wirtschaftsethik, die vom arbeitenden Menschen her denkt, hat den
gerechten Lohn und nicht nur die ökonomische Debatte um den gerechten Preis zum Thema. Der Lohn ist ein Grundproblem für den arbeitenden Menschen. Für das Kapital ist der Lohn lediglich Kostenfaktor, für die
Arbeit ist er Lebensunterhalt. Diese gegensätzliche Bedeutung des Lohnes macht die Hauptursache der Konflikte zwischen Kapital und Arbeit
aus. Der Arbeitslohn ist einer der wichtigsten Aspekte von Arbeit im realen Leben. Georg Wünsch ist einer der ganz wenigen Sozialethiker, der
diesen Tatbestand sieht und benennt. In der 2. Auflage der RGG schreibt
er: “Die hohe Bedeutung und Tragweite des Lohnes beruht auf dem Um-
346
stand, daß er für die meisten Menschen die alleinige wirtschaftliche Lebensbasis darstellt und daher von ihm, soweit wirtschaftliche Bedingungen in Frage stehen, allein die Lebensmöglichkeit und die Verwirklichung
sonstiger Lebenswerte abhängt, nämlich aller Werte, die eine menschen1032
würdige Existenz ausmachen.”
Angesichts der großen ökonomischen und gesellschaftlichen, aber individuellen Bedeutung der Frage nach dem gerechten Lohn ist der Befund außerordentlich erstaunlich, wie peripher und beiläufig Sozialethik
1033
sich dieser Thematik angenommen hat.
Dabei spielt die Lohnfrage
bereits in der biblischen Tradition und auch im realen Leben der Menschen heute eine wichtige Rolle. Friedrich Fürstenberg geht zwar in der
RGG davon aus, daß die betreffenden neutestamentlichen Stellen “nur
allgemeine Ansatzpunkte, die der Konkretisierung entsprechend jeweils
1034
gültiger gesellschaftlicher Normen bedürfen” , bieten, doch worin diese
allgemeinen Ansatzpunkte, die konkretisiert werden müssen, bestehen
könnten, ist aus seinen Ausführungen nicht mehr ersichtlich. Da staatliche oder profane Instanzen zur Regelung der Lohnfragen in biblischer
Zeit fehlten, war es um so dringlicher, über die Religion zu einer akzeptablen Lösung der Konflikte um die Lohnhöhe zu kommen. Die Tora wurde deshalb zur einzigen Instanz, die Probleme des Lohnes regulieren
und dadurch den wirtschaftlich und sozial Schwachen stützen konnte.
Die Tora regelt nicht die Höhe des Entgeltes oder des Lohnes, will aber
die verbindliche Auszahlung des Lohnes am Ende des Arbeitstages sicherstellen. Begründet wird diese Bestimmung theologisch mit dem Unterdrückungsverbot (Ex 22,20-26; Lev 19,13; Dtn 24,14f., Jer 22,13, vgl.
auch Jes Sir 4,1-6, ntl. Verweise: Lk 10,7; Apg. 1,18; 1 Tim 5,18; Jak 5,4;
1035
2 Petr 2,13.15; Jud 11).
In talmudischer Zeit beträgt der Lohn des Ta1036
gelöhners einen Denar (vgl. Mt 20,8ff.).
Walther Bienert ordnet die Frage nach dem gerechten Lohn biblisch
dem Ausbeutungsverbot und dem gemeinschaftsgerechten Verhalten zu.
“Sobald die Lohnhöhe danach bemessen wird, wer der Stärkere ist, han1032
1033
1034
1035
1036
G. Wünsch, Art. Lohn- und Lohnsystem: II. Ethisch, in: RGG 2. Aufl. Bd. III, 1716f.
Vgl. dazu: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 94-98; H. Echternach, Art. Lohn,
in: Ev. Soziallexikon, Stuttgart 7. Aufl. 1980, Sp. 835 - auffallend ohne atl. Bezüge. Auch die
TRE verweist in ihrem Beitrag zum “Lohn” nicht auf atl. Bezüge, vgl. M. Winter, Art. Lohn, I.
Neues Testament, TRE Bd. 21, 447-449. Vgl. dazu Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis, 102. G. Wünsch ist einer der wenigen Wirtschaftsethiker, der die ethische Frage
des gerechten Lohns aufnimmt (G. Wünsch , Evangelische Wirtschaftsethik, 637ff.). Wenn
über Lohn die Rede ist, dann zumeist im Zusammenhang mit dem theologischen Begriff der
Gnade, so auch Art. “misthos/Lohn” , in: THWNT Bd. IV, 699ff.; vgl. G. Bornkamm, Der
Lohngedanke im Neuen Testament, Lüneburg 1947.
F. Fürstenberg, Art. Lohn und Lohnsystem, II. Sozialethisch, in: RGG 3. Aufl. Bd. IV, 444f.
nähere Ausführungen oben in Abschnitt: 6.1.2.2.2.
Ben-David, A., Talmudische Ökonomie, 66.
347
1037
delt es sich biblisch gesprochen um eine „Bedrückung‟ der Armen.”
Der ökonomisch Schwache soll seiner Lage wegen nicht ausgenutzt
werden. Die Position am Markt darf daher sozialethisch auch nicht allein
den Ausschlag über die Verteilung des Sozialproduktes geben. Gerechtigkeit als gemeinschaftsgerechtes Verhalten nennt nach biblischem Verständnis den ungerecht, der sich gemeinschaftswidrig verhält. Nicht nur
das Prinzip von Angebot und Nachfrage soll deshalb leitend für die Bestimmung der Lohnhöhe sein, sondern der Bedarf (vgl. Jes 58,7). Die
biblischen “Primär-Tugenden” Recht und Gerechtigkeit wenden sich gegen eine reine Ausrichtung des Lohnes nach dem Marktwert.
Im Anschluß an die wichtigsten Wirtschaftsgesetze reflektiert das
Buch Deuteronomium das Verhältnis von menschlicher Arbeit, sozialem
Verhalten und göttlichem Segen. Sachlich fordert es eine an den Normen
und Werten des sozialen Ausgleichs orientierte Umverteilung. Arbeit, Ertrag der Arbeit und Solidarität werden in einem Verhältnis gesehen. Der
göttliche Segen für die Arbeit wird explizit daran gebunden, daß ein Teil
des Ertrags den gesellschaftlich Schwächsten zugute kommt. Erst die
solidarische Einbeziehung der Schwachen in den Reichtum und den Gewinn der Produktion gewährleistet den Segen für die Arbeit. “Um dieser
Sache willen wird dich JHWH, dein Gott, segnen in all deinem Tun und in
all deinem Erwerb deiner Hand” (Dtn 15,10; auch Dtn 15,18; 23,21;
24,19). Es ist ein Segen für die Menschen, daß dieser Umverteilungspro1038
zeß möglich wird.
Die Steuergesetzgebung des Zehnten ist die erste historisch nach1039
weisbare Sozialsteuer im gesamten Umfeld Israels (Dtn 14,22-29).
Sie war eine Umverteilung, die den gesellschaftlich und ökonomisch
Schwächeren den Lebensunterhalt sichern sollte. In jedem dritten Jahr
soll der Zehnte direkt in den Ortschaften an die sozial Unterprivilegierten
und die Landlosen verteilt werden. Diese Personengruppe bekommt eine
ökonomisch gesicherte Grundlage. Das Deuteronomium schafft eine
vermutlich zunächst erhobene Abgabe auf den Ernteertrag für den König
ab, verwandelt diese Naturalsteuer in eine Sozialabgabe und bestimmt
1040
den Rest für Feierlichkeiten beim zentralen Tempel.
Die Staats- oder
Königsabgaben werden nun nicht gänzlich in Tempelabgaben überführt,
sondern zur Existenzsicherung unterprivilegierter Personen verwendet
werden. Begründet wird diese Maßnahme mit dem Hinweis “... damit du
1037
1038
1039
1040
348
W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 97.
F. Crüsemann, “ ... damit er dich segne in allem Tun deiner Hand ...”, 7-103; F. Crüsemann,
Die Tora, 263.
F. Crüsemann, Für eine Armensteuer. Ein biblisches Plädoyer, in: Evangelische Kommentare,
Heft 9, 1993, 532; ders., Die Tora, 263f.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1,
338.342-346.
F. Crüsemann, Die Tora, 254f.
lernst, den Herrn, deinen Gott, zu fürchten” (Dtn 14,23). Diese biblische
Sozialsteuer löst eine doppelte Wertentscheidung ein: Sie dringt auf eine
verteilungsrelevante Dimension der Arbeit und macht aus einer ethischen
Grundentscheidung einen Rechtsanspruch der Schwachen. Diese normative Wertentscheidung setzt auf Ausgleich und auf Unterstützung der
Schwächeren. Dabei weiß die Bibel, daß Wertentscheidungen zugunsten
der Schwächeren nur etwas wert sind, wenn sie in einen Rechtsanspruch
überführt werden.
Das neutestamentliche Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg illustriert ein toragemäßes Verständnis von Lohn und Recht auf Existenz (Mt
1041
20,1-16).
Arbeiter erhalten für unterschiedlich lange Arbeitszeiten den
gleichen Lohn. An dieser als ungerecht empfundenen Situation entzündet
sich ein Streit. Die Langzeitarbeiter protestierten dagegen, daß sie einen
Lohn in der gleichen Höhe ausbezahlt bekamen wie die Kurzarbeiter. In
den Augen der Langzeitarbeiter und des Weinbergsbesitzers war auch
ein Hungerlohn rechtens, der unterhalb des Existenzminimums lag. Von
1042
einer realen Alltagserfahrung her, die Arbeitslosigkeit
und Lohndruck
vorausgesetzt, deutet Luise Schottroff das Gleichnis: es ist nicht eine
theologische Kritik am Lohndenken, sondern es wendet sich gegen die
Benutzung des Gerechtigkeitsempfindens als Waffe gegen andere Men1043
schen: Es gehe “um eine konkrete Funktion von Lohndenken” . Das
Gleichnis setzt die Alltagserfahrung voraus, daß diejenigen, die nur kürzer als einen ganzen Arbeitstag gearbeitet haben, einen geringeren Lohn
bekommen, selbst wenn dieser dann unter dem Existenzminimum
1044
liegt.
Das Gleichnis illustriert eine Arbeitsrealität, macht aber auch jene alttestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung deutlich, die den Arbeits-
1041
1042
1043
1044
L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) Die Arbeit im Weinberg und der
patriarchale Mythos vom Familieneinkommen, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen
die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 205-225. Vgl. auch: J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 6. Aufl. Göttingen 1962; E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 1961, 87-94; 158-162.
“Unser Gleichnis ist mitten aus dem Leben seiner Zeit genommen, über der das Gespenst der
Arbeitslosigkeit stand.” J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 138; auch: L. Schottroff, “... du hast
sie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) 205ff.
L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” 214.
“Ihr Verdienst (der Sklaven und Tagelöhner, F.S.) betrug im Durchschnitt einen Denar mit Beköstigung.” (J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 126) “Der Tagelohn eines ungelernten Landarbeiters betrug im selben Zeitraum einen Denar. ... In der Landwirtschaft wurde und wird die
Anzahl der Arbeitstage bedingt durch die Jahreszeit und die Sabbath- und Festtage. Deshalb
scheint sicher, daß ein Tagelöhner nur an etwa 200 Tagen im Jahr Arbeit fand.” (A. BenDavid, Talmudische Ökonomie, 293) Das Einkommen erreichte also gerade das Existenzminimum. Die Mischna definierte genau, wer arm war und Recht auf den Armenzehnten hatte.
“So bildeten 200 Denar oder Zuz die untere Grenze des damaligen Lebensstandards.” (Ebd.
292)
349
1045
lohn in einen Zusammenhang mit dem Recht auf Existenz stellt.
Es
setzt gegen diese erfahrene Realität, die Menschen unter das Existenzminimum drückt, einen anderen Maßstab. Es will Solidarität stiften zwischen denjenigen, die wegen der Arbeit eines langen Tages Anspruch
auf den vollen Lohn hatten, und denjenigen, die nur die Chance erhalten
hatten, wenige Stunden zu arbeiten. Basis dieses Solidaritätsdenkens ist
die Gottesvorstellung. “Das Gleichnis wirbt um die Solidarität von Menschen, die die gemeinsame Gottesvorstellung vom barmherzigen Gott
1046
haben.”
Doch an einem Punkt trennt sich das Gleichnis von der erlebten Realität: Der Weinbergsbesitzer durchbricht eine Lohnordnung, die
sich ausschließlich an dem Gerechtigkeitsgrundsatz “Jedem nach seinen
1047
Leistungen” orientiert. “Das Gleichnis stellt die Güte Gottes dar.”
Diese hält der normalen Realität der Weinbergsbesitzer, die sich ansonsten
nur am Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit orientieren, den Spiegel
vor. Über Gottes Güte nachzudenken, wirft ein Licht auf eine Realität, die
von Leistungsgerechtigkeit geprägt ist. Das Gleichnis setzt aber nicht
den Gerechtigkeitsgrundsatz außer Kraft (“Jedem nach seiner Leistung”),
sondern ergänzt ihn durch ein Gerechtigkeitsprinzip (“Jedem nach seinen
Bedürfnissen”). Formal wird die Rechtsordnung gehalten. Nach der Tora
ist der Tageslohn am Abend auszuzahlen (Lev 19,13; Dtn 24,15). Auch
die vereinbarte Lohnhöhe für den Tag wird eingehalten. Der formale
Rechtsgrundsatz jedoch wird durchbrochen, indem sich der “gütige
Weinbergsbesitzer” an einer Norm orientiert, die außerhalb des formalen
Rechtsgrundsatzes besteht: das Lebensrecht selber. Das Gleichnis
spricht ein Urteil über eine Realität, die vom Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit allein geprägt ist. Die Leistungsgerechtigkeit allein genügt
nicht, denn sie ist blind gegenüber den Bedürfnissen. Die ökonomische
Rationalität, die das Gleichnis veranschaulichen will, ist die Kombination
von Leistungsgerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit. Gerechtigkeit
wird gedeutet als das Recht auf Existenzsicherheit.
Welche Kriterien kann es geben, nach denen ein Lohn als “gerecht”
oder “ungerecht” bezeichnet werden kann? Ein marktwirtschaftliches
Denkmodell geht von der Vorstellung aus, daß sich die Löhne am Arbeitsmarkt auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage bilden. Der
Neoliberalismus wertet deshalb im Rahmen dieses Denkmodells Arbeit
als Ware. Die Höhe des Lohnes als Entgelt für geleistete Arbeit wird
dann als “gerecht” bezeichnet, wenn der Lohn dem Marktlohn entspricht.
Die Rolle kollektiver Organisationen wie der Gewerkschaften oder auch
des Staates bei dem Prozeß der Lohnfindung wird folgerichtig als markt1045
1046
1047
350
Vgl. H. Schröder, Jesus und das Geld, 87ff.
L.Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” 214.
Ebd. 212; so auch: E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 82.
widrig abgelehnt. Der Lohn ist ein nackter Wettbewerbspreis, der sich auf
dem Markt bildet, wie die folgenden Zitate illustrieren: “Die Tarifautonomie ist also nicht notwendiger Bestandteil, sondern ein Fremdkörper in
1048
der Marktwirtschaft.”
Denn: “Die Gewerkschaftsbewegung entstand
aus dem Gedanken der Solidarität, und das bedeutet konkret die Ausschaltung des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt.” Die neoliberale Position
will Arbeitszeit und Lohn allein nach den Gesetzen des Marktes regeln.
“Der kartellmäßig organisierte Einkauf von Arbeitskraft steht im Wider1049
spruch zu unserem Wirtschaftssystem.”
Alle Versuche, den Marktmechanismus außer Kraft zu setzen, würden mißlingen und letztendlich zu
einer Schädigung gar derer führen, die meinten, gegen den Markt Forderungen oder auch soziale Errungenschaften durchsetzen zu können.
Wenn Arbeit ökonomisch den anderen Waren auf dem Markt gleichgestellt wird, wird die Frage nach dem gerechten Lohn vom Ansatz her erledigt. Mit der Arbeit geht es in einer Marktwirtschaft zu wie mit den Wa1050
ren im Supermarkt.
Das Marktdenken kennt keinen Maßstab, der
Auskunft darüber geben könnte, wann ein Lohn auf einem Wettbewerbsniveau liegt. Der Wettbewerb setzt vielmehr eine Spirale frei, die nach
unten offen ist, denn immer gibt es irgendwo irgendjemanden, der einen
Lohn-Preis unterbieten könnte. Oswald von Nell-Breuning akzeptiert
zwar, daß die Marktlage den Preis der Waren bestimmen kann, doch
“auf den Lohn, von dem der Arbeiter seine und seiner Familie Lebensbe1051
dürfnisse bestreitet, ist diese Auffassung unanwendbar.”
Der Grund
liegt darin, daß die Annahme, die Arbeit des Menschen und der Lohn für
diese Arbeit seien wie irgendeine Ware zu behandeln, inhuman ist.
Die Frage nach dem gerechten Lohn kann nicht dem Marktmechanismus unterworfen werden, denn dieser bestimmt Preise und Löhne
nicht nach dem Maßstab der Gerechtigkeit, sondern nach dem der
Durchsetzungsmacht und der Position auf dem Markt. Nicht welche Preise gerecht sind, sondern mit welchen Preisen ein Anbieter sich am Markt
durchsetzen kann, entscheidet dann über die Höhe des Preises für den
1048
W. Engels, Fremdkörper, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 3.5.1992, 138.
R. Hank, Fluchthelfer. Verbände ohne Tarifbindung, in: FAZ Nr. 220 vom 22.9.1997, 15 unter
Bezug auf die Satzung des Arbeitgeberverbandes der Holz- und Kunststoffverarbeitenden Industrie in Rheinland-Pfalz.
1050
In einer eher journalistischen Sprache begründet W. Engels, daß der Markt Löhne wie Preise
festzulegen hat. “Karstadt, Rewe und Tengelmann legen ihre Preise autonom fest, ohne sie mit
einer Verbraucherorganisation auszuhandeln. Mit diesem Preisdiktat sind wir gut gefahren . ...
Je erfolgreicher die Gewerkschaften im Arbeitskampf abschneiden, um so schlimmer kommt es
für die Arbeitnehmer.” W. Engels, Fremdkörper, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 19 vom
3.5.1992, 138.
1051
O.von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente,
Wien 1977, 37.
1049
351
Lohn. Der Lohn wird zu einer Machtfrage. Der Marktmechanismus beseitigt die Frage nach dem gerechten Lohn, statt sie zu stellen und zu
beantworten. Welcher Lohn für welche Arbeit? Welche Äquivalente gibt
es für die beiden grundverschiedenen Faktoren Arbeit und Entgelt? Das
Marktmodell bietet eine nur vordergründige Lösung in der Suche nach
einem Äquivalent an, wenn es die Preisbildung von Waren auf die Preisbildung der Löhne überträgt. Doch Lohn und Ware sind substantiell nicht
vergleichbar. Wenn die eine Seite auf den Lohn dringlicher angewiesen
ist als die andere Seite auf das Erbringen der Leistung, dann verbürgt
der Markt nicht Gerechtigkeit. Er verstärkt vielmehr das Ungleichgewicht
1052
von Macht und Ohnmacht.
Der gerechte Lohn läßt sich also weder als Ergebnis von Angebot und
Nachfrage noch als Ergebnis des machtförmig ausgetragenen Tarifkonfliktes bestimmen; die sozialethische Suche nach Gerechtigkeitskriterien
1053
ist unverzichtbar.
Welche Auskunft kann schon der Markt über eine
dann auch gerecht zu nennende Lohnzumessung für den Bediener einer
CNC-Maschine, den kontrollierenden Meister oder den Top-Manager
machen? Zu Recht hat Georg Wünsch den gerechten Lohn als eine “sitt1054
liche Frage”
bezeichnet. Dadurch wird die Lohnfrage aus einem
Marktautomatismus herausgenommen und in die gesellschaftliche Verantwortung gestellt. Der Markt kann keine Antwort auf die Frage nach einem gerechten Lohn geben. Eine Orientierung am Markt hat ethisch
höchst problematische Implikationen.
Auch wenn eindeutige Kriterien nicht erreichbar sind, so lassen sich
für eine sozialethische Bewertung zwei Grenzbestimmungen formulieren:
das Existenzminimum als Untergrenze und die Grenzproduktivität als
Obergrenze. Innerhalb dieser beiden Markierungen lassen sich sozialethische Kriterien für einen Maßstab von Gerechtigkeit eines Lohnes geltend machen, die durchaus in Konflikt zueinander stehen können. Diese
Kriterien sind Leistung, Lebenslage, Solidarität.
Lohn als Leistungslohn ist Entgelt für geleistete Arbeit, Lohn als Lebenslohn ein Unterhaltsmittel für ein menschenwürdiges Dasein. Gerechtigkeit bedeutet für den Leistungslohn, daß Arbeit nach Kriterien der Zeit,
der Schwere der Arbeit, Ausbildung etc. entlohnt wird. Die Frage nach
dem, was gerechter Lohn bedeutet kann, beantwortet der Leistungslohn
mit dem Verweis auf Leistung als Maßstab. Aber in diesen Maßstab gehen abermals Kriterien ein. Welcher Maßstab liegt vor, nach dem entschieden wird, ob die Arbeit in Planung und Disposition höher oder niedriger als die in der Produktion zu veranschlagen sei? Warum wird die
1052
1053
1054
352
Vgl. dazu W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 156.
Vgl. zum folgenden: W. Huber, Lohn, II. Ethisch, in: TRE Bd. 21, 449-453.
G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 612.
Leistung der geistigen, planerischen Arbeit höher bewertet als produktive
Arbeit?
Auch beim Lebenslohn fehlen eindeutig fixierbare Maßstäbe der Gerechtigkeit. Sozialethisch läßt sich sagen, daß aus Gründen des Existenzrechtes eines jeden die untere Grenze des Lebenslohnes das Existenzminimum ist. Die Tora hatte sich mit dieser entscheidenden Lohnfrage auseinanderzusetzen. Sie legte eine untere Lohnhöhe fest, die we1055
nigstens das Existenzminimum sicherte.
Um den Druck und die Existenzangst niedriger Löhne zu mildern, regulierte die Tora den Lohnzahlungsmodus. Lohn dürfe nicht zurückgehalten werden, sondern müsse
noch am Tag, bevor die Sonne untergehe, ausgezahlt werden (vgl. Lev
19,13; Dtn 24,14ff.; Jer 22,13b). Das Deuteronomium läßt sich verstehen als “eine durchdachte Sozialgesetzgebung, die darauf abzielt, daß
die Arbeitenden das von ihnen Produzierte selbst zu essen vermögen,
wo aber zugleich die daran partizipieren, denen eigenes Produzieren
1056
nicht möglich ist.”
Diese Regelung wollte sicherstellen, daß niemand
aus dem sozialen Gefüge herausfiel. Eine solche Lohnregelung verhindert, daß Menschen trotz Arbeit arm sind. Auch entwickelte Industriegesellschaften kennen das Problem der Working poor, der arbeitenden Armen. Untere Grenze des Lebenslohnes ist das Existenzminimum.
Die Forderung nach einem familiengerechten (Lebens-)Lohn ist eine
1057
traditionelle Forderung der Katholischen Soziallehre.
Sie hält die Erinnerung an ein Ethos wach, das der Bibel nicht fremd ist. Wenn sie auch
mit dieser Forderung das traditionelle Familienideal stabilisieren wollte,
das einen in Erwerbsarbeit tätigen Vater und eine vom Mann abhängige
Hausfrau und Mutter voraussetzte, so kommt in dieser Forderung doch
eine ethische Entscheidung zum Ausdruck, die frei vereinbarte Marktlöh1058
ne nicht gerechte Löhne nennen will.
Leistungskriterien und Solidarität stehen deutlich in einer Spannung,
denn Leistung zielt auf Ungleichheit und Solidarität auf größtmögliche
Gleichheit. Wolfgang Huber urteilt: “Im Gefälle christlicher Ethik liegt der
1059
Vorrang des Solidaritätsprinzips vor dem Leistungsprinzip.”
Dieses
Vorzugsurteil hat die Gründe auf seiner Seite, die auch maßgeblich sind
für die Tora und ihrem Grundprinzip, einer Logik der Humanität Vorrang
vor anderen Rationalitäten zu geben.
1055
1056
1057
1058
1059
W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 94f.
F. Crüsemann, “... damit er dich segne...”, 102.
O. von Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, 169ff.
M. Riley, Die Rezeption der katholischen Soziallehre bei christlichen Feministinnen, in:
Concilium 27 (1991) 420-430.
W. Huber, Lohn, 453.
353
Zusammengefaßt: Der Produktionsprozeß muß als Sozialprozeß verstanden werden, in dem arbeitsteilig produziert wird. Die Zuordnung der
gerecht zu nennenden Anteile an diesem Sozialprozeß ist nicht objektiv
herzustellen. Die Frage nach dem gerechten Lohn ist nicht allein ein
ökonomisches Problem; es gehört in den Zusammenhang der solidarischen Dimension der Arbeit. Sozialethik wird deswegen beide Aspekte
zusammenhalten müssen: Lohn als ein Einkommen, das einen kulturellen und sozialen Lebensstandard und einen gerechten Anteil an dem sozial erwirtschafteten Gewinn des Unternehmens ermöglicht. Zur Lohngerechtigkeit gehört deshalb, daß die Lohnhöhe den Unternehmensgewinn
und die Aktienentwicklung widerspiegelt.
Arbeit durch Einkommen statt Grundeinkommen ohne Arbeit erst löst
jenen hohen personalen, sozialen und demokratischen Stellenwert der
1060
Arbeit ein, wie ihn die Bibel kennt.
Die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen ohne Arbeit ist so alt wie der Kapitalismus
1061
selbst.
Ein garantiertes Grundeinkommen, das ohne “Gegenleistung”
gezahlt wird und mehr sein will als ein zeitweiliger Notbehelf, steht in der
Gefahr, wie ein Lohn für die Ausgrenzung aus der Gesellschaft zu fungieren. Vor allem aber unterschätzt die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen den Stellenwert der Beteiligung an Erwerbsarbeit.
Sie resigniert aber auch vor einer auf privatem Eigentum beruhenden
Marktwirtschaft, die nicht den Wert der Arbeit, sondern nur die Ware Arbeit kennt. Daß jeder die Möglichkeit erhalten muß, für das einen Beitrag
zu leisten, was die Gesellschaft ihm zukommen läßt, ist eine ethische
1060
1061
Fast alle Parteien kennen Modelle, die jedoch unter verschiedenen Bezeichnungen diskutiert
werden, so Existenzgeld, Bürgergeld, Grundsicherung, Grundeinkommen. Vgl. die Debatte um
das Grundeinkommen: H. Büchele u. L. Wohlgenannt, Grundeinkommen ohne Arbeit. Auf
dem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft, Wien 1985; M. Opielka u. G. Vobruba, Das
garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt 1986;
G. Bäcker- Breil, “Konzepte für eine Grundsicherung, in: epd-Dokumentation 1995 Nr. 6/7,
99-112.; A. Spermann, “Das Bürgergeld - ein sozial- und beschäftigungspolitisches Wundermittel?” in: Sozialer Fortschritt Heft 4/1994, 105-111. Einige Konzepte wollen an die Stelle der
bisherigen Hilfen zum Lebensunterhalt gemäß dem Bundessozialhilfegesetz treten; andere wollen eine Grundsicherung gewähren, die bürgerrechtlich begründet wird; andere wiederum wollen Grundsicherung an die Bereitschaft zu sozialem oder familiärem Engagement binden. Diese Konzepte stellen weitreichende Fragen, die wenigstens genannt werden sollen: Welche
gesellschaftlichen Veränderungen werden durch diese Konzepte eingeleitet? Welche Auswirkungen werden sich im Konsumverhalten zeigen? Führt die bedarfsorientierte Grundsicherung,
die zu einer Absenkung des Konsumniveaus führt, auch zur Entwicklung eines anderen Wohlstandsmodells, das sich nicht allein an materiellen Wohlstandsbegriffen orientiert?
So beispielsweise die sog. Speenhamland-Gesetze (1795), mit denen in England bei der Einführung einer liberalen Wirtschaftsordnung versucht wurde, Arbeit nicht den Gesetzen des
Marktes zu unterwerfen, sondern ein “Recht auf Lebensunterhalt” zu garantieren. Der Versuch,
eine liberal-kapitalistische Ordnung ohne einen Arbeitsmarkt zu schaffen, scheiterte mit verheerenden sozialen Folgen. Vgl. dazu: K. Polanyi, The Great Transformation, 113ff.
354
Perspektive, an der festgehalten werden muß, denn zwischen dem Recht
auf Arbeit und dem Recht auf Einkommen gibt es eine unauflösliche
1062
Verbindung.
9.2.2 Arbeitsumverteilung
1063
Ein “Kapitalismus ohne Arbeit”
wird als Folge der Rationalisierung
durch den Einsatz neuer Technologie prognostiziert. Logische Konsequenz aus dem Optimierungskalkül der am Markt agierenden Personen
und Unternehmen ist es, den Arbeitseinsatz zu reduzieren. Verdrängung
von Arbeit ist jedoch keineswegs nur Ergebnis von Rationalisierung im
Sinne eines effektiveren Einsatzes der Produktionsfaktoren. Sie resultiert
auch aus einer betriebswirtschaftlichen Diskriminierung der Arbeit. Die
Ersetzung von Arbeit durch automatisierte Produktion kann epochale
Chancen zur Freiheit eröffnen. Diese Freiheitschance jedoch ist an Bedingungen gebunden. Der ökonomisch und technologisch erzwungene
Trend zu steigender Arbeitsproduktivität ist kein Fluch, sondern dann ein
Segen, wenn die Effekte erhöhter Arbeitsproduktivität nicht privat genutzt, sondern gesellschaftlich weitergegeben und verteilt werden. Eine
an der Ethik der Beteiligung und Teilhabe orientierte Perspektive wird darauf dringen, daß jedes Mitglied der Gesellschaft Recht und Anspruch
auf Anteil an Zuwächsen des Produktivitätsfortschrittes hat. Arbeitsumverteilung ist ein Modus der Umverteilung des Produktivitätsfortschrittes.
Unterbleibt diese Umverteilung, ist der Mangel an Arbeitsplätzen oder die
Arbeitslosigkeit eine pervertierte Form eines möglichen Segens der Produktivität. Unter dieser Perspektive erfordern Gerechtigkeit und Solidarität eine gerechte Verteilung der Einkommen.
Prinzipiell gibt es drei unterschiedliche Strategien der Arbeitsumverteilung:
- Mehrverteilung der Erwerbsarbeit durch Schaffung zusätzlicher Nachfrage oder durch Steigerung des Wirtschaftswachstums;
- Schrägverteilung der Erwerbsarbeit, die bestimmte Gruppen - vor allem
Schwächere - ausgrenzt, die Mehrzahl der Beschäftigten aber unter
immer größerem Leistungsdruck weiterarbeiten läßt;
1062
1063
So auch: T. Jähnichen, Zeit für sich, Jobs für alle, in: Evangelische Kommentare 11/1997, 647650.
U. Beck, Kapitalismus ohne Arbeit, in: Der Spiegel Nr. 20/1996, 140-146; vgl. dazu auch: J.
Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt, New York 1995.
355
- Gleichverteilung der Arbeit als eine Form, die alle Arbeitswilligen an
der Beschäftigung beteiligt.
Der Sabbat ist eine Institution, die nicht nur das Verhältnis von Arbeitsund Ruhezeit regelt. Er ist auch eine Institution der Gleichverteilung von
Arbeit und Ruhe zwischen Herrn und Knecht. Die griechische Antike
praktizierte dagegen eine Schrägverteilung von Arbeit und Ruhe nach
der Klassen- oder Schichtzugehörigkeit.
Anhaltende Arbeitslosigkeit in entwickelten Industriegesellschaften
stellt auch eine Form der Arbeitsumverteilung dar, eine Form jedoch, bei
der die einen ganz ausgegrenzt werden und die anderen weiterhin Anteil
an Erwerbsarbeit haben. Arbeitslosigkeit läßt sich deshalb durchaus als
eine Form asymmetrischer Arbeitszeitverkürzung darstellen, bei der allerdings nicht nach dem Maßstab der Gerechtigkeit die gesellschaftlich
vorhandene Arbeit verteilt wird. Arbeit gerecht zu verteilen, wird in der
beschäftigungspolitischen Debatte auch mit Begriffen diskutiert, die sich
an Einrichtungen wie dem Sabbatjahr / Sabbatical ausrichten. Zumeist
ist die Sabbatjahr-Regelung eher privilegierten Berufsgruppen vorbehalten. Geiko Müller-Fahrenholz knüpft an der biblischen SabbatjahrTradition an und hat ein Konzept arbeitsrechtlich abgesicherter, regelmäßig wiederkehrender bezahlter Perioden entwickelt, die frei von Lohnerwerbstätigkeit sind und zugleich eine Lohnabsicherung gewähren.
Seinen Vorschlag nennt er “Freijahre”. Dieser Vorschlag hat einen vertei1064
lungspolitischen und einen humanen Aspekt.
Der Soziologe Ulrich
Beck plädiert ebenfalls für Sabbaticals, mit denen der Druck auf Vollarbeitsplätze gemindert werden könnte, wenn ein steuerfinanziertes Bürgerengagement mit einem Lohneinkommen aus Erwerbsarbeit kombi1065
niert werde.
Eine andere Art von “Vollbeschäftigung” entstünde. Aus
einer Vollbeschäftigung herkömmlicher Art entstünde eine volle Teilhabe
aller Bürger an gesellschaftlichen Prozessen. Die Dominanz von Erwerbsarbeit im individuellen und gesellschaftlichen Leben muß in der Tat
zugunsten anderer Tätigkeiten zurückgedrängt weden. Erst seit der Industrialisierung nimmt Erwerbsarbeit eine zentralen Stellenwert im Leben
ein. Die Erinnerung an den Sabbat enthält ein anderes Arbeitsverständnis. An dieses Arbeitsverständnis der Vormoderne zu erinnern, kann ein
Beitrag sein, die Reduzierung von Arbeit auf Erwerbsarbeit in der Indust1064
1065
G. Müller-Fahrenholz, Freijahre für alle, in: Evangelische Kommentare 21 (1988) 595-598. - In
der kirchlichen Debatte wird dieser Anstoß nicht weiter verfolgt. Hingewiesen werden soll an
dieser Stelle auf die Initiative des DGB, Sabbatjahre einzuführen. Sie existieren für Beamte seit
einigen Jahren bereits u.a. in Berlin, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz. (DGB-Information
vom 24. Mai 1995)
U. Beck, Die Seele der Demokratie. Wie wir Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren
können, in: DIE ZEIT Nr. 49 vom 29.11.1997, 7f.
356
riegesellschaft rückgängig zu machen und verdrängte Tätigkeitsformen
zu ihrem Recht kommen zu lassen.
Arbeit gerecht zu verteilen ist eine Leitlinie, die den Wert der Arbeit realisiert. Arbeitslosigkeit bedeutet sozialethisch, das Recht auf Weltgestaltung vorzuenthalten. Das Recht auf Arbeit ist Ausdruck eines Partizipationsrechtes der Mitgestaltung. Die soziale Spaltung der Gesellschaft kann
nur durch Formen der Arbeitsumverteilung, die den Umfang der Arbeit
für alle reduziert, aufgehalten und rückgängig gemacht werden.
Bei der aus Gründen der gerechten Arbeitsumverteilung notwendigen
1066
Arbeitszeitverkürzung stellt der Lohn die Schlüsselfrage dar.
Eine
gleichzeitige Verminderung von Arbeit und Einkommen ist jedenfalls
nicht allen Beschäftigten zumutbar. Ein sozialethisches Verständnis von
Arbeit, das Arbeit in seiner individuellen und sozialen Dimension begreift,
wird daher das Projekt Arbeitteilen mit einer solidarischen Umverteilung
von Einkommen und Vermögen verknüpfen müssen. Nur so ist zu verhindern, daß der Arbeitsmarkt gespalten ist zwischen denen, die Arbeit
haben, und Arbeitslosen, die über Transferleistungen ihren Lebensunterhalt sichern müssen. Diese Arbeitsumverteilung ist eine teurere Form
von Arbeitsumverteilung, da sie mit einer Verteilung von Einkommen
durch Transferleistungen im Rahmen sozialer Sicherungssysteme einhergeht. Auch eine nicht an solidarischen Kriterien orientierte Arbeitsumverteilung ist immer eine Umverteilung von Einkommen.
Von Niedriglöhnen, die sich aus der Preisbildung über Marktkräfte ergeben, wird eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen
erwartet. Billigjobs stehen deshalb im Dienst der Wettbewerbsfähigkeit.
Doch die amerikanischen “Working poor”, die trotz Erwerbsarbeit nicht
genügend für ein würdiges Leben verdienen, sind ein warnendes Bei1067
spiel.
Billigjobs sind deshalb nur zugleich mit einem Ausbau eines
starken Sozialstaats zuzumuten und können nicht Teil eines Abbaus des
Sozialstaates sein. Der Sozialstaat ist eine Gestalt der solidarischen Dimension der Arbeit. Ökonomisch wie auch sozialethisch sind deshalb Billigjobs in den Unternehmen nur erträglich, wenn sie von einem effizienten und starken Sozialstaat flankiert werden. Das Wirtschafts- und Sozi1066
1067
Konkrete, auch finanziell durchkalkulierte Berechnungen für Vorschläge einer solidarischen
Arbeitsumverteilung liegen vor. Für den Öffentlichen Dienst könnten so 17-20 Mrd. DM eingespart werden, mit denen 300.000 bis 500.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn
nach diesem Vorschlag die oberen Gehaltsgruppen auf 10%, die mittleren auf 5% Einkommen verzichten würden und dies mit einem Zeitwohlstand “vergütet” bekämen. Vgl. dazu: P.
Grottian, Th. Wiedmann, Für einen neuen Typus von Tarifvertrag, in: FR Nr. 183 vom
9.8.1997, 7.
Vgl. dazu die Erfahrungen mit Billigjobs in den USA und die Erklärung der US-Bischöfe zum
Neoliberalismus: F. Segbers, Von Amerika lernen heißt nicht, siegen lernen, in: F. von Auer u.
F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland, 57 - 66.
357
alwort der Kirchen hat deshalb gefordert, die vom Arbeitgeber gezahlte
geringe Entlohnung durch ein zusätzliches Sozialeinkommen zu ergän1068
zen, damit die Beschäftigten nicht in Armut geraten (Ziff. 174).
9.3 Dritter wirtschaftsethischer Impuls: Versöhnt mit der Schöpfung arbeiten
9.3.1 Logik der Nutzung
Im Wirtschaftsprozeß setzen sich die Ansprüche des Menschen auf Nutzung der natürlichen Umwelt durch. Diese Ansprüche können mit den
ökologischen Bedingungen harmonieren, ihnen aber auch zuwiderlaufen.
In einer auf Privatkapital beruhenden Marktwirtschaft sind Umweltgüter
wie Luft, Boden, Wasser, insofern sie Gemeinschaftsgüter (öffentliche
Güter) sind, in gewissem Maße Fremdkörper, da nämlich eine Privateigentumsordnung wie die Marktwirtschaft die Auf- und Zuteilbarkeit von
1069
Ressourcen voraussetzt.
Umweltgüter jedoch sind grundsätzlich als
Vermögensgüter zu verstehen, die nur genutzt, nicht verbraucht werden
dürfen. Wo aber Verbrauch unumgänglich ist, ist eine Kompensation zu
sichern. Das sog. Verursacherprinzip will Kosten “internalisieren” und als
Gegenstand der Rechnungsstellung dem Produktionsprozeß zuordnen.
Das Konzept der “externen Kosten” will jene Kosten offenlegen, die bei
der Produktion entstehen, nicht aber dem Verursacher zugerechnet werden. Solange jedoch verursachte Kosten extern abgewälzt werden können, sagen die am Markt erzielten Preis nicht die ökonomische Wahrheit,
1070
so Ernst Ulrich von Weizsäcker.
In die am Markt erzielten Preise
müssen aus Gründen der “ökologischen Wahrheit” all jene Kosten eingehen, die auch ökologisch verursacht worden sind.
Zwei Essentials aus dem Erbe der neuzeitlichen Aufklärung bestimmen nach wie vor das Verständnis von Ökonomie und Ökologie: zum einen die Dominanz technischer und ökonomischer Rationalität, zum ande1068
1069
1070
Kritisch wendet H. Stüwe gegen den “Kombi-Lohn” ein, daß ein marktgerechtes Arbeitsentgelt
dann keine Richtschnur mehr für Tarifverhandlungen wäre. “Wobei die Beschäftigungschancen wesentliche Indikatoren der Marktgerechtigkeit zu sein haben: durch deren Mißachtung ist
das Problem entstanden, das jetzt durch den Kombilohn verdeckt werden soll. ... Da nirgendwo
eine überzeugende Lösung als Marktersatz gefunden wurde, wird die Idee des Kombilohnes
immer wieder propagiert. Sie mag verführerisch sein. Aber letztlich birgt auch sie mehr Risiken als Chancen.” So B. Stüwe, Der Kombi-Lohn - eine riskante Idee, in: FAZ Nr. 230 vom
4.10.1997, 13.
U. E. Simonis, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, Wissenschaftszentrum Berlin,
Berlin 1996, 6.
E. U. von Weizsäcker, Erdpolitik, 142ff.
358
ren die beanspruchte Herrschaftsstellung des Menschen gegenüber der
Natur. Aus diesem Willen zur Macht und dem Herrschaftsbewußtsein
des Menschen wurde und wird ein Verständnis von Fortschritt hervorgebracht, daß keine Ehrfurcht gegenüber der Mitwelt kennt, sondern zum
eigenen Nutzen in die Lebenszusammenhänge dieser Erde eingreift.
Dieses seit Descartes ausgeübte Unterwerfungsverhältnis zwischen
Mensch und Mitwelt ignoriert, daß der Mensch selber in die Lebenszusammenhänge der Erde integriert ist. Das neuzeitliche, von Ausnutzung
und Beherrschung geprägte Verhältnis des Menschen zur Natur hat
Dennis L. Meadows, der Verfasser der Studie des Club of Rome Grenzen des Wachstums, auf ein Menschenbild zurückgeführt, das jüdischchristlichen Ursprungs sei. “Das eine Menschenbild, das von den Befürwortern eines unbegrenzten Wachstums getragen wird, ist der homo sapiens, ein ganz besonderes Geschöpf, dessen einzigartiges Gehirn ihm
nicht nur die Fähigkeit, sondern auch das Recht gibt, alle anderen Geschöpfe und alles, was die Welt zu bieten hat, für seine Zwecke auszubeuten. Dies ist ein uraltes Menschenbild, fest in der jüdisch-christlichen
Tradition verankert und erst kürzlich bestärkt durch die großartigen tech1071
nischen Errungenschaften der letzten wenigen Jahrzehnte.”
Die Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition für die Entstehung des neuzeitlichen Naturverständnisses darf sicherlich nicht so einlinig und
undialektisch beschrieben werden, auch wenn die Hypothek eines
Schöpfungsverständnisses mit ihren Aussagen über die Herrschaftsstellung des Menschen gegenüber der geschaffenen Natur schwer lastet.
Das neuzeitliche Unterwerfungsinteresse basiert auf einem Nutzenkalkül, das sich auch im ökonomischen Konzept der Moderne Ausdruck
verschaffte. Die Grundannahme des am Markt orientierten Ökonomiekonzeptes geht davon aus, daß das individuelle Einzelinteresse sich zum
Nutzen aller summiere. Diese Grundannahme hat sich jedoch als irrig
erwiesen: Das eigene Interesse auch aus wohlverstandenem wirtschaftlichen Gründen zu verfolgen, fördert nicht das dem Menschen und allem
Lebendigen gemeinsame Interesse. Das Eigeninteresse hat sich nicht
als ein Motiv erwiesen, das die Bewahrung des außermenschlichen Lebens garantiert. So konnte die Ökonomie zu einem Ort werden, wo der
Mensch seinen Anspruch auf die natürliche Umwelt als einer unerschöpflichen Ressource in die Tat umsetzte. Eine Wirtschaftsweise vermochte
sich durchzusetzen, die sich aggressiv gegen die nichtmenschliche Natur
wendet und den Lebenszusammenhang mit der Natur, in die der Mensch
hineingestellt ist, abzuschneiden droht.
1071
D.L. Meadows u.a., Wachstum bis zur Katastrophe? Stuttgart 1974, 28f., zit. nach: N. Lohfink,
“Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974) 137.
359
Der erste industrielle Konflikt - Kapital gegen Arbeit - resultiert aus einem Verteilungsproblem kollektiv erwirtschafteter Güter. Ulrich Beck
weist zu Recht darauf hin, daß dieser Verteilungskonflikt mit einer “Ausbeutungslogik” verbunden ist: Der Vorteil des einen wird zum Nachteil
1072
des anderen.
“Interessant ist, daß der ökologische Gesellschaftskonflikt sich genau spiegelbildlich zu diesem Wohlstandsverteilungskonflikt
1073
begreifen läßt.”
Es sind gerade die Folgen der Reichtumsproduktion,
die zerstörerisch wirken. Das industriegesellschaftliche Dilemma besteht
darin, daß die Drosselung der einen Konfliktlogik die anderen Konflikte
forciert. Die Industriegesellschaft kannte bislang im Verteilungskonflikt
nur einen Konflikt um partielle Interessen. Der ökologische Konflikt jedoch ist kein partieller, sondern ein Konflikt um die Sicherung des Lebens oder Überlebens überhaupt. Ulrich Beck sieht deshalb in ökologischen Konflikten “eine moralische und soziale Tiefenstruktur, die aus der
1074
Verletzung von Überlebensnormen entsteht” .
Ursprünglich hatten die Menschen sich gegen eine feindliche Umwelt
behaupten müssen. Inzwischen hat sich das Gewaltverhältnis umgekehrt: Die Menschen sind in der Lage, gegen die Umwelt vernichtende
Siege zu erringen. Sie haben es in ihrer Hand, die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Die Natur steht im Schatten der Gewalt. Darin
zeigt sich eine ökonomische Durchdringung des gesamten Lebens. Ökonomische Steigerungsinteressen erhalten Vorrang vor den Erhaltungsinteressen der Natur.
Die Logik, die zu gesellschaftlichen Asymmetrien und Spaltungsprozessen führt, ist dieselbe, die sich auch ökologisch verheerend auswirkt.
Ökologische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, Schöpfung und Gerechtigkeit gehören deshalb zusammen. In den Vorbereitungsdokumenten zur 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes
1997 heißt es:
Analyse und Kritik werden in diesen Zeiten dringend benötigt, wo die ökologische Krise sich zuspitzt, weil wirtschaftliche Einstellungen die räuberische Erweiterung von Riesenunternehmen, den Verbrauch natürlicher
Ressourcen und die entmenschlichende Ausbeutung von Arbeitern erlauben. (...) Die Wirtschaftstheorie kann nicht mehr mit der Annahme weiter1075
machen, daß natürliche Ressourcen unerschöpflich sind.
1072
1073
1074
1075
360
U. Beck, Der ökologische Gesellschaftskonflikt, WSI-Mitteilungen 12/1990, 751.
Ebd. 751.
Ebd. 753.
Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit (Vorbereitungsmaterialien für die 23.
Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1997), abgedruckt in: Reformierte Kirchenzeitung 5/1997, 238.
9.3.2 Regulierungen aus dem biblischen Schöpfungsethos
Welche Einsichten kann eine Orientierung am biblischen Schöpfungsethos für die ökologische Frage vermitteln? Nicht das von Descartes definierte Unterwerfungsverhältnis von Mensch und Natur, sondern das
ökologische und auch soziale Verbundensein allen Lebens ist der Maßstab, der in den theologischen Begründungen der biblischen Überlieferung zur Sprache kommt. Der Mitwelt kommen Rechte zu, die sie nicht
dem Nutzer verdanken. Die Welt ist mehr wert als sie Nutzen hat. Christoph Stückelberger hat aus dem Bild einer Ökonomie des Hauses das
1076
Leitbild einer christlichen Mitweltethik des Maßes entwickelt.
Ausgangspunkt der sozialethischen Argumentation ist die schöpfungstheologisch begründete Aussage: “Gott ist Gastgeber und der Mensch ist Gast
1077
auf Erden.”
Aus dieser Grundaussage heraus formuliert Christoph
Stückelberger “Leitlinien der Gästeordnung”. Sie wollen Auskunft darüber
geben, was es heißt, sich als Gast auf Erden maßvoll zu verhalten.
Gerhard Breidenstein kommt in seiner Untersuchung zum Eigentumsbegriff zu dem skeptischen Ergebnis, “daß die biblischen Äußerungen
zum Thema Eigentum für die Probleme der Eigentumsordnung, d.h. für
die spezifisch sozialethische Fragestellung, nichts ergeben. Damit sind
aber alle christlichen, jedenfalls alle evangelisch-theologischen Aussa1078
gen zur Ordnung des Eigentums ohne Legitimation.”
Mit dieser Aussage wird zum einen die Bedeutungslosigkeit biblischer Kategorien und
Einsichten für die neuzeitliche Eigentumsethik konzediert und zum anderen gefolgert, aus biblischen Traditionen seien keine gegenwartsgestaltenden ethischen Perspektiven zu gewinnen. Läßt sich dieses Urteil halten?
Gestaltung der Schöpfung in treuhänderischer Verantwortung ist die
Perspektive, unter die die Bibel die Arbeit des Menschen stellt. “Macht
euch die Erde untertan” (Gen 1,28). Jahrhundertelang haben Menschen
dieses Mandat als Verantwortung verstanden und einen schonenden
Umgang mit der Schöpfung gelebt. Zeitgleich mit der Auswanderung der
Ökonomie aus dem gemeinsamen Gehäuse mit der Ethik wurde die
Anthropozentrik des biblischen Verantwortungsgedankens, wie sie in der
Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck kommt, in eine
1079
Anthropozentrik des Interessenmotivs für den Markt überführt.
Der
1076
1077
1078
1079
Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, bes. 226ff. Von Arbeitsansatz und Methodik
her fügt sich diese Arbeit in meine Konzeption ein.
Ebd. 231.
G. Breidenstein, Das Eigentum und seine Verteilung. Eine sozialwissenschaftliche und evangelisch-sozialethische Untersuchung zum Eigentum und zur sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart
1968, 292.
W. Huber, Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München 1990, 230f.
361
biblische Verantwortungsgedanke sagt: Der Mensch bleibt auch seinen
eigenen Interessen nur dann treu, wenn er seine Rücksichtnahme nicht
auf das Eigeninteresse beschränkt. Die den Menschen umgebende
Schöpfung wurde aber zur Ressource zur Erfüllung eigener ökonomischer Interessen und Motive. Der Mensch erklärte sich zum Meister und
Besitzer der Natur. Die heute ausgerufene Partnerschaft mit der Natur
bleibt ein vergebliches Postulat, wenn und solange die tieferen, geistesgeschichtlich begründeten Ursachen für die Krise im Mensch-NaturVerhältnis nicht aufgedeckt werden. Diese haben ihren Grund darin, daß
der Mensch sich als Subjekt versteht, das einem Objekt, nämlich der Natur, gegenübersteht.
Das antike Palästina war ein eher armes Land. Um diesem Land die
Lebensgrundlage abzuringen, brauchte der Bauer ökologisches Wissen,
denn Land konnte auch wieder versteppen und unfruchtbar werden. Der
Biologe Aloys Hüttermann attestiert der Bibel “ein profundes biologisches
1080
und ökologisches Wissen” und “intime Kenntnisse der Naturgesetze” ,
die sich in den Nutzungsvorschriften des Bodens und in Vorschriften
über den Umgang mit der Natur niedergeschlagen haben. Die Tora enthält deshalb auch Bestimmungen, die eine ökologische Balance sichern
sollte. Wichtigste Institution war die Ackerbrache. “Sechs Jahre kannst
du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im siebten Jahr sollst
du es brach liegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk
sollen davon essen, den Rest mögen die Tiere des Feldes fressen.” (Ex
23,10.11a)
Das Brachegebot steht in einem direkten Zusammenhang mit dem
Recht der Armen und dem diesem nachgeordneten Recht der Tiere auf
Nahrung. Soziale Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Regeneration der
Erde stehen nicht gegeneinander. Dtn 15,1-11 verschiebt den Akzent auf
das Soziale und verändert das ökologische Brachjahr zu einem Schuldenerlaßjahr. Lev 25,2-7.18-23 betont die Regenerationszeit, die das
Land braucht. Das Land gehört JHWH (V 23). Ihm zur Ehre wird nicht eine Ausnutzung des Landes, sondern vielmehr ein Sabbat gehalten, der
Land, Mensch und Tiere regenerieren läßt (V 2). Wenn das karge Land
nach diesem Rhythmus bestellt wird, dann kann es seine Fruchtbarkeit
erhalten und so produktiv sein, daß es nach dem Sabbatjahr einen Überschuß hervorbringt. Nach sechs Jahren folgte ein Sabbatjahr und dem
Sabbatjahr das Jahr der Aussaat, so daß nach dem Sabbatjahr erst im
darauf folgenden Jahr geerntet werden konnte (V 22). “Seht, ich werde
für euch im sechsten Jahr meinen Segen aufbieten, und er wird den Er1080
A. Hüttermann, Die ökologische Botschaft der Thora, 148.154. Diesen angepaßten Umgang mit
den Ressourcen bestätigt auch H.Vogelstein, Die Landwirtschaft in Palästina zur Zeit der
Misnah. Vgl. dazu auch: F. Crüsemann, Die Tora, 304ff.
362
trag für drei Jahre geben” (Lev 25,21). Die Tora wird als Anweisung zu
einer Ökonomie verstanden, die Leben garantiert (Dtn 8). Hält Israel die
Tora, dann wird Israel zu einem “prächtigen Land” (Dtn 8,7). Die Katastrophe des Exils wird als Folge der Mißachtung der Tora gedeutet (Lev
26,43f): Das Land wird zur Wüste und Steppe (Lev 26,33f). Das Sabbatjahr ist also getragen von einem Respekt vor dem Land und der Schöpfung insgesamt.
Das Sabbatjahr gibt die Erkenntnis wieder, daß Ökonomie mit Gewalt
gegen die Schöpfung zu tun haben kann. Diese strukturelle Gewalt soll
durch die Institution des Sabbatjahres minimiert werden (Ex 23,10f.; Dtn
15,1f.). “Dieses Gesetz ist eine Erweiterung des Gedankens des Frie1081
dens vom sozialen Bereich auf den Naturbereich.”
So lehren Sabbat
und Sabbatjahr einen anderen Umgang mit der Schöpfung und mit denen, die die Erde bewohnen: nicht alles unter Kontrolle bringen, loslassen können, die Natur sich selber überlassen - wenigstens in regelmäßig
wiederkehrenden Zyklen. Die gemeinsame Ruhe aller am siebenten Tag
und die Brache aller Äcker im selben Jahr war immer kontraproduktiv,
wenn ökonomische Kategorien angelegt werden. Für jede allein am kurzfristigen Nutzen orientierte Wirtschaftsweise bedeutet diese Weisheit
nichts anderes als ein entgangener möglicher Gewinn. In den Einrichtungen des Sabbat und des Sabbatjahres drückt sich eine Vorzugsregel
aus, die ethisch plausibel und ökonomisch vernünftig ist: Bei konkurrierenden ökonomischen und ökologischen Interessen kommt den ökologischen ein Vorrang zu.
Land und Landbesitz bilden für den altisraelitischen Bauern die entscheidende Voraussetzung für die Sicherung des Lebens. Um diese
Existenzbedingung zu sichern, gab es ein Eigentumsrecht, nach dem
Grund und Boden, Eigentum, vornehmlich Landbesitz nicht frei verfügbar
1082
sind, sondern dienen der Familie als Lebensraum.
Bereits sprachlich
kommt dieses Eigentumsverständnis zum Ausdruck. Hebräische Worte
für Eigentum, Besitz bezeichnen sowohl die Art der Aneignung als auch
die Beziehung zwischen Besitzer und Besitz. Damit unterscheiden sie
sich von einem Eigentumsverständnis, das von Aneignungsformen und
1083
personaler Beziehung abstrahiert.
Eigentum und Besitz sind Beziehungsbegriffe. Aus diesem Grund weisen nahezu alle Begriffe für Eigen1084
tum im Hebräischen anthropologische und theologische Bezüge auf.
Bereits terminologisch unterscheidet das Alte Testament Eigentum an
1081
1082
1083
1084
E. Fromm, Die Herausforderung Gottes und des Menschen, Zürich 1970, 197.
J. Ebach, Art, Eigentum, I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 406.
Ebd. 405.
Ebd. 404.
363
1085
Tieren, Boden und Menschen.
“Dem Herrn gehört die Erde und was
sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner” (Ps 24,1, auch Lev 25,23).
Diese biblische Weisheit des Psalmisten beschreibt den theologischen
Rahmen biblischer Eigentums- und Bodenrechtsbestimmungen. Sie stehen für einen anderen, einen treuhänderischen Umgang nicht nur mit
dem Boden, sondern mit der Schöpfung insgesamt. Das Land ist zum
Erbbesitz gegeben (Dtn 4,38). Der Schöpfungsglaube behauptet deshalb
das prinzipielle Eigentumsrecht Gottes an allem, was geschaffen ist, und
setzt der Verfügung des Menschen auf die Schöpfung eine kritische
Grenze.
Bereits das Bundesbuch setzt ein Verständnis von Eigentum voraus,
das den Lebensraum als Patrozinium Gottes begreift. Das priesterliche
Schrifttum entwickelt den Gedanken weiter, indem es noch deutlicher
das Eigentumsrecht Gottes an seinem Grundbesitz betont und diesen
Besitz deshalb nur mit einem auf Zeit verliehenen Nutzungsrecht ausstat1086
tet.
Lev 25,23 regelt, daß der Boden grundsätzlich unverkäuflich ist,
weil das Land JHWH gehört. Nur die Ernten dürfen veräußert werden (V
13-19). Boden wird also nur auf Zeit und zur Nutzung übergeben. Privateigentum wird als anvertrauter Lebensraum verstanden, d.h. niemand
hat das Recht, es seinem Nächsten vorzuenthalten oder sich auf Kosten
wirtschaftlich Schwächerer zu bereichern.
Land soll geschützt bleiben, denn es ist das lebensnotwendige Produktionsmittel der Agrargesellschaft und die Existenzgrundlage der bäuerlichen Betriebe. Eindeutig denkt diese Regelung von dem her, der gezwungen ist, Land zu veräußern. Er soll geschützt werden. Gerade Notlagen könnten dazu führen, daß der eine sich auf Kosten des anderen
bereichert. Gegen diese Mechanismen des Marktes will das “Ausbeutungsverbot” (V 14b) schützen. “Wenn du deinem Stammesgenossen
etwas verkaufst oder von ihm etwas kaufst, sollt ihr einander nicht übervorteilen” (Lev 25,14). Die Tora nimmt den Bodenpreis aus den Marktgesetzen heraus: Der Käufer bezahlt nicht nach dem Marktpreis, sondern
nach dem realen Wert, der sich aus der Summe der Ernteerträge bis
zum Jobeljahr ergibt, denn mit dem Jobeljahr fällt der Boden wieder an
den Verkäufer zurück. Dieser Eingriff in die Marktgesetze wird theologisch begründet: “Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn
das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir”
1087
(Lev 25,23 auch V 17).
1085
1086
1087
364
F. Horst, Art. Eigentum, biblisch, in: RGG Bd II, 3. Aufl. Sp. 363.
Ebd. Sp. 364.
Vgl. auch die näheren Ausführungen oben Abschnitt .4.2.2.
Die Tora bemühte sich darum, den Schutz des Eigentums vor Über1088
griffen und die soziale Verpflichtung des Eigentums zu garantieren.
Eigentum ist eine materielle Grundlage der Freiheit. Der Dekalog verbietet deshalb Übergriffe auf das Eigentum des Nächsten. (Ex 20,17; Dtn
5,21) Grundbesitz ist in einer Agrargesellschaft wie der des Alten Israel
Grundlage des Wirtschaftens und wird deshalb auch im Dekalog ausdrücklich einem Schutz unterstellt. Ex 20,17 bezieht sich weniger auf ein
Begehren im Sinne neidischer Gesinnung als auf einen geplanten und
ausgeführten Übergriff auf fremdes Gut; die Fassung Dtn 5,21 verschärft
die Aussage gegenüber Ex 20,17, indem ein begehrliches Wollen („wh)
hinzugefügt wird. Die wichtigste Intention der Schutz des Eigentums be1089
steht darin, vor dem Zugriff des Stärkeren zu schützen.
“Nichtbegehren in der (unterschiedlichen) doppelten Auffächerung (nämlich Haus
und Frau, Sklave, Vieh, F.S.) sichert die gesamte Lebensgrundlage des
1090
Nächsten, Besitz und Familie.”
1091
In Israel gab es Bodenpacht.
Wie wurden die Pachtverhältnisse
rechtlich geregelt? Wie sah das wirtschaftlich-soziale Gefälle zwischen
Pächtern und Verpächtern aus? Willy Schottroff versteht das Gleichnis
von den bösen Weingärtnern als Darstellung eines realen Sozialkonfliktes (Mk 12,1-9 parr.). Die Pächter ermorden den Abgesandten des
Grundbesitzers, wohl um sich durch “Ersitzung” in Besitz des Weinbergs
zu bringen. Das Gleichnis spricht ein Urteil über die sozio-ökonomischen
Verhältnisse: Israel ist wie ein Volk, das keinen Hirten hat (Mk 6,34). Von
der ausbeutenden Führungsschicht wird die Masse des Volkes unterschieden (Mk 12,12). Durch die ausbeuterischen Interessen der Oberschicht sei das Land in einen heillosen und von Gewalt geprägten Zu1092
stand geraten, ist die Pointe des Gleichnisses.
Das Sabbatjahr bedeutet einen Vorrang des allgemeinen Rechts auf
Leben vor dem Recht auf Eigentum. Im Vordergrund steht eine Orientierung am Nutzen. Da JHWH Eigentümer des Landes ist, steht aller Besitz
an Grund und Boden unter einem göttlichen Eigentumsvorbehalt. Eigentum ist dem Menschen zu seinem Nutzen gegeben und kein Selbstzweck. Nutzung des Eigentums soll daher zum Vorteil aller sein. Eigentum darf deshalb nicht in willkürlicher Weise gehandhabt werden, die
sich ruinös auf andere auswirkt. Das Recht auf privates Eigenum findet
seine Grenze dort, wo das Lebensrecht anderer bedroht ist. Getragen ist
1088
1089
1090
1091
1092
J. Ebach, Art, Eigentum, I. Altes Testament, 403-407.
So J. Ebach, Art., Eigentum , I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 406.
F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 76.
W. Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9 parr.). Ein Beitrag zur
Geschichte der Bodenpacht in Palästina, in: Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins 112
(1996) 18-48.
W. Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtern (Mk 12,1-9 parr.), 41.
365
die biblische Eigentumsvorstellung von der Idee vom Eigentum als Nießbrauch. Um die sozialen Schäden aus einem freien Handel mit Boden
abzufangen, wird der Handel auf den Ertrag des Bodens beschränkt, der
Boden selbst jedoch ist nicht veräußerbar. Dabei handelt es sich um einen bewußten Eingriff in die Mechanismen des Marktes, wie die Ausnahmeregel zeigt: Immobilien in der Stadt, die nicht als Produktionsmittel
dienen,
unterliegen
nicht
der
Verkauftsbeschränkung
der
Jobeljahrformel. Sie sind frei verkäuflich (Lev 25,29-31). Der wirtschaftsethische Kern des Jobeljahres besteht darin, allen einen offenen Zugang
zu den Ressourcen des Landes zu gewähren und einen verantwortlichen
Umgang mit den Ressourcen zu gewährleisten.
Dieses Eigentumsverständnis der Tora gewinnt gerade angesichts der
Umweltproblematik, die zutiefst mit dem Weltbild der Moderne zusammenhängt, eine hohe Aktualität. Der Ausschluß des Handels mit dem
Boden und das Brachjahr zeigen einen hohen Respekt vor dem Boden.
Der Umgang mit Grund und Boden steht nicht allein unter einer Nutzen Perspektive. Diese Haltung kann beitragen, zu einem Eigentumsverständnis zu kommen, das eine Balance zwischen Nutzung und Regeneration des Bodens herbeiführt. Das Eigentumsverständnis kann deswegen als umweltfreundlich charakterisiert werden.
Zwei Wege gibt es, die zu einer umweltgerechten Eigentumsordnung
führen. Entweder werden Umweltaspekte in der Privateigentumsordnung
selbst stärker wirksam. Dies läuft auf einen Ausbau des Privateigentums
an Umweltgütern hinaus, denn dem Eigentümer wird die Verantwortung
für umweltverbrauchende und -belastende Wirkungen zugewiesen. Der
andere Weg geht von der Annahme aus, daß die natürliche Umwelt an
sich ein gemeinschaftlich-öffentliches Gut ist. Das bedeutet nun nicht,
daß wirtschaftliche Nutzung kollektiviert werden müßte. Udo Ernst Simonis schlägt ein Eigentumsrecht vor, das dem ökologischen Imperativ gerecht werden kann. Dieses Eigentumsrecht an Umweltgütern wäre geteilt: das wirtschaftliche Eigentum an Umweltgütern als individuelles Dominium und das gemeinschaftliche Patrimonium. Das Konzept des Patrimoniums geht davon aus, daß die wirtschaftliche Nutzung der Umweltgüter dem Anspruch auf Eigentum unterzuordnen ist. Die Umwelt wird
also als ein Erbgut betrachtet, das der Mensch nicht geschaffen hat, und
das auch künftigen Generationen als Existenzgrundlage dienen soll. Nutzungsrecht und Eigentumsrecht müßten miteinander verbunden sein. In
vielen Gemeinden gibt es noch aus älteren Zeiten stammende Eigentumsordnungen, die gemeinschaftliches Bodeneigentum kennen, das
private Nutzung erlaubt. In der Allmendenordnung gibt es beispielsweise
eine solche Verbindung von privater Nutzung und Eigentum. Udo Ernst
Simonis schlägt vor, Elemente einer umweltgerechten Eigen-
366
tumsordnung im Sinne des Patrimoniums in der modernen Industriege1093
sellschaft zu verankern.
Diese von Udo Ernst Simonis geforderte “Verknüpfung von individueller wirtschaftlicher Nutzung des Eigentums und Erhaltung der ökologi1094
schen Funktionsbestimmung”
kommt dem Eigentums- und Besitzverständnis der Bibel recht nahe. Der Schutz der natürlichen Umwelt ist
konstitutiver Bestandteil eines Eigentums, als dessen “Besitzer” Gott und
dessen “Nutzer” die Menschen verstanden werden. Die Menschen sind
Treuhänder und Nutzer eines Gutes, dessen Besitzer nicht sie, sondern
Gott ist. Grund und Boden sind grundsätzlich nicht verkäuflich, sondern
dienen allen als Existenzgrundlage in einer bäuerlichen Gesellschaft (Lev
25,23). Akkumulationsprozesse von Grund und Boden werden mit der
Institution des Jobeljahres zyklisch korrigiert (Lev 25, 8ff.).
Zwischen der Eigentumsfrage und der Nutzung des Besitzes an Boden oder Ressourcen und der Forderung nach Solidarität, oder anders
ausgedrückt: zwischen Ökonomie, Solidarität und Ökologie existiert
durch einen solchen Eigentumsbegriff ein enger innerer Zusammenhang.
Ein schöpfungsgerechter Umgang mit Eigentum und Solidarität bleibt solange eine Fiktion, wie das Eigeninteresse eines Besitzindividualismus
sich als Strukturprinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung darstellen kann. Solidarität und Ökologie sind dann nichts weiter als eine
nachträgliche Reparaturmaßnahme, welche die schädlichen Nebenfolgen des Besitzindividualismus abfangen soll. Deshalb sagt auch das
Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen: “Mit einer ökologischen Nachbesserung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan.
Notwendig ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologisch-sozialen
Marktwirtschaft insgesamt” (Ziff. 148). Die Rede von der Bestimmung der
Güter dieser Erde für alle zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse wird
ohne einen solidarischen und schöpfungsgerechten Eigentumsbegriff zu
einem leeren Pathos.
Gegen die Ökonomisierung aller Lebenswelten setzt die biblische Tradition die Institution des Sabbat. Erich Fromm legt den Sabbat auf diese
ökologische Dimension hin aus: “Der Sabbat ist ein Tag des Waffenstill1095
standes im Kampf des Menschen mit der Natur.”
Der wöchentlich
wiederkehrende Sabbat ist der wöchentlich wiederkehrende Einspruch
gegen eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die Erde steht dem
Menschen nicht zur grenzenlosen Ausbeutung und zum grenzenlosen
Nutzen zur Verfügung. Der Sabbat ist aber mehr als nur ein Waffenstill1093
1094
1095
U.E. Simonis, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, Wissenschaftszentrum Berlin,
1996, 12. Dort auch weitere Literaturangaben.
Ebd. 14.
E. Fromm, Haben oder Sein, 57.
367
stand. Der aus Deutschland emigrierte jüdische Theologe Abraham
Heschel bewertete den Sabbat: “Er ist die tiefe bewußte Harmonie des
Menschen und der Welt, Mitgefühl für alle Dinge und Teilhabe an dem
1096
Geist, der vereint, was unten und oben ist.”
Deshalb ist der Sabbat
besonders in der ökumenischen Sozialethik zunehmend als ein Zeichen
der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie wiederentdeckt worden.
Die Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Canberra
1991 stellt einen beispielhaften Versuch dar, alte Einsichten der biblischen Tradition für gegenwärtige Fragestellungen neu zu erschließen.
Sowohl für Juden als auch für Christen bietet die Einführung des Sabbat,
des Sabbatjahres und des Jubeljahres eine deutliche Vision der ökonomischen und ökologischen Versöhnung, der sozialen und persönlichen Erneuerung. Der Sabbat erinnert uns daran, daß die Zeit, der Bereich des
Seienden, nicht lediglich Verfügbares ist, sondern eine heilige Dimension
hat, die unserem Kontroll-, Befehls- und Unterdrückungsdrang widersteht.
In den Konzepten des Sabbat- und des Jubeljahres verbinden sich die
ökonomische Effektivität bei der Nutzung der knappen Ressourcen mit der
Haushalterschaft über die Umwelt, das Gesetz mit dem Mitleid, die Wirtschaftsordnung mit der sozialen Gerechtigkeit. Nicht Produktion und Konsum erhalten unsere Erde, sondern die ökologischen Systeme, die die Voraussetzungen für das menschliche Leben bilden. Es gibt eine enge und
unauflösliche Verbindung zwischen Ökonomie und Ökologie, wie der
konziliare Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der
1097
Schöpfung deutlich gezeigt hat.
Die biblische Perspektive lenkt den Blick auf den einen Haushalt der
Schöpfung, in dem Ökonomie und Ökologie versöhnt werden sollen. Älteres Wissen, das in der Bibel überliefert wird, eröffnet eine neue Perspektive zur Wahrnehmung von Problemen, die ansonsten nicht als solche begriffen würden. Darin zeigt sich ihre Aktualität.
In den Vorbereitungsdokumenten zur 23. Vollversammlung des Reformierten Weltbundes (1997) heißt es:
Der Sabbat erinnert an die Tatsache, daß die Schöpfung einen Wert an
sich hat und nie einfach auf “natürliche Ressourcen” reduziert werden
kann. In der Bibel bezieht sich der Aufruf, den Sabbat zu halten, nicht nur
auf einen Tag von sieben, sondern auf einen Lebensstil. (...) In der heutigen Welt mit ihrer Kultur der Habgier und Ausbeutung ist es ein Zeichen
1096
1097
368
A. Heschel, Der Sabbat, 28.
W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991. Offizieller Bericht der Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, 7.- 20.
Februar 1990 in Canberra, Frankfurt 1991, 54.
von Widerstand, gerecht zu handeln und sich an den Sabbat zu erinnern,
1098
ihn heilig zu halten. Dies stellt eine Gegenkultur dar.
Die Sabbattradition erinnert an ein Konzept, das Ökonomie und Ökologie durch solche Regulierungen in den Institutionen von Sabbat und
Sabbatjahr versöhnt, die Naturnutzung auf ein Maß begrenzt und die Regenerationsfähigkeit der Natur nicht überfordert.
9.3.3 Soziale und ökologische Marktwirtschaft
Die leider viel zu wenig beachtete Gemeinsame Erklärung des Rates der
EKD und der Deutschen Bischofskonferenz Verantwortung wahrnehmen
1099
für die Schöpfung
hatte bereits 1985 gefordert, das Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft um die ökologische Komponente zu erweitern. In
der Erklärung heißt es:
Es geht dabei um eine Wirtschaftsordnung, in der freier Wettbewerb durch
Anreize und Auflagen Impulse zugunsten ökologischer Ziele enthält und
der ein ökologiepolitischer Rahmen gesetzt ist, der den Wirtschaftsprozeß
gegenüber der Umwelt in eindeutige Schranken verweist. (...) Der Gedanke einer „ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft setzt also auf
die Anpassungsfähigkeit des wirtschaftlichen Systems sowie auf die unternehmerische Einsicht und das Interesse, bei gegebenen Anreizen Aufgaben aufzugreifen, die der Natur und dem Gemeinwohl dienen. (Ziff. 81)
Strukturelle Eingriffe sind gefordert, damit der ökologische Umbau der
Sozialen Marktwirtschaft vollzogen werden kann. “Die Verpflichtung auf
den Schutz der Umwelt stellt keine kosmetische Korrektur der bestehenden Wirtschaftsordnung dar, sondern einen grundlegenden Einschnitt”
(Ziff. 83). Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen nimmt diese Argumentation auf, wenn es die Erweiterung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft um das Attribut “ökologisch” (Ziff. 142) fordert. Leider jedoch
werden die strukturellen Ursachen der ökologischen Schädigung als Folge einer auf Wachstum angelegten Wirtschaftsweise nicht thematisiert.
Wie läßt sich aber eine Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang konzipieren? Diese entscheidende Frage läßt das Wort der Kirchen unbeantwortet.
Auch wenn Ökologie als Referenzrahmen für ökonomisches Denken
seit den Grenzen des Wachstums (Club of Rome) erst jüngeren Datum
ist, lassen sich doch Traditionslinien aufzeigen, die bis zu den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft zurückreichen und an Aktualität nichts
1098
1099
Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit, 235.
Gütersloh 1985.
369
verloren haben. In seiner frühesten Schrift, die sich mit der Konzipierung
einer Sozialen Marktwirtschaft beschäftigt, setzt sich Alfred MüllerArmack bereits 1948 (!), mit den “Problemen des Überflusses” ausei1100
nander.
Weitsichtig forderte er deshalb in einer Zeit, als große Teile
Deutschlands noch in Trümmern lagen, Instrumentarien zur Bändigung
des erwarteten Überflusses. Auch Wilhelm Röpke war sich der konstitutiven und immanenten ökologischen Brisanz der Marktwirtschaft bewußt.
Der Wachstumszwang fördere einen Kult der Produktivität, der materiel1101
len Expansion und des Lebensstandards.
“Entscheidend sind die
Dinge jenseits von Angebot und Nachfrage, von denen Sinn, Würde und
innere Fülle abhängen, die Zwecke und Werte, die dem Reich des Sittli1102
chen im weitesten Verstande angehören.”
Die Ökologiedebatte zeigt,
daß die Soziale Marktwirtschaft von sich aus keineswegs ökologische
Rücksichten kennt.
Das Postulat einer auch ökologisch verpflichteten Sozialen Marktwirtschaft wird sich nur dann einlösen lassen, wenn von der Anthropozentrik
des ökonomischen Interessenmotivs Abschied genommen wird. Das geschieht dadurch, daß erstens ein neuer Wirtschaftsbegriff realisiert wird,
der ein ökologieverträgliches Ziel des Wirtschaftens formuliert, und zweitens ein auf Nutzung und Verbrauch der Ressourcen der Erde reduziertes Eigentumsverständnis revidiert wird. Ein an realen Alternativen orientiertes Denken wird allerdings davon ausgehen müssen, daß außerhalb
der arbeitsteiligen Industriegesellschaft oder gar gegen sie keine Auswege aus dem ökologischen Desaster gefunden werden können. Hier könnte man sich vom biblischen Schöpfungs- und Eigentumsverständnis inspirieren lassen, um zu einer mitweltgerechten Zivilgesellschaft zu gelangen, die realpolitische Lösungsansätze für eine zukunftsweisende
Ökonomie entwickelt und umsetzt.
9.4 Vierter wirtschaftsethischer Impuls: Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen
Die säkularen Umbrüche des Jahres 1989 haben die ökonomische Effizienz einzelwirtschaftlicher Produktion in Marktwirtschaften bestätigt. Das
ökonomische Urteil jedoch reicht nicht für ein wirtschaftsethisches Urteil
aus. Marktwirtschaften können ja höchst effizient in der Produktion der
Güter sein, trotzdem aber soziale, humane oder ökologische Schäden
1100
1101
1102
370
A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 154.
W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich, Stuttgart 1966,
166.
Ebd. 22.
hervorrufen. Für ein einzelnes Unternehmen kann als vernünftig gelten,
was für eine gesamte Gesellschaft in keiner Weise vernünftig zu sein
braucht. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich fordert deshalb, daß Marktwirtschaften gerade wegen ihrer ökonomischen Effizienz “zur Vernunft zu
1103
bringen”
seien. Die Beantwortung der ökonomischen Grundfragen
nach dem Was, Wie und Für wen darf trotz marktwirtschaftlicher Effizienz nicht von der Eigenlogik des Marktes erwartet werden: Marktwirtschaftliche Effizienz ist nicht Ergebnis der Logik des Marktes, sondern
muß in einem demokratischen Prozeß erfolgen.
Der marktradikale Neoliberalismus erwartet von einem freien, deregulierten Markt die höchste ökonomische Effizienz. Ökonomische Freiheit
steht deshalb auch im Zentrum. Marktwirtschaftliche Effizienz kann aber
nicht allein auf den Erfolg einzelwirtschaftlicher Produktionsweise zurückgeführt werden. Das Gegenteil hat sich geschichtlich erwiesen: Innovative Partizipation und demokratische Teilhabechancen sind Voraussetzung für die ökonomische Effizienz der Marktwirtschaft. Das Wirtschaftsund Sozialwort der Kirchen verweist auf diesen Zusammenhang, wenn
es gegen kurzfristige isolierte Gewinninteressen, die sich am Markt realisieren lassen, auf die gesellschaftliche Einbettung des Marktes hinweist.
“Diese Perspektiven und Maßstäbe sind nicht wirklichkeitsferne Postulate, sondern Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft, die sich nicht
durch vermeintliche Sachzwänge oder durch kurzfristige Interessen irre
machen läßt” (Ziff. 126). Ein soziales Klima oder verläßliche gesellschaftliche und soziale Strukturen sind in diesem Sinn als eine gute Rahmenbedingung ökonomischen Handelns zu verstehen. Finden die wirtschaftsethischen Wertentscheidungen für eine Kombination von Ökonomie und Solidarität, von ökonomischer Effizienz und sozialer Einbindung
in der Politischen Ökonomie der Tora einen Rückhalt?
9.4.1 Regulierung des Marktes in der Tora
Die wirtschafts- und sozialethisch relevanten Rechtskorpora der biblischen Tradition bemühen sich um eine intensive Auseinandersetzung mit
1104
den Wirtschaftssystemen ihrer Zeit.
Akkumulationsprozesse, die zu
asymmetrischen Verhältnissen in der Gesellschaft führen, sind nicht nur
eine Signatur kapitalistischer Marktgesellschaften, sondern beginnen bereits mit dem Übergang von Kleingruppengesellschaften zu Ackerbaukulturen und setzen sich in der Zeit der Städtegründungen und später in
den Großreichen fort. In allen antiken Gesellschaften gab es Gegenbe1103
1104
P. Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, 483.
Vgl. oben Abschnitt 4.2.
371
wegungen gegen zerstörerische Akkumulations- und Verelendungsprozesse. Auch die Tora mußte sich mit sozialen Folgen einer Marktökonomie auseinandersetzen. Das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der
Tora lebt von dem Grundsatz, daß alle Menschen gleichen Zugang zu
den Lebensressourcen haben sollen. Rainer Albertz sieht deswegen in
der Wirtschaftsethik der Tora den Versuch, “gegen die unterdrückenden
1105
Zwänge wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit”
Regulierungen der
Marktökonomie zu stellen.
Der Markt gehört wirtschaftshistorisch zu den ältesten gesellschaftlichen Einrichtungen; in Ausmaß und Bedeutung für die jeweiligen Gesell1106
schaften ist er allerdings unterschiedlich zu bewerten.
Die Bibel kann
auf ein jahrtausendealtes Erfahrungswissen im Umgang mit dem Markt
verweisen. Die biblischen Wirtschaftsgesetze sind entstanden in Auseinandersetzung mit dem Markt. So kennt die Tora Bestimmungen in ihrem Wirtschaftsrecht, die Verkauf und Handel regeln und die Gesetze
des Marktes suspendieren. Der Kauf und Erwerb von Grund und Boden
wird nicht als ein dereguliertes freies Marktgeschehen geregelt (Lev
25,14 ff.). Allein der Gebrauchswert einer Immobilie zählte ökonomisch,
denn der Wert resultierte aus der Anzahl der Ernteerträge. Spekulation
auf der Basis des Gesetzes von Angebot und Nachfrage war ausge1107
schaltet.
Auch das Neuen Testament mußte sich mit den Grundprinzipien der
Marktwirtschaft auseinandersetzen. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern handelt als eines der wenigen neutestamentlichen Texte aus1108
drücklich von marktwirtschaftlichen Vorgängen (Lk 12,16-21).
Es erzählt von einem reichen Bauern, der die Chancen nutzt, die eine freie
Marktwirtschaft ihm bieten. Er verknappt das Angebot, indem er den
Weizen in Scheunen hortet und nicht auf dem Markt verkauft. Wirtschaftlich ist Knappheit auf dem Markt vernünftig, denn ein knappes Angebot
treibt die Preise hoch. Der reiche Bauer erzeugt eben diesen wirtschaftlich erwünschten Knappheitseffekt. Sein Verhalten ist ökonomisch vernünftig; es folgt der Logik des Marktes.
1105
1106
1107
1108
372
R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, 309.
H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 23 - 35.
Vgl. die näheren Ausführungen und Berechnungen in Abschnitt4.2.2.
Die erste unveröffentlichte Vorlage für eine Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß
über ein gemeinsames Wort der Kirchen “Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland” bezog sich noch auf dieses Gleichnis und sah in ihm ein Beispiel für ein Verhalten, das
Vorsorge nur als die eigene Versorgung, sein eigenes Essen und seine Getränke begreift. “Zukunftsverantwortung muß mehr einschließen, als nur die jeweils eigene Versorgung.” Diese
Erzählung, die wie nur wenige von marktwirtschaftlichem Verhalten spricht, fiel aber dem weiteren Redaktionsprozeß zum Opfer.
Der Anbau von Getreide war der wichtigste landwirtschaftliche Produk1109
tionszweig.
Weizen war das Hauptnahrungsmittel in der Antike, wie
Plinius‟ Aussage belegt: “Nichts ist fruchtbarer als der von der Natur zur
1110
menschlichen Hauptnahrung bestimmte Weizen.”
Ähnlich ein
Midrasch: “Dem Weizen gegenüber ist alles Nebensache, er erhält die
1111
Welt.”
Palästina nennt die Bibel ein Land des Weizens und der Gerste
(vgl. Num 8,8; 2 Sam 17,28; Jes 28,25; Jer 41,8; Joel 1,11; Rut 2,23;
1112
Chron 2,14).
Mit Getreideprodukten, hauptsächlich mit Weizenbrot,
1113
deckte man die Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs.
In der Antike
schwankten die Getreidepreise auch unabhängig von Notsituationen wie
Mißernten erheblich. Durch Verknappung wurde versucht, den Getreide1114
preis hochzutreiben.
Mangellagen und sogar Ernährungskrisen wurden künstlich geschaffen. Die Weizenpreise reagierten deutlich auf
1115
Knappheiten im Angebot, sofern nicht der Staat regulierend eingriff.
In
Notzeiten stieg der Weizenpreis um das 16fache an. Diese Preissteigerung, die für die Bevölkerung Hungersnot bedeutete und den Getreidehändlern enorme Gewinnspannen bescherte, spricht auch ein palästinensische Sprichwort an, das Joachim Jeremias zitiert: “Die Wucherer
beuten die Notlage aus; es ist die Rede von der Regen bringenden „Wolke, die das Unglück der Wucherer (wörtlich: der Ansetzer des Marktprei1116
ses) ist‟.”
Von Rabbi Akiba (50/55 - 135 n. Chr.) stammt die knappe
Definition des Wirtschaftsgesetzes von Angebot und Nachfrage: “Die
Mengen des zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmen wieder ab, so (kehrte) der Markt (will sagen die Preise am Markt)
1117
wieder zu seinem alten Platze (Stand) zurück.”
Cicero verweist bei
der Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten auf eine herrschende Praxis nach den Gesetzen des Marktes: “Das Getreide hat nur
bei Mißernten einen Preis; ist die Ernte reichlich ausgefallen, so verkauft
1118
es sich unvorteilhaft.”
Er spricht hier ein zentrales Gesetz der Marktwirtschaft an: Die Verknappung des Angebotes treibt die Preise hoch.
1109
1110
1111
1112
1113
1114
1115
1116
1117
1118
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 99.
Plinius, nat. hist. XVIII (XXI), 508d, zit. ebd. 101.
Mdr Peiktha Rabbathi zu Ki -Theze X, 35 a, zit. ebd. 297.
Zum Gertreideanbau vgl. die Ausführungen ebd. 99ff; 297ff; vgl. auch: J. Jeremias, Jerusalem
zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte,
3. neubearb. Aufl. Göttingen 1962, 42ff; J. Habbe, Palästina zur Zeit Jesu. Die Landwirtschaft
in Galiläa als Hintergrund der synoptischen Evangelien, Neukirchen - Vluyn 1996.
A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 99.
Zu den Weizenpreisen in der Antike: Ebd. 102, 106.
M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 209.
Gen R. XIII, zit. nach: J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 137f. Dort auch weitere Angaben
zu den Weizenpreisen in normalen Zeiten und auch in Zeiten der Not.
Zit. in A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, XX.
Cicero, Verr II, 3, 227, zit. nach L. Schottroff, W. Stegemann, Jesus, 163, Anm. 33.
373
Dieses Wirtschaftsgesetz von Angebot und Nachfrage war in der Antike
1119
nicht nur bekannt; es wurde auch gezielt eingesetzt.
Die knappen
Hinweise deuten auf marktwirtschaftliche Vorgänge bei der Versor-gung
der Bevölkerung mit Getreide.
Luise Schottroff und Wolfgang Stegemann deuten das Gleichnis vom
reichen Kornbauern als ein Gleichnis, das von einem Getreidespekulan1120
ten handelt.
Auch Aurel von Jüchen stellt sich den Bauern als einen
1121
“üblen Spekulanten”
vor. Die individuelle Bereicherung mit Hilfe der
Gesetze des Marktes macht den Kern des Gleichnisses vom reichen
Kornbauern aus. Der durch Getreidespekulation erworbene Reichtum
soll ein sorgenfreies Leben in Überfluß ermöglichen (Lk 12,19). Der
Kornbauer agiert ökonomisch vernünftig: Er verknappt das Angebot. Diese künstliche Verknappung treibt die Preise hoch. Das ökonomisch vernünftige Verhalten am Markt ist jedoch sozial verheerend. Der ökonomische Knappheitspreis ist unsozial, denn die Armen haben unter dem erhöhten Marktpreis zu leiden. Der reiche Kornbauer zieht aus der Notlage
der Armen seinen Nutzen. Er beteiligt sich jedoch an einem “Wirtschafts1122
verbrechen, das für die antike Wirtschaft von zentraler Bedeutung ist.”
Lukas fällt ein Urteil über das systemlogische Verhalten des Kornbauern
in einer Ökonomie des freien Marktes: Das marktrationale Verhalten
wird ethisch und theologisch als Verbrechen gedeutet. Denn der erwirtschaftete Gewinn stammt aus einer Notlage von Mitmenschen. Lukas
beurteilt das ökonomische Verhalten nach der Logik des Marktes ethisch
und theologisch. Er nennt die Haltung des reichen Bauern “töricht” (Lk
12,20). “Töricht” (hebr. kesil) bezeichnet nicht einen intellektuellen Mangel. Das negativ geprägte Bild des Toren ist nicht zuletzt theologisch geprägt, zumal die Antitypik von “Tor” (hebr. kesil) und “Weiser” (hebr.
hakam) dem Gegensatz von Frevler (hebr. rasa) - dem der “Tor” nahekommt - und Gerechten (hebr. saddiq) entspricht (siehe etwa Spr 10,23;
1123
15,7).
Das Verhalten des reichen Bauern ist als töricht zu bezeichnen,
denn es ist ungerecht und gemeinschaftsschädigend.
1119
1120
1121
1122
1123
374
Gegen E.W. Stegemann, E. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 40. “Das Wechselspiel
von Angebot und Nachfrage, das nach der volkswirtschaftlichen Lehre vom Grenznutzen den
Preis bestimmt, kannten die antiken Menschen nicht.”
L. Schottroff u. W. Stegemann, Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen, Stuttgart, Berlin
1978, 125ff.. Dieser Deutung habe ich mich angeschlossen in meinem Beitrag: “Ich will größere Scheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durch Gerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit,
in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 105114.
A. von Jüchen, Jesus zwischen reich und arm. Mammonworte und Mammongeschichten im
Neuen Testament, Stuttgart 1985, 30.
L. Schottroff, W. Stegemann, Jesus, 126.
M. Saeboe, Art. kesil = Tor, in: THAT, Bd. I., 4. Aufl. München , Zürich 1984, Sp. 838.
Das Gleichnis vom reichen Kornbauern schildert die Folgen des
Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage. Marktwirtschaftlich organisierte Ökonomien beachten prinzipiell nicht die Grundbedürfnisse,
denn sie bekommen nur die Bedürfnisse in den Blick, die mit Geld ausgestattet sind. Mit “Leben”, “Essen”, “Trinken” sind in Lk 12,22 die
Grundbedürfnisse des Menschen angesprochen. Aufgabe der Ökonomie
als System ist die Bereitstellung von Gütern zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Aber erst wenn Geld oder Kaufkraft den Bedürfnissen
zugeordnet werden, entsteht für Marktwirtschaften die realisierbare Größe Bedarf. Auf Bedarf, nicht aber auf Bedürfnisse reagieren die Märkte. “Gottes Abbau der Knappheit durch Gottes Gerechtigkeit schafft einen neuen Menschen, das Geschöpf, das seine Genugtuung darin findet,
Gottes Recht und Gerechtigkeit zu dienen. Der Glaube an den Gott des
„Genug durch Gerechtigkeit‟ befreit den Menschen nicht von jedem Hunger, sondern er verwandelt diesen in den Hunger nach Gerechtigkeit.
Ziel des menschlichen Lebens ist nicht Konsum und nicht Akkumulation,
sondern das Tun der Gerechtigkeit. Alle Bedürfnisse sollten im Hinblick
1124
darauf definiert werden.”
Wenn die Versorgung mit den lebenswichtigen Gütern der Logik des Marktes allein überlassen wird, werden die
Bedürfnisse der Armen vernachlässigt. Gemeinwohlorientierungen sind
einem Denken, das marktwirtschaftlich vernünftig ist, zunächst fremd.
Auf das eingeschränkte ökonomische Ziel der Güterproduktion bezogen,
ist diese Ökonomie effektiv. Sozial gesehen aber ist sie katastrophal.
Nicht die Produktionsleistungen der Weizenernte sind fehlerhaft, sondern
die Verteilungsverhältnisse.
In seiner Rede an die Jünger (Lk 12,22-31) gibt Jesus eine Antwort
auf die herrschende Ökonomie des Marktes, die in der Traditionslinie der
Hebräischen Bibel und der aus der Tora weiterentwickelten mündlichen
Gesetzestradition, dem Talmud, liegt. Zwei Ökonomien mit ihren je eigenen normativen Gehalten stehen sich gegenüber. Lukas verbindet die
Gleichniserzählung vom reichen Kornbauern durch ein “Deswegen” (Lk
12,22) mit der folgenden Anweisung zu einer ökonomischen Alternative
an die Jünger. “Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, daß ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und
darum, daß ihr etwas anzuziehen habt” (Lk 12,22). Jener Ökonomie als
Umgang mit Knappheit, wie sie der reiche Kornbauer praktiziert, setzt
Jesus in seiner Rede an die Jünger eine Ökonomie als Umgang mit Vertrauen gegenüber. Die Mahnung zur Sorglosigkeit will nicht zur einer
Sorglosigkeit anhalten, die die Probleme der Existenzsicherung zurückstellt, sondern weist auf Gott hin, der wie ein guter Ökonom für die
1124
D.M. Meeks, God the economist, 177, eigene Übersetzung.
375
Schöpfung sorgt. “Euer Vater weiß, daß ihr das alles braucht. Euch jedoch muß es um sein Reich gehen; dann wird euch das andere dazugegeben” (Lk 12, 30f.). Das Wirtschaften aus Vertrauen auf den Schöpfer
orientiert sich am Reichtum der Schöpfung. Von dieser Voraussetzung
aus wird die Frage gestellt nach der gerechten Verteilung dessen, was
1125
vorhanden ist.
Die Sorglosigkeit steht für das Paradigma der Ökonomie des Vertrauens. Die Sorge soll sich deswegen nicht auf die Knappheit beziehen, sondern auf die Gerechtigkeit. Das Reich Gottes hebt die
Sorgen auf, die mit der Ökonomie aus Knappheit gegeben sind. Erwartet
wird die Befriedigung der Lebensbedürfnisse vom Reich Gottes, in dem
die Ökonomie nach den Weisungen der Tora zum Zuge kommt.
Das Gleichnis und die daran anschließende Rede Jesu schildern zwei
alternative Ökonomien mit ihren jeweils konkurrierenden normativen Absichten: Die Ökonomie der Bereicherung (Lk 12,16-21) steht gegen die
Ökonomie des Vertrauens auf die Fülle der Schöpfung (Lk 12, 22-31).
Anders gesagt: Sich gegenüber stehen die normative Logik des Marktes
und die normative Logik einer Ökonomie des Vertrauens.
Innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems treibt der reiche Kornbauer sachgerecht Ökonomie. Er folgt der normativen Logik des Marktes. Ein so verstandenes ökonomisch vernünftiges Verhalten ist jedoch
nach dem Urteil der Tora “tödlich”: Der reiche Kornbauer stirbt (Lk
12,20f). Die Tora setzt einen Bezugsrahmen für ein lebensdienliches
ökonomisches Handeln: Wirtschaften ist nicht eine Veranstaltung zur
Gewinnerzielung, sondern hat für gerechte Produktion und Distribution zu
sorgen. Ökonomisch vernünftig ist nach der Urteil der Bibel nur ein ökonomisches Verhalten, welches das Lebensrecht der Armen sichert und
einbezieht. Der Kornbauer und Weizenspekulant ist ein Mann, der die
ökonomisch vernünftigen Anweisungen der Tora zu gerechtem Wirtschaften mißachtet hat und Ökonomie wie die “Heiden” treibt (Lk12,30).
Die Tora wie auch das Gleichnis vom Kornbauer befaßen sich mit den
Grundstrukturen einer Marktökonomie, die seit der Antike bis in die Gegenwart die gleiche geblieben ist: Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Marktwirtschaft, deren Triebfeder das Gewinnstreben ist. Die forderte
ökonomische Tugend in dieser Ökonomie ist die Habsucht. Vor ihr warnt
Jesus ausdrücklich in der Einleitung zu dem Gleichnis (Lk 12,15). Die
Habsucht ist dort rational und verständlich, wo von einer Knappheit ausgegangen wird, die individuelle und auf Kosten anderer überwunden
werden soll (vgl. Lk 12,19). Sie ist Anreiz zu einem erfolgreichen Verhalten im Rahmen dieser Ökonmie der Bereicherung. Bereicherung ist auf
den eigenen Nutzen bedacht, sogar dann wenn er sich aus Nachteilen
1125
376
Vgl. die Ausführungen dazu in Abschnitt 4.2.2 und 4.4.4.
anderer ergeben sollte. Der Kornbauer registriert seinen Nutzen: “Ruh
dich aus, iß, trink, und freu dich des Lebens” (Lk 12,19). Das Gegenbild
geht von einer Ökonomie aus, die von der vorhandenen und anvertrauten Fülle der Schöpfung ausgeht. Hingewiesen wird auf die Raben, die
nicht säen und doch ernten (Lk 12,24), auf die Lilien, die nicht arbeiten
und doch prächtig gekleidet sind (Lk 12, 26). Eine Ökonomie, die sich die
Fülle der Schöpfung zum Leitbild nimmt, erfordert eine andere ökonomische Tugend als die Ökonomie der Bereicherung: Nicht die Sorge um die
Überwindung der Knappheit, sondern die Sorge um das Reich Gottes,
1126
also um eine Ökonomie nach der Weisung Gottes (Lk 12,31).
Während in der Ökonomie der Bereicherung eigennützige Konkurrenzbeziehungen um die knappen Güter gelten, ist die Ökonomie aus Vertrauen
auf die Schöpfung von solidarischen Beziehungen derer geprägt, die
haushälterisch mit der ihnen gemeinsam anvertrauten Schöpfung umgehen.
Welche Leitlinien für die Ökonomie der Tora Geltung hatten, können
folgende Bestimmung des Talmud verdeutlichen, die ein Verbot des
Speicherns von Grundnahrungsmitteln aussprechen.
Man darf keine Früchte (d.h. Getreide), Dinge, die als Lebensmittel dienen,
z.B. Wein, Öl und Mehl aufspeichern, wohl aber Gewürze, Kümmel, Pfeffer, die die nicht lebensnotwendigen Dinge repräsentieren. Dies gilt nur
von einem Einkauf auf dem Markt, bei der eigenen Ernte aber ist es erlaubt: Man darf im Israellande Früchte (Getreide) für drei Jahre aufspeichern: für das Vorjahr des Siebentjahres (im Siebentjahr ist die Bestellung
des Feldes verboten, und die nächste Ernte ist erst am Ende des zweiten
Jahres nach Beginn des Siebentjahres zu erwarten), für das Siebentjahr
1127
und für das Nachjahr des Siebentjahres (...).
Das Verbot, Getreide zu speichern, spricht sich nicht gegen eine vernünftige Vorratshaltung aus, sondern will verhindern, daß durch Speichern und Zurückhaltung von Gütern der Marktpreis steigt. Nicht der
Markt soll über den Zugang zu lebensnötigen Gütern entscheiden dürfen.
Das, was der Mensch unbedingt zu seiner Existenz braucht, soll nicht einem Marktpreis unterworfen werden. Denn letztlich würde dies bedeuten,
daß der Markt über die Zuteilung und den Zugang zu lebenswichtigen
Gütern entscheidet. Diese Talmudbestimmung regelt durchdacht und
rechtlich detailliert, wie sich der Preis für Grundnahrungsmittel bilden soll:
Der Preis für die Grundnahrungsmittel darf kein Marktpreis sein, der sich
nach Angebot und Nachfrage richtet. Anders die sogenannten Luxusgüter wie Gewürze, Kümmel, Pfeffer. Diese Güter gehören nicht zum absoluten Existenzminimum, deshalb können deren Preise sich am Markt bil1126
1127
Nähere Ausführungen zu einer Ökonomie der Fülle unterAbschnitt: 4.2.2.3.
TB Baba Bathra 90b, zit. nach: A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 212.
377
den. Zusätzlich regelt der Talmud genau, wie mit dem Sabbatjahr umzugehen ist. Steht ein Sabbatjahr bevor, dann ist Speichern in einer solchen Höhe erlaubt, daß für das Sabbatjahr selber und für die Aussaat
nach dem Sabbatjahr genug Getreidegut vorhanden ist. Das Verbot, die
Grundnahrungsmittel zu horten, soll der Gesellschaft einen marktunabhängigen Preis für diese Lebensmittel sichern. Dadurch soll gewährleistet werden, daß der Lebensunterhalt und die Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln nicht den Gesetzen des Marktes ausgeliefert sind. Gerade dies aber hat der reiche Kornbauer getan. Er zieht seinen Nutzen
aus einem marktwirtschaftlichen Verhalten, das der Ökonomie der Tora
widerspricht.
Eine weitere Regelung des Talmud, die für unseren Zusammenhang
wichtig ist, reguliert den Handel. Der Zwischenhandel wird ausgeschaltet.
Auch diese Bestimmung will eine Versorgung der Bevölkerung zu einem
Preis ohne einer gewinnbringenden Handelsspanne sichern:
Man darf im Israellande an Dingen, die als Lebensmittel dienen, zum Beispiel Wein, Öl und Mehl, nichts verdienen (d.h. der Zwischenhandel ist
verboten und die Produzenten haben direkt an die Konsumenten zu verkaufen). Man erzählt, daß Rabbi Elasar ben Assarja an Öl und Wein verdiente. Hinsichtlich des Weines war er der Ansicht Rabbi Jehudas (der
meinte, der Weingenuß in Israel sei zu beschränken); Öl war in der Ortschaft des Eleasar genügend vorhanden (so daß er durch seinen Verdienst den Preis nicht in die Höhe trieb). Die Rabbinen lehren: Man darf an
Eiern nicht doppelt verdienen. Mari bar Mari sagte: Hierüber streiten Rab
und Schmuel: einer erklärt „eines auf zwei‟(d.h. unter “doppelt” ist der Verkauf zu doppeltem Preis zu verstehen) und der andere sagt: Ein Kaufmann
an einen anderen Kaufmann - d.h. der Wiederverkauf ist verboten, da
1128
hierdurch zweimal verdient wird.
Der Zwischenhandel ist also verboten, erlaubt ist nur der Direktverkauf. Der Talmud gibt hier einen Streit der Rabbinen wieder und belegt
dadurch, daß um eine Anpassung der ursprünglichen Intention an veränderte sozio-ökonomische Verhältnisse gerungen wurde.
In der Tradition der Tora steht die Marktregulierung, wie sie hier der
Talmud fordert: ein durch Knappheit hervorgerufener Preis und eine
preistreibende Handelsspanne bei Zwischenhandel für Grundnahrungsmittel soll außer Kraft gesetzt werden. In dieser regulierenden Einschränkung schlägt sich eine jahrhundertelange Erfahrung der biblischen
Überlieferungen mit den Mechanismen des Marktes nieder. Die biblische
Tradition hält ein Wissen darüber bereit, daß eine reine Marktökonomie
1128
TB Baba Bathra 90b, zit. ebd. 212. Festgegt haben die Rabbinen die Gewinnspanne, die als
Übervorteilung zu bezeichnen ist. Wenn sie ein Sechstel des Einstandspreises (=16,6%) übersteigt, dann kann ein Handel als unerlaubt annuliert werden. Vgl. ebd. 211.
378
den ökonomischen Zwecken, nämlich der Güterherstellung und Güterverteilung zum Nutzen aller, nicht gerecht werden kann. Aus dieser Erfahrung zieht die Tora die Konsequenz, die Möglichkeiten des Marktes zu
nutzen und seine negativen Effekte auszuschalten. Maßnahmen wurden
also getroffen, die einerseits die Gewinnspanne aus dem Handel begrenzten und andererseits den Handel mit lebenswichtigen Produkten
regelten. Deshalb sollten die Marktprozesse dadurch sozial reguliert werden, daß der Preis der lebensnotwendigen Güter und die Versorgung der
Gesellschaft mit Gütern nicht allein über den Markt, sondern auch über
den Bedarf gesteuert wurde. Diese Regulierungen der Tora sind in direkter Auseinandersetzung mit den Mechanismen einer Marktwirtschaft entstanden; sie wollen eine Logik der Humanität gegen ökonomische Gewinninteressen durchhalten, setzen ethische Ziele gegen vermeintlich
ökonomische Sachzwänge und entwickeln praktikable Instrumentarien
gegen negative und unsoziale Effekte eines freien Marktes. Darin zeigt
sich die Absicht, ökonomische Vorgänge in die Gestaltungsverantwortung des Menschen zu geben.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Gleichnisrede vom reichen
Kornbauern und die anschließende Mahnung an die Jünger stehen in der
Tradition der ökonomischen Leitlinien der Tora und lassen sich auch in
jene Leitlinien einordnen, die sich in den ökonomischen Regulierungen
des palästinensischen Talmud niederschlagen. Zentrales Kriterium ist die
Lebensdienlichkeit der Ökonomie, die sich gegenüber den Armen erweisen muß. Hier wird das wirtschaftliche Leben keinesfalls lediglich “mit
1129
einfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages”
betrachtet,
wie Ernst Troeltsch die ökonomischen Vorstellungen in Jesu Predigt charakterisiert, sondern in der Tradition der Tora werden Grundhaltungen
dargelegt, die wirtschaftspraktisch sind und zu einem ökonomischen
Verhalten anleiten sollen, das eine Alternative zur herrschenden Ökonomie darstellte.
9.4.2 An Gerechtigkeit und Partizipation gebundene Freiheit
Freiheit gilt als Markenzeichen des herrschenden Wirtschaftssystems.
Die Bibel kennt einen zweifachen Begriff von Freiheit. Der Exodus ist
das Symbol der äußeren Freiheit, der Sabbat das der inneren Freiheit.
“Kein politischer, sozialer und ökonomischer Exodus aus Unterdrückung,
Deklassieren und Ausbeutung führt wirklich in die Freiheit einer menschlichen Welt ohne den Sabbat, ohne das Lassen aller Werke, ohne die
1129
E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), 46.
379
Ruhe findende Gelassenheit in der Gegenwart Gottes. (...) Exodus und
Sabbat gehören also untrennbar zusammen. Sie ergänzen sich notwendig. Sie verkommen und führen nicht zur Freiheit, wenn sie getrennt werden und nur der eine von ihnen zur Grundlage der Freiheitserfahrung
1130
gemacht werden soll.”
Wie Exodus und Sabbat untrennbar verbunden
sind, so gehören auch Gerechtigkeit und Freiheit zusammen. Benno Jacob nennt den Sabbat ein “Zeichen der sich selbst bestimmenden Frei1131
heit” . Diese untrennbare Verbindung zwischen Gerechtigkeit/Exodus
und Freiheit/Sabbat enthält eine Wertentscheidung, die wirtschaftsethisch von Belang ist. Begrenzung ökonomischer Freiheiten und Ansprüche ist eine wirtschaftsethische Grundkategorie der Tora: das Sabbatgebot begrenzt die Ausnutzung von Arbeit, das Sabbatjahr begrenzt
die Ausnutzung des Bodens, das Jobeljahr begrenzt die Akkumulation
von Boden und Reichtum, das biblische Eigentumsrecht begrenzt die privaten Verfügungsrechte - generell: nicht Freiheit für eine Eigenlogik der
Ökonomie, sondern Freiheit für eine Logik der Humanität durch Begrenzung der ökonomischen Dynamik.
Die Effizienz der Marktwirtschaft muß aus ökonomischen und auch
aus ethischen Gründen genutzt werden, um Märkte zu organisieren. Am
Markt vorbei getroffene wirtschaftliche Entscheidungen werden bestraft.
Das zwingt zu ökonomischer Effizienz. Wofür Bedarf besteht, was produziert werden soll, was angeboten werden soll, kurz die Allokationsfunktion des Marktes (nämlich die Steuerung der Ressourcen nach den Bedürfnissen), kann sehr wohl über Preise und marktwirtschaftliche Prozesse angezeigt werden. Marktwirtschaften sind ökonomisch effizient,
sozialethisch jedoch erst erträglich, wenn sie gesellschaftlich eingebettet
sind und sozialethischen Impulsen wie Freiheit und Gerechtigkeit Geltung verschaffen. Aus ethischen Gründen sind deshalb zwei Prämissen
zu beachten: Einerseits ist die moderne, komplex arbeitsteilig organisierte Wirtschaft aus Gründen des Effizienz und der Koordinationskapazität
auf wesentliche Elemente marktwirtschaftlicher Systemsteuerung angewiesen, andererseits muß Ökonomie immer aus Gründen der
Lebensdienlichkeit prinzipiell den Charakter eines Subsystems der Gesellschaft haben und sich deshalb der Gesellschaft unterordnen. Diese
beiden Prämissen nennt der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich treffend die
funktionale Prämisse des Marktes und die normative Prämisse des Vor1132
rangs der Ethik vor der Logik des Marktes.
Wirtschaftsethisch gesehen müssen beide Prämissen beachtet werden.
1130
1131
1132
380
J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, 3. Aufl. München 1987,
289f.
B. Jacob, Das Buch Exodus, 573.
P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 333f.
Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz proklamiert jenseits der Fundamentalalternative Marktwirtschaft oder Planwirtschaft ein
Freiheitspostulat: Das demokratische Recht aller Wirtschaftssubjekte auf
Beteiligung (Ziff. 28). Aus freiheitsethischen Motiven ist “die Soziale
Marktwirtschaft als eine demokratische Wirtschaft zu gestalten” (Ziff.
195). Die Demokratiefähigkeit der Marktwirtschaft muß folglich in “Leit1133
ideen einer republikanischen Ethik des modernen Wirtschaftsbürgers”
ihren Ausdruck finden. Politische Bürgerrechte und Wirtschaftsbürgerrechte gehören zusammen, wenn das Demokratieprojekt der Moderne
nicht unvollendet abgebrochen werden soll. Die neuzeitliche Vorstellung
politischer Freiheitsrechte findet in wirtschaftlich-sozialen Rechten ihre
Ergänzung. Wirtschaftsbürgerrechte haben nicht nur partizipative Momente der Mitsprache und Mitbestimmung. Die Idee des Wirtschaftsbürgers will in aktiven Teilhaberechten auch eine Entsprechung zur angemessenen Verteilung des Sozialproduktes einlösen. Teilhabe und Beteiligung sind eine Form der Gerechtigkeit. “Die Frage der Gerechtigkeit hat
auch mit der Verteilung von Macht zu tun” (Ziff. 155). Die einzelwirtschaftliche Produktion in einer Marktwirtschaft steht unter einer doppelten Kontrolle: Zwang zur ökonomischen Effizienz und zur Zustimmung
der beteiligten Wirtschaftssubjekte.
Diese an Gerechtigkeit gebundene Freiheit unterziehen die Neoliberalen einer Schmähkritik. “Wahr ist (...), daß eine soziale Marktwirtschaft
keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtig1134
keit - und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist.”
Milton Friedman, Schüler von Hayek, sah die westlichen Marktwirtschaften vor 1989 in einer doppelten Bedrohung ihrer Freiheit: von außen
durch die “Männer im Kreml” und durch eine “Bedrohung von innen, die
von den Menschen mit guten Absichten und gutem Willen ausgeht, die
1135
uns zu reformieren wünschen.”
Die Protagonisten des ökonomischen
Mainstreams des Neoliberalismus verstehen jeden ethischen und sozial, gesellschafts- oder ordnungspolitischen Impuls als Bedrohung der Freiheit in einer Marktwirtschaft. Friedrich August von Hayek spricht von der
Notwendigkeit, daß beim Marktgeschehen, in dem “die Wirkungen der
Handlungen eines jeden weit über seinen möglichen Gesichtskreis hinausreichen, der Einzelne sich den unpersönlichen und scheinbar unver1136
nünftigen Kräften der Gesellschaft unterwirft.”
Freiheit wird also von
den extremen Neoliberalen in eine Freiheit zur Unterwerfung unter den
1133
1134
1135
1136
P. Ulrich, Moral in der Marktwirtschaft, in: Evangelische Kommentare 2/1992, 89.
F.A. von Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, Tübingen 1979, 16.
M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 257.
F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus, 39.
381
Markt umgedeutet. Dem Neoliberalismus liegt ein Freiheitsverständnis
zugrunde, nach dem Freiheit in der Hinnahme von Marktprozessen und
dem Ausführen von Sachgesetzmäßigkeiten besteht. Die Neoliberalen
reduzieren den Freiheitsbegriff auf ökonomische Freiheit. Nach Milton
Friedman macht diese wirtschaftliche Freiheit “einen bedeutenden Teil
1137
der ganzen Freiheit”
aus. Die durchaus anzuerkennende Verteidigung
der Freiheit des einzelnen wird durch die Verengung auf die ökonomische Freiheit jedoch höchst zweifelhaft. In modernen Industriegesellschaften lebt der größte Teil der Menschen in abhängigen Arbeitsverhältnissen. Ihre Freiheitsrechte jedoch werden von den neoliberalen Verteidigern der Freiheit nie zum Thema gemacht. Das Freiheitspostulat der
Neoliberalen verdient nicht deshalb Kritik, weil sie die Freiheit zu sehr in
das Zentrum rücken, sondern weil sie ein ökonomisch reduziertes Freiheitsverständnis haben.
Trotz der systemtheoretischen Behauptung einer Entsprechung von
Freiheit und Markt kennt die Marktwirtschaft von sich aus keineswegs eine reale Freiheit aller beteiligten Wirtschaftssubjekte. Sie hat nur ein Interesse an den Freiheitsrechten der Unternehmerseite. So behandelt das
geltende Recht der Unternehmensverfassung allein das Unternehmen
1138
und nicht die Arbeitnehmer als Mitglieder eines Unternehmens.
Das
Unternehmen ist jedoch nicht nur ein Ort der Herstellung von Gütern
oder Dienstleistungen, sondern ein Sozialprozeß, in dem Menschen in
einem Verbund stehen. Erst eine Unternehmensverfassung, die allen, die
am Sozialprozeß der Gütererzeugung beteiligt sind, reale mitgestaltende
Freiheitsrechte zugesteht, wird dem Demokratieanspruch der Verfassung
1139
und dem Freiheitsanspruch der Marktwirtschaft gerecht.
Demokratisierung der Wirtschaft ist ein Weg, die politischen Freiheitsrechte des
Bürgers zu Freiheitsrechten des Wirtschaftsbürgers zu erweitern und mit
wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten auszustatten. Erst die durchgehende Beteiligung aller Wirtschaftssubjekte - und eben auch der Arbeitnehmer - an den Entscheidungsprozessen am Arbeitsplatz, im Betrieb und Unternehmen - löst das Postulat der Demokratieverträglichkeit
1140
auch der Sozialen Marktwirtschaft ein.
1137
M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 29.
Das Zweite Vatikanische Konzil versteht das wirtschaftliche Geschehen als einen Prozeß, in
dem “Personen miteinander im Verbund stehen” (Gaudium et spes 68, Abs.1 Satz 1). Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes fordert die “aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung” (Gaudium et spes 68, Abs. 1 Satz 2). Nicht unähnlich heißt es in den “Sozialethischen Erwägungen zur Mitbestimmung” der EKD vom 8.11.1968: “Der Christ versteht das
partnerschaftliche Verhältnis zwischen sozialen Gruppen als Ausdruck der gegenseitigen Achtung und des gemeinsamen Dienstes” (Ziff. 5, Abs. 3).
1139
Vgl. dazu die Ausführungen oben Abschnitt 9.1.4 zu Rechte aus Arbeit.
1140
Vgl. F. Segbers, Markt und Teilhabe, 195f.
1138
382
Mit der Neuen Technologie und Mikroelektronik hat sich in den Unternehmen ein demokratiefreundlicher Trend durchsetzen können, der dezentrale Führungsstrukturen und Autonomie an die Stelle hierarchischer
Systeme gesetzt hat. Diese neuen Partizipationsformen sind nicht den
mit dem Eigentum verbundenen Rechten abgerungen worden, sondern
sind ein Führungsinstrument, das vom Management selbst installiert
wurde. Das Management hatte erkannt, daß autoritäre Führungsmuster
kostenträchtiger sind als Organisationsformen, die partizipativ Gestaltungs- und Autonomieräume erschließen, da Motivation und Kreativität in
komplexen Unternehmensorganisationen Kostenvorteile verschaffen und
sich in einem Kosten-Nutzen-Kalkül rechnen. Soweit Motivation und Kreativität durch Demokratisierung unternehmensstrategisch genutzt werden, sind sie letztlich Marktimperativen untergeordnet. Demokratie jedoch besitzt einen Selbstwertcharakter. Das Verständnis von Demokratie, wie es sich in der Moderne entfaltet hat, besitzt stets eine Bedeutung,
die nicht funktionalisiert verengt werden darf. Diese betrieblichen und unternehmenspolitischen Konzeptionen, die Partizipations- und Autonomieräume verschaffen, sollten nicht gleich mit Demokratisierung in Zusammenhang gebracht werden. Denn unternehmenspolitische Modelle, die
demokratische Spielregeln nur für funktionale Zwecke einsetzen und gewähren, entwickeln von sich aus noch nicht das Demokratisierungsprojekt weiter. Wichtiges Kriterium für diese neuen Führungsstrukturen ist, ob sie das Demokratisierungsprojekt weiterbringen.
Der vorhandene demokratiefreundliche Zug bietet einen Ansatz für eine
tatsächliche Demokratisierung, die über die funktionalistische Nutzung
von Teilhabe und Mitgestaltung hinausreichen kann. Die demokratiefreundlichen Ansätze in den Unternehmen sind deshalb als Chance für
die Entwicklung einer demokratischen Lebenswelt, die der Autonomie
und Partizipation Raum gibt, zu nutzen.
Die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nach Alfred MüllerArmack orientiert wirtschaftliches Handeln an den “zwei großen Zielen
(...) der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit”: “Bloße Freiheit könnte
zu einem leeren Begriff werden, wenn sie sich nicht mit der sozialen Gerechtigkeit als verpflichtender Aufgabe verbände. So muß die soziale Gerechtigkeit mit und neben der Freiheit zum integrierenden Bestandteil un1141
serer zukünftigen Wirtschaftsordnung erhoben werden.”
Zwischen
marktwirtschaftlicher Effizienz, den wirtschaftlichen Impulsen der Freiheit
und Gerechtigkeit besteht hier kein Gegensatz. Sie bedingen sich vielmehr gegenseitig und werden gleichrangig nebeneinander gestellt. Das
Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen thematisiert auch die Frage des
1141
A. Müller-Armack, Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, in: ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, 2. Aufl. Bern-Stuttgart 1981, 96.
383
Verhältnisses von Sozialem und Wirtschaftlichem. Es wendet sich gegen
die Kurzbenennung “Sozialwort” (Ziff. 6). Um beides, um wirtschaftliche
und soziale Belange, soll es gehen. Im Wirtschafts- und Sozialwort heißt
es: “Verteilt werden kann nur das, was in einem bestimmten Zeitraum an
Gütern und Dienstleistungen erbracht worden ist” (Ziff. 6). Die hier formulierte Nachrangigkeit des Sozialen gegenüber dem Wirtschaftlichen nennen Karl Gabriel und Werner Krämer “eine Verkehrung der Präferenzen
(...): Wirtschaftliche Rationalität und ihre Werttheorie erhalten eine Priori1142
tät vor dem Entwickeln von schöpferischen sozialen Kräften.”
Bereits
Alexander Rüstow hatte sich diese Position zueigen gemacht, nach der
die Ökonomie sich in den Dienst höherer, außerökonomischer Werte zu
stellen habe: “Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen (d.h. religiösen,
ethischen, kulturellen, F.S.) Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft
zu stellen. Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich
1143
in den Dienst dieser Forderungen zu stellen.”
Ausdrücklich wendet
sich Rüstow gegen eine Anschauung, die eine Moral des Marktes bereits
darin ausmacht, daß der Markt ökonomisch effizient sei. Kennzeichen
einer “Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit” - so auch der Titel des
Beitrag von Rüstow - , ist der Primat einer Logik der Humanität und des
Sozialen vor der Logik der Wirtschaftsinteressen. Die Bedeutsamkeit
dieses Primats müsse sich nach Rüstow an folgendem Kriterium beweisen: “Wir müßten bereit sein und wären bereit, für das aus überwirtschaftlichen Gründen vorzugswürdige Wirtschaftssystem auch dann einzutreten, wenn es weniger produktiv wäre als andere. Wir wären bereit
1144
und müßten bereit sein, dafür auch wirtschaftliche Opfer zu bringen.”
Im Konflikt zwischen den Ansprüchen der Humanität und den Wirtschaftsinteressen sei ein klarer Vorrang einzuräumen, “daß die Wirtschaft in allen Punkten und durchweg in den Dienst überwirtschaftlicher
Werte gestellt werden muß, und daß im Konfliktfall diese überwirtschaft1145
lichen Werte den Vorrang verdienen.”
Der Unterschied zu MüllerArmack ist offensichtlich. Diese Grundhaltung wird auch von NellBreuning geteilt, wenn er den Satz kritisiert, daß eine gute Wirtschaftspolitik die beste Sozialpolitik sei. Diese Aussage stelle die Dinge auf den
Kopf. Richtig sei vielmehr: “Ob eine Wirtschaftspolitik gut oder schlecht
ist, bestimmt sich danach, wieviel oder wie wenig sie beiträgt zu einer befriedigenden, an ethischen-kulturellen Maßstäben gemessen positiv zu
1146
bewertenden Gestaltung des sozialen Lebens.”
Kritisch zu befragen
1142
1143
1144
1145
1146
384
K. Gabriel u. W. Krämer (Hg.), Vorwort, in: dies., Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt, 9.
A. Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, 78.
Ebd. 79.
Ebd. 87.
O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 96.
ist die gleichwertige Betonung des Ökonomischen und des Sozialen, von
der Alfred Müller-Armacks Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ausgeht.
Sie sichert nicht die Lebensdienlichkeit der Ökonomie. Der Vorrang der
Arbeit vor dem Kapital meint das Kriterium der Lebensdienlichkeit angesichts der Ansprüche der Ökonomie. Da das Ökonomische nur einen instrumentellen Wert darstellt, der eine Funktion gegenüber dem Sozialen
hat, muß eine am Vorrang der Arbeit orientierte lebensdienliche Ökonomie im Konfliktfall institutionell sichern, daß das Soziale das Ökonomische regieren kann. Im Ringen um einen Vorrang dessen, was dem Leben dient, wird ein unabgeschlossener Prozeß ausgelöst, in dem um das
Optimum gestritten wird.
9.5 Fünfter wirtschaftsethischer Impuls: Sorgsam haushalten
Der Begriff Ökonomie besteht aus den beiden griechischen Begriffen
oikos (die häusliche, gemeinschaftliche Produktionseinheit) und “nómos”
(das Gesetz). Der Oíkos benennt den Ort, an dem produziert wird;
nómos gibt Auskunft darüber, wie produziert wird. “Nomos gehört etymo1147
logisch zu nemoo, zuteilen.”
Nemoo (= zuteilen) wurde fast synonym
mit dikaion (= gerecht) verwendet. Ökonomie teilt somit den zu einem
Produktionsverband (oikos) Gehörenden das Vorhandene nach dem
1148
Maßstab der Gerechtigkeit (nómos) zu.
Aufgabe der Ökonomie ist es,
allen einem Sozialverband zugehörenden Menschen Güter und Arbeit
gerecht zuzuteilen. Daß diese ökonomische Zielrichtung auch in der
Ökonomik diskutiert wird, zeigt Jürgen Seifert in seiner Kritik des Gutachten des Sachverständigenrates der Bundesregierung:
“Die Bundesrepublik kann sich die Dominanz eines begrenztökonomischen Ansatzes nicht mehr leisten. Sie braucht eine Ökonomie
auch für das soziale Ganze und auch für den Haushalt der Natur. Es
geht um eine Ökonomie, die nicht das Ökonomische verabsolutiert, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes „oíkos‟ (Haus) für das „ganze
1147
1148
Th. Kleinknecht, Art. nomos, in: ThWNT IV, 1942, 1016 sowie 1017, Anm. 1.
Der Sache nach wird in diesem Abschnitt das behandelt, was zumeist mit “Nachhaltigkeit” bezeichnet wird. Ich habe jedoch das Attribut “sorgsam” vorgezogen, um den Verantwortungsaspekt zu unterstreichen. Ökonomie hat es von der Sache und dem Begriff her mit einer Sorge zu
tun: mit gerechter Verteilung und sorgsamem Umgang bei der Herstellung von Gütern. Der
Begriff “Nachhaltigkeit” ist zu disparat und bezeichnet diametral gegensätzliche Anliegen.
Vgl. die Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie: Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, hg. von BUND und Misereor, Basel 1996; U Steger, Konsens ohne Wert, in: Die Zeit vom 8.9.1995, 26. Vgl. auch: E. U. von
Weizsäcker, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt,
4. akt. Aufl. Darmstadt 1994, 121, 180f.
385
Haus‟ sorgt, also für die Arbeitslosen ebenso wie für die Umwelt, für die
Alten ebenso wie für die Jugend, für die Gesundheit ebenso wie für die
Verteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern. (...) Es geht um eine
1149
Ökonomie, die das soziale Ganze im Blick hat.”
Eine am Leitbild des
Hauses orientierte Ökonomie wird in einen Zusammenhang mit der Lebenswelt gebracht. Oskar Negt betont zu Recht, daß dieser Ökonomie
ein Menschenbild zugrunde liege, das den alltagsweltlichen Erfahrungen
und Wünschen der Menschen nach gegenseitiger Achtung und Aner1150
kennung entspreche.
9.5.1 Ökonomie als Haushaltsökonomie
Die Tora-Ökonomie versteht sich als Fürsorge für das anvertraute Leben
in dem einen Welten-Haus für Menschen und Mitwelt. Die Erde ist der
oikos, das gemeinsame Haus; Gott ist der Haushalter, der den Menschen Weisungen zu einem haushälterischen Verhalten gibt, und die To1151
ra ist die Hausordnung, der nómos.
Dieses Reden von Gott als Ökonomen eröffnet auch den Zugang zu einem neuen ökonomischen Wertbegriff. Wie oben bereits ausführlich dargestellt, ist Ökonomie nach dem
Verständnis der Tora ein Umgang mit Vertrauen auf die gegebene Fülle
der Schöpfung und kein Umgang mit Knappheiten, die es zu beheben
1152
gilt.
Diese unterschiedlichen ökonomischen Prämissen haben weitreichende Folgen. Die Ökonomie seit Adam Smith gilt für die Ökonomie
nach dem Verständnis des Aristoteles und der Tora als eine Fehlform
oder allenfalls Grenzform der Ökonomie. Und umgekehrt: Die Ökonomie
der Tora und auch die des Aristoteles ist keine Ökonomie im Verständnis
1153
von Ökonomie seit Adam Smith.
Von der oikonomía des Aristoteles
blieb nur der Name Ökonomie. In der oikonomía des Aristoteles handeln
die Menschen sorgend, sie haben die anderen und die Mitwelt im Blick;
in der Ökonomie seit Smith sind sie eigennützig und allein auf ihren Vorteil bedacht. Nur eine Ökonomie, deren Ziel die Versorgung mit nützlichen und notwendigen Gütern ist, verdient nach Aristoteles die Bezeich1149
1150
1151
1152
1153
386
J. Seifert, Wir brauchen eine “Ökonomie für das ganze Haus”, in: vorgänge 28(1989) 2, S. 25,
zit. in: O. Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft, 6.
O. Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft, 9.
Von Gott im Zusammenhang mit “Ökonomie” zu reden, entspricht nicht nur dem biblischen
Zeugnis, sondern ist auch der altkirchlichen Theologie vertraut, wenn sie von Heilsökonomie
spricht. Leider jedoch wurden diese in der Dogmenschichte vorhandenen Begriffe nicht mehr
so weiterentwickelt, daß sie in eine Beziehung zu dem gebracht wurden, was heute mit Ökonomie gemeint ist.
Vgl. die Ausführungen oben in den Abschnitten 4.2.1;4.2.2; 4.4.4 sowie 9.4.1.
G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 214.
1154
nung “naturgemäß” . Ökonomie ist also nach dem aristotelischen
Verständnis auf den gesellschaftlichen Zweck der Güterversorgung
hingeordnet. Karl Polanyi nennt “die Trennung einer separaten wirtschaftlichen Zielsetzung von den gesellschaftlichen Beziehungen, denen sol1155
che Grenzen und Schranken eigen waren,”
den Bruch zwischen beiden Konzeptionen von Ökonomie. Die Ökonomie begann, sich aus der
Lebenswelt zu lösen, entwickelte eine Eigendynamik, die schließlich zu
einer “Kolonisierung der Lebenswelt” (J. Habermas) führte.
1154
1155
Aristotles, Politik, 8 p 1256 b 27.
K. Polanyi, The Great Transformation, 86.
387
Den Bruch kann das folgende Schema verdeutlichen:
1156
Ökonomie
Was will Ökonomie?
Ökonomie dient der Beschaffung, Versorgung und Verteilung von
Gütern und Dienstleistungen zum Lebensunterhalt.
Gängige Vorstellung:
Ziel:
Grundprinzip:
Fertigkeit:
Ökonomische
“Tugend”:
Instrumente:
1156
388
Tora-Ökonomie:
Ökonomie der Sorge
- unterentwickelt, primitiv
- Versorgung mit den
Gütern
- Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse
- Gebrauch der Güter
für ein gutes Leben
Ökonomie der Moderne
Ökonomie des Marktes
- modern, entwickelt
- Güterversorgung
- Befriedigung von Nachfrage
- Kapitalerwerb; Geldvermehrung
- Wachstum
- wachsender Wohlstand
- Versorgung mit Gü- Eigennutz
tern
- Wachstum
- Ökonomie als “Kunst” - Trennung der Ökonomie
von ethischen Erwägun- ethische Orientierungen
gen: Gerechtigkeit und
Maß
- Ökonomie als Sachzwang
- Maßhalten
- Sachzwangdenken
- Ökonomie als Sorge - Eigennutz
- solidarische Sozial- Konkurrenzbeziehungen
beziehungen
- Produktion von Ge- Markt zum Austausch
brauchsgütern des
von Gütern
Lebens, Kreislaufwirt- - Handel
schaft ohne oder mit - Kapital/Geld/Zins zur
nur geringem FernKapitalbeschaffung für
handel
Investitionen
- Wettbewerb durch Angebot und Nachfrage
- Gewinnerwirtschaftung
- Preis als Ergebnis von
Tausch; Lohn als
Marktpreis
Das Schema modifiziert eine Skizze von G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne
Ökonomie, 232.
Wirtschaftssub- Personenverbände
- Marktprozesse
jekte:
Auch wenn es nicht um eine unmittelbare Anwendung dieser Einsichten des Aristoteles oder der Tora geht, gleichwohl enthält das Ökonomieverständnis aus der Zeit der Vormoderne Einsichten für eine lebensdienliche Ökonomie, wie sich an folgenden vier Aspekten zeigt:
Sich an diesen alten aristotelischen und auch der Tora geläufigen Begriff von Ökonomie zu erinnern, bedeutet erstens keineswegs eine Rückkehr zu einer älteren und längst überholten Produktionsweise. Der vorneuzeitlichen Ökonomiebegriff hat eine Aktualität, die darin besteht, der
1157
Ökonomie die Funktion eines Mittels zuzuerkennen.
Ökonomie heißt,
sich um die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern zu sorgen.
Jenseits des Eigennutzes, der ein leitendes Prinzip des Marktes ist,
kommen die Bedürfnisse in den Blick. Zugrunde liegt eine Grundhaltung
des Sorgens. Die Ökonomie ist nicht ihr eigenes gesellschaftliche Ziel,
sondern ihr wird ein Ziel gesetzt, für das sie zu sorgen hat. Sie ist ein Mittel zur Erreichung des Zwecks der gesellschaftlich notwendigen Güterversorgung. Die Ökonomie der Tora und die nach aristotelischem Verständnis verstand sich als ein solches Mittel. Dadurch war sie gesellschaftlich eingebettet. Wirtschaftsethisch bedeutet dies: Ökonomie sozial
und ökologisch einzubetten, ist die aktuelle Herausforderung, auf die das
Ökonomieverständnis der Tora und des Aristoteles hinweist. Es kann
nicht darum gehen, bloß auf die Versorgungsökonomie der Antike zurückzugreifen und diese auf die Bedingungen moderner Erwerbsökonomie anwenden zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, die alten Prinzipien und Leitvorstellungen auf die Besonderheiten einer neuzeitlichen
Erwerbsökonomie hin zu modernisieren.
Dieser ökonomische Wertbegriff verpflichtet zweitens zu einem verantwortlichen ökonomischen Handeln, das dem Leben aller auf dieser
einen Erde dient. Damit Ökonomie diese Aufgabe überhaupt wahrnehmen kann, braucht sie ethische Orientierungen und Maßstäbe, die jedoch nicht so verstanden werden dürfen, daß sie lediglich ethisch Grenzen markieren. Ethisches und ökonomisches Handeln sind vielmehr integrativ zu verstehen. Ethik erscheint von diesem Ansatz her als eine
normative Voraussetzung und als konstitutive Bedingung ökonomischen
Handelns überhaupt. Die Metapher “Haus” kann eine solche ethische Voraussetzung formulieren, die ökonomisches Handeln auf die begrenzten
Ressourcen des Hauses bezieht, mit denen sorgsam umzugehen ist.
Oder bildlich gesprochen: Wer bei seiner Tätigkeit im Haus sich so ver-
1157
Vgl. oben die Ausführung in Abschnitt: 4.2.
389
hält, daß das Haus zerstört wird, macht auch für die Zukunft weitere Tätigkeiten im Hause selber unmöglich.
Die Menschen als Bundespartner Gottes sind deshalb zur Fürsorge für
das Leben (oikonomia) gerufen. Die Beziehung des Schöpfers zu seinem
Volk wird im Bund versinnbildlicht. In den Kirchen gibt es eine wirtschaftsethische Debatte, die sich an diesem Ökonomiebegriff orientiert
und in ihm einen Ausweg aus sozialen, ökologischen und ökonomischen
Krisen sieht. Die Erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel
(1989) hat in den Mittelpunkt ihrer wirtschaftsethischen Überlegungen die
Metapher des Hauses gestellt. Sie hat für das “gemeinsame Haus Europa” “einige grundlegende Hausregeln, eine Art Hausordnung, die das
1158
Zusammenleben möglich macht” , vorgelegt. Die Zweite Europäische
Ökumenische Versammlung in Graz 1997 griff ebenfalls den theologischen Begriff der Haushalterschaft auf, nannte die Erde einen “Haushalt
aller Kreaturen, der auch unser eigenes Heim ist” und klagte angesichts
der Verwüstungen eine “Versöhnung im Haushalt des Lebens” (Basistext
A 30) ein.
Drittens kann der Bezugspunkt der aristotelischen Ökonomie und
auch der Tora, der mit dem Leitbild des “Hauses” formuliert wird, ein
Gegenbild zu einer Globalisierung ökonomischer Interessen formulieren,
die das “Haus der ganzen Welt” mit seinem Gefälle in Lohnhöhe, sozialen oder ökologischen Standards als Motor des Wettbewerbs und die
ganze Erde als weltweite Ressource für Rohstoffe begreift. Die ökonomische Globalisierung über die Märkte deckt sich keineswegs mit der Suche nach einer bestandsfähigen politischen und zivilen Weltgemeinschaft. Aristoteles versteht das Haus als Ort des täglichen Zusammenlebens und des Wirtschaftens; vom Staat sagt er, daß dieser “zwar des
Lebens wegen entstanden ist, aber doch um des guten Lebens willen
1159
besteht.”
Christoph Stückelberger hat biblisch begründete sozialethische Regeln für eine Hausordnung entwickelt, die die Beziehungen zwischen Gott, den Menschen und allen, mit denen die Menschen das Leben auf der Erde teilen, regeln. Mit der Metapher des Hauses wird ein
Maß genannt, das sich gegen eine in der Ökonomie strukturell institutio1160
nalisierte Habgier wendet.
Viertens sind die ökonomischen Konzeptionen der Tora und des Aris1161
toteles im Zusammenhang der Ausweitung des Handels entstanden.
Ganz deutlich entwickelt Aristoteles seine Vorstellungen angesichts der
1158
1159
1160
1161
390
Europäische Ökumenische Versammlung, Frieden in Gerechtigkeit. Basel, 15.-21. Mai 1989,
in: EKD-Texte Nr. 27, Hannover 1989, 33.
Aristoteles, Politik, A 2 p 1252 b 29.
Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, 307.
vgl. oben Abschnitt 4.2.
Tatsache, daß über das Maß des natürlichen Selbstgenügens hinaus
weitere Güter durch Tausch und Handel von weither herbeigeschafft
werden. Durch Handel komme eine Dynamik in Gang, die unbegrenzt
Reichtum durch Geld beschaffen wolle. “So gibt es auch für dieses Kapitalerwerbswesen keine Grenze des Zieles; Ziel aber ist ein solcher
1162
Reichtum und somit der Besitz von Geldmitteln.”
Zusammengefaßt: Gefordert ist also eine Rückbesinnung auf jene
Aufgabenstellung der Ökonomie, wie sie bei Aristoteles und auch in der
Tora beschrieben wird, also auf eine Ökonomie, die sich als Sorge für
das Haus und Anleitung zur Haushalterschaft versteht und nicht nur am
marktförmigen Tauschwert der Güter und Dienstleistungen orientiert ist.
Es geht darum, das Haus des eigenen Lebensraumes mit dem größeren
Haushalt der Schöpfung zu verknüpfen. Von dort her bekommt der eigene kleine Haushalt des Lebens seine Ordnung und sein Maß.
Seit dem 18. Jahrhundert hat die neuzeitliche Ökonomie diese über
zweitausendjährige Tradition einer lebensdienlichen Ökonomie, die sich
als Teil der Ethik verstand, verlassen und tritt nunmehr als eine eigenständige Disziplin auf, der ethische Reflexionen fremd sind. Wirtschaftliches Handeln orientierte sich seit dieser Zeit ausschließlich an
den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage. Aus dem Blick geriet,
daß Ökonomie für das Lebensnotwendige zu sorgen habe und nicht allein auf Tauschprozesse am Markt reduziert werden dürfe. Die Folge
war, daß das Konzept der Sorge um die Bedürfnisse der Menschen
durch das Konzept der Nachfrage ersetzt wurde. Milton Friedman kann
deshalb das Ziel der Ökonomie so beschreiben: “Die freie Wirtschaft (...)
1163
gibt den Menschen das, was sie wollen.”
Gefragt wird nicht, was
Menschen benötigen, sondern welche Nachfrage angemeldet wird. Beantwortet wird allerdings nur jene Nachfrage, die mit Geld und Kaufkraft
ausgestattet ist. Die Kategorie der Nachfrage ersetzt die Kategorie des
Bedarfs. Die Nachfrage jedoch ist prinzipiell unbegrenzt. Denn nie gibt es
genug, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Deshalb vermindert sich auch
in diesem Ökonomiekonzept nie die Knappheit der Güter. Die Knappheit
vermehrt sich vielmehr. Diesem Ökonomieverständnis ist nicht nur die
Kategorie des Genug fremd, auch jene des Zuviel. Keine Produktionsmenge kann zu groß sein, kein Unternehmen kann zuviel Gewinn
machen, kein Betrieb zuviel produzieren. Wachstumssteigerung wird
zum obersten Indikator des ökonomischen Erfolgs. Es gibt kein ökonomisches Kriterium, sich mit dem zufrieden zu geben, was da ist. Eine
Grenze des Genug gibt es nicht. Umgekehrt: Es wird das Gefühl stimuliert, es wäre nie genug da.
1162
1163
Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 28f.
M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 36.
391
Die Knappheitsökonomie führte zu einer Umwertung der Produktionsfaktoren. Arbeit und Natur hatten fortan nur den Wert, den der Markt
ergab. Aus Natur oder Arbeit als grundlegenden Werten im Prozeß der
Gütererzeugung wurden bloße Produktionsfaktoren. Darin liegt auch der
tiefste Grund für die Blindheit der Ökonomie gegenüber Natur und Arbeit.
Sorgsam zu haushalten, setzt heute voraus, daß man der lebendigen Arbeit und der lebendigen Schöpfung, kurz: dem Leben gegenüber wieder
eine Einstellung gewinnt, die den Wert und nicht nur den Nutzen gewichtet. Aristoteles weist auf einen Aspekt hin, der seit den Grenzen des
Wachstums (Club of Rome) geradezu modern anmutet: Das Streben
nach einem unendlichen Mehr wirkt sich auf die Ökonomie zerstörerisch
aus: “Grund für diese Gesinnung (nach immer mehr, F.S.) ist die emsige
Bemühung um das Leben, doch nicht um das gute Leben; weil aber jenes Begehren ins Grenzenlose geht, so begehren sie auch unbegrenzte
1164
Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen.”
Ökonomie hatte es seit Aristoteles und der Tora immer auch mit der Begrenzung von Wünschen zu
tun, wie deren Kritik an der Untugend “Habgier / Habsucht” zeigt.
Die Rückbesinnung auf die klassische Aufgabenstellung der Ökonomie, wie sie Europa von seinen kulturellen und religiösen Ursprüngen her
kennt, leitet zu einer Haushalterschaft an, die sich nicht einseitig am
Marktwert von Gütern und Dienstleistungen orientiert. Sie fragt vielmehr
nach der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Dadurch kann sie
ökonomisches Handeln wieder an den Erfordernissen der sozialen Lebenswelt und der kreatürlichen Mitwelt ausrichten. Diesen Erfordernissen
gilt die ökonomische Sorge. “Vorrang haben demnach immer jene Be1165
dürfnisse, die Leben ermöglichen und erhalten.”
Der Markt antwortet
nicht auf die notwendige Unterscheidung zwischen menschlichen Nöten,
dem Bedarf und luxurierten Bedürfnissen. Aber gerade die Nöte der Armen sind die himmelschreienden Herausforderungen der Ökonomie, die
von den Wünschen der Reichen verdrängt werden. Die Reichen - im
Weltmaßstab bedeutet dies auch: die reichen Nationen - verschlingen
einen übergroßen Anteil an Ressourcen und Energien der Erde, weil sie
ihre Bedürfnisse auf dem Weltmarkt durchsetzen können. Sie können es
tun, weil der herrschenden Ökonomie die Einsicht in die Nöte und in die
Bedürfnisse der Armen fremd ist.
In der ökumenischen Sozialethik gibt es einen doppelten Perspektivenwechsel. Die Option für die Armen schuf den Durchbruch für eine
Perspektive aus der Sicht der Armen. Dieser Perspektivenwechsel wird
seit dem Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung
der Schöpfung um einen zweiten ergänzt: Es gilt das Ganze dieser Erde
1164
1165
392
Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 41 - 1258 a 1.
G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 71.
1166
und aller Geschöpfe in den Blick zu nehmen.
Soziale und ökologische
Gerechtigkeit sind nicht einander entgegengesetzt, sondern ergänzen
sich durchaus. Mit diesem Perspektivenwechsel kann ein neuer ökonomischer Wertbegriff entwickelt werden, der die fundamentalen Lebensbedürfnisse (besonders der Armen im globalen Süden) und das Überleben des Oíkos insgesamt in den Blick bekommt. Beide Anliegen gehören
zusammen. Gerade ein hermeneutischer Ausgangspunkt vom perspektivischen Standort bei den Armen nimmt wahr, daß es dieselbe ökonomische Logik ist, die zur Verarmung eines großen Teils der Menschheit nicht nur, aber besonders im globalen Süden - und zum ruinösen Raubbau an der Natur beiträgt. Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff will deshalb auch die sozialen und ökologischen Aspekte integrieren, wenn er eine Option für die Armen fordert, die jene am meisten bedrohten Geschöpfe mit einschließt: “Die Herausforderung besteht darin,
dahin zu gelangen, daß sich die Menschen mit anderen Arten zusammen
als eine große Familie des Planeten Erde verstehen und daß sie den
Weg zurück finden zur Gemeinschaft mit den übrigen Lebewesen, zur
1167
planetarischen und kosmischen Gemeinschaft.”
Ohne ausdrücklich
auf das biblische Verständnis von oikos einzugehen, nimmt Leonardo
Boff doch in der Sache das Anliegen auf, wie sein Buchtitel Unser Haus 1168
die Erde , zeigt.
Die US-amerikanische Kirche United Church of Christ hat in ihrer Erklärung Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit einen
Begriff von Ökonomie entwickelt, der beide Aspekte von Gerechtigkeit integriert: Ökonomie habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß “alle Haushaltsmitglieder eine menschenwürdige Grundversorgung und die Mittel
1169
zur Beteiligung am Gemeinschaftsleben haben.”
Die Sorge um den
bewohnten Erdkreis schließt die soziale und ökologische Dimension ein,
aber auch die Dimension der Zukunft. Sorgsam zu haushalten bedeutet,
so mit den Gütern dieser Erde umzugehen, daß diese gerecht unter denen verteilt werden, die gegenwärtig das Leben auf dieser Erde miteinander teilen, aber auch mit denen, die zukünftig diese Erde als ein bewohnbares Haus vorfinden wollen.
Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Canberra (1991)
hat einen ökonomischen Wertbegriff entwickelt, “der nicht auf Geld- und
1166
1167
1168
1169
K. Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung, München 1989; M. Robra spricht von einem “Wandel ökumenischer Sozialethik” (Ökumenische
Sozialethik, 172.); auch: F. Segbers, Eine Welt. Hausordnung für den globalen Markt, in:
F.von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 297 - 302.
L. Boff, Theologie der Befreiung und Ökologie, 430.
L. Boff, Unser Haus - die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören, Düsseldorf 1996.
So in der Erklärung der UCC, Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit, in: epd
- Dokumentation, Nr. 13/1988, 15.
393
Tauschwert, sondern Überlebensfähigkeit und Gebrauchswert beruht.”
1170
Dadurch übernimmt der Mensch eine doppelte ökonomische Rolle
und Verantwortung: Er ist Teil der geschaffenen Welt und zugleich auch
1171
damit beauftragt, Gottes Haushalter in ihr zu sein.
Die Sorge um den
bewohnten Erdkreis, die die Sorge um das Lebensrecht der Armen und
der zukünftigen Generationen einschließt, und nicht die abstrakte Frage
nach Systemen, Systemtheorien oder ökonomische Modellen, gilt hier
1172
als das entscheidende sozialethische Kriterium.
9.5.2 Regulierung der Wünsche
Gerechte Verteilung der produzierten Güter ist ein Maßstab für einen
maßvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde. Die prophetischen
Überlieferungen verstehen einen maßvollen Umgang mit den Gütern nie
als Selbstzweck, sondern als Beitrag zu Recht und Gerechtigkeit (vgl.
1173
Jes 1,10-17; 24,1-6; Am 5,1ff.).
Das biblische Eigentumsverständnis,
wie es in der Aussage “Dem Herrn gehört die Erde” (Ps 24,1) zum Ausdruck kommt, steht unter dem Vorzeichen der grundsätzlichen
Unverfügbarkeit des Bodens. Die Güter sind nur anvertraut und nicht zur
privaten Verfügung gegeben. Gerechte Nutzung der Ressourcen und
Teilen der Güter sind deswegen auch Aspekte des biblischen Eigentumsverständnisses.
Die biblische Sabbattradition kann eine Perspektive für andere als nur
materielle Bedürfnisse eröffnen. Der Sabbat steht quer zu einem Zeitverständnis, das Zeit als knappe und deshalb ökonomisch effektiv auszunutzende Ressource versteht. Die Arbeit an den Werktagen, das Produzieren und Herstellen wird zyk-lisch unterbrochen, um Zeit für andere,
nämlich kulturelle, kreative und kommunikative Tätigkeiten zu haben. Der
Sabbat schafft, Raum für eine Zeit, in der humane Tätigkeiten gelebt
werden können. Er läuft deswegen auch einem Trend zuwider, wie er
sich im ökonomischen Umgang mit der Zeit ausdrückt, die bei der Rationalisierung der Produktion auf die Ausnutzung letzter Zeitporen setzt.
Dem nur auf materiellen Wohlstand ausgerichteten Denken setzt der
Sabbat ein anderes Verständnis von Wohlstand gegenüber, nämlich einen “Zeitwohlstand” (J. Rinderspacher), der zwar mit dem Symbol des
1170
1171
1172
1173
394
W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1990, 68.
Ebd. 61.
Vgl. dazu K. Füssel u. F. Segbers, Die Bibel zu Rate ziehen. Einleitung, in: dies. (Hg.), “... so
lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 13f.; auch: F. Segbers, Eine Welt. Hausordnung für den globalen Markt, 285-308.
Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, 300.
Sabbat jenseits der Werktage angesiedelt ist, dennoch die Werktage gestalten will. Vom Sabbat her soll ein Licht auf die Werktage fallen. Habgier erstreckt sich nicht allein auf materielle Güter, auch auf die Zeit selber, die ökonomisch möglichst total genutzt werden soll. Dieser Gier
nach der ganzen Zeit für Produktion und Handel setzt der Sabbat durch
Unterbrechung eine Grenze.
Die 23. Vollversammlung des Reformierten Weltbundes hat sich in
Debrecen 1997 ausdrücklich auf die biblische Bedeutung des Sabbat berufen:
In einem solchen Sabbatverständnis wird deutlich, daß dem erbarmungslosen Appetit nach Konsum Grenzen gesetzt werden müssen. Die Gier der
Vielen raubt dem Leben des Planeten den Atem. Land, Luft, Wälder und
Wasser brauchen Erneuerung, Regenerierung und die Wiederaufrichtung,
die aus der biblischen Vision des Sabbattages, des Sabbatjahres und des
Jubeljahres erwächst. Am Sabbat wird Gottes Absicht gefeiert, die ganze
Schöpfung von Ausbeutung zu erlösen. Es ist eine Vision des Genug, die
den wenigen Privilegierten das Recht abspricht, die erschöpflichen Ressourcen völlig auszubeuten. Im Geist des Sabbat sind alle zu einem sol1174
chen Lebensstil gerufen (Ziff. 16).
Die Bedeutungsgehalte des Sabbat können zu einem neuen Wohlstandsbegriff beitragen, der den herrschenden, am Materiellen ausgerichteten transzendiert.
Das Sabbatjahr ist eine Erinnerung und ein Gegenmittel gegen den
Wachstumszwang. Im Bericht der Europäischen Ökumenischen Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS) in Brüssel zum UmweltAktionsprogramm der EU heißt es, daß die Beschreibung des Jubeljahres für eine ethische Bewertung der Umweltproblematik aus folgenden Gründen heute wichtig und aktuell sei:
a)
Sie ist realistisch in ihrer Betrachtungsweise des menschlichen Verhaltens.
b)
Sie hilft uns zu verstehen, was die Bibel meint, wenn sie
von Gerechtigkeit spricht. Gerechtigkeit ist kein abstraktes Konzept, sie appelliert vielmehr an Beziehungen: Beziehungen sind
gerecht oder ungerecht.
c)
Beziehungen beschränken sich nicht auf die Menschen allein; sie umfassen die Ganzheit der Schöpfung: Land, Wasser
und Luft, Tiere und Pflanzen.
d)
In bezug auf das Wachstumskonzept, das unserem gegenwärtigen Wirtschaftsmodell zugrunde liegt, warnt uns Leviticus 25 vor dem möglicherweise destruktiven Element, das es
sowohl in bezug auf die Beziehung zu den Menschen als auch
1174
Beschluß Sektion 2, Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach ungedruckten Unterlagen
des Reformierten Weltbundes.
395
zur Natur enthält. Um diesem destruktiven und entzweienden
Element entgegenzuwirken, bedarf es der Einführung bestimmter Mechanismen, die auf die Wiederherstellung der gerechten
Beziehungen zwischen Mensch, Land und Wohlstand abzielen.
e)
Sie bringt die Idee der Begrenzung und der Wiederherstellung guter Verhältnisse im Wirtschaftsleben zur Sprache. Das
Land muß ruhen, um „erlöst‟ zu werden. Auch dem käuflichen
Erwerb sind Grenzen gesetzt (Lev 25,28). Dies ist besonders im
Hinblick auf unser Modell der „nachhaltigen Entwicklung‟ wichtig, das verlangt, daß die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb
der Grenzen des Ökosystems gesehen werden muß.
f)
Sie entlarvt die Neigung der Menschen zu Habgier als
Mangel an Vertrauen in Gottes Verheißungen.
g)
In unserer heutigen Gesellschaft, in der jeder Zweifel an
der Idee eines „ständigen Wachstums‟ und der Wettbewerbsfähigkeit zumeist für tabu erklärt wird, appelliert der Leviticus-Text
an die moderne Menschheit,
sich davon, als Formen der Idolat1175
rie, abzuwenden.
Eine christliche Theorie der Bedürfnisse, die den biblischen Befund
aufnimmt, wird zunächst darauf verweisen, daß die Menschen zu dem
einen Leib Christi zusammengefügt sind (vgl. 1 Kor 12,12 f). Jedes Glied
des einen Leibes empfindet das Bedürfnis der anderen Glieder als sein
eigenes Bedürfnis. Christliche Ethik tritt als Anwältin besonders der Armen und Ausgeschlossenen auf, wird deshalb gerade zunächst auf die
Bedürfnisse der Bedürftigen achten und die Interessen der Benachteiligten artikulieren. Einen Hinweis kann auch die neutestamentliche Rede
vom Weltgericht geben (Mt 25,31-46). Sie rückt die ökonomischen
Grundfragen ins Zentrum: die Fragen nach Essen, Trinken, Wohnung,
Kleidung werden heilswichtig. Schließlich wird eine christliche Theorie
der Bedürfnisse verdeutlichen müssen, daß die Bedürfnisse der Bedürftigen auch der Befriedigung und Erweiterung der eigenen Bedürfnisse
Grenzen setzen. Der Schwache oder die Option für die Armen sind ein
Maß der Gerechtigkeit. Gerecht ist, was dem Schwächsten am meisten
nützt.
Die Erinnerung an die Ökonomie der Tora und an die aristotelische
Unterscheidung zwischen der Haus- und der Kapitalerwerbsökonomie
kann beitragen, eine ökonomische Alternative zu denken. Karl Polanyi
sieht in der aristotelischen Unterscheidung zwischen “Haus-haltsführung
und Gelderwerb den prophetischsten Hinweis, der jemals im Bereich der
Sozialwissenschaften gegeben wurde; er stellt jedenfalls immer noch die
1175
Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS), Ist das herrschende Wirtschaftsmodell mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar? Ein kritischer Bericht zur
Halbzeit - Auswertung des fünften Umwelt-Aktionsprogramms der EU, in: epd-Dokumentation
17/1996, 74f.
396
beste, uns zur Verfügung stehende Analyse des Problems dar. Aristoteles beharrt darauf, daß der Sinn des eigentlichen Haushalts die Produktion für den Gebrauch und nicht Produktion für den Gewinn ist, aber eine
zusätzliche Produktion für den Markt, meint er, müsse die Autarkie des
Haushalts nicht gefährden, sofern die zum Verkauf bestimmten Produkte
ohnehin zu Ernährungszwecken auf dem Gut erzeugt würden, wie Getreide oder Vieh; der Verkauf von Überschüssen müsse daher die Grundlage des Haushalts nicht zerstören. Nur ein Genie der praktischen Vernunft konnte, wie er, erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für die
Marktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß der Geldfaktor ein
neues Element einführte; daß aber das Prinzip der Produktion für den
Gebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloß
1176
Anhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben.”
Anknüpfend
an diese Traditionslinie in der Theologie- und Philosophiegeschichte
könnte die alte aristotelische Unterscheidung zwischen Ökonomie und
Chrematistik eine Einsicht in den wirtschaftsethischen Diskurs einbringen, die von der modernen und in besonderem Maße von der neoliberalen Ökonomie als sachfremd abgetan wird.
Thomas von Aquin dringt auf eine Unterscheidung, die im gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Bewußtsein kaum mehr vorhanden ist: “Alle Güter sind entweder nötig und nützlich oder überflüs1177
sig.”
Bei Jan A. Comenius (1592 - 1670) findet sich eine Argumentation, die auch noch von eben jener Unterscheidung zwischen Nötigem
und Überflüssigem weiß, die im entwickelten Kapitalismus aber verloren
gegangen ist. In einem Brief an den Kurfürsten von der Pfalz schrieb
Comenius 1668: “Die ganze Welt ist ein Markt mit allerlei Waren; voll von
diesen, die jene Waren auch verkaufen, kaufen, schauen; aber die Wenigsten von ihnen wissen das Nötige von dem Unnötigen zu unterscheiden. Da ist bunt durcheinander Gutes und Schlechtes, Notwendiges und
Überflüssiges, Nützliches und Schädliches, Kostbares und Wertloses
ausgestellt und wird angepriesen, verkauft, gekauft. Und was noch mehr
verwunderlich und beklagenswert ist, man bringt häufiger überflüssige
Dinge zum Markt als nötige, häufiger schädliche als nützliche und häufi1178
ger schlechte als gute; man preist sie an, verkauft und kauft sie.”
Nützliche von überflüssigen Bedürfnissen zu unterscheiden, setzt eine
Theorie der Bedürfnisse voraus, die sozialethisch jedoch erst noch zu
1176
1177
1178
K. Polanyi, The Great Transformation, 85.
Zit. ohne Fundstelle nach D. Sölle, Lieben und Arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung. Stuttgart 1985, 143.
Zit. nach M. Stöhr, Biblische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, in: Pastoraltheologie 84
(1995) 547.
397
1179
entwickeln ist.
Diese Aufteilung zwischen notwendigen Gütern und
Luxusgütern ist jedoch nicht unproblematisch, da die Gefahr besteht,
daß das Notwendige auf das reduziert wird, was für die nackte Subsistenz notwendig ist. Soweit theologische und sozialethische Bewertungen
der Bedürfnisse vorliegen, haben sie oftmals diesen Grundtenor, Bedürfnisse zu begrenzen. Will man allerdings nicht einer Diktatur über Bedürfnisse oder einer asketischen Unterscheidung von Notwendigem und Luxus das Wort reden, so wird es darauf ankommen, einen Wohlstandsbegriff zu entwickeln, der nicht auf materielle Inhalte allein reduziert ist. Zeit
zu haben, ist eine Form des Zeitwohlstandes. Kulturelle Betätigung oder
Eigenarbeit sind als Arten von Wohlstand anzusehen. Von diesem erweiterten Wohlstandsbegriff her können materielle Bedürfnisse durch die
Entwicklung anderer, ebenfalls fundamentaler Bedürfnisse des Menschen begrenzt werden.
Was könnte ein “Genug” an materiellen Gütern heißen? In eine Definition des Genug wird eine Verantwortungsdimension eingehen müssen.
Keine absolute Festlegung oder Richtschnur wird Auskunft über ein Genug geben können - und dürfen, wenn die Freiheit des Menschen nicht
autoritativ beschränkt werden soll. Was “Genug” bedeuten kann, wird immer wieder neu zu definieren sein, indem kulturelle, soziale und ökologische Faktoren mitberücksichtigt werden. Die Auseinandersetzung um
das materielle “Genug” muß in Verbindung mit ökonomischen und kulturellen Vorgaben gesetzt werden, die das Mehr-Haben als Leitbild fördern.
Der Un-Kultur einer kollektiven Habsucht im globalen Maßstab, die institutionell und strukturell gefördert wird, ist eine globale Kultur der Selbst1180
beschränkung entgegenzustellen.
Das Wirtschafts- und Sozialwort
der Kirchen will sich an dieser Debatte um einen neuen Wohlstandsbegriff beteiligen. Es eröffnet eine Perspektive, die zu einer Änderung des
Lebensstils gegen ein vorherrschend gewordenes Konsum- und Wohlstandsdenken beitragen kann (Ziff. 231). In der Gesellschaft insgesamt
seien die Ziele der ökonomischen Rationalität dominierend geworden.
Die Kirchen fordern, daß von den Quantitäts-Zielen des “Mehr” und
“Schneller” zu den Qualitäts-Zielen des “Weniger”, “Langsamer” und
“Bewußter” umgesteuert wird. Es geht um einen neuen Wohlstandsbegriff, der “dem dauernden Wohl des Menschen dient” (Ziff. 232). Leider
verbinden die Kirchen diese Ethik jedoch nicht mit den strukturellen Fragen und Bedingungen einer auf Wachstum orientierten Ökonomie, son1179
Vgl.dazu die Ausführungen bei: M. Volf, Zukunft der Arbeit, 143 - 158; W. Bindemann, Die
Hoffnung der Schöpfung. Römer 8, 18-27 und die Frage einer Theologie der Befreiung von
Mensch und Natur, Neukirchen - Vlyun 1983, 170-177.
1180
So O. Höffe, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, in: ders., Moral als Preis der Moderne,
2. Aufl. Frankfurt 1993, 165.
398
dern allein mit dem individuellen Verhalten. Dadurch überfordern sie
nicht nur das einzelne Gesellschaftsmitglied, sie verzichten auch darauf,
die sozio-strukturellen und ökonomischen Ursachen zu analysieren und
zu benennen. Die ökonomische Theorie geht von einem Knappheitstheorem aus, von der relativen Knappheit der Güter und den unbegrenzten menschlichen Bedürfnissen. Eine sozialethische Theorie der
Bedürfnisse dagegen wird über die Lebensqualitätsdimension und über
die Ökologiediskussion auf die absolute Knappheit der Güter verweisen
und über die Unterscheidung von materiellen und immateriellen Bedürfnissen von relativen Bedürfnissen sprechen.
Spätestens mit der ökologischen Krise hat sich das ökonomische
Steigerungsinteresse in seiner ganzen Problematik gezeigt. Zahlreiche
Faktoren haben zu einer Entfesselung der Bedürfnisse beigetragen. Ein
Grund jedoch ist ohne Zweifel ein Umwertungsprozeß, der mit dem Beginn der Neuzeit einsetzte. Der Philosoph Otfried Höffe fordert deshalb,
wieder zu lernen, Geschäftssinn als Habsucht, Konkurrenzdruck als
Neid, kurz: zahlreiche Interessen als Leidenschaften, vielleicht sogar als
Laster anzusprechen. Ein Bewußtsein für moralisch illegitime Leiden1181
schaften sei wiederzugewinnen.
Er will nicht einer neuen Tugendethik
das Wort reden und erwartet sich auch nicht aus der Summe der Besonnenheit der je einzelnen eine Lösung. Doch ohne eine Änderung auf der
privaten Ebene können nicht jene Prozesse eingeleitet werden, die zu einer gesellschaftlichen Umsteuerung der Produktionsziele beitragen. Dieser angestrebte Kurswechsel kann solange nicht allein durch individuelles Verhalten erreicht werden, wie der inhärente Wachstumszwang der
Marktökonomien das Laster Habgier strukturell institutionalisiert hat.
Deswegen wird es darauf ankommen, Strukturen zu schaffen, die den
Wachstumszwang nicht lediglich von einem quantitativen zu einem qualitativen Wachstum umlenken, sondern die in einem grundsätzlicheren
Sinne Wachstums- und Steigerungsziele aus ökologischen Gründen insgesamt reduzieren und die Produktionsziele besonders an jenen Bedürfnisse ausrichten, die die Armen und die kreatürliche Mitwelt anmelden.
Walther Bindemann nennt deshalb auch zu Recht die Kritik der Bedürf1182
nisse ein Paradigma einer Befreiungstheologie der Reichen.
Das handlungsleitende Prinzip der Knappheit setzt einen Wachstumsprozeß in Gang, der prinzipiell unbegrenzt ist. Das Gesetz der Knappheit
kennt kein Genug. Die Allokation von Ressourcen nach gewinnmaximierenden Prinzipien hat die Effektivität und Produktivität in einem weltgeschichtlich bislang unerreichten Maße erhöhen können. Angesichts der
ökologischen Folgen dieses ökonomischen Paradigmas der Knappheit
1181
1182
Ebd. 164.
W. Bindemann, Die Hoffnung der Schöpfung, 170.
399
wird die natürliche Basis der Ökonomie inzwischen selber zerstört.
Knappheit verkehrt sich von der Hilfe zur Beseitigung von ökonomischen
Nöten und Zwängen zum ökologischen Verhängnis. Die Begrenzung der
Wünsche hat es neben diesem ökologischen Aspekt immer auch mit einer Umverteilung der Wünsche zu tun: Der Wunsch einer großen Mehrheit der Weltbevölkerung nach den lebensnötigen Dingen zum Leben
überhaupt muß endlich das ihm gebührende Gewicht erhalten. Das
Gegenbild einer Marktökonomie des Nimmersatt ist eine “Ökonomie des
Genug”, wie sie Bob Goudswaard und Harry de Lange vorgelegt haben.
Beide Ökonomen geben zu, daß diese Ökonomie in der Regulierung der
1183
Wünsche “ihren harten Kern”
hat. Ein perspektivischer Standort, der
die Option für die Armen ernst nimmt, klärt den Vorrang der Bedürfnisse:
Vorrangig sind immer die Nöte der Armen, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger und der beschädigten Schöpfung. Wo solidarische Orientierungen den Vorrang haben, sind die Bedürfnisse von vornherein begrenzt. “Der Preis dafür ist, daß ein Teil der Wünsche der Menschen
1184
weichen muß.”
Es geht also um nichts weniger als um eine Orientierung ökonomischen Handelns an dem, was den Menschen und der Erde
not tut.
9.6 Sechster wirtschaftsethischer Impuls: Bereicherung begrenzen
9.6.1 Ökonomischer Paradigmenwechsel
Zu Beginn der Neuzeit vollzog sich ein folgenreicher Paradigmenwechsel. Die seit “Athen” und “Jerusalem” geläufige Kritik der Habsucht als
einer Untugend verkehrte sich: Aus einem privaten Laster wurde eine
soziale Tugend. Der Ökonom Hans G. Nutzinger teilt diese Einschätzung
des Paradigmenwechsels, wenn er schreibt: “Damit wird eine jahrtausendealte Tradition philosophisch-religiöser Kritik von Habsucht und
Reichtum - gespeist aus so unterschiedlichen Quellen wie Aristoteles‟
Unterscheidung von Chrematistik (als Bereicherungslehre) und
Oikonomia (als Lehre von der - naturalen - Hauswirtschaft) in seiner „Politik‟ und in der „Nikomachischen Ethik‟ oder aus der jüdisch-christlichen
Hervorhebung von Nächstenliebe und der Verdammung des Mammon 1183
1184
400
G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 83. Arthur Rich unterstützt diesen Ansatz: “Es geht keineswegs um eine rigide Verzichtswirtschaft, sondern um den Weg von
einer Ökonomie des Immer-Mehr zu einer Ökonomie des Genug.” (A. Rich, Wirtschaftsethik,
Bd. 2, 128f.)
G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 83.
1185
prinzipiell in Frage gestellt.”
In seiner berühmten Bienenfabel hat Bernard Mandeville einen Paradigmenwechsel in der Umwertung der Untugend Habgier in eine Tugend literarisch mit dem Paradoxon “private Laster, öffentliche Vorteile” zu begründen versucht. In der Bienenfabel heißt
es:
Die Moral: Stolz, Luxus und Betrügerei
1186
muß sein, damit ein Volk gedeih‟.
In der gesamten Philosophie- und Ökonomiegeschichte war diese zynische und amoralische Haltung eines blanken Utilitarismus bislang immer auf Ablehnung gestoßen. Gezeichnet wird eine Natur des Menschen, der nur auf sein Wohl bedacht ist. Der Wirtschaftshistoriker R.H.
Tawny spricht von einem Bruch mit der europäischen, d.h. griechischrömischen und auch christlich-jüdischen Geistesgeschichte: “Gerade das
Bestreben, das die moderne Gesellschaft als verdienstlich ansieht, nämlich den irdischen Reichtum unablässig und grenzenlos zu mehren, verurteilte der Denker des Mittelalters als sündhaft, und die Laster, die er
am leidenschaftlichsten anprangerte, gehörten zu den edleren und feine1187
ren wirtschaftlichen Tugenden einer späteren Zeit.”
Zu diesem Bruch
mit den religiösen und philosophischen Traditionen mußte es kommen,
um die Voraussetzungen für die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise zu schaffen. Die Grundstruktur der Geld- und Marktwirtschaft mit ihrer Triebfeder des Gewinnstrebens ist seit der Antike die
1188
gleiche geblieben.
Damit sich in der Neuzeit der Kapitalismus entfalten konnte, war es nötig, die Untugend Habgier als Grundhaltung dieser
Triebfeder in eine Tugend umzudeuten. Die klassische politische Ökonomie im 17./18. Jahrhundert begann, die Habsucht in der Gestalt des
Eigennutzes als Antrieb des Menschen zu wirtschaftlichem Handeln zu
werten, und deutete die Ausübung individueller Vorteilsnahme als Vorteil
für die Gesamtheit. Sie wird zu einem wünschenswerten, erstrebenswerten sozialen Verhalten umgedeutet. Ökonomisch wird dieser Antrieb zum
Mehr-Haben-Wollen, die Habgier, strukturell als Zwang zum Wachstum
institutionalisiert. “Das Besondere am Marktsystem ist, daß durch das
Eigeninteresse des Einzelnen auch der Gesamtnutzen maximiert wird.
1185
1186
1187
1188
H. G. Nutzinger, Arbeit unter dem Primat der Ökonomie, in: Pastoraltheologie 84 (1995) 580582; auch A. O. Hirschman, Leidenschaft und Interesse. Politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt 1980.
B. Mandeville, Die Bienenfabel, 92.
R.H. Tawny, Religion und Frühkapitalismus, Bern 1946, 50. Vgl. auch oben Abschnitt 8.2;
sowie: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” 168-172.
H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 34.
401
1189
Der Erfolg des Individuums erst garantiert den Wohlstand vieler.”
Das
Eigeninteresse avanciert demnach zum ökonomisch besten Weg, das
Gemeinwohl zu erreichen. Das, was die philosophischen und religiösen
Traditionen Europas “Laster” und “Sünde” nennen, summiert sich nun zu
einem positiven Saldo. Das Gewinnmotiv ist wegdefiniert. “Nicht die
„pleonaxia‟, das Mehrhaben-Wollen ist der neue Zug des Kapitalismus,
sondern die moralische Neutralisierung des Gewinnmotivs zu einem respektablen menschlichen Motiv und seine Anerkennung als Grundmotiv
1190
der Wirtschaft.”
Die in der Geschichte europäischer Philosophie immer als Untugend bezeichnete Habgier konnte so zu einer sozialen Tugend, die die Effizienz der Ökonomie garantiert, umgedeutet werden. Otfried Höffe ordnet einer Motivationsverschiebung jene Veränderung der
Moral zu, die zu einer folgenreichen Umwertung der Werte führte, durch
die Laster - ihrer Illegalität befreit - normativ positiv beurteilt werden: das
1191
Laster der Habsucht wird zum lobenswerten Geschäftssinn.
Diese
Umwandlung der Untugend Habsucht in eine Tugend hatte zur Folge,
daß “eine lange Tradition der Beschäftigung mit der Habsucht (...) all1192
mählich in Vergessenheit”
geriet. Diese Umformung der traditionellen
Werte der jüdisch-christlichen Tradition konnte einer kapitalistischen
Produktionsweise den Boden bereiten.
Die Veränderungen in Ökonomie und Ethik bedingen sich gegenseitig
und führen zu einem Menschenbild, das es bis zur Moderne in der Philosophiegeschichte nicht gegeben hat. Funktional zu einer Ökonomie, die
Wettbewerb und Konkurrenz zu ihrem Antrieb machte, formte sich ein
adäquates Menschenbild: ein Mensch, der primär auf seinen Eigennutz
bedacht ist. Der Mensch, der zu Gutem und Bösem fähig ist, wird nun
zum Menschen, der “des Menschen Wolf” (Hobbes) ist. Diese anthropologische Aussage geht konform mit einer Anthropologie, die den Werthaltungen und Motiven jener seit der Aufklärung sich herausbildenden
freien Marktwirtschaft entspricht. Die im 17./18. Jahrhundert eingeführte
und sich herausbildende Marktwirtschaft konnte sich dadurch als eine
Wirtschaftsform legitimieren, die der Natur des Menschen entspreche
und sich genauso wie der Mensch und alles Lebendige evolutionär entwickelt habe.
Christliche Ethik hat sich lange schwer getan, Eigennutz als ein
ethisch legitimes Motiv wirtschaftlichen Handelns zu akzeptieren. Die
Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz kann als ein Durchbruch be1189
1190
1191
1192
402
W. Weimer, Das Teilen und die Moral der Märkte, 9.
P. Koslowski, Ethik des Kapitalismus, 17.
O. Höffe, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, 164.
R. Rieth, “Habsucht” bei Martin Luther, 41; vgl. auch: L. Schottroff, “Habgierig sein - das
heißt den Götzen dienen.”
zeichnet werden, wenn sie fordert, “Eigennutz in einer Ordnung der Gegenseitigkeit einzubinden” (Ziff. 139). Der Eigennutz wird nicht mehr
ethisch diskreditiert, sondern als Grundstruktur menschlicher Existenz
akzeptiert und deswegen auch für ökonomische Prozesse legitimiert, jedoch nur insofern, wie Eigennutz begrenzt und eingebunden ist. Problematisch ist allerdings eine gleichgewichtige Wertung, wenn es in der
Denkschrift heißt, daß es darauf ankomme, nach Formen des “„intelligenten Eigennutzes‟ als „intelligenter Nächstenliebe‟” (Ziff. 147) zu suchen.
Eigennutz sollte nicht theologisch legitimiert, sondern durch Einrichtungen reglementiert werden, welche die Bedürfnisse des Nächsten und der
kreatürlichen Mitwelt respektieren. Wie der Eigennutz effektiv begrenzt
wird, kann als der kritische Maßstab gelten, der darüber entscheidet, ob
eine auf Eigennutz basierende marktwirtschaftliche Ordnung ethisch legi1193
timiert ist.
Was über die Anthropologie zu sagen ist, wird theologisch auch in der
1194
Tora thematisiert.
Alle Weisungen der Tora stehen unter dem
Obersatz: “Wer sie einhält, wird durch sie leben” (Lev 18,5). Auf die anthropologische Grundfrage, wie es denn mit dem Bösen und dem Guten im
Leben der Menschen bestellt sei, antwortet die Tora in zweifacher Hinsicht. Sie sagt zum einen, was Gottes Wille ist, und lehrt dadurch, von
Gottes Willen her zu erkennen, wo Menschen ihre Bestimmung verfehlen. Zum anderen aber will die Tora Leben trotz und inmitten des Bösen
erhalten. Das Böse, “das Wölfische”, soll nicht bleiben. Humanisierung
soll eine Chance bekommen. Dazu legt die Tora konkrete Instrumentarien und Institutionen der Gerechtigkeit vor. Benno Jacob charakterisiert
1193
1194
Interessant ist, daß zeitgleich auch die römisch-katholische Kirche ihre notorische Skepsis gegenüber marktwirtschaftlichem Wirtschaften auf der Basis von Konkurrenz in der Enzyklika
Centesimus annus (1991) abgelegt hat. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Michael
Novak hat diese Entwicklung als Versöhnung des Katholizismus mit dem Kapitalismus gewürdigt und in Parallele zum Protestantismus verstanden, dem nach M.Weber der Kapitalismus
seine geistigen Grundlagen verdanke. Positiv wird der Kapitalismus gewertet, wenn er als
Wirtschaftssystem betrachtet wird, “das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmers, des Marktes, des Privateigentums ... anerkennt”, negativ jedoch, wenn unter Kapitalismus ein Wirtschaftssystem verstanden wird, “ in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine
feste Rechtsordnung eingebunden ist” (Centesimus annus, Ziff. 42). Vgl. dazu die im Buchtitel
formulierte Parallelität: M. Novak, Die Katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Trier
1996. Als Grundthese formuliert M. Novak: “Aus dem Schmelztiegel einer hundertjährigen
innerkirchlichen Diskussion geht eine angemessenere und befriedigendere kapitalistische Ethik
hervor als die Protestantische Ethik Max Webers” (M. Novak, Die Katholische Ethik und der
Geist des Kapitalismus, 23). M. Novak übersieht jedoch die notorische Kritik päpstlicher Verlautbarungen an einer freien Marktwirtschaft oder dem Neoliberalismus. Novak identifiziert
die päpstlichen Aussagen zur Marktfunktion mit dem Neoliberalismus.
O. Bayer, Bleibt das Böse? Mit einer realistischen Anthropologie den Friedensprozeß fördern,
in: Evangelische Kommentare 1/1994, 31ff.
403
die Tora-Weisungen so: “Sie wollen erziehen, nämlich zu Gottesfurcht
1195
und Achtung des Menschen in seinen Grundrechten.”
Christliche Anthropologie ist deshalb nach zwei Seiten hin als realistisch zu charakterisieren: gegen die Verharmloser des Bösen in der Tradition des Rousseau‟schen Denkens, welches das gemeinschaftswidrige
Handeln vom Menschen weg auf die Gesellschaft verlagert; aber auch
gegen eine Argumentationslinie, die auf Hobbes zurückgeht, das Böse
zum Grundprinzip macht und deshalb gemeinschaftsschädigendes Verhalten nicht nur fest und unveränderlich der Natur des Menschen zurechnet, sondern darüber hinaus auch noch als gemeinschaftsfördernd
umdeutet. Ein Humanismus, der die Tora ernst nimmt, resigniert nicht
vor dem Bösen, nimmt es aber auch nicht als Faktum oder Fatum hin. Er
1196
setzt vielmehr auf “humanisierende Eingriffe” . Diese Einsicht der Tora
befreit zur Analyse gemeinschaftswidriger Strukturen in der Ökonomie
und setzt gegen Mächte und Gewalten, die Leben behindern, solche Regeln, Institutionen und Mechanismen, die das Leben fördern.
Von Adam Smith stammt die klassische Beschreibung der liberalen
Wirtschaftsweise, die von positiven Motiven des Handelnden zur Erreichung eines wirtschaftlich wünschenswerten Ziels absieht: “Nicht vom
Wohlwollen des Metzgers, Brauers, Bäckers erwarten wir das, was wir
zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen
wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre
Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern
1197
sprechen von ihrem Vorteil.”
Gesteuert und motiviert wird das Marktgeschehen vom Eigennutz, nicht von einer Sorge, die im Mittelpunkt
klassischer oikonomìa stand. Adam Smith teilt das maßgeblich von Hobbes geprägte Selbstverständnis seiner Zeit, daß der Mensch von Eigennutz geleitet ist und dieser Eigennutz sich zu einer Quelle des Wohlstands der Gesellschaft summiert. Kennwort ist eine Metapher, die mit
dem Namen Adam Smith verbunden ist, aber gleichwohl in seinem
Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen nur ein einziges Mal vorkommt.
Wer seine Interessen bei der Gewinnmaximierung verfolge, werde “von
einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu er1198
füllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.”
Die Motivation wird also
von den Zielen abgekoppelt. Für Adam Smith als Ethiker war jedoch diese Verfolgung des Eigennutzes ethisch nur dann zu rechtfertigen, wenn
daraus ein gemeinwohlverträgliches Ergebnis resultierte. Horst Claus
Recktenwald, Herausgeber des Hauptwerkes Wohlstand derNationen,
1195
1196
1197
1198
404
B. Jacob, Das Buch Exodus, 1061.
R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 20.
A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 17.
Ebd. 371.
nennt es eine “Verstümmelung oder pervertierte Auslegung der Grund1199
idee” , wenn der Vorwurf erhoben werde, daß Adam Smith das Ökonomische un
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