Franz Segbers Die Hausordnung der Tora Theologie in Geschichte und Gesellschaft 7 1 Franz Segbers Die Hausordnung der Tora. Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik EDITION EXODUS LUZERN 1999 2 Die Veröffentlichung dieses Buches wurde gefördert von der HansBöckler-Stiftung. 3 I NHALTSVERZEICHNIS GELEITWORT VON BISCHOF PROF. DR. WOLFGANG HUBER VORWORT 11 PROBLEMANZEIGE 14 Beispiel 1: Die Diskussion um den Sonntag Beispiel 2: Gottes Sozialprogramm. Ein Brief aus Afrika INTERESSE, ARBEITSWEISE UND METHODE 20 ERSTER TEIL ZUM VERHÄLTNIS VON ETHIK UND ÖKONOMIE 1. VOM GARSTIGEN GRABEN ZWISCHEN GALILÄA UND DEM GLOBALEN MARKT 1.1 Wirtschaftsethik als Krisenindikator 1.2 Die Bibel zu Rate ziehen? 33 1.2.1 Das Autoritätsargument der Bibel 35 1.2.2 Die historische Distanz zur Bibel 1.2.3 Motivationskraft biblischer Traditionen 1.2.4 Hebräische Bibel und christliche Ethik 1.2.5 Kontext der Bibel und Kontext der Gegenwart 2. ETHISCHE ZUGÄNGE ZUR W IRTSCHAFT 2.1 Ethik des Marktes 2.2 Ethik und Ökonomie: Zwei-Welten-Konzept 2.3 Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen 4 30 30 36 38 40 47 55 55 59 64 ZWEITER TEIL W IRTSCHAFTSETHIK DER BIBEL: W IRTSCHAFTEN AUS DER LOGIK DER HUMANITÄT 3. W IRTSCHAFTSETHIK AUS DER OPTION FÜR DIE ARMEN 70 3.1 Diskursethische Begründung von Wirtschaftsethik 3.2 Der spezifische Beitrag bibeltheologischer Aspekte im wirtschaftsethischen Diskurs 3.2.1 Hermeneutischer Ausgangspunkt: Der Arme 3.2.2 Der kategorische Imperativ: Das Recht der Armen 76 3.2.3 Das absolute und das konkrete Kriterium der Ethik 77 3.2.4 Der kategorische Imperativ wirtschaftsethisch übersetzt 81 3.2.5 Orientierungspunkt: Gerechtigkeit 83 3.3 Kritischer Maßstab und Impuls für Gerechtigkeit: Option für die Armen 70 73 75 87 3.3.1 Gerechtigkeit - Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse für die Bedrängten 87 3.3.1.1 Unausgewogene Gerechtigkeit: Option für die Armen 89 3.3.1.2 Gerechtigkeit als Rechtsanspruch der Benachteiligten 91 3.3.1.3 Gerechtigkeit und Machtkritik 92 3.4 Gerechtigkeit und Option für die Armen als Problem gegenwärtiger ökonomischer und sozialer Verhältnisse 94 4. TORA ALS GRUNDLAGE THEOLOGISCHER ETHIK 99 4.1 Ethik der Tora 4.1.1 Biblisch fundierte Ethik 4.1.2 Tora als Weisung zur Gerechtigkeit 4.1.3 Erinnerung an den Exodus und Gegenwartsweisung 4.1.4 Exodusdenken und Exoduspolitik 4.2 Tora-Ökonomie 99 99 105 107 108 112 5 4.2.1 Unterscheidung der Ökonomien: Haushaltsökonomie oder Kapitalerwerbswesen 114 4.2.2 Die Politische Ökonomie der Tora: Das Haus Israel 4.2.2.1 Ökonomische Grundeinheit: Das Haus 4.2.2.2 Hausordnung der Tora 4.2.2.3 Ökonomie der Fülle 4.2.3 Die Tora-Ökonomie: Eine ökonomische Alternative 4.2.4 Leitlinien einer Haushaltsökonomie der Tora 117 118 121 123 127 140 5. OPTION FÜR DIE ARMEN: BEZUGSPUNKT EINER BIBLISCH BEGRÜNDETEN W IRTSCHAFTSETHIK 5.1 Arbeiten - biblische Einsichten 145 145 5.1.1 Arbeit und Zwangsarbeit - eine notwendige Differenzierung146 5.1.2 Gottes Arbeit und des Menschen Arbeit 151 5.1.3 Arbeit und Ruhe - ein ganzheitliches Verständnis 155 5.2 Menschenrecht auf Arbeit 5.3 Wirtschaftsethische Übertragung: Priorität der Arbeit 158 159 6. ANSÄTZE ZU EINER BIBELTHEOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG VON W IRTSCHAFTSETHIK 166 6.1 Wirtschaftsethik in der Bibel 166 6.1.1 Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora 167 6.1.2 Sabbatordnung als Zentrum der Wirtschaftsethik der Tora 177 6.1.2.1 Der Sabbat 177 6.1.2.2 Sabbatjahr und Schuldenerlaß 185 6.1.2.2.1 Sabbatjahr (Ex 23.10f.): Brachjahr 185 6.1.2.2.2 Sabbatjahr (Dtn 15,1-11): Schuldenerlaß 187 6.1.2.2.3 Zinsverbot als Strategie gegen Verarmung und Verelendung 192 (1) Zinsverbot (Ex 22,24) (2) Zinsverbot (Dtn 23 20f.) (3) Zinsverbot (Lev 25,35f.) 6.1.2.3 Jobeljahr (Lev 25,8-55): Schuldenerlaß und Umverteilung 6 197 6.2 Die Wirtschaftsethik der Tora und ihre Wirkungsgeschichte 203 7. BIBEL IN DER W IRTSCHAFTSETHIK: ZUR REZEPTION BIBLISCHER TRADITIONEN IN KIRCHLICHLICHEN ERKLÄRUNGEN 208 7.1 Erklärung der United Church of Christ: 210 “Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit” 7.2 Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland 212 “Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft” 7.3 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit” 214 7.4 Zusammenfassung 220 DRITTER TEIL ÖKONOMIEN IM W IDERSTREIT 8. MARKTWIRTSCHAFT IM PLURAL 8.1 Soziale Marktwirtschaft 226 232 8.1.1 Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft 232 8.1.2 Denkschrift 234 “Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit” (1943) 8.1.3 Biblische Fundierung der Denkschrift 235 8.1.4 Konzeptionelle Entfaltung der Sozialen Marktwirtschaft 246 8.2 “Marktwirtschaft pur”: Der Mythos, daß der Markt sich selber regelt 8.2.1 Der Markt als Garant des Gemeinwohls 8.2.2 Metaphysik des Marktes 8.2.2.1 KULT-Marketing 8.2.2.2 Umdeutung christlicher Ethik 255 255 261 261 269 7 8.2.2.3 Neoliberales Credo: Vertrauen auf den Markt 272 8.2.2.4 Neoliberale Glaubensgemeinschaft 275 8.2.2.5 Totaler Markt 285 8.2.3 Götzenkritik der Hebräischen Bibel im theologischen Erbe 286 8.2.3.1 Biblische Kritik an den Götzen 8.2.3.2 Götzenkritik in der theologischen Tradition 8.2.4 Religion des Marktes 286 289 297 VIERTER TEIL W IRTSCHAFTSETHIK UND W IRTSCHAFTSPRAXIS 9. W IRTSCHAFTSETHISCHE IMPULSE 9.1 Erster wirtschaftsethischer Impuls: Die Würde der menschlichen Arbeit achten 9.1.1 Arbeit ist keine Ware 9.1.2 Arbeit begründet Rechte 9.1.3 Recht auf Arbeit 9.1.4 Rechte aus Arbeit 9.2 Zweiter wirtschaftsethischer Impuls: Solidarisch arbeiten 9.2.1 Gerechter Lohn 9.2.2 Arbeitsumverteilung 9.3 Dritter wirtschaftsethischer Impuls: Mit der Schöpfung versöhnt arbeiten 304 309 310 317 317 322 324 325 333 336 9.3.1 Logik der Nutzung 336 9.3.2 Regulierungen aus dem biblischen Schöpfungsethos 338 9.3.3 Soziale und ökologische Marktwirtschaft 346 9.4 Vierter wirtschaftsethischer Impuls: Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen 347 9.4.1 Regulierung des Marktes in der Tora 348 9.4.2 An Gerechtigkeit und Partizipation gebundene Freiheit 356 9.5 Fünfter wirtschaftsethischer Impuls: Sorgsam haushalten 8 361 9.5.1 Ökonomie als Haushaltsökonomie 9.5.2 Regulierung der Wünsche 9.6 Sechster wirtschaftsethischer Impuls: Bereicherung begrenzen 362 369 375 9.6.1 Ökonomischer Paradigmenwechsel 9.6.2 Regulierungen für den sozialen Ausgleich 375 383 9.6.2.1 Schuldenerlaß (1) Sabbatjahr und Erlaßjahr (2) Sozialethischer Kern: Recht auf einen Neuanfang 384 384 9.6.2.2 Umverteilung (1) Zinsverbot und Jobeljahr (2) Sozialethischer Kern: Schutz vor ökonomischer Abhängigkeit 390 390 9.6.2.3 Machtkontrolle 398 386 392 10. ARBEIT VOR KAPITAL: PERSPEKTIVE FÜR EIN MITWELTGERECHTES W IRTSCHAFTEN 400 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 406 LITERATURVERZEICHNIS 406 SACHREGISTER SCHRIFTSTELLENVERZEICHNIS VORWORT 9 Das vorliegende Buch steht in einem Kontext. Wie eine gewaltige Grippewelle wandert eine Wirtschafts- und Finanzkrise um den Globus. Nach Überzeugung der Welthandels- und Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNCTAD) steht die globale Wirtschaft 1998 “am Rande des Abgrunds”. Von den Ländern Südostasiens lernen, war ein Rat, der noch vor nicht allzu langer Zeit den kränkelnden Volkswirtschaften Europas gegeben wurde. Doch nur innerhalb weniger Monate werden aus dem Wirtschaftsmusterknaben ein sterbenskranker Patient. Ökonomische Zukunftsträume schwinden dahin. Verarmung, Hunger und Elend grassieren. Millionen sind ohne Arbeit. Währenddessen klettern die Aktienkurse in Frankfurt und an der Wall Street von Rekordmarke zu Rekordmarke. Arbeitslosigkeit, die Krise des Sozialstaates und Verarmung im Weltmaßstab begründen eine ganz andere Globalisierung als jene vielgepriesene der Märkte und Finanztransaktionen. Kaum ist der real existierende Sozialismus in sich zusammengefallen, da stürzt der vermeintliche Sieger im Westen in eine schwere Krise. Nach einer Ökonomie zu fragen, die dem Leben dienlich sein kann, ist angesichts dieses Kontextes beileibe keine akademische, sondern eine lebensnotwendige Frage. Das sich abzeichnende Scheitern des neoliberalen Konzeptes von Ökonomie hat eine neue Nachdenklichkeit selbst bei den bisherigen Verfechtern hervorgerufen. Wie kann eine Ökonomie aussehen, die menschengerecht und sachgemäß ist? Die vorliegende Arbeit nimmt sich vor, einen Beitrag in diese Debatte um eine neue Ordnung der Ökonomie einbringen. Sie tut dies unter einer Fragestellung, die gar nicht selbstverständlich scheint. Sie fragt nämlich: Läßt sich aus dem Umgang der Bibel mit der Ökonomie ihrer Zeit etwas lernen für den Umgang mit der Ökonomie unserer Zeit? Jahrtausende liegen dazwischen. Die bäuerliche Ökonomie in dem kleinen Land der Bibel am Mittelmeer scheint wie durch einen tiefen Graben von der globalen Ökonomie unserer Tage getrennt. Die Frage ist deshalb nur zu berechtigt: Können ethische Einsichten und Kategorien aus der Welt der Bauern und Händler zur Zeit der Bibel überhaupt irgendeine Weisung für den globalen Kapitalismus der Gegenwart geben? Sich dieser Frage aussetzen, hat mir gezeigt: Auf die Ökonomie unserer Tage einen Blick zu werfen, der durch das Lesen der Bibel geschärft worden ist, kann erhellend sein. Die vorliegende Arbeit geht auf eine Habilitationsschrift zurück, die im Wintersemester 1998/1999 vom Fachbereich Evangelische Theologie 10 der Universität Marburg angenommen. Für die Drucklegung wurde sie besonders im Hinblick auf neuere Literatur überarbeitet. Mein herzlicher Dank, der sich an alle Mitglieder des dortigen Fachbereichs richtet, gilt in erster Linie Prof. Dr. Dr. Siegfried Keil, Prof. Dr. Wolfgang Nethöfel und Prof. Dr. Rainer Kessler, die durch Ratschläge und Anregungen die Arbeit gefördert und das Gutachten angefertigt haben. Zu danken ist dem Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Marburg dafür, einem alt-katholischen Theologen die Möglichkeit zur Habilitation im Fach evangelische Sozialethik eröffnet zu haben. Ohne das Wohlwollen und die Unterstützung vieler Menschen hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Sie wäre nicht zustande gekommen ohne die zahlreichen Gespräche mit Gewerkschaftern, Unternehmern und anderen Interessierten an der Evangelischen Sozialakademie Friedewald. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich für die anregenden Gespräche mit Prof. Dr. Günter Brakelmann, der unermüdlich Sozialethik mit Blick auf die Realitäten der Arbeitswelt treibt. In den letzten Jahren ist mir die Grundsatzfrage immer dringlicher geworden: Was haben Theologie und Kirche als ein Spezifikum einzubringen, das eben nicht nur verdoppelt, was vernünftigerweise an anderen Stellen auch vertreten wird? Was können Theologie und Kirche in Fragen einer menschenwürdigen Gestaltung der Ökonomie beitragen? Meine Frau Victoria hat sich das Manuskript zugemutet und mit mancher kritischen Hilfe weitergeholfen. Unseren Kindern David und Teresa will ich auf diesem Weg für ihr Verständnis danken, daß sie mich öfter als sonst entbehren mußten, da ich vor Büchern am Schreibtisch und Computer saß. Zu danken ist auch Hildegard Kipping für die sorgfältige und kompetente Betreuung der Endgestalt des Textes und Lic. phil. et theol. Hubert Huppertz für die Mühe der Endkorrektur. Der Hans-Böckler-Stiftung möchte ich danken, die durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß die Veröffentlichung der Arbeit ermöglicht hat. Zu den vorrangigen Aufgaben einer gewerkschaftsnahen Studienund Forschungsförderung gehört es zweifelsohne nicht, theologische Publikationen zu fördern. Gleichwohl jedoch macht die Förderung Sinn: Gerechtigkeit und Solidarität bilden den Kernbestand der christlichjüdischen sozialethischen Orientierung und gehören zu den zentralen Überzeugungen, die Kirchen und Gewerkschaften verbinden und für die sie auf je eigene Weise eintreten. Die Diagnose, daß die Modernisierung zu einer Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer führt, ist ein inzwischen alter, aber leider noch immer richtiger Befund. In ihrem Wirtschafts- und Sozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit beklagen die Kirchen: “Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wert- 11 schätzung.” Doch Gerechtigkeit ist der Schlüsselbegriff christlicher Orientierung. Sie macht die Mitte einer in Jahrhunderten gewachsenen Sozialkultur aus, die sich zutiefst Impulsen christlich-jüdischer Traditionen verdankt. Nicht wenige meinen, Gerechtigkeit wie einen übriggebliebenen Restbestand vergangener Zeiten beiseite legen zu können. Sie tauge nicht als Maßstab zur Beurteilung ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse. Kirchen und Gewerkschaften sind auch heute noch Orte der alten Visionen und der verdrängten Worte wie Recht und Gerechtigkeit für alle, Würde des Menschen, Empörung über Unrecht, Wahrnehmung der Welt aus der Perspektive der Schwächeren. Die aktuellen Herausforderungen erinnern an die alten Themen: die neue Massenarbeitslosigkeit an die alte Sehnsucht nach Gerechtigkeit; die neuen Risse zwischen Wohlstand und Armut an die Solidarität der Starken mit den Schwachen; die neue Armut an Erbarmen und Barmherzigkeit. Vielleicht kann diese Arbeit dazu beitragen, unverdrossen an den alten Aufgaben, die nach wie vor nicht erledigt sind, weiterzuarbeiten und Solidaritäten für eine Modernisierung in und durch Gerechtigkeit zu stiften. 12 PROBLEMANZEIGE Beispiel 1: Die Diskussion über den Sonntag Angesichts der rasanten Ausweitung der Sonntagsarbeit in den letzten Jahren haben die Kirchen sich mit einer solchen Anzahl von Erklärungen und Verlautbarungen geäußert wie zu kaum einem anderen gesellschaftlichen Thema. In ökumenischen Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Verlautbarungen der EKD-Synode und von Landessynoden oder kirchlichen Sozialverbänden haben die Kirchen versucht, gegen den Trend der Ausweitung der Arbeitszeit auf den Sonntag Argumente aus der kirchlichen und biblischen Tradition zur Geltung zu bringen. Die Erklärungen stimmen in einem Aspekt überein: in der Wiederentdeckung des biblischen Sabbat. In der Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 25.1.1988 Unsere Verantwortung für den Sonntag heißt es: “Der Sonntag steht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit dem Sabbat. (...) Wenn der Mensch am Sonntag von all seiner Arbeit innehält und diesen Tag als eine für Gott geheiligte Zeit achtet, sich Gott seinem Schöpfer und Erlöser zuwendet, auf sein Wort hört und Orientierung und Kraft schöpft für die Aufgaben, die vor ihm liegen, erfährt er etwas von der Freiheit, Würde und Menschlichkeit, die Gott schenkt. Der Mensch darf nicht in seiner Arbeit aufgehen. (...) Die Sonntagsruhe ist ein Zentralwert unserer Kultur. (...) Produktion und ebenso ein erfolgreiches Wirtschaften sind wichtig, dürfen aber nicht auf Kosten einer humanen Lebensgestaltung, auf die 1 uns das Gebot Gottes verweist, gehen.” 1 DBK u. EKD, Unsere Verantwortung für den Sonntag. Gemeinsame Erklärung, EKD-Texte 22, Hannover 1988, 5-8. 13 Die Kirchen unterstellen eine Analogie zwischen dem biblischjüdischen Sabbat und dem christlichen Sonntag. Zur Begründung des Sonntag nehmen sie eine in die frühesten Traditionsschichten der Hebräischen Bibel zurückreichende Institution in Anspruch. Die wohl älteste Fassung des Gebotes einer zyklischen Arbeitsruhe am siebten Tag stammt vermutlich aus dem 8. Jahrhundert v.Chr. (Ex 34,21). Die selbstverständliche Bezugnahme der Kirchen auf diese mehr als zweieinhalbtausend Jahre alte Einrichtung wirft jedoch einige Fragen auf: Das Arbeitsruhegebot am Sabbat entstammt einer bäuerlichen Kultur. Kann es für die industrielle Arbeitsgesellschaft, die einem Transformationsprozeß in eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft unterliegt, immer noch gelten? Das Sabbatgebot ist Teil des biblischen Gesetzeswerkes. Hat nicht Jesus selber Kritik an der rigiden Sabbatpraxis seiner Zeit geübt (Mt 12,1-8.9-14; Mk 2,23-28; 3,1-6; Lk 6,6-11; 14,1-6 u.ö.)? Die Arbeitsruhe am Sonntag ist Ergebnis einer Übertragung des Sabbat der Bibel auf den Sonntag als Tag der Auferstehung. Die Kirchen unterstellen eine ungebrochene Traditionsverbindung zum biblischen Sabbat. Immerhin haben die Reformatoren den Tag nicht durch Arbeitsruhe geheiligt sehen wollen. In der Confessio Augustana heißt es: “Denn es irren diejenigen sehr, die meinen, es sei die Ordnung des Sonntags anstelle des Sabbat als (heils)notwendig eingeführt worden. Denn die Heilige Schrift hat den Sabbat abgetan und lehrt, daß alle Zeremonien des alten Gesetzes (des Mose) nach der Eröffnung des Evangeliums unter2 lassen werden können.” Ruhezeit und Zeit für den Gottesdienst sind nach Martin Luther in seinem Großen Katechismus “nicht so an bestimmte Zeiten wie bei den Juden gebunden, daß es eben dieser oder jener Tag sein müsse. Denn es ist an sich selbst keiner besser als der andere, 3 sondern das sollte wohl täglich geschehen.” Die Arbeitsruhe am Sabbat ist hier von Luther theologisch entlegitimiert. Mit welcher Begründung beziehen sich die Kirchen, zumal die Kirchen der Reformation, nun auf ein biblisches Sabbatgebot, um gegen eine Ausweitung der Sonntagsarbeit zu argumentieren? Sind die kritischen Vorbehalte gegenüber ethischen Indikativen und Imperativen nicht ein unaufgebbares Erbe der Reformation? 2 3 Confessio Augustana. Zit. nach: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. vom Lutherischen Kirchenamt, 2. Aufl. Gütersloh 1987, 115f. Martin Luther, Der Große und der Kleine Katechismus, ausgew. von K. Aland und H. Kunst, Göttingen 1983, 15. An anderer Stelle heißt es bei Luther: “Ist Christus unser, so können wir leicht Gesetze aufstellen und alles recht richten. Ja, selbst neue Dekaloge werden wir dann machen, (...). Und diese Dekaloge sind klarer als der des Mose, gleichwie Christi Angesicht klarer ist als das des Mose” (WA 39, 1; 47). 14 Beispiel 2: Gottes Sozialprogramm. Ein Brief aus Afrika Von seinem Partnerkirchenkreis in Muku/Kongo erhielt der evangelische Kirchenkreis Altenkirchen / Westerwald 1997 zum Tag der Partnerschaft eine Lesepredigt, die in einer beeindruckenden Weise die eigene soziale Realität und die der Bibel zusammensieht: An diesem Tag der Partnerschaft zwischen unseren Kirchen in Afrika und denen in Deutschland legen wir Wert darauf, unsere Kirchen daran zu erinnern, daß sie den schwierigen Auftrag haben, den Armen, den Unterdrückten, den Waisen, den Fremden (...) kurz, den Schutzlosen, deren Zahl wächst, Hilfe zu leisten und Schutz zu geben. (...) Niemals haben so viele Menschen unter der Herrschaft des totalen Elends, der Unterdrückung und Gewalt leben müssen. So drängt sich die Frage auf: “Von wo soll Hilfe für uns kommen?” Diese Frage ruft die Verantwortung der Kirche in Erinnerung gegenüber denen, die leiden und schutzlos sind. Wir wollen antworten mit einer Meditation über Psalm 146. Der Psalmist beginnt mit dem negativen Aspekt der Frage, er kritisiert nämlich die Menschen dafür, daß man sich nicht auf sie verlassen kann, wenn man Hilfe und Schutz sucht. Verlaßt euch nicht auf Fürsten, auf Menschen, bei denen es doch keine Hilfe gibt (Ps 146,3). So wird uns klar gemacht, wie vergeblich es ist, sich auf die Großen dieser Welt zu verlassen. Positiv zeigt der Psalmist auf, daß Gott die Quelle der Hilfe ist. Er ist der einzige Förderer der Gerechtigkeit (Ps 103,6), der einzige Schutz und Halt (Ps 101). Von wem bekommen Menschen Hilfe? Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist, und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott, setzt (Ps 146,5). In zwölf Aussagen skizziert der Psalmist das Sozialprogramm oder Hilfsprogramm Gottes für diejenigen, die schutzlos sind, die keine Stimme haben, die Vergessenen dieser Erde (...). Recht verschafft er den Unterdrückten, den Hungernden gibt er Brot; der Herr befreit die Gefangenen. Der Herr öffnet den Blinden die Augen, er richtet die Gebeugten auf. Der Herr beschützt die Fremden und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht. Der Herr liebt die Gerechten, doch die Frevler leitet er in die Irre (Ps 146,7-9). 15 Diese Aussagen beschreiben das Sozialprogramm Gottes. Um dieses Programm zu realisieren, greift Gott auf den Menschen zurück, dieser ist das Werkzeug, der Gottes Programm in die Tat umsetzen soll. Und damit ist klar, daß die Kirche sich Jahwes großes Sozialprogramm für die „ohne Schutz‟ zu eigen macht. Für die Kirche kann es nicht darum gehen, bloß zuzuschauen. An diesem Sozialprogramm ist die Kirche beteiligt, sie ist Mitarbeiterin Gottes. Ihre Mitwirkung beruht auf einer Dynamik, in der es nicht auf Reichtümer ankommt, sondern auf die Menschen, die von dem lebendig gehalten werden, der die Quelle der Hilfe schlechthin ist.- (Gekürzt) Die Auslegung des Psalms und die Begründung der Arbeitsruhe am Sonntag stellen zwischen den sozialethischen Aussagen der Bibel und gegenwärtigen Herausforderungen eine Verbindung her. Mit Argumenten aus der biblischen Überlieferung wird die eigene Notlage im Kongo zur Sprache gebracht. Das Elend im Kongo und die Situation, die hinter dem Psalm steht, scheinen einander so nah, daß sie sich gegenseitig interpretieren können. Der Kontext in dem vom Bürgerkrieg geschüttelten Land und der Text des Psalms legen sich wechselseitig aus. Es gibt einen Aufbruch zu einer neuen Lesart der Bibel, die sich ganz wesentlich der Theologie der Befreiung verdankt. Die Bibel wird wiederentdeckt. Die konkreten Erfahrungen mit Armut, Unterdrückung und Elend werden zum Spiegel der Bibellektüre - und umgekehrt. Kaum beachtete Traditionen der Bibel werden gelesen, wiederentdeckt und in die Auseinandersetzung um mehr Gerechtigkeit und Würde eingebracht. Diese Lesart der Bibel ist nicht abstrakt. Sie kommt aus der Praxis und ist auf sie hingerichtet. Diesen Aufbruch zu einer neuen Art der Bibellektüre gibt es auch in Deutschland. Anders als früher garnieren die Kirchen ihre Erklärungen nicht mehr nur mit assoziativen Bibelzitaten. Die Wirtschaftsdenkschrift Gemeinwohl und Eigennutz(1991) und das Gemeinsame Wort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit(1997) sind markante Beispiele für eine Wiederentdeckung des biblischen Arguments in der Ethik. Auch die Begründungen für den Erhalt des Sonntags belegen diesen Lernprozeß der Kirchen, hatte doch die EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen noch 1982 ohne Gedanken an den Sonntag reine Wochenendschichten, also über den Sonntag hin4 weg, vorgeschlagen. 4 Gütersloh 1982, 53. - Dort heißt es: “... besondere Arbeitsplätze für das Wochenende bei vollkontinuierlichem Betrieb anzubieten,...; hier muß also allerdings die Gefahr einer vermehrten Schichtarbeit bedacht werden.” - Kein Hinweis auf das Problem des gesellschaftlichen Ausschlusses oder auf die Frage nach dem Erhalt des Sonntags. 16 Der Konflikt um die Geltung der Arbeitsruhe am Sonntag hat exemplarische Bedeutung. Angesichts des Aufeinandertreffens von ökonomischer Logik und ethischen Orientierungen wird mit dem Sabbat eine normative Entscheidung zugunsten einer “humanen Lebensgestaltung” getroffen, wie es in der Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Sonntag heißt. Die Kirchen orientieren sich an einer jahrtausendealten Tradition, die den biblischen Sabbat als Garanten einer “humanen Lebensgestaltung” betrachtet. Er stehe für eine “Freiheit, Würde und Menschlichkeit, die Gott schenkt.” Doch diese unmittelbare Orientierung der Kirchen am biblischen Sabbatgebot trügt. Der heutige Sonntag ist nämlich keineswegs der direkte Erbe des biblischen Sabbat. Der Sabbat durchlief immer schon einen Prozeß der Anpassung. Unter den sehr verschiedenen sozio-ökonomischen Verhältnissen in der frühen Agrarkultur und Stadtkultur im Alten Israel wurde der Sabbat keineswegs einheitlich gehalten. Auch durch die Geschichte des Christentums zieht sich eine vielschichtige Traditionslinie im Erbe des Sabbat. Es gibt eine bewußte Distanzierung von der biblischen Sabbattradition und eine Geschichte der Neuanpassung des biblischen Gebots an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse. Das Gesicht des biblischen Sabbat hat sich verändert, wie sich auch das des christlichen Sonntags. Gibt es eine Kontinuität? Die Kontinuität besteht in einem doppelten Anliegen: zum Wohl des Menschen und der Schöpfung die Arbeit zu unterbrechen und den ökonomischen Anspruch auf die ganze Zeit zu begrenzen. Der Rückbezug auf die biblische Tradition ist allerdings nicht unproblematisch, wie unterstellt wird, sondern stellt Fragen, die im Folgenden angesprochen werden sollen. Die Hebräische Bibel kennt ein Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht. Kann jene kreative Aneignung der biblischen Traditionen, wie sie die Kirchen bei der Begründung der Arbeitsruhe am Sonntag mit dem samstäglichen Sabbat vollziehen, in ähnlicher Weise auch für andere biblische Weisungen der Tora gelten? Kann das biblische Sozialrecht irgendeine Bedeutung für eine konstruktive Gestaltung einer menschengerechten Ordnung der heutigen Wirtschaft haben? Jesus hat Kritik am Gesetz geübt. Paulus betont die Freiheit gegenüber dem Gesetz. Deuten die torakritischen Aussagen der neutestamentlichen Schriften auf einen Gegensatz zwischen Jesus und der neutestamentlichen Tradition einerseits und der Tora andererseits? Oder sind diese torakritischen Aussagen im Horizont des innerjüdischen Ringens um die Geltung der Tora und deren rechtes Verständnis zu verstehen? Zeichnet sich in den 17 neutestamentlichen Schriften ein eigener, selektierender, interpretierender, kreativ-neuschaffender Umgang mit der Toraüberlieferung ab? Den Sabbat verstehen die Kirchen in ihrer Erklärung als Symbol einer “humanen Lebensgestaltung”. Gibt es wie beim Sabbat einen bleibenden Kern oder wertentscheidende Normen, an denen die Tora bei aller Dynamisierung festgehalten hat? Enthält die Tora Vorstellungen von einem guten Leben, von denen wir uns - auch in anderer Hinsicht - inspirieren lassen können? Ökonomie in einen Zusammenhang mit Ethik zu bringen, ist das Anliegen des wirtschaftsethischen Diskurses. Welche Impulse zu einem sozial und ökologisch gerechten Wirtschaften lassen sich aus der Tora gewinnen? Wie kann eine kreative und dynamische Aneignung der biblischen Traditionen für heutige wirtschaftliche Herausforderungen gelingen? Wo liegen die Grenzen? Die Bibel stammt aus einer fremden Kultur, einer fremden Ökonomie und Gesellschaft. Gibt es Weisheiten, Einsichten, Kategorien oder Orientierungen der biblischen Tradition, die gerade dadurch, daß sie einer fremden Zeit entstammen, einen neuen Blick auf unser Haus “Erde” erlauben, unsere Plausibilitäten durchbrechen und die Fähigkeit zu utopischem Denken wecken können? 18 INTERESSE, ARBEITSWEISE UND METHODE Die Ausgangshypothese der vorliegenden Arbeit bildet die Aussage des Alttestamentlers Frank Crüsemann: “Christliche Wirtschaftsethik wird sich wie jede Form protestantischer Theologie letztlich an der Bibel zu 5 orientieren haben.” In seiner Monographie über die Tora präzisiert er diese Aussage zu einer Forderung an die Sozialethik, wenn er sagt, “daß unbeschadet des historischen Abstandes allein die Tora die Grundlage 6 einer biblisch orientierten christlichen Ethik sein kann.” Frank Crüsemann begründet diese kritische Anfrage an die theologische Ethik mit der Beobachtung, daß wirtschaftsethisch relevante Traditionen der Bibel kaum bekannt seien und in der Ethik nicht rezipiert würden. Seine Anfrage an die Ethik soll als eine Hypothese aufgenommen werden, die einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Die vorliegende Arbeit greift die Forderung des Alttestamentlers Frank Crüsemann auf, die Tora als Grundlage der christlichen Ethik zu verstehen und fragt danach, ob die Tora Impulse und Orientierungen enthält, die für den wirtschaftsethischen Kontext von heute fruchtbar gemacht werden könnten. Tora meint im engeren Sinn die Gesetzestexte der Hebräischen Bibel, darüber hinaus aber auch den Pentateuch, und wurde später ausgeweitet zur Bezeichnung des ganzen biblischen Kanons. Umstritten ist die Geltung und Reichweite biblischer Grundlagen einer Sozialethik. Wirtschaftsethik soll in dieser Arbeit mit der Exegese so in einen Zusammenhang gebracht werden, daß die Toratradition mit ihren 5 6 F. Crüsemann , “... wie wir vergeben unseren Schuldigern.” Schulden und Schuld in der biblischen Tradition, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 90. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 424f. 19 Einsichten, Orientierungen, Wertüberzeugungen und Kategorien zur Geltung kommt und einen konstruktiven, inspirierenden Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten Ordnung der Ökonomie leisten kann. Die Hebräische Bibel enthält eine ethisch gehaltvolle und politisch wirksame Erinnerung, die auf Ägypten und dortige Verhältnissen des Unrechts inmitten einer Hochkultur zurückverweist. Diese Erinnerung durchzieht wie ein roter Faden die ganze Hebräische Bibel. Wirksam wurde diese Erinnerung, indem sie ein Ethos entfaltete, das die Lebensverhältnisse im Alten Israel gestaltete. Die Vergangenheit wird erinnert, um eine Rückkehr in ägyptische Verhältnisse abzuwehren und eine andere, eine gute Zukunft zu gewinnen. Ethisch ist nicht die Frage vorrangig bedeutsam, was historisch tatsächlich gewesen ist. Das historische Argument kann zwar dem ethischen ein zusätzliches Gewicht geben, doch es begründet noch keine Normativität. Die vorliegende Arbeit bezieht sich hauptsächlich auf die Hebräische Bibel, berücksichtigt aber auch neutestamentliche Traditionen, soweit diese ausdrücklich wirtschaftsethische Aspekte ansprechen. Zwei Gesichtspunkte seien an dieser Stelle vorab in aller Kürze genannt: Das Neue Testament gehört erstens in den Horizont der Tora und setzt sie voraus; es setzt sie nicht außer Kraft, sondern radikalisiert sie eher, als daß es sie relativiert. Zweitens hatte die Tora eine mehrhundertjährige Zeit zur Traditionsbildung zur Verfügung, in der sie sich mit den sozioökonomischen Verhältnissen auseinandersetzen und eigene Rechtssysteme zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse entwickeln konnte, während das Neue Testament in nur wenigen Jahrzehnten entstand. Aus diesen Gründen ist es angemessen, die ganze Bibel aus Tora und den neutestamentlichen Schriften zur Grundlage einer theologischen Wirtschaftsethik zu machen. Wenn nach der Relevanz biblischer Traditionen für gegenwärtiges Wirtschaften gefragt wird, soll nicht unterstellt werden, daß die Bibel die einzige ethische Erkenntnisquelle für den Christen darstellt oder darstellen kann, auch wenn sie sehr wohl einen Vorrang vor anderen Erkenntnisquellen einnimmt. Bruce C. Birch und Larry L. Rasmussen betonen deshalb in ihrem Buch über Bibel und Ethik im christlichen Leben als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, daß “christliche Ethik nicht gleich7 bedeutend mit biblischer Ethik” sein könne. Theologisch reicht die Bibel keineswegs aus, aber sie ist norm- und formgebend für die Ethik. Neben biblischen Gesichtspunkten sind auch die Beiträge der Christentumsgeschichte gerade angesichts der weithin zu beobachtenden Traditionsvergessenheit zur Herausbildung einer Sozialethik heran- 7 B.C. Birch u. L.L. Rasmussen, Bibel und Ethik im christlichen Leben, Gütersloh 1993, 15. 20 zuziehen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit können allerdings nur punktuelle Hinweise gegeben werden. Dieses Arbeitsvorhaben muß sich auf einen exemplarischen Ansatz beschränken, der lediglich verdeutlichen kann, ob die Ausgangshypothese, die sich auf die Anfrage von Frank Crüsemann an die Ethik bezieht, überhaupt tragfähig ist. Eine Wirtschafts- und Sozialethik, die sich dieser Forderung von seiten der Exegese stellen will, steht in einem doppelten Zusammenhang: zum einen mit der Exegese, deren Forschungsergebnisse sie wahrnehmen und rezipieren muß, zum anderen mit den Sozialund Wirtschaftswissenschaften. Deren Sachfragen und Erkenntnisse wird sie gleichfalls rezipieren müssen. Sie befindet sich somit in einer doppelten Vermittlungsfunktion. Diese kann sie nur wahrnehmen, wenn sie sich über das hermeneutische Problem der Vermittlung exegetischer Ergebnisse in bezug auf gegenwärtige wirtschaftliche Fragestellungen Rechenschaft gibt. Die entscheidende Frage lautet: Welche Wege gibt es, den garstigen Graben zwischen Galiläa und dem globalen Markt zu überwinden? Argumentativer Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist der Standort an der Seite derer, die nicht Teil des gesellschaftlichen Systems und seiner Rationalität sind. Eine Sicht von deren Standort aus entwickelt eine andere Sicht auf die Realität. Diese andere Realität ist die Welt jener, die aus der herrschenden Logik und Rationalität ausgeschlossen sind: Es ist nicht die Welt der Rationalisierungsgewinner, sondern die der Rationalisierungsverlierer sowie derer, die keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben, in existentiellen Arbeitsplatzängsten leben oder trotz Arbeit über ein so geringes Einkommen verfügen, daß sie als arm gelten. Den Ausgangspunkt bildet also eine biblisch begründete Option für die Armen. Sie betrachtet das Wirtschaftsleben nicht aus der Perspektive der Modernisierungsgewinner und der herrschenden Akteure, sondern vielmehr aus der Sicht jener, die Opfer oder Leidtragende gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen sind, und räumt ihnen einen argumentativen Vorrang ein. Sie fragt, wer für wen welche Werte schafft. Wer hat davon einen Nutzen? Wer trägt die Kosten? Die Option für die Armen bedeutet für die Wirtschaftsethik, einen perspektivischen Standort an der Seite der Anderen, der Armen und Schwächeren einzunehmen und von dort her perspektivisch die Wirtschaftsfragen in den Blick zu nehmen, Themenauswahl sowie Themenstellung zu bestimmen und nach den Auswirkungen ökonomischer Sachverhalte auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zu fragen. Der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich rückt in seinem neuesten Buch Integrative Wirtschaftsethik. 21 8 Grundlegung einer lebensdienlichen Ökonomie in den Mittelpunkt: Nicht die möglichst effiziente Schaffung von Marktwerten soll “das entschei9 dende Mass der Wirtschaft” sein, sondern vielmehr deren Lebensdienlichkeit. Wie es dem Menschen und besonders den armen Anderen in einem System ergeht, ist das zentrale sozialethische und theologische Kriterium zur Beurteilung eines jeden Wirtschaftssystems. Indem eine theologische Wirtschaftsethik dieses Kriterium anlegt, präzisiert sie, was die Lebensdienlichkeit der Ökonomie bedeutet. Wer kann im Kontext der Bundesrepublik Deutschland und anderer Industriegesellschaften analytisch und theologisch mit jener biblisch fundierten Option für die Armen gemeint sein? Hat jede Gesellschaft zeitund kontextunabhängig ihre Armen? Wer ist ausgeschlossen? Die vorliegende Arbeit versucht darzulegen, daß die sozialethische und theologische Option für die Armen auf eine Situation reagiert, die jener der abhängigen Arbeit in kapitalistisch verfaßten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen wenigstens in ihren grundlegenden Aspekten entspricht. In der real existierenden Marktwirtschaft besteht ein Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit. Der Faktor Arbeit befindet sich in einer Position der Unterlegenheit. Die vorliegende Arbeit knüpft an diesem Tatbestand an und fragt nach einer wertenden Analyse des Ungleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit. Reagiert die biblische Option für die Armen auf ein vergleichbares Machtgefälle, wie es sich auch in der Unterlegenheit der Arbeit gegenüber dem Kapital zeigt? Bringen die ethische Option für die Armen und die Option für den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital ein vergleichbares Anliegen zur Sprache? Die grundlegende Frage lautet: Bedarf eine theologische Wirtschaftsethik überhaupt einer biblischen Fundierung? Eckart Müller sieht in seiner Arbeit über Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft das unterscheidende Merkmal evangelischer Sozialethik “in einem inhaltlich bestimmten Grundverständnis von Welt und Mensch (...), wie es sich aus den Grundaussagen des christlichen Glaubens nach 8 9 Bern/Stuttgart/Wien, 2. durchges.Aufl. 1998. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 204. Schlüsselbegriff der integrativen Wirtschaftsethik ist die Lebensdienlichkeit der Ökonomie. Peter Ulrich ist einer vernunfts- und diskursethischen Begründung von Wirtschaftsethik verpflichtet, während ich auf biblische Traditionen zurückgreife. Die Argumentationen gehen trotz des unterschiedlichen Begründungsansatzes passagenweise parallel und überschneiden sich teilweise. Beide Ausarbeitungen erfolgten zeitlich parallel und in wechselseitiger Unkenntnis. Diese Nähe empfinde ich als Bestätigung meines wirtschaftsethischen Ansatzes. Für die Druckfassung der Habilitationsschrift habe ich die Ausführungen von P. Ulrich berücksichtigt. 22 10 evangelischem Verständnis ergibt.” Wie wird das inhaltliche Grundverständnis begründet? Eckart Müller verzichtet jedenfalls auf eine biblisch begründete Argumentation für das, was er das evangelische Grundverständnis von Welt und Mensch nennt. Sein Ansatz kann geradezu als Beleg für eine theologische Ethik gelten, die meint, ohne expliziten Rückbezug auf Einsichten der exegetischen Wissenschaften zu einem sozial- oder wirtschaftsethischen Urteil kommen zu können. Mit zehn Optionen markiert er inhaltliche Voraussetzungen für eine sozialethische und theologische Wirtschaftsethik. Doch keine dieser Optionen wird ausdrücklich biblisch begründet. Müller verzichtet darauf, seine Optionen theologisch oder biblisch zu qualifizieren. Inhaltlich sprechen sie nicht mehr als das an, was in der gegenwärtigen wirtschaftsethischen Debatte zur Diskussion ansteht und vernünftigerweise sowieso thematisiert werden sollte. Meine These ist, daß Müller sich die Chance nimmt, das Spezifikum einer theologischen Wirtschaftsethik zur Sprache zu bringen, gerade weil er auf einen biblischen Rückbezug verzichtet. Diese theologische Wirtschaftsethik nennt keinen Gesichtspunkt, der nicht auch im rationalen Diskurs ohne das Attribut “theologisch” berücksichtigt würde. Die Optionen spiegeln also nur die allgemeine gegenwärtige Diskussionslage. 11 Ganz anders argumentiert der Ethiker Eilert Herms. Er gehört zu den wenigen Ethikern, die darauf bestehen, daß eine Wirtschaftsethik erst dadurch zu einer theologischen Wirtschaftsethik werde, wenn sie auf die biblische Tradition zurückgreife. Seine These lautet: Christliche Ethik sei genau daran zu erkennen, daß sie sich auf biblische Quellen beziehe. Er erwartet also von einer theologischen Wirtschaftsethik, daß sie spezifische Begründungen einbringt, die nur biblische sein können. Bibel und christliche Traditionen können dabei allerdings nicht autoritativ und deduktiv vorgebracht werden, sondern können immer nur verbindliche Maßstäbe oder verbindliche Begründungsinstanzen für ethische Vorzüglichkeitsurteile über einzelne in konkreten Situationen wählbare Ziele und Wege sein, die jeweils von den Entscheidungsträgern selbst gefunden 12 werden müssen. Die Verantwortung des ethischen Subjekts kann sich also nicht mit dem Rückbezug auf eine Autorität biblischer Kriterien be10 11 12 E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft und die Möglichkeiten ihrer Rezeption durch eine evangelische Wirtschaftsethik, Neukirchen-Vluyn 1997, 201. E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik. Das Problem ihrer bibeltheologischen Begründung und ihres spezifischen Beitrags zum wirtschaftsethischen Diskurs, in: Bilder der Gerechtigkeit, hg. von ESG und KDA, Vorlesungsreihe an der Universität Konstanz, Wintersemester 1990/91, Konstanz.o.J. (als Manuskript gedruckt) 81-109. Auch abgedruckt in: Baadtke, Günter u. Rauscher, Anton (Hg.), Wirtschaft und Ethik (Kirche heute, Bd. 5), Graz 1991, 31-69. E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 105. 23 gnügen. Der Ansatz von Eilert Herms ist für den weiteren Gang der hier vorliegenden Untersuchung von systematischer Bedeutung. Jüngst hat Traugott Jähnichen eine theologische Wirtschaftsethik vorgelegt, die sich vornimmt, “jenseits prinzipieller Behauptung oder Abweisung der Geltung und Aktualität der alttestamentlichen Wirtschaftsgesetze” nach den biblischen Grundlagen einer ethischen Urteilsbildung in einer “offenen, heu13 ristischen Perspektive” zu fragen. Er weiß sich dabei den lutherischen Einwänden gegen eine autoritative Geltung der Tora verpflichtet. Das Schwergewicht seiner Argumentation liegt dabei in ethischen Traditionslinien der Christentumsgeschichte. Wolfhart Pannenberg registriert, daß die aus christlichen Wurzeln erwachsenen ethischen Anschauungen nach Ablösung von ihren Wurzeln ihre prägende Kraft verloren hätten. Deshalb bedürfe es heute für die Christenheit dringend einer Erneuerung ihrer ethischen Urteilsbildung 14 aus der Kraft des Glaubensbewußtseins. Die Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, indem sie nach der normgebenden Kraft der biblischen Ethos für wirtschaftsethische Problemstellungen fragt. Dabei braucht der Anspruch auf humane Allgemeingültigkeit keineswegs aufgegeben werden, auch wenn eine Allgemeinverbindlichkeit von Normen christlicher Ethik wohl kaum erreicht werden kann. Diskursiv ist vielmehr mit anderen wirtschaftsethischen Entwürfen und Begründungen um die Plausibilität dessen, was gelten soll, zu ringen. Das ethische Argument, das sich biblischen Perspektiven verdankt, muß darüber hinaus in einer Vermittlung mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verantwortet werden. Der Sozialethiker Arthur Rich hat auf diese Verschränkung des Ethischen mit dem Sachgemäßen hingewiesen und betont, “daß nicht wirklich menschengerecht sein könne, was nicht sachgemäß ist, und nicht wirklich 15 sachgemäß, was dem Menschengerechten widerstreitet.” Die bloß formale sozialethische Forderung nach einer menschengerechten Ordnung der Wirtschaft ist in ihrer Unbestimmtheit wohl allgemein zustimmungsfähig. Kontrovers jedoch wird es zugehen, wenn die formale Kategorie des Menschengerechten material bestimmt wird. Die vorliegende Arbeit nimmt sich vor, einen Beitrag zur Bestimmung des materialen Gehaltes des Menschengerechten für eine theologische Wirtschaftsethik zu leisten, indem sie auf biblische Traditionen zurückgreift und diese mit wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Einsichten verbindet. Meine zent- 13 14 15 24 Jähnichen, T., Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur. Sozialethische Studien zu grundlegenden anthropologischen und institutionellen Bedingungen ökonomischen Handelns, Münster 1998, 49. W. Pannenberg, Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen, 1996, 100. A. Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1, Gütersloh 1984, 81. rale These lautet daher: Die Hebräische Bibel, die Tora oder allgemeiner: die Biblischen Schriften stehen für eine material bestimmte Traditionslinie, die konkretisieren kann, was die Wertkategorie “menschengerecht” bedeutet. Wie ein roter Faden durchzieht die Bibel eine normative Logik der Humanität, die in Auseinandersetzung mit der Ökonomie ihrer Zeit entstanden ist. Die Tora enthält eine eindeutige Vorzugsregel: Die Logik der Humanität erhält einen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Ansprüchen. Die ethischen Einsichten und normativen Wertüberzeugungen der Toratradition und das Sachgemäße der Ökonomie sollen kritisch so integriert werden, daß das Sachgemäße dem ethischen Argument und das ethische Argument den Ansprüchen der Sache genügen kann. Zentral für die wirtschaftsethischen Überlegungen ist die Frage nach dem, was eigentlich Wirtschaften ist. Die gängigen Definitionen verstehen Wirtschaften als Umgang mit Knappheit. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen sollen so genutzt werden, daß ein Höchstmaß an Gütern und Dienstleistungen geschaffen werden kann. Aus dieser Definition ergeben sich ökonomische Ziele und Verhaltensweisen mit wirtschaftsethischen Implikationen. Dieser geläufigen Definition von Wirtschaften soll eine Vorstellung von Wirtschaften in den Abschnitten 4.2 sowie 9.5 gegenübergestellt werden, die aus der ökumenischen Debatte stammt und biblische Anhaltspunkte hat: Wirtschaften in diesem Sinn ist nicht ein Umgang mit Knappheiten, sondern mit Vertrauen auf die Fülle der Schöpfung Gottes. Beiden Konzeptionen von Ökonomie liegen zwei unterschiedliche normative Logiken zugrunde. Deshalb stellt die ToraÖkonomie nicht eine bloß vor-moderne und insofern überholte Ökonomie dar. Sie verwirklicht vielmehr eine andere, eine alternative Ökonomie, die auch einer anderen normativen Logik folgt. Das Studiendokument des Ökumenischen Rates der Kirche Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft (1992) trägt einen Titel, der diesen anderen ökonomischen Wertbegriff zum Ausdruck bringt: Leben und volle Genüge für al16 le . Handlungsprinzip dieser Sicht von Wirtschaften ist dann nicht die Ef17 fizienz, sondern die Suffizienz, eben eine “Ökonomie des Genug” . Kann eine Rückbesinnung auf die ökonomische Wertüberzeugung der Tora für die moderne globale Ökonomie eine Entwicklungsperspektive sein? Interessant wäre es, diesen ökonomischen Wertbegriff für eine evangelische Wirtschaftsethik durchzubuchstabieren, die das reformatorische Ver16 17 ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben und volle Genüge für alle”, in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992. Eine Ökonomie des Genug als ein neues ökonomisches Paradigma ist entfaltet in: B. Goudzwaard u. B. de Lange, Weder Armut noch Überfluß. Plädoyer für eine neue Ökonomie, München 1990. Weitere Ausführungen in Abschnitt 9.5.1. 25 ständnis von Rechtfertigung für Fragen des Wirtschaftens auslegt. Zwischen einer Ökonomie als Umgang mit Vertrauen auf die gute Schöpfung Gottes und dem reformatorischen Verständnis des Glaubens als Vertrauen oder der Rechtfertigung, die um das unverdiente Geschenk des Lebens und der Gnade weiß, ließen sich viele Bezüge herstellen. Der alleinigen Ausrichtung einer Ökonomie auf Machbarkeit, Produktionssteigerung, Wachstum, Leistung und Effizienz könnten Aspekte einer reformatorisch begründeten Grundhaltung gegenübergestellt werden, die das Evangelisch-reformatorische einer theologischen Wirtschaftsethik akzentuieren könnte. Diese Aspekte werden im Abschnitte 9.5 kurz ausgeführt, müßten jedoch stärker systematisch ausgearbeitet werden. Diese Aufgabe sei an dieser Stelle nur genannt. Sie systematisch zu bearbeiten, kann nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen sein. Die vorliegende Arbeit geht in folgenden Schritten vor: Nachdem im 1. Abschnitt hermeneutische Vermittlungswege zwischen der Welt der Bibel und gegenwärtigen Wirtschaftsfragen dargestellt worden sind, sollen im 2. Abschnitt die verschiedenen ethischen Zugänge zu Wirtschaftsfragen diskutiert werden. Wie lassen sich Ethik und Ökonomie vermitteln? Im 3. Abschnitt sollen daraufhin die hermeneutischen und argumentativen Ansätze von Clodovis Boff und Enrique Dussel aufgegriffen werden, die eine Anfrage von unten oder von außen an das Wirtschaftssystem sozialethisch qualifizieren. Hier ist auch der Ort, die politische Ökonomie als eine ethisch gehaltvolle und politisch praktikable Alternative darzustellen. Diese Ansätze treffen sich im 3. Abschnitt mit der innerbiblischen dynamischen Hermeneutik unter dem Gesichtspunkt einer Option für die Armen. Die Abschnitte 4, 5 und 6 befragen die Toratradition nach den einzelnen Elementen ihrer Wirtschaftsethik. Welche wirkungsgeschichtlichen Folgen hatte die Toratradition? Wie beerben die Kirchen diese wirtschaftsethisch relevanten Traditionen in ihren Verlautbarungen und Erklärungen? Ökonomie und Ethik sind immer schon real vermittelt; sie müssen nicht erst im nachhinein vermittelt werden. Welche impliziten Ethiken finden sich in den Wirtschaftskonzepten und Wirtschaftspolitiken? Welche sollten verstärkt, welche zurückgedrängt werden? Wie diese Vermittlung von Ethik und Ökonomie in der Theorie zweier alternativer marktwirtschaftlicher Konzepte erfolgt, soll im 8. Abschnitt dargestellt werden. Am Beispiel der Begründungen des Wirtschaftsstils der Sozialen Marktwirtschaft wird herausgearbeitet, daß ausdrücklich eine ethische, ja sogar explizit biblische Fundierung dieses Wirtschaftsstils gesucht wurde. Das Gegenkonzept in Gestalt der neoliberalen Marktwirtschaft bedient sich ebenfalls in auffallender Weise theologischer und religiöser Begriffe. Im 9. Abschnitt werden sechs wirtschaftsethische Impulse dargestellt, die wirtschaftsethische Einsichten der Toratradition mit 26 gegenwärtigen Wirtschaftsfragen in Beziehung setzen und Umrisse einer lebensdienlichen Ökonomie beschreiben. Jeder einzelne der wirtschaftsethischen Impulse hätte es verdient, zum Gegenstand einer Einzeluntersuchung gemacht zu werden, eine solche detaillierte Behandlung jedoch konnte nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit sein. 27 28 ERSTER TEIL ZUM VERHÄLTNIS VON ETHIK UND ÖKONOMIE 29 1. VOM GARSTIGEN GRABEN ZWISCHEN GALILÄA UND DEM GLOBALEN MARKT 1.1 Wirtschaftsethik als Krisenindikator Gegenwärtiges Wirtschaften ist zum Problem geworden. “Die Utopie, von der die Industriegesellschaften seit zwei Jahrhunderten zehrten, geht in 18 Stücke.” Das schrieb André Gorz im Epochenjahr 1989. Aber sein Urteil bezieht sich nicht auf den Niedergang des real existierenden Sozialismus. Gemeint war vielmehr von André Gorz jene dem Kapitalismus wie dem Sozialismus gleichermaßen zugrundeliegende Vorstellung der Arbeitsgesellschaft, in der alle auf der Basis von Erwerbsarbeit Anteil am Wohlstand haben können. Diese Utopie der Moderne hat sich blamiert. Die zentralen Herausforderungen, denen sich die Menschheit zum Ende des 2. Jahrtausends gegenübergestellt sieht, resultieren zu einem nicht geringen Teil aus menschlichem Handeln. Wenn national und weltweit weiter so gewirtschaftet wird wie bislang, steht ein ökologischer, aber auch ein sozialer Kollaps bevor. Die Schere zwischen Arm und Reich geht innerhalb Deutschlands, zwischen Ost und West und erst recht zwischen Nord und Süd rasant auseinander. Die ökonomische und soziale Polarisierung verläuft längst nicht mehr entlang der Grenzen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, sondern quer durch die Gesellschaften im Norden und im Süden. Aus dem Traum der Moderne von Fortschritt, Entwicklung und naturwissenschaftlicher Beherrschung der Welt wird ein Alptraum: Die Grundlagen der Existenz selber stehen auf dem Spiel. Der Soziologe Ulrich Beck charakterisiert die fortgeschrittene Moderne als eine “Risikogesellschaft”, denn die gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne geht “systematisch einher mit der gesell19 schaftlichen Produktion von Risiken.” Die ärgste Not droht nun mitten 18 19 A. Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin 1989, 23. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, 25. 30 in einer Welt, die bis in die natürlichen Grundlagen hinein ein Werk von Menschenhand ist. Angesichts des sozialen und ökologischen Desasters, in das die fortgeschrittene Moderne geraten ist, verwundert es nicht, daß die Frage nach der Ethik des Wirtschaftens gestellt wird. Otfried Höffe spricht von 20 “Moral als einem Preis der Moderne” . Doch diese allgemeine geistesund kulturgeschichtliche Signatur der Zeit allein drängt noch nicht zur Suche nach einer Ethik des Wirtschaftens. Es sind vielmehr auch die bis in die Alltagswelt hineinreichenden Krisenerfahrungen, die nach der Ethik des Wirtschaftens fragen lassen. Das Unbehagen an einer Wirtschaft ohne Moral und auch an einer Wirtschaftswissenschaft, die sich ethik21 und wertneutral glaubt, wächst. 22 So steigt die Nachfrage nach Wirtschaftsethik. Karl Homann deutet das wachsende Interesse an Wirtschaftsethik im Lexikon der Wirtschaftsethik folgendermaßen: “Die moderne Wirtschaftsethik läßt sich als Reflex des wachsenden Verlangens verstehen, das wirtschaftliche Handeln wieder stärker an moralischen Idealen wie Humanität, Solidari23 tät und Verantwortung zu orientieren.” Ökonomisches Handeln hat sich demnach zunehmend von humanen und sozialen Werten abgekoppelt. Das Anliegen von Wirtschaftsethik ist es deshalb, Ökonomie erneut in einen engeren Zusammenhang mit Ethik zu bringen. In der Wirtschaftsethik überschneiden sich die sozialethische Dimension, die nach der strukturellen Ordnung fragt, und die individualethische, 20 21 22 23 O. Höffe, Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt 1993. Nach einer Untersuchung der WirtschaftsWoche hatten im August 1994 noch 53% eine gute Meinung vom Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft, Ende 1996 waren es gerade noch 40%. Spiegelbildlich stieg die Zahl derer, die keine gute Meinung vom System hatten, von 23% auf 29%. Die WirtschaftsWoche spricht von einem “besorgniserregenden Ergebnis” ( WirtschaftsWoche Nr.4 vom 16.1.1997, 25ff.). Vgl. die Ausführungen in: F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder amerikanischer Kapitalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit den Abschied geben.” in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen, Bochum 1997, 11-16. Vgl. u.a. F. Hengsbach, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1988, 127-150; ders., Wirtschaftsethik. Aufbruch - Konflikte - Perspektiven, Freiburg 1991; A. Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1, Gütersloh 1984; ders., Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Bd. 2, Gütersloh 1991; Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis, Göttingen 1994; H. Dieffenbacher u. E. Müller, Wirtschaft und Ethik. Eine kommentierte Bibliographie (Texte und Materialien der FEST), Heidelberg Bd. 1, 1992; Bd. 2, 1994; K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen, 1992, vgl. den Literaturbericht: E. Stübinger, Wirtschaftsethik I., in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 148ff.; II. in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 226ff.; K. Homann, Art. Wirtschaftsethik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik, hg. von G. Enderle u.a., Freiburg 1993, Sp. 1287. 31 die nach der ethischen Verantwortung der Akteure fragt. Sozialethische Gesichtspunkte rücken zwar in den Vordergrund, ohne jedoch individualethische zu verdrängen. Wirtschaftsethik reflektiert das Handeln der Akteure innerhalb der Wirtschaftsordnung und die Gestaltung der Wirtschaftsordnung durch die Akteure. Die ethische Frage wird überall dort gestellt, wo sich das Handeln oder auch der Zustand von Institutionen nicht mehr unbefragt von selber versteht, sondern nach seiner Legitimation befragt wird. Wirtschaftsethik reflektiert das Aufeinandertreffen von strategischer Rationalität der Ökonomie und ethischer Vernunft. Welche Rationalität gibt in diesem Konflikt den Ausschlag? Können beide Rationalitäten zum Zug kommen? Arthur Rich versteht die Wirtschaftsethik als eine Anwendung sozialethischer Fragestellungen, Gesichtspunkte und Prinzipien auf 24 die wirtschaftlichen Probleme. Ohne Sachkenntnis jedoch verliere die Ethik jede Legitimität, zur Sache zu reden. Doch das Spezifikum der Wirtschaftsethik bestehe gerade darin, “bei aller Sachbezogenheit beharrlich und unerbittlich nach dem Menschengerechten im Sachgemä25 ßen zu fragen” . Das Sachgemäße darf nicht das leitende oder einzige Prinzip sein, sondern ist an das Menschengerechte zu binden. Arthur Rich nennt die Wirtschaftsethik deswegen auch das ihrer Bedeutung und Komplexität nach “wohl wichtigste und auch schwierigste Teilgebiet der 26 Sozialethik.” In den Wirtschaftswissenschaften und den Unternehmen selber wird die Frage nach ethischer Orientierung gestellt. Mit dem Austreten der Ökonomie aus dem Gehäuse der Praktischen Philosophie und der Herausbildung als selbständiger Wissenschaft während des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die sozialethische Frage nach dem gerechten Wirtschaften ausgeklammert. Als autonome Wissenschaft glaubte die Ökonomie nur zu lange, daß Ethik nicht zum Thema der Ökonomie gehöre. Wirtschaften wurde allein auf seine Effizienzfunktion reduziert. Die Akteure der Wirtschaft selber befinden sich in einer Legitimationskrise. Sie erleben nicht selten leidvoll den Zwiespalt zwischen jenen Normen und Werten, die im familiären, privaten oder gesellschaftlichen Bereich Geltung besitzen, und denen, die in Betrieb und Unternehmen 27 funktional sind und eingefordert werden. Von Wirtschaftsethik zu spre- 24 25 26 27 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 67. Ebd. 73. Ebd. 67. Vgl. P. Ulrich u. U. Thielmann, Wie denken Manager über Markt und Moral? In: J.Wieland, Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1993, 54-91; R.N. Bellah u. R. Madsen u.a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Ge- 32 chen, hat zur Voraussetzung, daß es überhaupt einen verantwortbaren Bereich wirtschaftlichen Handelns gibt, und geht von Wirtschaften als einem wertenden Entscheiden aus, das wie alles Urteilen nicht ohne Kriterien auskommt. Der Philosoph Otfried Höffe hat im Zusammenhang seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie sittlicher Urteilsfin28 dung von Heinz Eduard Tödt zu Recht erklärt: “Mit der Art der höchsten Prinzipien und Kriterien entscheidet es sich, ob es tatsächlich um sittliche und nicht um wirtschaftliche, rechtliche oder andere Urteilsfindung 29 geht.” Welche Prinzipien und Kriterien sind es aber, die eine wirtschaftliche Entscheidung oder Urteilsfindung zu einer ethischen machen? Wie lassen sich wirtschaftliche Probleme als ethische behandeln? Zusätzlich muß eine theologische Ethik fragen: Welche ethischen Prinzipien, Kategorien und Kriterien machen eine ethische Urteilsfindung zu einer spezifisch theologischen? 1.2 Die Bibel zu Rate ziehen? Das Menschengerechte an das wirtschaftlich Sachgemäße zu binden, ist 30 nach Arthur Rich das Spezifikum einer Wirtschaftsethik. Das Menschengerechte ist eine normative Kategorie, die zur Sprache bringen will, wie etwas sein oder sich verhalten müßte, damit es nicht nur sachgemäß und mithin praktikabel ist, sondern auch dem Menschen gerecht werden kann. Die formale Wertkategorie menschengerecht reicht jedoch nicht aus. Sie ist mit einem materialen Gehalt zu bestimmen und zu konkretisieren. Welchen Beitrag kann der Rückgriff auf die biblische Tradition in der wirtschaftsethischen Reflexion für die Klärung dessen leisten, was eine menschen- und sachgerechte Ordnung der Wirtschaft genannt werden könnte? Oder anders gefragt: Läßt sich aus dem Umgang der Bibel mit der Ökonomie ihrer Zeit etwas lernen für den Umgang mit wirtschaft31 lichen Fragen des gegenwärtigen globalen Marktes? 28 29 30 31 sellschaft, Köln 1987; F.X. Kaufmann u. W. Kerber u. P. Zulehner (Hg.), Ethos und Religion bei Führungskräften, München 1986. H. E. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21-48. O. Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt 1979, 401. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 76-104. K. Füssel und ich haben einen Sammelband herausgegeben, der wirtschaftsethisch relevante biblische Traditionen behandelt. K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern, Salzburg 1995. In einem Schlußbeitrag habe ich versucht, Folgerungen aus den exegetischen Untersuchungen für eine biblisch grundgelegte Wirtschaftsethik zu formulieren. Die vorliegende Arbeit nimmt diesen Ansatz auf. F. Segbers “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” (Jes 26,9) Bibel - 33 Auch wenn die Bibel nicht die einzige Erkenntnisquelle für den Christen darstellt, ist sie dennoch norm- und formgebend für die christliche Ethik. James M. Gustafson beschreibt den Ort des Schriftarguments in der theologischen Ethik: “Die Schrift allein ist nie endgültige Berufsinstanz der christlichen Ethik, (...) bietet jedoch die grundlegende Orientie32 rung für bestimmte Urteile.” Wie kann sich der Prozeß zwischen Bindung an die Schrift und Reaktion auf neue Situationen vollziehen? Die biblischen Traditionen erzählen, daß die Humanität als Gottes Gebot und Angebot mit dem zusammenfällt, was sich ganz allgemein mit dem Begriff des Menschlichen verbindet: Hungernde speisen, Dürstende laben, Fremde beherbergen (vgl. Mt 25). Arthur Rich zieht aus dieser Beobachtung die Folgerung: “Und insofern, das heißt jetzt unter dem Aspekt der normativen Konkretisierung gesehen, gibt es keine spezifisch christliche, 33 sondern nur eine menschliche Humanität.” Ja, lohnt es sich dann überhaupt, nach den Einsichten der Bibel für den Umgang mit Ökonomie zu fragen, zumal das Evangelische Soziallexikon die lapidare Auskunft gibt: “Wesentliche Themen wie Wirtschaft 34 und Kultur fehlen im NT ganz.” Ob aber vielleicht die Hebräische Bibel für eine wirtschaftsethische Urteilsbildung hilfreich sein könnte, fragt man bezeichnenderweise erst gar nicht. Bis auf wenige Ausnahmen ist die bibeltheologische Begründung der Wirtschaftsethik kein besonders behandeltes Thema. Hingewiesen sei auf zwei Ansätze, die zu gegenteiligen Folgerungen gelangen: Nach Eilert Herms ist ein positiver und unabdingbarer Begründungszusammenhang zwischen biblischer Tradition und theologischer Wirtschaftsethik gerade für eine theologische Wirtschaftsethik spezifisch und 35 notwendig. André Habisch hingegen lehnt einen unmittelbaren Geltungsanspruch biblischer Begründungen in seinem Beitrag ab, in dem er im Rahmen einer interdisziplinären Methodologie der Wirtschaftsethik nach dem Beitrag einer christlichen Sozialethik fragt, die sich biblisch begründet. “Wo etwa die Grundaxiome biblisch-christlicher Sozialtheorie als unmittelbarer Gestaltungsanspruch interpretiert und gegen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen in Stellung gebracht werden, da fällt min- 32 33 34 35 Ökonomie -Ethik, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreis Gerechtigkeit.” 287-330. J. Gustafson, Der Ort der Schrift in der christlichen Ethik. Eine methodologische Studie, in: H.G. Ulrich (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 279. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1,127. G. Jeremias, Art. Bibel, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. Stuttgart, 1981, Sp.178. E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 103. 34 36 destens ein wichtiger Vermittlungsschritt aus.” Können diese Vermittlungsschritte geleistet werden oder stehen ihnen grundsätzliche Bedenken entgegen? Der Weg der Vermittlung von der biblischen Tradition zur wirtschaftsethischen Urteilsfindung ist keineswegs eindeutig. Zur Diskussion steht zunächst, ob überhaupt ein Rückbezug zur biblischen Tradition möglich und nötig sei. Hans G. Ulrich unterstreicht zwar die Bedeutung biblischer Perspektiven für die Identität christlicher Ethik. “Zur Praxis evangelischer Ethik gehört paradigmatisch der Gebrauch der Schrift. Er ist für sie in vielfältiger Weise prägend und leitet ihre Geschichte in der Weise, daß die evangelische Ethik im Schriftgebrauch immer wieder die Freiheit ih37 res Urteils vollzieht, die ihr zukommt.” Ein auch nur oberflächlicher Blick in die theologischen Wirtschaftsethiken belegt, daß dieser “paradigmatische Gebrauch der Schrift” tatsächlich kaum erfolgt. Biblisch begründete Argumentationen oder Urteilsbildungen sind in den Wirtschaftsethiken 38 selten, allenfalls begegnet man einem “Biblizismus höherer Ordnung” , wie Trutz Rendtorff anmerkt. Man wehre sich sogar - so Christofer Frey “gegen eine prophetische und auch biblische Kurzschlüssigkeit in der 39 Ethik.” Falls biblische Bezüge herangezogen werden, ist die Schriftstellenauswahl häufig genug tendenziös und allenfalls durch Stichworte geleitet. Die Bewertung der biblischen Texte sieht fast ausnahmslos von sozialgeschichtlichen Zusammenhängen ab. Nicht selten werden zufällige sozial- und wirtschaftsethisch relevante Aussagen der biblischen Tradition zudem in einer exegetisch nicht zu verantwortenden Weise systematisiert und harmonisiert. Die theologischen Ethiker beziehen sich entgegen einer oft gehegten Vermutung in ihren Begründungen gar nicht so häufig auf die biblische Tradition. Zwischen dem normativen Anspruch auf Schriftgemäßheit und der faktischen Verfahrensweise in der theologischen Ethik besteht eine Kluft. 1.2.1 Das Autoritätsargument der Bibel 36 A. Habisch, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade der Moderne? Theologische Grundlegung und interdisziplinäre Methodologie, in: M. Heimbach-Stein, A. Lienkamp, J. Wiemeyer (Hg.), Brennpunkt Sozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden, Festschrift für Franz Furger, Freiburg 1995, 211. 37 H.G. Ulrich, Zur Einführung: Theologische Verständigung über Ethik, in: ders. (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 23. 38 So T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Ihr Verhältnis im Zusammenhang des neuzeitlichen Christentums, in: H.J. Birkner, D. Rößler (Hg.), Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, 85. 39 Chr. Frey, Vernunftbegründung in der Ethik. Eine protestantische Sicht, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 37 (1993) 22. 35 Die Frage nach der Bedeutung biblischer Traditionen und biblischer Kategorien für heutige Fragestellungen der Ökonomie hat entscheidend mit dem Problem der Übertragbarkeit zu tun. Biblische Texte entstammen einer fremden Gesellschaft, Ökonomie und Kultur. Wie kann die Kluft zwischen der Gesellschaft des Alten Israels und der heutigen Gesellschaft überbrückt werden? Zwei grundsätzlich verschiedene Positionen lassen sich unterscheiden. Die eine Position besteht in einem Biblizismus, der glaubt, daß die Bibel ohne weiteres einen verläßlichen Wegweiser bei Fragen der Wirtschaftsordnung abgeben kann. In der Oxford Erklärung - Christlicher Glaube und Wirtschaft (1990) heißt es: “Wir erklären, daß die Heilige Schrift, das Wort des lebendigen und wahren Gottes, unsere höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und Handelns ist. Deshalb wenden wir uns an sie als einen verläßlichen Wegweiser bei Fragen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens. Als Ökonomen und Theologen wollen wir Theorie und Praxis dem Urteil der 40 Heiligen Schrift unterwerfen.” In der Oxford-Erklärung stellen evangelikale Ökonomen und Theologen ein “Ausmaß an Einigkeit in den komplexen Wirtschaftslagen unserer Zeit, das durch unser gemeinsames Bekenntnis zum Glauben an un41 seren Herrn Jesus Christus ermöglicht wurde” , fest. Zwischen Bibel und neuzeitlicher Ökonomie besteht nach ihrer Überzeugung kein Widerspruch. Falls es zu Spannungen kommt, dann sei es richtig, sich an der Bibel zu orientieren. Die Bibel ist höchste Autorität und gilt deshalb auch als ein “verläßlicher Wegweiser”. Auf welche Fragestellungen und Probleme weist der “Wegweiser” hin, und welchen Beitrag zur Lösung dieser Herausforderungen gibt er? Der Verweis auf die Autorität der Bibel verdrängt das entscheidende hermeneutische Problem lediglich, löst deshalb nicht die Frage nach der Relevanz. Das Autoritätsargument ersetzt das Sachargument. 1.2.2 Die historische Distanz zur Bibel Die Aussagen zu Wirtschaft und Arbeitswelt seien antiquiert, lautet die Gegenposition. Enttäuscht mußte der sozial engagierte Theologe Friedrich Naumann nach einer Palästinareise resümieren: “Ich habe vor der Palästinareise das Neue Testament mit den Augen eines Deutschen für 42 Deutschland gelesen, es gehört aber nach Galiläa.” “Wir wollten Jesus 40 41 42 Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, EMW - Information Nr. 88 vom August 1990, 3. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: H. Sautter, M. Volf, Gerechtigkeit, Geist und Schöpfung. Die Oxford-Erklärung zu Fragen von Glaube und Wirtschaft, Wuppertal 1992, 8. Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, Präambel, 7. F. Naumann. Brief über Religion, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Köln 1964, 547. 36 einfach als hohen und obersten Anwalt moderner Wirtschaftsbestrebungen verwenden. Jedesmal aber, wenn wir nur ernstlich versuchten, bestimmte Forderungen aus dem Evangelium abzuleiten, versagte es. Das 43 Evangelium war eben galiläisch.” Ernst Troeltsch spricht von einer eher ökonomischen Dürftigkeit des Evangeliums: “Das wirtschaftliche Leben wird mit einfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages be44 trachtet, wo man Gott für den kommenden Tag sorgen lassen will.” Falk Wagner registriert ebenfalls eine tiefe Kluft zwischen der sozialen Welt der Bibel und der heutigen Gesellschaft. Es herrsche ein tiefer Abstand, den Theodor W. Adorno so beschrieben hat: “Der Begriff des täglichen Brotes, erzeugt aus der Erfahrung des Mangels in einem Zustand ungewisser und unzureichender materieller Produktion, läßt sich nicht einfach übertragen auf die Welt der Brotfabriken und der Überproduktion, in der die Hungersnöte Naturkatastrophen der Gesellschaft sind und 45 eben keine der Natur.” Die normative Forderung, eine Theologie schriftgemäß zu konzipieren, erweise sich deshalb als faktisch undurchführbar, weil entscheidende sozialethische Themen in den biblischen Schriften fehlten. Es bestehe also eine “Kluft zwischen der geforderten Normativität des Schriftgebrauchs und ihrer faktischen Undurchführbar46 keit” . Die neutestamentliche Ethik schließe bereits vom Ansatz her die hermeneutische Frage nach der Übertragbarkeit biblischer Normen aus, so der Sozialethiker und Neutestamentler Hans-Dietrich Wendland: Das Urchristentum hätte kein Interesse an gesellschaftlichen Gestaltungsfragen gehabt, sondern in der Naherwartung aus einer “eschatologischen 47 Ethik” gelebt, welche Fragen über die politische und gesellschaftliche Gestaltung vernachlässigt habe. Der jüdische Autor J. Lewkowitz kann deshalb gerade auf dem Hintergrund einer positiven Wertung von Arbeit und Wirtschaft im Judentum über das Christentum sagen: “Im Evangelium herrscht die Erwartung des Weltuntergangs; damit ist alles Erwerbsleben des Menschen und jede berufliche Tätigkeit bedeutungslos 48 geworden.” 43 44 45 46 47 48 Ebd. 608. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Bd. 1, Tübingen 1994, 46. Th.W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: ders., Stichworte. Kritische Modell 2, Frankfurt 1969, 27f., zit. in: F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in: ders., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 79. F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 79. H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments, NTD-Ergänzungsreihe 4, Göttingen 1970, 5. J. Lewkowitz, Arbeit, in: S. Bernfeld, Die Lehren des Judentums nach den Quellen, Berlin 1929, Bd.V, 177, zit. in: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel. Eine Grundlegung evangelischer Ethik, Stuttgart 1954, 12. 37 Eine weitere Variante, die sich auf eine wenn auch andere Art von Antiquiertheit bezieht, ist mit der sozialethischen Argumentation der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie angesprochen. Alfred de Quervin geht von dieser Eigengesetzlichkeit der Welt aus, wenn er “zwischen Gottes Gebot und dem Gesetz der Arbeit, dem Gesetz des wirtschaftlichen Le49 bens” unterscheidet. Darin komme eine Profanisierung des Staates und des gesellschaftlichen Lebens, aber auch ein Schutz vor der Profanisierung des Wortes Gottes zum Ausdruck. “So ist das profane, eigengesetzliche Denken geboren aus der Furcht vor der Profanisierung des 50 göttlichen Rufes, des Gebotes Gottes.” Angesprochen ist das, was Alfred de Quervin “die Furcht vor der Theokratie” nennt. Die Befreiung des Staates, des gesellschaftlichen Lebens und auch der Ökonomie von der Dominanz göttlicher Gebote, oder konkret: die Ablösung der Ökonomie von der Ethik, ist geschichtlich gewiß als ein Fortschritt zu werten. Mit der Ablösung der Ökonomie aus ethischen Vorgaben kam es zu einer Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme und gleichzeitig auch zu einer wachsenden Bedeutung des Subsystems Wirtschaft. Diese Befreiung der Ökonomie führte zweifelsohne zu einem historisch einmaligen Wachstum von Produktion und Reichtum, von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt. Die Kehrseite dieses Emanzipationsprozesses jedoch ist ebenfalls unübersehbar: Ökonomie meinte ethikfrei sein zu können. Die Folgen ethikfreien Wirtschaftens sind unübersehbar: Diese Art zu Wirtschaften gefährdet mittlerweile die natürlichen Lebensgrundlagen selbst. Deshalb ist die Ablösung der Ökonomie von der Ethik allenfalls nur ein relativer Fortschritt. Wie kann eine “Reethisierung der Öko51 nomie” aussehen, die nicht hinter den erreichten Stand der Autonomie zurückfällt? Welche Art von Autonomie aber muß revidiert werden? Wie kann eine Reethisierung der Ökonomie über den erreichten Stand der Autonomie so hinausführen, daß die positiven Effekte der Trennung von Ethik und Ökonomie nicht zurückgenommen, die negativen Effekte aber zurückgedrängt werden? Die bislang genannten Äußerungen kommen zu diesem Schluß: Die moderne Industriegesellschaft und die antike Gesellschaft des Alten Israel sind Kulturen und Gesellschaften, die so weit voneinander getrennt sind, daß der “garstige Graben”, der Ökonomie und Gesellschaft des Alten Israel von modernen Industriegesellschaften trennt, nicht übersprungen werden kann. Aber nicht nur dieser Tatbestand des gesellschaftli49 50 51 A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn und Eigentum. Ethik II, 3. Bd., Zollikon-Zürich 1956, 148. Ebd. 148. P. Ulrich, Transformation ökonomischer Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft, 3. Aufl. Bern - Stuttgart - Wien 1993, 343. 38 chen und ökonomischen Abstandes, eben jene Antiquiertheit, spricht nach der Meinung der genannten Autoren gegen einen Rückbezug auf biblische Traditionen. Darüber hinaus sei zu fragen: Gibt es überhaupt Inhalte der biblischen Ethiktradition, die relevant sind für Fragestellungen und Herausforderungen der Gegenwart? 1.2.3 Motivationskraft biblischer Traditionen Eine Position wendet sich gegen einen inhaltlichen Rückbezug auf die biblische Überlieferung überhaupt: Der Glaube motiviere zum Handeln, und materialethische Normen seien nicht deduktiv aus der biblischen Überlieferung abzuleiten, sondern nur aus der Vernunft zu begründen. In seinem Beitrag zu den Strukturen einer neutestamentlichen Ethik hat Georg Strecker ausgeführt, daß eine materialethische Erwartung an die Bibel überhaupt nicht gestellt werden dürfe. Seine These lautet, daß die “Frage nach der „Christlichkeit‟, d.h. nach dem „proprium‟ der neutestamentlichen Ethik nicht durch einen materialethischen Vergleich zu be52 antworten” sei. Spezifisch christlich sei nur die “christliche Motivation”, welche “die vergebende und befreiende Kraft von Kreuz und Auferste53 hung Jesu Christi zugleich als Ermutigung zu neuem ethischen Tun” lebendig werden lasse. Martin Honecker unterstreicht ebenfalls, daß ein Proprium evangelischer Sozialethik “nicht in den Gehalten sozialen Han54 delns und in gesellschaftlichen Entwürfen zu suchen ist.” Er begründet diese Auffassung mit einem Verweis auf Jesus, der “nicht eine Gesinnung erwecken wollte, sondern sein Tun und Handeln realisierte den 55 Schalom” . Proprium christlich-ethischen Verhaltens sei es deshalb, 56 “den Schalom exemplarisch zu konkretisieren” . “Das Proprium evangelischer Sozialethik ist damit zurückgenommen in die Motivation - der 57 Christ handelt aus Glaube, Liebe, Hoffnung.” Die Sache der evangelischen Sozialethik sieht Martin Honecker in der Aufgabe, “Anwalt des Menschen gegen gesellschaftliche Zwänge und gesellschaftliche Inhu58 manität zu sein.” Normen seien geschichtlich geworden und müßten mit Hilfe allgemeinerer Normen geprüft werden. Christofer Frey teilt diese Argumentation, wenn er sagt: “Die sog. biblische Begründung läßt sich 52 53 54 55 56 57 58 G. Strecker, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 75 (1978) 136. Ebd. 146. M. Honecker, Konzept einer sozialethischen Theorie, Tübingen 1971, 53. Ebd. 60. Ebd. 64. Ebd. 67. Ebd. 192. 39 damit als biblisch-theologische Perspektivierung von Normensystemen 59 erkennen.” Bereits Martin Dibelius mußte angesichts der wirtschaftlichen Nöte der Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik ein Schweigen der neutestamentlichen Schriften konzedieren: “Das Evange60 lium ist nicht soziale Botschaft, aber es wirkt als soziale Forderung.” Einen zentralen Anspruch jedoch erhebe das Evangelium an die gesell61 schaftlichen Ordnungen, nämlich den, daß “Gerechtigkeit zu sein” habe. Christofer Frey wendet sich ebenfalls dezidiert gegen eine biblische Begründung protestantischer Ethik durch eine Deduktion materialer sittlicher Normen aus biblischen Aussagen. Martin Honecker fordert Vernunft als Sachkriterium und Maßstab christlichen Weltverhaltens ein. Der Verzicht auf biblische Überlieferungen oder Einsichten gilt nicht selten geradezu als Beweis aufgeklärter Vernunft. In neueren Veröffentlichungen betrachtet Martin Honecker Vernunftargumente in der Ethik kritischer und 62 bezieht biblische Perspektiven ein. Diese Positionen gehen allesamt im Kern davon aus, daß der Glaube wohl zum Handeln motiviere, aber die Vernunft diskutiere und entscheide, was zu tun sei. Arthur Rich hat darauf hingewiesen, daß auch ausgehandelte Normen letztlich rational nicht begründbar seien, weil sie sich immer an letzten Glaubensüberzeugun63 gen orientieren. Vernunft könne also keine Letztbegründung leisten. 1.2.4 Hebräische Bibel und christliche Ethik Georg Wünsch, der nach einer Relevanz der biblischen Tradition für wirtschaftsethische Fragestellungen suchte, mußte in seiner 1927 veröffentlichten Evangelischen Wirtschaftsethik eher ernüchtert das Fazit ziehen: “Die Quelle für eine direkte christliche Wirtschaftsethik fließt also im NT sehr spärlich. Von einer Problematik der Produktion oder Verteilung 64 hören wir überhaupt nichts.” Festzuhalten ist, daß das Urteil von Georg Wünsch sich ausschließlich auf die neutestamentlichen Schriften bezieht. Die Hebräische Bibel wurde von ihm zur theologischen Urteilsbildung nicht herangezogen. Der Alttestamentler Eckart Otto spricht zwar von einer “Wirtschafts65 ethik des Alten Testaments” . Doch er meint, daß es der zeitliche Ab59 60 61 62 63 64 65 Chr. Frey, Vernunftbegründung in der Ethik, 29. M. Dibelius, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: Kirche, Bekenntnis und Sozialethos. Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1934, 11. Ebd. 22. M. Honecker, Einführung in die theologische Ethik, Berlin 1990, bes. 357ff. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 170. G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927, 284. E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt 1994, 279 - 289. 40 stand nicht erlaube, eine Verbindung zwischen dem Umgang der Bibel mit ökonomischen Fragen ihrer Zeit und unseren heutigen Wirtschaftsfragen herzustellen. “Die historische Distanz verbietet eine normative Applikation alttestamentlicher Handlungsanweisungen auf die heutige 66 Gesellschaft.” Trotz dieses Einwands weist Eckart Otto der Ethik des Alten Testamentes eine wichtige Funktion im gegenwärtigen universalen Diskurs um die heutige Lebensführung zu. “Dafür spricht, daß die Wurzeln der Rationalität moderner Gesellschaften in der rationalisierenden Pragmatik des israelitischen Gottes- und Weltverständnisses zu suchen 67 sind.” Max Weber hatte den ökonomischen Rationalismus als ein Kennzeichen des Okzidents und des Kapitalismus ausgemacht, der sich 68 aus der Rationalisierung der jüdischen Religion speist. Eckart Otto schließt sich Max Weber an, wenn er die entscheidende ethische Frage darin sieht, “wie die Rationalität des Marktes mit der Forderung der Ge69 rechtigkeit zu vermitteln sei.” Nicht unmittelbare Handlungsanweisungen könne eine Ethik des Alten Testamentes also ergeben, wohl aber “die Perspektiven der kulturhistorischen Bedeutung des alttesta70 mentlichen Ethos als Wurzelgrund des Geistes der Moderne eröffnen.” Über den garstigen Graben zwischen der Welt der Bauern, Fischer und Landarbeiter in Palästina, der antiken Agrarordnung mit ihren Sklaven und Sklavinnen, den Tagelöhnern und kleinen Handarbeitern, den Händlern und den Nutznießern der römischen Besatzung und der Welt des modernen, globalen industriegesellschaftlichen Kapitalismus sieht aber auch Eckart Otto keine gangbare Brücke. Welche Folgerungen lassen sich aus diesen Positionen ziehen? Es zeigt sich erstens eine allgemeine Ernüchterung im Umgang mit biblischen Traditionen in der Ethik. Daß diese Traditionen zu den Quellen ethischen Urteilens gehören, wird zwar als Erwartung und Anspruch formuliert, doch zugleich wird mit Bedauern konstatiert, daß diese Quelle angesichts neuzeitlicher Fragestellungen - besonders auch der Wirtschaftsethik - versiege oder allenfalls als Perspektive bei einer rationalen Normenbegründung möglich sei. Fatal wirkt sich dabei zweitens aus, daß vornehmlich prophetische Traditionen der Bibel nach ihrer Relevanz für eine theologische Ethik befragt werden. Sie gelten als utopisch, sehr direkt und zeitgebunden. Das erschwert zusätzlich eine Übertragung auf andere Verhältnisse. Andere biblische Traditionen wie die Gesetzestradi- 66 67 68 69 70 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 11. Ebd. 11. Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1922, 1 - 12, 4262, 243ff. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 11. Ebd. 12. 41 tion der Tora mit ihren Weisungen zu Recht und Gerechtigkeit werden dagegen kaum befragt oder rezipiert. Doch gerade diese biblischen Traditionen der Tora waren formuliert worden, um mit ihnen Staat und Ökonomie zu machen. In vier Grundmodellen läßt sich der Bezug der christlichen Ethik auf die 71 Tora und die Hebräische Bibel vereinfachend darstellen: Das erste Modell ist das antithetische. Das Neue Testament steht in einem Gegensatz zum Alten. Die Hebräische Bibel gilt lediglich als Vorläuferin des Evangeliums. Der Beitrag von André Habisch Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade der Moderne? kann als ein symptomatischer Ansatz für dieses antithetische Grundmodell gelten. So macht er einen fundamentalen Gegensatz aus: Mit der Hebräischen Bibel sei zwar “Staat zu machen”, mit der Bergpredigt jedoch nicht. Aber gerade weil die christliche Botschaft keine Sozialordnung und keinen normativen Gehalt des alttestamentlichen Gesetzes kenne, eigne sie sich zu einer normativen Orientierung jeglicher Sozialordnung und erhalte gerade dadurch eine universale Geltung. Die Hebräische Bibel gilt als zeitgebunden, das Neue Testament dagegen als überzeitlich und deshalb gegenwartsrelevant. Wichtig erscheint ihm, daß “durch die Bewegung von der Thora zur Bergpredigt, durch die Transformation von „sozialordnungsfähiger‟ in eschatologische Normativität eine entscheidende Differenz zwi72 schen Theologie und Sozialordnung eingetragen wird.” Diese Scheidung zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Tora und Bergpredigt formuliert einen Gegensatz, der theologiegeschichtlich zwar auf eine lange, jedoch längst überwunden geglaubte Tradition verweisen kann: Die Tora ist nur partikular, das Evangelium aber universal. Das zweite Grundmodell führt die Überbietungsargumentation des ersten Modells weiter und versteht das Neue Testament als eine Erfüllung des Alten. Im Neuen Testament komme das Alte erst zu seiner vollen Klarheit. Im Neuen Testament jedenfalls sei etwas qualitativ Neues gegenüber dem Alten zu erkennen. Eine sozialethische Argumentation, die sich auf dieses Grundmuster bezieht, bekommt folgerichtig nur die neutestamentlichen Schriften in den Blick, wenn nach dem Proprium christlicher Ethik gefragt wird. Als typisch für diese Argumentation kann Dietz 73 Lange in seiner Ethik in evangelischer Perspektive gelten. In Jesus Christus sei Gott den Menschen in einer solchen Weise nahegekommen, daß der alttestamentliche Bundesgedanke aufgehoben sei. Mit diesem Bundesgedanken sei die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und auch die 71 72 73 Vgl. K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch, Heidelberg 1999, 41-66. A. Habisch, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade der Moderne? 203. D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992. 42 Befolgung ethischer und kultischer Gebote als Bedingung für die Teilhabe an der Gottesherrschaft verbunden. Deshalb gelte: “Diese grundlegende Veränderung im Verständnis des Gottesverhältnisses läßt als unmittelbaren biblischen Bezugspunkt einer christlichen Ethik nur das Neue 74 Testament zu.” Falk Wagner will die Spannung zwischen dem normativ geforderten und dem faktisch praktizierten Schriftgebrauch durch eine Theorie des Christentums überbrücken. Gemeint ist darin eine deutliche Abgrenzung von der Hebräischen Bibel für die Erfassung des spezifisch Christlichen. Das Festhalten an der kanonischen Geltung des Alten Testaments sei deshalb “problematisch, weil auf diese Weise das spezifisch Neue und Eigentümliche des christlichen Grundgedankens eher verstellt 75 als erhellt wird.” Vorausgesetzt ist eine deutliche Scheidung der beiden Testamente. Diese Ethikbegründung ist christozentrisch, löst allerdings Jesus von Nazareth aus seinem jüdischen Ursprung und blendet kategorisch das Ganze der Bibel aus. Das dritte Modell des Rückbezugs auf die Hebräische Bibel geht selektiv mit der biblischen Tradition um. Das Neue Testament ist der Maßstab zur Beurteilung des Alten: Enthält die Hebräische Bibel Traditionen, die sich mit dem Neuen Testament gut verbinden lassen, dann wird die Tradition gern aufgenommen. Doch keineswegs kann die Tradition der Hebräischen Bibel eine Korrektur oder Ergänzung des Neuen Testaments sein. Jürgen Becker bestätigt in seinem Beitrag Das Problem der Schriftgemäßheit der Ethik im Handbuch der christlichen Ethik die Aneignung des Alten Testamentes unter christlichem Vorverständnis: “Die Orientierung christlicher Ethik am AT setzt also das Glaubensverständnis 76 des Christentum voraus.” Die Hebräische Bibel enthält dann kaum Traditionen oder Einsichten, die aus sich heraus auch für ein christliches ethisches Urteil bedeutsam sein könnten. Das vierte Grundmodell des Rückbezugs auf die biblische Tradition respektiert die Bedeutung des Referenzrahmens der ganzen Bibel mit ihren beiden Testamenten für das ethische Urteil und erfordert hermeneutische Übersetzungen. Diese gesamtbiblische Orientierung enthält eine Entscheidung zugunsten der Sozialtraditionen, die der Hebräischen Bibel eigen sind. Diese Sozialtraditionen stehen hier nicht unter einem antithetischen oder auswählenden Vorzeichen durch die neutestamentlichen Schriften, sondern sie sind für sich auch für eine christliche sozialethische Urteilsbildung relevant. Die Hebräische Bibel hält mit ihren Sozial74 75 76 Ebd. 273f. F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 86. J. Becker, Das Problem der Schriftgemäßheit der Ethik, in: A. Herz u. W. Korff u. T. Rendtorff u. H. Ringeling (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, 2. Aufl. Freiburg, Basel, Wien 1979, 243f. 43 traditionen eine spezifischen Beitrag bereit, der um seiner selbst willen sozialethisch bedeutsam ist und nicht erst durch neutestamentliche Schriften begründet und legitimiert werden muß. Die gesamtbiblische Orientierung erinnert die christliche Ethik an den Ursprung des Christentums in Israel. Klaus Müller wendet sich ausdrücklich gegen einen enteignenden Umgang mit den Traditionen der Hebräischen Bibel, sind diese doch dem Judentum zunächst eigen. “Den anderen, die andere Tradition zu hören, ausreden zu lassen und in ihrem Selbstverständnis nicht als defizitär zu beschreiben, sondern anzuerkennen - das sind die Koor77 dinaten einer neuen Weise christlichen Umgehens mit Israels Tora.” Diese gesamtbiblische Orientierung findet sich wenigstens in Ansätzen in neueren kirchlichen Äußerungen wie etwa der Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für 78 die Zukunft und im Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutsch79 land Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit . In der Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz heißt es: “Die Bibel ist (...) kein Rezeptbuch, aus dem unmittelbare Anweisungen für bestimmte Maßnahmen in Wirtschaft und Politik entnommen werden können” (Ziff. 106). Trotzdem gilt: “Einsichten und Überzeugungen, die sich in der Auslegung der Bibel gebildet haben, sollen in das Gespräch über Verantwortung in der Wirtschaft aufgenommen werden und Perspektiven für das gemeinsame Leben nach Gottes Willen öffnen” (Ziff. 105). Die Denkschrift der EKD will mit “biblische Motiven und Richtungsimpulsen” (Ziff. 103ff.) Ansätze zur Vermittlung zwischen der Bibel und heutigen Wirtschaftsfragen herstellen. Auch das Wirtschafts- und Sozialwort hat diese biblischtheologische Argumentationslinie aufgenommen. Beide kirchlichen Äußerungen können deshalb als Durchbruch angesehen werden. Sie betrachten die alttestamentlichen Sozialtraditionen als integralen Bestandteil der einen Bibel aus den beiden Testamenten. Unten im Abschnitt 7. soll dieser Ansatz ausführlich dargestellt werden. Dieser hermeneutische Ansatz findet einen Rückhalt in der Argumentation, die der Ökonom Hans Christoph Binswanger vorgelegt hat. Er verweist auf eine Bedeutsamkeit antiker, auch biblischer Einsichten für den Umgang mit heutigen ökonomischen Fragestellungen. Wie Eckart Otto sieht er einen Zusammenhang zwischen der modernen Marktwirtschaft und der Ökonomie der Antike. Doch während Eckart Otto wegen der zeitlichen Distanz keine Möglichkeit sieht, inhaltlich Bezüge für die 77 78 79 K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum, 77. - Diesen Anspruch hat K. Müller eingelöst, indem er den judaistischen Erklärungen der sozial relevanten Traditionsinhalte Vorrang einräumt. Gütersloh 1991. Hannover, Bonn 1997. 44 Ethik auszumachen, betont Hans Christoph Binswanger gerade die Chancen, die mit den antiken Wurzeln der gegenwärtigen Ökonomie gegeben sind. “Wollen wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen, müssen wir daher zu ihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnanten und scharfsinnigen Analysen und Vorschlägen der damaligen Zeit zurückgehen, um auch von dort Richtlinien für unser eigenes Handeln zu 80 gewinnen.” “Die Bibel ist in ökonomischer Hinsicht modern, weil die Wirtschaft, die sie beschreibt, eine Marktwirtschaft ist bzw. sich immer stärker in marktwirtschaftlicher Richtung ausbildet. Die Grundlagen dieser Marktwirtschaft sind wie heute: das private Eigentum an den Produktionsmitteln, insbesondere am Boden, und ein weiträumig zirkulierendes Geld, das Waren aus den verschiedensten Gebieten an zentrale Handelsplätze zusammenbringt und austauschbar macht, sowie die Kreditvergabe gegen Zins (die allerdings gemäß der Bibel unter „Brüdern‟ d.h. unter Juden, aber auch nur unter ihnen, verboten war). (...) Die Modernität der biblischen Wirtschaft gewinnt zusätzlich an Relief, wenn wir ihr die griechische, insbesondere die athenische Wirtschaft an die Seite stel81 len.” Bei aller Verschiedenartigkeit zwischen der Ökonomie der Antike und der des globalen Marktes liegen demnach bereits in der Antike wenigstens im Ansatz jene ökonomischen Marktmechanismen bereit, die auch gegenwärtiges Wirtschaften in seinen Grundvoraussetzungen prägen. Binswanger sieht darin den gemeinsamen Nenner der marktwirtschaftlich organisierten Ökonomien seit ihren Anfängen in der Antike: “Die Grundstruktur der Wirtschaft ist aber seit der Antike die gleiche geblieben: Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirtschaft, deren 82 Triebfeder das Gewinnstreben ist.” Die Rezeption biblischer Tradition verschafft nach Binswanger also einen Erkenntnisgewinn und vermittelt 80 81 82 H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike. Zu den ökonomischen Lehren der griechischen Philosphie, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 34. Binswanger stellt die ökonomischen Theorien von Aristoteles, Platon und Xenophon vor. Ebd. 23. Binswanger teilt offensichtlich die Meinung der sog. “Modernisten”, die mit M.I. Rostovtzeff u.a. davon ausgehen, daß die moderne Entwicklung des Kapitalismus sich von der römisch-antiken Welt nur quantitativ, nicht aber qualitativ unterscheide. Vgl. dazu weitere Ausführungen unten in Abschnitt: 4.2. Ebd. 34. Traugott Jähnichen lehnt es ab, wirtschaftshistorische Parallelen zwischen den Anfängen der Martkallokation in der antiken Wirtschaft und der gegenwärtigen Situation herzustellen, da die Agrarproduktion in der antiken Wirtschaft nur bedingt mit der kapitalistischen Marktwirtschaft vergleichbar sei. Ders., Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 48. Binswanger jedoch hat einen anderen qualitativen Vergleichspunkt, der die Ökonomie der Antike mit jener der Moderne verbindet: Die Triebfeder des Gewinnstrebens, welche die Marktwirtschaft dynamisiert. Nähere Ausführungen dazu unten in den Abschnitten: 4.2.3; 8.2.1; 9.4.1; 9.6.1. 45 Ansatzpunkte für eine materialethische Orientierung an den Analysen und Vorschlägen aus der Zeit antiker Ökonomie. Der Umgang der Bibel mit der Marktökonomie ihrer Zeit könne für den heutigen Umgang mit Ökonomie bedeutsam sein. Bei Arye Ben-David findet sich ein ähnlicher Zugang zu Schriften aus antiker Zeit. Er sieht in der talmudischen Ökonomie eine Modernität, die eine Beziehung mit modernen Wirtschaftsfragen durchaus erlaube, auch wenn dies nicht sein Forschungsinteresse als Historiker sei. In seiner Talmudischen Ökonomie, die sich auf einen Zeitraum vom 2. Jh. v. Chr. bis ins 4. Jh.n. Chr. bezieht, macht er einen Gegenwartsbezug aus, der sich aus nicht unähnlichen ökonomischen Strukturen ergebe: “Alle in der talmudischen Literatur erwähnten wirtschaftlichen Tatsachen, Vorgänge oder Folgerungen stehen niemals im Widerspruch zu Grundregeln und Gesetzen unserer modernen Volkswirtschaftslehre des 20. Jahrhunderts, ja noch mehr, sie bestätigen das Wirken der modernen volkswirtschaftlichen Gesetze bereits in der Periode der Mischna und des Talmuds vor rund 1 500 bis 2 000 Jahren. (...) Es kann als feststehende Regel, aufgrund der hier vorgelegten Untersuchung die Behauptung aufgestellt werden, daß im Munde der Gelehrten der Mischna und des Talmud geäußerte, volkswirtschaftliche Tatsachen oder Erscheinungen betreffende Äußerungen, immer und wann auch immer und wo auch immer in der talmudischen Literatur überliefert, ausnahmslos mit den Erkenntnissen 83 und Gesetzen der modernen Volkswirtschaft übereinstimmen.” Arye Ben-David bezieht sich nicht explizit auf die biblische ToraTradition, wohl aber die Mischna- und Talmud-Tradition, die in der rabbi84 nischen Theologie als mündliche Tora und Dynamisierung der Tora gilt. Arye Ben-David legt Wert darauf zu betonen, daß die Ökonomie des Talmuds hinsichtlich Darstellung und Erkenntnis des Wirkens nationalökonomischer Gesetze ausgesprochen fortschrittlich gewesen sei. Er will die Ökonomie des Talmuds als eine Ökonomie legitimieren, die hinter der Ökonomie der Moderne nicht zurückbleibe. Zur Untermauerung seiner Position bezieht sich Arye Ben-David auf den berühmten Ökonomen Adolf Damaschke (1865-1935), der in seiner Geschichte der National83 84 46 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit der Mischna und des Talmud, Bd. 1, Hildesheim, New York 1974, XIX. Über die Entstehungszeit des Talmud gibt es abweichende Angaben. Nach A. Ben-David entwickelte sich der Talmud als “mündliche Tora” aus ersten Anfängen in der Zeit von 175 v. bis 225 n. Chr. (A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 11). Als talmudische Zeit im engeren Sinn versteht er die Jahre von 175 v. bis 135 n. Chr. Zum Abschluß kam der Talmud im Jahre 429 n. Chr. (ebd. 13). Das RGG sieht den Abschluß des Talmuds im 3./4. Jahrhundert (für den palästinenischen Talmud) und im 3.-6. Jahrhundert (für den babylonischen Talmud). Der Talmud setzt sich aus den älteren Teilen Mischna und Gemara zusammen (E.L. Dietrich, Art. Talmud, RGG 3. Aufl. Bd. IV, Sp. 607-609). ökonomie die Gesetzbücher der Bibel die wichtigste und “bis zum heutigen Tag” in ihrer Bedeutung nicht erschöpfte volkswirtschaftliche Lehre 85 des Altertums nennt. Otto Weinberger spricht noch ganz unter dem Eindruck des Nationalsozialismus eher apologetisch von der Tora und nennt sie eine Wirtschaftsverfassung, “von der man mit Recht sagen kann, daß sie bereits alles das auf eine bewunderungswürdige Weise vorweggenommen hat, was die moderne ethische Nationalökonomie 86 mühsam und vielfach noch unklar zu erreichen strebte.” Mit den Ausführungen von Hans Christoph Binswanger, Arye BenDavid und Otto Weinberger liegen uns Positionen aus ökonomischer und wirtschaftshistorischer Sicht vor, die Möglichkeiten materialethischer Bezüge sehen. Die antiken, biblischen und nachbiblischen Texte bieten geradezu eine hermeneutische Chance, da die antike Ökonomie im Keim bereits das enthält, was sich in der modernen Marktwirtschaft entfaltet darbietet. Ob wirklich von einer Modernität der wirtschaftlichen Anschauungen der Tora und des Talmuds die Rede sein kann, soll im weiteren Gang der Untersuchung dargestellt werden. Ulrich Duchrow hat schließlich ein Interesse an einer handlungsorientierten Hermeneutik. Er verweist er auf die bibelimmanente Hermeneutik, die immer durch Rückerinnerungen an frühere Geschichte versucht, gegenwärtige Praxis und Strukturen mit der Erinnerung an Befreiung und 87 Solidarität in Einklang zu bringen. Er rezipiert eine biblische Hermeneutik, die in der Option für die Armen ihren Ausgangspunkt findet. Aber er beläßt es bei diesen methodischen Hinweisen und Schritten. Leider gibt er keine Transformationsregeln an, die verdeutlichen könnten, ob eine Übertragung materialer Normen aus dem biblischen Ethos auf Fragen gegenwärtigen Wirtschaftens möglich wäre. Ihm liegt mehr an einer Beurteilung des ökonomischen Systems aus den ethischen Ressourcen der Bibel. Es gibt aber noch einen anderen “garstigen Graben”. Er besteht in einem Abstand zu Themen der ökonomischen und sozialen Verhältnisse selber. Dieser Abstand aber ist kein historischer und auch keiner der unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen. Es ist vielmehr ein Abstand, der in einer Fremdheit besteht. Die biblischen Texten spiegeln eine Wirklich- 85 86 87 A. Damaschke, Geschichte der Nationalökonomie, 8.Aufl. Jena, 1916, 6, zit. in: A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 1. O. Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testamentes, Wien 1948, 74.- Mit Verweis auf: G.Ruhland, System der politischen Ökonomie, Neudruck, 3. Aufl. Goslar, Bd. 1, 1941, 229-230. U. Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedohenden Ökonomie, Gütersloh, Mainz 1994, 193. 47 keit, die “die da unten” auch heute noch kennen, die jedoch nicht wenigen in Theologie und Kirche eher fremd ist. 48 1.2.5 Kontext der Bibel und Kontext der Gegenwart 88 Die Studie des ÖRK Christlicher Glaube und Weltwirtschaft nimmt dieses hermeneutische Problem auf und verweist auf die besonderen Chancen derer zum Verständnis der Bibel, die Wirtschaft von unten erleben. Diese Perspektive vermag eine Brücke über den garstigen Graben zwischen Galiläa und der Moderne zu schlagen. Dabei geht die Studie des ÖRK davon aus, daß jedes Erkennen durch Erfahrungen bereits vorgeprägt ist, und empfiehlt, den Standort einzunehmen “bei den bescheidenen Fischern, Frauen, Armen und in unseren Tagen: Flüchtlingen, Alleinerziehenden ohne Unterstützung, Landarbeitern ohne Grund 89 und Boden, Slumbewohnern und so vielen anderen.” Diese Hermeneutik des Perspektivenwechsels erlaubt es, die biblischen Texte selber in einem Kontext zu lesen: Die Armen, Landarbeiter, Fischer von damals und die Arbeitslosen, Arbeiter und Arbeiterinnen, die Verlierer der Modernisierung und Globalisierung von heute sind der hermeneutische Schlüssel. “Denn indem wir die Welt so erfahren, wie sie es tun, können 90 wir lernen, welches die beherrschenden „Mächte dieses Zeitalters‟” sind. In diese Hermeneutik geht eine Sichtweise ein, die - nach einer 91 Formulierung von Jorge Pixley - ein “erkenntnistheoretisches Privileg” der Armen und Unterdrückten aufnimmt. Diese hätten aufgrund von Lebensumständen, die mit denen in der Bibel geschilderten durchaus vergleichbar seien, einen besonderen Zugang zur biblischen Überlieferung. Die sozio-ökonomische Realität selber bietet demzufolge also eine hermeneutische Hilfestellung. Interessant ist, daß die Kirchen in Deutschland mit der Wiederentdeckung des biblischen Arguments für die Sozialethik jenen hermeneutischen Ansatz aufnehmen, den der ÖRK auch wahrnimmt. Das Sozial92 und Wirtschaftswort der Kirchen in Deutschland wählt einen Zugang zur biblischen Tradition, den ich eine “Hermeneutik des Zusammen-Lesens” nennen möchte: “Wenn die Christen das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausforderungen zusammenlesen, gewinnen sie nicht nur ethische Orientierungen für das eigene Handeln; es ergeben sich vielmehr auch ethische Einsichten, die sich auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft beziehen. Dazu gehört vor allem der Begriff der Gerechtigkeit.” (Ziff. 108) Das biblische Zeugnis soll mit den gegenwärtigen Herausforderungen zusammengelesen werden. Dieser Ansatz kommt jenem 88 89 90 91 92 ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben und volle Genüge für alle”, in: epd-Dokumentation 40/1992. Ebd. 12. Ebd. 12. J. Pixley, Hosea. Ein Lesevorschlag aus Mittelamerika, in: Evangelische Theologie 51 (1991) 80. Nähere Ausführungen unter Abschnitt 7.2. 49 nahe, den der brasilianische Befreiungstheologe Clodovis Boff entwickelt 93 hat. Wenn die Kirchen in Deutschland diesen Ansatz aufnehmen, wollen sie eine biblische Hermeneutik der Theologie der Befreiung auf europäische Verhältnisse übertragen. Clodovis Boff nennt diese Hermeneutik 94 eine “Korrespondenz der Relationen” . Der Kontext derjenigen, die die biblischen Texte hervorgebracht haben, wird in Beziehung zum gegenwärtigen Kontext gestellt. Die Identität besteht dann nicht auf der Ebene der Botschaft als solcher, sondern auf der Ebene der Relationen zwischen Kontext und Botschaft. Clodovis Boff wendet sich entschieden gegen die Anschauung, daß die Bibel etwas anbieten könne, das einfach nur zu kopieren sei: “Was sie uns anbieten kann, sind Orientierungen, Modelle, Typen, Richtlinien, Prinzipien, Eingebungen, kurz, Elemente, mit deren Hilfe wir uns selbst eine „hermeneutische Kompetenz‟ erwerben können, weil sie uns die Möglichkeit geben, für uns selbst „im Geist Christi‟ oder „im Einklang mit dem Hl. Geist‟ die neuen und unvorhergesehenen Situationen zu beurteilen, mit denen wir heute ständig konfrontiert werden. Die christlichen Schriften geben uns kein etwas, sondern 95 ein wie: eine Art, einen Stil, einen Geist.” Das biblische Zeugnis und die gegenwärtigen Herausforderungen sind zwei “Texte”, die zusammengelesen werden sollen. Text der Bibel und Kontext der Zeit legen sich wechselseitig aus und interpretieren sich gegenseitig. Die Texte der Bibel sind in dieser Lesart nicht nur für die Lebenspraxis der Glaubenden relvant; die Lebenspraxis selber ist auch für das deutende Verstehen jener Texte relevant. Diese Vorgehensweise verdankt sich hermeneutischen Impulsen der Theologie der Befreiung und wird mit dem spanischen Terminus “relectura” bezeichnet. Hermeneutischer Ausgangspunkt ist die Option für die Armen. Dabei wird eine 93 94 95 Die nichtveröffentlichten Vorarbeiten für das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland verdeutlichen diese Hermeneutik des Zusammenlesens noch klarer. Im Entwurf vom 12. September 1995 heißt es: “Christen deuten die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen im Licht der Bibel und lesen zugleich die überlieferten christlichen Texte im Lichte ihrer aktuellen Erfahrungen. Dabei enthält die Bibel Erzählungen, Gleichnisse und Visionen sowie Vorbildhandlungen und Maximen, die für die Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitmenschen sensibel machen, zur Gewohnheit gewordene Verhaltensweisen infragestellen und die soziale Phantasie anregen” (Ziff. 56). Die drei biblischen Leitbilder “Einheit von Gottes- und Nächstenliebe”, “Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” und “Bewahrung der Schöpfung” werden in drei sozialethische Leitbegriffe zur Orientierung für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft analog übersetzt und dadurch auch säkular kommunikabel. Korrespondierend zu den biblischen Leitbildern lauten die ethischen Leitbegriffe “Gerechtigkeit” (Einheit von Gottes- und Nächstenliebe), “Solidarität” (Option für die Armen) und “Nachhaltigkeit” (Bewahrung der Schöpfung). C. Boff, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie der Befreiung, München-Mainz 1983, 241ff. Ebd. 244. 50 allzu kurzschlüssige Aufnahme biblischer Bezüge vermieden. Deswegen versteht C. Boff die Methode der “relectura” als einen Bezug auf die biblischen Texte, die “einer schöpferischen Erinnerung gleichkommen, und 96 ihre Lektüre muß eine produktive Lektüre sein.” Die Beziehung Schrift Politik ist nicht nur als ein “Anwendungsfall” zu verstehen, sondern als 97 ein Modell “der lebendigen Erinnerung und der schöpferischen Treue” . Nicht anders macht Wolfgang Nethöfel in seiner Theologischen Hermeneutik ein “Ineinander von Bruch und Kontinuität (...) als Identitätsprinzip 98 der Traditionen und der Traditionsbildung im Alten Testament” aus. Traditionsbruch wird zu einem Traditionsprinzip. Dadurch kann in einem kreativen Prozeß im Kontext des Traditionsbruchs Neues entstehen. Clodovis Boff betont mit dieser Spannung von Erinnerung und schöpferischer Treue, daß beim Rückgriff auf die biblische Tradition die Bibel als orientierender Kontrollrahmen für die Ethik fungiert. Durch die Lektüre des Textes der Bibel und des “Textes” der Gegenwart entsteht in einem kreativen Prozeß etwas Neues. Anzumerken bleibt noch die Tatsache, daß sich Clodovis Boff in seiner Hermeneutik ausdrücklich nur auf neu99 testamentliche Schriften bezieht. J. Severino Croatto hat in einer Studie die Hemeneutik der “relectura” ausführlich begründet. Ausgangspunkt ist eine Kritik der historischkritischen Methode. “Den objektiven, historischen Sinn des biblischen 100 Textes zu fixieren, ist Illusion.” Die Bedeutung biblischer Texte ist mit ihrer Entstehung nicht ein für allemal festgelegt, sondern erschließt sich nur unter Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation neu. Ein ursprüngliches Ereignis weitet sich in seiner Bedeutung bei einem späteren Lesen aus. Croatto nennt deswegen auch jede Lektüre eine “Sinnerzeugung”, die “von einem Standort 101 oder aus einem Kontext heraus” stattfindet. Um einen biblischen Text zu verstehen, sei es nötig, die “semantischen Achsen” zu suchen. “In der Bibel wird das „Gedenken‟ an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei in allen möglichen literarischen Gattungen und durch alle Epochen hindurch erhalten. Aber es ist niemals eine Wiederholung des ursprüngli102 chen Exodus, sondern eine Ausschöpfung seines „Sinnvorrats‟.” Croatto sieht in Begriffen wie “Gerechtigkeit”, “Befreiung” usw. semanti96 Ebd. 248. Ebd. 353. 98 W. Nethöfel, Theologische Hermeneutik. Vom Mythos zu den Medien, Neukirchen - Vluyn 1992, 92. 99 C. Boff, Theologie und Praxis, 241. 353. 100 J. S. Croatto, Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik, München 1989, 61. 101 Ebd. 62. 102 Ebd. 51. 97 51 sche Achsen, die verschiedene begriffliche Inhalte im Gesamtzusammenhang der Erzählung ordnen. “Aus dem Abstand heraus muß unsere relecture erneut beim Zustand der Bibel als einer neuen Intratextualität ansetzen, damit wir ihre neuen semantischen Achsen wiederentdecken und sie von unserem Lebenszusammenhang aus wiederlesen kön103 nen.” Diese Methode der Hermeneutik ist nicht einfach eine “Aktualisierung” der Bibel. Sie macht ernst mit der Einsicht der historischkritischen Methode, daß der Text selber ein Produkt der Zeit und ihrer Umstände ist. Gleichzeitig dokumentiert der biblische Text, daß die Wahrnehmung Gottes sich in der Geschichte vollzieht. “Die Bibel selbst führt uns zur Lektüre Gottes in den Ereignissen der Welt, und sie lehrt uns, ihn gerade so zu erkennen, wie er sich jetzt manifestiert, und nicht 104 als Wiederholung von Vergangenem.” Um die Bibel verstehen zu können, muß man die großen Sinnachsen wahrnehmen. “Da die Wirklichkeit der Menschen stärker von Leiden, Unglück, Sünde und Unterdrückung geprägt ist, ist es nicht schwer zu erkennen, daß die Armen und Unterdrückten die besten Voraussetzungen haben, das Kerygma der Bibel zu begreifen; sie gehört ihnen, und sie betrifft sie. Sie gehört vor allem ihnen. (...) Zudem stehen die Bedürftigen der Erde in einem Verstehenshorizont, der ihnen das biblische Kerygma zuspricht, da des105 sen Entstehungshorizont ihnen entspricht.” Jede Erfahrung mit Leid und Unterdrückung, Befreiung und Hoffnung wird gedeutet als eine fortgesetzte Erfahrung der Menschen seit Ägypten und dem Exodus aus ägyptischen Verhältnissen. Croatto kann deshalb sagen: “das, was wirklich die relecture der Bibel hervorruft und ihr die Richtung gibt, sind die 106 fortgesetzten Erfahrungen.” Diese Erfahrungen der Unterdrückung, des Leidens, aber auch der Befreiung und der Gnade reichen von den Zeiten der Bibel bis in die Gegenwart. Clodovis Boff und J.Severino Croatto vertreten eine Hermeneutik, die deutlich Bezüge zwischen dem Text der biblischen Tradition und dem “Text” der gegenwärtigen Verhältnisse herstellen wollen. Beide haben ein praktisches Interesse. Die biblische Tradition soll zur Sprache gebracht werden, um eine Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse zu bewir107 ken. Clodovis Boff liegt an einem “hermeneutischen Geist” , der Christen für eine Praxis in den je neuen politischen Situationen zurüstet und zu einem Handeln befreit, das nicht verkürzt als mechanische Anwendung der Bibel auf gegenwärtige Verhältnisse verstanden werden darf. 103 104 105 106 107 52 Ebd. 72. Ebd. 87. Ebd. 75f. Ebd. 77. C. Boff, Theologie und Praxis, 354. Ein solcher Umgang mit der eigenen Tradition ist auch der Bibel nicht fremd. In seiner Monographie Die Tora hat Frank Crüsemann darauf hingewiesen, daß auch die Tora eine innerbiblische Rezeption der Toratradition kennt, bei der es inhaltlich um Fortführung, Aktualisierung, 108 Nivellierung, Ergänzung von Themen und Fragen geht. Das, was Clodovis Boff mit der Spannung von der “lebendigen Erinnerung und der 109 schöpferischen Treue” bezeichnet, widerspricht keineswegs jenem innerbiblischen hermeneutischen Prinzip im Rezeptionsprozeß der eigenen Tradition, sondern entspricht ihm vielmehr. Dieser hermeneutische Ansatz soll auch in der vorliegenden Arbeit aufgenommen werden. Die Erinnerung an die aus fremder Zeit und Kultur überkommene biblische Überlieferung kann gerade durch ihre Spannung zwischen “be110 stürzender Aktualität und historischer Abständigkeit” die Definitionsgewalt gegenwärtiger Mehrheitskulturen über die gemeinsame Wahrnehmung der Wirklichkeit in Frage stellen. Erinnernd kann die aus einer fremden Welt und Kultur stammende biblische Tradition Fragestellungen entwickeln, die vor dem Horizont der Gegenwart sehr wohl fremd wirken. Diese Fremdheit jedoch kann eine Horizonterweiterung erwirken, denn sie kann Plausibilitäten des zeitgenössischen wirtschaftsethischen Diskurses durchbrechen, indem sie Fragestellungen zur Sprache bringt, die Einsichten, Kategorien und Weisheiten der Tora bedenken. Die Tora enthält ein jahrtausendealtes Wissen von Humanität und Gerechtigkeit, das seit der Moderne der letzten beiden Jahrhunderte nicht einfach obsolet geworden ist, sondern auch für unsere Zeit von bleibender Bedeutung sein kann. Die Erinnerung an die biblische Tradition kann also in einer produktiven Ungleichzeitigkeit ethische Probleme geradezu erst schaffen, wo andere, die von dieser Tradition nicht beeinflußt sind, vielleicht gar kein Problem wahrnehmen. Der Rückgriff auf vorkapitalistische Wertüberzeugungen kann freilegen: Anderes als Gegenwärtiges ist möglich. Ein Begründungskurzschluß läßt sich verhindern, der darin besteht, daß eben jene Normen, die in der modernen Ökonomie gelten sollen, selber wiederum dem modernen Marktdenken entnommen sind. Gegen dieses ökonomistische Zirkeldenken hatte schon Oswald von NellBreuning eingewendet, daß die “Maßstäbe, nach denen die Wirtschaftspolitik sich auszurichten hätte, nicht aus der Wirtschaft selbst gewonnen 111 werden können.” Der Rückbezug auf vormoderne oder vorkapitalistische Wertüberzeugungen kann einer lebensdienlichen Ordnung der 108 109 110 111 F. Crüsemann, Die Tora, 421. C. Boff, Theologie und Praxis, 353. F. Crüsemann, Die Tora, 12. O. von Nell-Breuning,, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft heute, III. Zeitfragen 1955 - 1959, Freiburg 1960, 96. 53 Ökonomie gerade dadurch zur Orientierung dienlich sein, insofern sie sich an Werte bindet, die sie nicht aus sich selber konstituiert. Die Wertüberzeugungen entstammen einer jahrtausendealten biblischen Wertetradition. Peter Ulrich nennt die Lebensdienlichkeit das “entscheidende 112 Mass der Wirtschaft” . Das sozialethische Kriterium der Lebensdienlichkeit wird eine theologische Wirtschaftsethik präzisieren, wenn sie aus einer Option für die Armen fragt. Eine an biblischen Kategorien orientierte theologische Wirtschaftsethik versteht Lebensdienlichkeit nicht subjektlos. Sie verbindet dieses wirtschaftsethische Kriterium der Lebensdienlichkeit aus der biblisch begründeten Option für die Armen mit einer unbedingten Achtsamkeit auf die Zukurzgekommenen, die Machtlosen, die Verlierer und Opfer - jene also, die die biblische Rede von den Armen meint. Gerade ihnen gegenüber muß sich erweisen, wie lebensdienlich ökonomische Prozesse sind. Eine theologische Wirtschaftsethik kann dadurch einen eigenständigen theologischen Beitrag in den wirtschaftsethischen Diskurs einbringen. Dieser Ansatz zeigt, daß ethisch weit Wichtigeres zur Debatte steht nur als die altbekannte Fundamentalalternative Kapitalismus oder Sozialismus. Wirtschaftsethisch geht es um eine lebensdienliche Ökonomie, zu deren humane Gestalt biblische Traditionen und biblisch-ethische Überzeugungen mit ihren Vorstellungen und Bildern vom guten und gerechten Leben Bedeutsames beizutragen haben. Allein dieser Maßstab der Lebensdienlichkeit, nicht aber eine abstrakte Debatte um Wirtschaftsmodelle ist deshalb sozialethisch von Belang. Die Wiederentdeckung des biblischen ethischen Arguments ist Teil einer ethischen Urteilsbildung, die verkürzt mit dem Dreischritt “SehenUrteilen-Handeln” skizziert werden kann. Der erste Schritt besteht darin, die Wirklichkeit zur Geltung kommen zu lassen (= Sehen). Der zweite Schritt des analytischen Urteilens will zum einen zu einer kritischen Erkenntnis und zum andern zur Aufhellung der Situation im “Licht des Evangeliums” führen (= Urteilen). Beide Schritte sind auf einen dritten, der auch der wichtigste ist, ausgerichtet: das Handeln. Die Lektüre der biblischen Tarditionen steht zwischen der erlebten Realität und einer Praxis, die auf Veränderung dringt. Das methodische Grundmuster mit dem Drei-Schritt “Sehen-UrteilenHandeln” entspricht in der formalen Abfolge durchaus der ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, wie sie Heinz Eduard Tödt vorgelegt 113 hat. Doch in einem entscheidenden Punkt weichen beide Konzeptionen deutlich voneinander ab: Biblische Orientierungen, Kategorien 112 113 54 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 204. H.E. Tödt, Sittliche Urteilsfindung, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 11-96. oder Einsichten spielen bei Heinz Eduard Tödt überhaupt keine Rolle. Sein ethisches Konzept besteht vielmehr in der kritischen Klärung und Prüfung der in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinverflochtenen Normen. “Wenn dieses die Aufgabe der Normenprüfung ist, so wird es oft nicht darum gehen, unter vorgegebenen Normen (in denen sich Erfahrungen niederschlagen) eine auszuwählen, sondern gegebenenfalls im Urteil eine neue zu gewinnen - so wie Luther einmal erklärt hat, Christen seien im Glauben ermächtigt, auch neue Dekaloge zu entwerfen, die 114 klarer seien als der des Mose (s. WA 39 I,47).” Außer diesem einen und zudem auch noch eher indirekten und negativen Hinweis auf die Bedeutung der ethischen Traditionen der Bibel gibt es bei Heinz Eduard Tödt in seiner Theorie der ethischen Urteilsfindung keinen Rückbezug auf die Bibel oder ihre Tradition. Durch die ganze Geschichte hindurch zieht sich der universale Tatbestand, daß Menschen sich die Dinge und Güter des Lebens besorgen und beschaffen müssen. Das ließ sie zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Umständen fragen: Was sollen wir essen und trinken, wie sollen wir uns kleiden? Dazu gehört aber auch: Wie erarbeiten wir, was wir zum Leben brauchen? Wie verteilen wir die Güter? Der Nobelpreisträger und Ökonom Paul A. Samuelson hat auf eine ökonomische Universalie hingewiesen, wenn er sagt, daß alle Gesellschaften es letztlich immer mit drei ökonomischen Grundproblemen zu tun haben, die sich zu allen Zeiten unabhängig von unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen stellen, jedoch unterschiedlich beantwortet werden: 1. Was soll in welchen Mengen produziert werden? Das heißt, welche alternativen Güter und Dienste sollen in welchen Mengen hergestellt werden? Nahrungsmittel oder Bekleidung? Viel Nahrungsmittel und wenig Bekleidung oder umgekehrt? Heute Butter und Brot oder heute Brot und Erdbeerpflanzen und dafür im nächsten Jahr Brot und Marmelade? 2. Wie sollen die Güter produziert werden? Das heißt, wer soll sie mit welchen Produktionsfaktoren und mit welcher Technik produzieren? Wer jagt, wer fischt? Soll Elektrizität durch Dampf, Wasserkraft oder Atomenergie erzeugt werden? Wollen wir Einzelfertigung oder Massenfertigung an Fließbändern? Wenn von allem etwas, wieviel dann von jedem? 3. Für wen sollen die Güter produziert werden? Das heißt, wer soll in den Genuß der bereitgestellten Güter und Dienstleistungen kommen? 114 Ebd. 39. 55 Oder anders ausgedrückt: Wie soll das gesamte Sozialprodukt unter die einzelnen Individuen und Familien verteilt werden? Wollen wir einige Reiche und viele Arme? Oder bescheidenen Wohlstand für die meisten? Sklaven und freie Bürger? Gleichberechtigung der Geschlechter und Rassen? Hohe Belohnung für Körperkraft oder Intelligenz? Sollen egoistische Streber alles bekommen? Sollen die Faulen 115 gut essen? Diese drei fundamentalen ökonomischen Fragen nach dem Was, Wie und Für-wen nimmt auch der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich auf. Welche Werte sollen für wen geschaffen werden? Diese ökonomische Frage hat eine ethische Dimension. Die Effizienz der Wirtschaft wird in eine Beziehung zu den ethischen Aspekten des individuellen Sinns und der sozialen Gerechtigkeit gesetzt. Während es bei der Frage nach dem Sinn des Wirtschaftens um dessen Bedeutung für das gute Leben geht, spricht die Frage nach der Legitimität die Bedeutung der Wirtschaft für das gerechte Zusammenleben der Menschen an. Die Sinnfrage durchbricht dabei eine auf Nutzenmaximierung verkürzte Sicht des Wirtschaftens; die Frage nach dem gerechten Wirtschaften nimmt Rücksicht auf die Ansprüche anderer Menschen und fragt deshalb nach den Möglichkeiten für ein gutes Leben aller. “Ist unser Wirtschaften uns selbst zuträglich? Ist unser 116 Wirtschaften gegenüber allen vertretbar?” Gefragt wird also: Wie wollen wir leben? Wie sollen wir zusammenleben? Die hier vorliegende Arbeit nimmt sich vor, folgende Fragen zu bearbeiten: Wie beantwortet die Tora diese ökonomischen Grundfragen nach dem Was, Wie und Für-wen? Welche Vorstellungen und Wertüberzeugungen eines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens erinnert die biblische Tradition? Und was könnte der Umgang der Tora mit den Wirtschaftsfragen ihrer Zeit für die Lösung gegenwärtiger Wirtschaftsprobleme bedeuten? Diese Fragen aus der Perspektive der biblischen Arbeiter, Bauern und Fischer und der heutigen Arbeiter und aller, die “unten” stehen, zu stellen, ist der hermeneutische Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Im nächsten Abschnitt soll zunächst nach dem ethischen Zugang zur Ökonomie, im darauf folgenden nach dem Zugang der Tora zur Ökonomie gefragt werden. Durch diese beiden Schritte soll geklärt werden, ob aus dem Umgang der Tora mit den Wirtschaftsfragen ihrer Zeit etwas für den Umgang mit den Wirtschaftsfragen am Ende des 20. Jahrhunderts zu lernen ist. 115 116 56 P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Köln 1981, 33f. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 205. 2. ETHISCHE ZUGÄNGE ZUR WIRTSCHAFT 2.1 Ethik des Marktes Die gängige Definition von Wirtschaften lautet: Wirtschaften bedeutet im Kern, die Knappheit der Güter rational mit den menschlichen Be117 dürfnissen in Übereinstimmung zu bringen. Wirtschaften hat es nach dieser Definition zentral mit Knappheit zu tun. “Könnten alle Bedürfnisse unterschiedslos erfüllt werden, so bestünde keine Notwendigkeit zum Wirtschaften . (...) Damit aber tritt die von Ökonomen immer wieder gestellte Frage in den Vordergrund, wie bei gegebenen Wünschen der Individuen oder Gruppen und bei vorhandenen begrenzten Gütervorräten und Produktionsmitteln wie Arbeit, Boden, Naturschätzen, Gebäuden und Maschinen eine möglichst weitgehende, ja optimale Erfüllung dieser 118 Wünsche erreicht werden kann.” In 1. Abschnitt habe ich bereits auf die ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen?) hingewiesen, wie sie der Ökonom Paul A. Samuelson formuliert hat. Er geht davon aus, daß alle ökonomischen Prozesse letztlich immer mit drei Grundproblemen zu tun haben, die sich zu allen Zeiten und unabhängig von den unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen stellen, jedoch unterschiedlich beantwortet werden: Wo immer Menschen zusammen leben und arbeiten, müssen diese drei Grundprobleme gelöst und organisiert werden, die in der ökonomischen Fachsprache als das Produktions-, das Allokations119 und das Distributionsproblem bezeichnet werden. Das Was, Wie und Für-Wen wäre kein Problem, wenn die Produktionsmittel und Ressourcen unbegrenzt vorhanden wären. Dann würden sich diese ethischen Fragen erst gar nicht stellen. Knappheit an Gütern ist deshalb das Hauptthema des Wirtschaftens. Aus dem Sachverhalt 117 118 119 K. Häuser, Volkswirtschaftslehre, Frankfurt 1974, 34. P. Bernholz , F. Breyer, Grundlagen der politischen Ökonomie, Tübingen 1984, 11. P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, 33f. 57 der Knappheit jedoch ergibt sich die Gerechtigkeitsfrage. An welchen Maßstäben orientiert sich die Beantwortung dieser scheinbar rein ökonomischen Grundfragen? Die Antwort auf diese Frage enthält allemal Werturteile, mögen diese reflexiv entfaltet oder auch nur implizit vorhanden sein. Jede ökonomische Frage ist also zugleich auch eine ethische. Denn alle Ökonomien bringen in der je unterschiedlichen Beantwortung der ökonomischen Grundfragen auch spezifisch normative und ethische Orientierungen zum Ausdruck, auch wenn sie diese nicht ausdrücklich thematisieren. Die ökonomischen Grundfragen haben deshalb zwei Di120 mensionen: Sie sind ökonomisch und ethisch zugleich. Wie beantwortet das Marktsystem die ökonomischen Grundfragen? Im Marktsystem werden nach Paul A. Samuelson die ökonomischen Grundfragen folgendermaßen beantwortet: 1. Was zu produzieren ist, wird durch Stimmzettel der Verbraucher determiniert, wobei die Stimmzettel Geldscheine sind. .. 2. Wie die Güter zu produzieren sind, wird durch die Konkurrenz der verschiedenen Produzenten entschieden. (...) 3. Für wen die Güter produziert werden, bestimmen Angebot und 121 Nachfrage auf den Produktionsfaktormärkten. (...) Wie der Markt die Verteilungsfrage beantwortet, stellt Paul A. Samuelson an einem Beispiel dar: “Die Güter bekommen die Leute, die die meisten Dollarstimmen abgeben können. Die Katzen der Reichen bekommen möglicherweise die Milch, die die Kinder der Armen dringend benötigen. Woher kommt das? Etwa daher, daß der Marktmechanismus schlecht funktioniert? Unter ethischen Gesichtspunkten könnte man das sagen, aber nicht, wenn man die Qualität der Funktionsweise des Marktmechanismus an seiner eigentlichen Aufgabe mißt. Der Markt kann nur das, wozu er geeignet ist: er läßt die Güter in die Verfügung derjenigen gelan122 gen, die das meiste dafür bezahlen können.” Die Beantwortung der ökonomischen Grundfragen erfolgt also nicht über Bedürfnisse, sondern über Wünsche, die mit Geld ausgestattet sind. Paul A. Samuelson räumt ein, daß es sich bei diesem Modell um ein theoretisches Konstrukt handelt, das in der Wirklichkeit nicht funktioniere; doch selbst wenn es funktionieren würde, wäre es nicht unbedingt als ideales System anzusehen. Zur Begründung führt er bezeichnenderweise nicht einen ökonomischen, sondern einen ethischen Aspekt an, wenn er fragt: Welche gesellschaftlichen Folgen aber hat die Beantwortung der Verteilung nach dem Markt120 121 122 58 Vgl. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 132 - 139. P. A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 65. Ebd. 68. modus, wenn “Katzen die Milch anstelle der Kinder” bekommen? Was bedeutet das für entwickeltere Industriegesellschaften, was für ärmere 123 Gesellschaften? Es zeigt sich also, daß das Marktparadigma die ökonomischen Grundfragen nach dem Was, Wie und Für-wen unter Vernachlässigung sozialer oder ökologischer Dimensionen ausschließlich mit “Geld” beantwortet. Dieser Sachverhalt der Marktökonomie produziert jenen Problemüberhang, der nach der Ethik dieser Wirtschaft fragen läßt. Dabei hatte sich die Wirtschaft in einer Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Ethik eingerichtet, nachdem sie im 18. Jahrhundert aus dem gemeinsamen Gehäuse ausgewandert war. Fortan galt wirtschaftliches Handeln als eigengesetzlich und wertfrei, allein einer Sachzwanglogik unterworfen. Nach Ethik zu fragen, erscheint im Rahmen einer solchen Arbeitsteilung belanglos, ja sachfremd. Für Ethik gibt es nach Max Weber in einem Marktsystem keinen Platz. Er beschreibt den Markt als eine Institution, die jedem wertrationalen Verhalten gegenübersteht. “Arbeitsmarkt, Geldmarkt, Gütermarkt, „sachliche‟, weder ethische noch antiethische, sondern einfach anethische, ja jeder Ethik gegenüber disparate Erwägungen bestimmen das Verhalten in den entscheidenden Punkten und schieben zwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen. Diese „herrenlose Sklaverei‟, in welche der Kapitalismus den Arbeiter oder Pfand124 briefschuldner verstrickt, ist nur als Institution ethisch diskutabel.” Max Weber nennt den Kapitalismus hier eine “herrenlose Sklaverei”. Mit dieser Bewertung des Kapitalismus gilt er als Gewährsmann einer ökonomischen Theorie, die sich nicht nur von jeglicher humanen Ethik abgekoppelt hat. Von der Sache her habe Ökonomie nichts mit Ethik zu tun. Ethik und Ökonomie in einen Zusammenhang zu bringen, sei unsachgemäß, denn Ökonomie folge nicht ethischen Vorgaben und Orientierungen. Sie habe vielmehr ihre eigenen Rationalitäten. Ökonomie und Ethik ständen deshalb auch in einem unüberbrückbaren Gegensatz. Diese Trennung bei Weber beruht auf einer Unterscheidung zwischen Sachurteilen und Werturteilen. Die empirischen Erfahrungswissenschaften können nur zweckrationale Urteile formulieren. Zu wertrationalen Urteilen haben sie dagegen keinen Zugang. Es zeigt sich, daß Max Weber zwar diese Trennung zwischen Sachurteilen und Werturteilen in seiner Wirtschaftssoziologie zur Geltung bringen will, sie aber nicht durchhalten kann, da sich Sachurteile und Werturteile im Verlauf seiner Argumentati- 123 124 Vgl. dazu A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 136-139. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1980, 709. 59 125 on immer wieder durchdringen. Er beschreibt den Markt zweckrational und gelangt zu wertrationalen Urteilen: “Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur das Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeitsethik, keine Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen mehr. (...) Der freie, d.h. der durch ethische Normen nicht gebundene Markt mit seiner Ausnutzung der Interessenkonflikte und Monopollage und seinem Feilschen gilt jeder Ethik als 126 unter Brüdern verworfen.” Das Sachurteil über den Markt vermischt Max Weber mit einem Werturteil. Er verbleibt analytisch nicht bei einem Sachurteil, wie er vorgibt, sondern beschreibt zugleich die am Markt herrschende Ethik, wenn er zu dem normativen Urteil kommt: Es herrscht am Markt eine Ethik, die “unter Brüdern verworfen” ist. Der Markt mit seiner ihm eigenen normativen Ethik steht also in einer ausdrücklichen Spannung zur christlichen Ethik; er ist “jeder Verbrüderung in 127 der Wurzel fremd.” Weber will die formale Zweckrationalität des Marktes als eine formale Rationalität beschreiben, die jeder ethischen Rationalität entgegengesetzt ist. Doch dabei entgeht er nicht der Tatsache, daß eben dieser zweckrationale Markt eine implizite Ethik hat. Kuno Füssel zieht aus dieser Beobachtung die Folgerung: “Seine manichäische Trennung von formaler und materialer Rationalität, Sachurteilen und Werturteilen wird unvereinbar mit den Ergebnissen seiner eigenen Ana128 lyse des Marktes.” Auch die Sachlogik der Ökonomie ist ethisch 129 durchdrungen. Weber spricht selber von einem “Inhalt der Marktethik” . Zu fragen ist deshalb: Gelten dann nicht im Kapitalismus wenigstens jene normativen Gehalte, die eben eine “Marktethik” ausmachen? Was ist damit gemeint? In seiner berühmten Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus spricht Max Weber von einer “Ethik” des Kapitalismus, die er jedoch nur in einem eher uneigentlichen Sinn als Ethik kennzeichnen will. Deshalb schreibt er, daß es sich beim Markt und dem Kapitalismus um etwas anderes als nur um eine Verbrämung rein egozentrischer Maximen handele: “Sondern vor allem ist das „summum bonum‟ dieser „Ethik‟ (sic! F.S.): der Erwerb von Geld und im130 mer mehr Geld (...) so rein als Selbstzweck gedacht.” Weber nennt 125 126 127 128 129 130 60 Anregungen zu den folgenden Ausführungen verdanke ich dem Beitrag: K. Füssel, Perspektiven einer theologischen Kapitalismuskritik, in: Orientierung 55 (1991), 169-176. Dieser Beitrag liegt meiner Argumentation zugrunde. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 382f. Ebd. 383. K. Füssel, Perspektiven einer theologischen Kapitalismuskritik, 173. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 383. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I., 2. Aufl. Tübingen 1922, 35. diese Lebenshaltung eine “eigentümliche „Ethik‟” und “ein Ethos, welches sich äußert.” Und er fügt hinzu: “ ... und in eben dieser Qualität interes131 siert es uns.” Je mehr eine Wirtschaft ihren immanenten Eigengesetzlichkeiten folge, desto unverträglicher würde sie mit “einer religiösen Brü132 derlichkeitsethik” . Der Kapitalismus enthält nach Weber eine Ethik. Diese Marktethik mit ihren Werten und Normen ist es also, die den Gegenpart zu einer Brüderlichkeitsethik ausmacht. Die formale Zweckrationalität des Marktes verdeckt ihre höchst „unbrüderliche‟ Ethik. Der Gegensatz besteht nicht zwischen einer Sachlogik oder anethischen Rationalität des Marktes, der jede Ethik fremd ist, und einer ethisch gehaltvollen Brüderlichkeitsethik. Vielmehr hat die “Marktethik” genauso wie die “Brüderlichkeitsethik” ihre je spezifischen ethisch-normativen Gehalte. 2.2 Ethik und Ökonomie: Zwei-Welten-Konzept Wie kommen Ethik und Ökonomie mit ihrem jeweiligen Zugang zur Wirklichkeit zu ihrem Recht? Wilhelm Röpke, einer jener Ökonomen, welche die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt haben, hat sich deutlich gegen eine Arbeitsteilung oder Antinomie von Ökonomie und Ethik ausgesprochen, wenn er sagt: “Nationalökonomisch dilettantischer Moralismus ist ebenso abschreckend wie moralisch abgestumpfter Öko133 nomismus.” Angesichts vermeintlich harter Fakten der Ökonomie wird der Ethik im Zusammenhang des Wirtschaftens nur zu gern das argumentative Recht abgesprochen. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht deshalb von einem “Zwei-Welten-Modell von ökonomischer Rati134 onalität und außerökonomischer Moralität” . Dieses “Zwei-WeltenModell” ist in die Kritik geraten. Immer häufiger wird nach Ethik gefragt. Verbunden mit diesem Ethikdiskurs geht auch die Entdeckung und Thematisierung des moralischen Handelns des Menschen einher, das für die eigene Fachdisziplin und Wirklichkeitskonstruktion bislang als irrelevant erachtet wurde. Die neuere Diskussion über Wirtschaftsethik ist aus der Erfahrung heraus entstanden, daß ethische Orientierungen und Werte mit ökonomischen Erfordernissen in Konflikt geraten. Handeln im ökonomischen Feld kollidiert nur zu oft mit moralischen Vorstellungen oder Idealen der wirtschaftlich tätigen Personen. Ethik und Ökonomie stellen 131 132 133 134 Ebd. 33. M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I., 2. Aufl. Tübingen 1922, 544. W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich 1966, 161 (kursiv im Original). P. Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, 181. 61 Anforderungen an menschliches Handeln, die jedoch nicht deckungsgleich sind. Wirtschaftsethik befaßt sich deshalb mit der Frage, wie Normen in der Ökonomie und im Handeln derer, die ökonomische Verantwortung wahrnehmen, zur Geltung gebracht werden kann. Wie läßt sich verantwortlich wirtschaften? Der Wirtschaftsethiker Karl Homann unterscheidet grundsätzlich vier mögliche Varianten in der Verhältnisbestimmung von Ethik und Ökono135 mik: 135 62 K. Homann, Ethik und Ökonomik, in: E.Kappler u. T. Scheytt, Unternehmensführung - Wirtschaftsethik - Gesellschaftliche Evolution. Annäherungen an eine verantwortungsbewußte Führungspraxis, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1995, 179f. 1. Ethik und Ökonomik stehen unverbunden nebeneinander. Ethische Anforderungen in die Wirtschaft einzubringen, ist geradezu unsinnig. Bezugnehmend auf den Systemansatz von Niklas Luhmann versteht Karl Homann diesen Argumentationstypus als einen Ansatz, der das Problem der Wirtschaftsethik wegdefiniert. Er kritisiert, daß diese Art der Verhältnisbestimmung die Gestaltungsabsicht von Sozialwissenschaften preisgibt. 2. Hierarchiemodell I: Die Ethik dominiert die Ökonomik, normative Forderungen haben Vorfahrt vor ökonomischen Gesichtspunkten. Als Vertreter dieses Typus nennt Karl Homann u.a. christliche Theologien und die neuere Frankfurter Schule. Sein Urteil: “Dieses Paradigma befriedigt nicht, weil man aus der Ökonomik für die Ethik nichts lernen kann und weil die Ethik 136 für die Praxis abstrakt, unfruchtbar bleibt.” 3. Hierarchiemodell II: Die Ökonomik dominiert die Ethik, saugt sie auf. Karl Homann distanziert sich von dieser Position: “Man kann in diesem Paradigma aus der 137 Ethik für die Ökonomik nichts mehr lernen.” 4. Ökonomik und Ethik durchdringen sich gegenseitig. Auch diese Konzeption lehnt Karl Homann ab, da sie “zu willkürlichen 138 und eklektischen Mixturen der Forderungen einlädt.” Diese verschiedenen Ansätze verbleiben allesamt in einem Dualismus, den der Wirtschaftsethiker Karl Homann vom Ansatz her vermeiden will. Er will deswegen eine Ethik entwerfen, die das ökonomische Eigeninteresse oder die ökonomische Rationalität in Marktwirtschaften ethisch so zuläßt, daß ein Dualismus aufgehoben ist. Das Grundproblem einer modernen Wirtschaftsethik beschreibt er folgendermaßen: “Ein Unternehmen, das unter harten Wettbewerbsbedingungen aus moralischen Gründen kostenträchtige Vor- und Mehrleistungen erbringt, droht in Wettbewerbsnachteil zu geraten und langfristig vielleicht sogar aus dem Markt ausscheiden zu müssen. Moral, die etwas kostet, ist im Wettbewerb unmöglich von einzelnen Akteuren zu realisieren. Die Ausbeutbarkeit mora139 lischen Verhaltens im Wettbewerb ist das Problem.” Wie lassen sich dennoch ökonomische Rationalität und ethisches Handeln vermitteln? 136 137 138 139 K. Homann, Ethik und Ökonomik,180. Ebd. 181. Ebd. 181. K. Homann, Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zum Parlament B21/1997, 14. 63 Wettbewerb und moralisches Verhalten scheinen unversöhnbar zu sein, wenn wettbewerbliches Handeln ein Handeln belohnt, das grundlegenden moralischen Vorstellungen nicht entspricht. Karl Homann sucht aus diesem Dilemma einen Ausweg, indem er in Anlehnung an Adam Smith eine Unterscheidung zwischen Spielregeln und Spielzügen vornimmt. Die politische und rechtliche Rahmenordnung gibt die Spielregeln vor, nach denen agiert wird. Innerhalb der vorgegebenen Spielregeln nehmen die wirtschaftlich Handelnden Spielzüge vor. Ort der Moral ist nicht mehr das individuelle Handeln. Deshalb formuliert Karl Homann die Grundthese seines Ansatzes für eine Überwindung des Dualismus von Ethik und Ökonomie: “Der systematische Ort der Moral in einer Markt140 wirtschaft ist die Rahmenordnung.” Moral und wirtschaftliche Effizienz sind jeweils auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. “Die Effizienz in den Spielzügen, die Moral in der Spielregeln. (...) Unter diesen Bedingungen der modernen Wirtschaft (...) ist die Moral nicht (mehr) in den einzelnen Handlungen, also nicht in den Spielzügen zu finden. (...) Wenn man moralische Werte geltend machen will, muß man folglich an den 141 Rahmenordnungen, also an der Wirtschaftsordnung, ansetzen.” Karl Homann erachtet nur das als ethisch gerechtfertigt, was in der ökonomischen Axiomatik an Werten vorhanden ist. Dieses wirtschaftsethische Konzept entsorgt das ethische Handeln als solches. Eine Differenzierung zwischen Spielregeln und Spielzügen übersieht, daß auf den beiden Ebenen, der Spielregeln in der Rahmenordnung und der Spielzüge im Handeln, jeweils sehr wohl Ethik angesiedelt ist. Ordnungsethik und Handlungsethik sind nicht auf zwei Ebenen unverbunden und getrennt angesiedelt, sondern aufeinander angewiesen. Sie müssen wohl unterschieden, dürfen jedoch nicht getrennt werden. Karl Homanns These vom systematischen Ort der Ethik in der Rahmenordnung läßt sich mit guten Gründen gänzlich umdrehen: Der systematische Ort der Moral liegt in den Handlungen der Menschen - auch in der Marktwirtschaft und auch bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen. Der systematische Ort der Ethik wechselt tatsächlich ständig: Akteure handeln aus ethischen Motiven und gestalten die Rahmenordnung; die von ihnen gestaltete Rahmenordnung wird selber zu einem Ort der Ethik. Die Rahmenordnung jedoch ist nicht ein für allemal fertig, sondern wird in einem andauernden geschichtlichen Prozeß gestaltet und verändert. Wirtschaftlich verantwortliches Handeln hat damit zu tun, daß die handelnden Personen sich selber als Teil eins Systems begreifen, in dem sie verantwortlich aktiv sind. Der Manager einer Düngemittelfabrik ist für die Folgen seiner Ent140 141 64 K. Homann u. F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, 35 (kursiv im Original). Ebd. 35f. scheidungen verantwortlich wie der Betriebsrat oder der Personalchef für seine Entscheidungen. Diejenigen, die wirtschaftliche tätig sind und die Lebens- und Arbeitsverhältnisse gestalten, handeln ethisch. Zwischen Ethik und Recht zu unterscheiden, ist gerade ein Ergebnis der Moderne, das nicht rückgängig gemacht werden darf. Karl Homann selber erläutert seine Grundthese vom Ort der Ethik in den Ordnungen bezeichnenderweise genau dadurch, daß er zu den Rahmenbedingungen Elemente der Rechtsordnung aufzählt: “Verfassung, Gesetze, Wirtschaftsordnung, Wettbewerbsordnung, Steuergesetze, Justizapparat, 142 (...):” Daß diese Rahmenordnung jedoch Ergebnis des politischen Handelns aus ethischen Motiven ist, kommt bei Homann nicht in den Blick. Zwei Momente begründen nach Karl Homann die moralische Qualität der Marktwirtschaft. Zum einen belohne sie den, der das Wohl der Mitmenschen fördere; zum anderen baue das Wettbewerbsprinzip systema143 tisch Machtpositionen ab. Es mache geradezu ein Merkmal der Moderne aus, daß die moralische Qualität den Institutionen und eben nicht dem Verhalten des Individuums zukomme. “Damit erhält das Selbstinteresse - Moralisten reden von Egoismus - eine ökonomisch-funktionale 144 Begründung für die Ethik.” Der Eigennutz kann dann zu einem respektablen moralischen Verhalten avancieren. Von diesen Voraussetzungen aus kommt Karl Homann zu einem moralischen Urteil über die Vorzugswürdigkeit ökonomischer Systeme. Marktwirtschaft ist an sich moralisch qualifiziert und wird es nicht erst durch eine an ethischen Zielvorgaben orientierte Gestaltung. “Wir verbieten uns den verbreiteten, theoretisch aber unhaltbaren Ausweg, die moralische Qualität der Marktwirtschaft in den sozialen Korrekturen und Abfederungen dieser Marktwirtschaft zu sehen. Es geht uns um die moralische Qualität der Marktwirtschaft als solcher. .. Die moralische Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft liegt darin, daß sie das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen dar145 stellt.” Diese Denkhaltung sucht Ethik dadurch in einen Zusammenhang mit wirtschaftlichen Prozessen zu bringen, daß Ethik dabei nicht gegen die Wirtschaft zur Geltung gebracht wird. “Moralische Intentionen können nicht gegen die moderne Wirtschaft realisiert werden, sondern 146 nur in ihr und durch sie.” So läßt sich dann von einer “Moral der Märk- 142 143 144 145 146 K. Homann, Individualisierung: Verfall der Moral? 14. K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 50 K. Homann, Verfall der Moral? In: WirtschaftsWoche Nr. 38 vom 12.9.1996, 39. K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 49. K. Homann, Wirtschaftsethik. Die Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft, in: J.Wieland (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1993, 39. 65 147 te” sprechen. Die Marktwirtschaft selber - nicht einmal mit einem Adjektiv “sozial” versehen - ist ethisch. Ihre Ethik ist ihre Effizienz. Und des148 halb: “Wohlstand ist Ermöglichung von Freiheit.” Die ökonomische Rationalität begründet die Wert- und Normvorstellungen. Referenzrahmen dieses Ansatzes ist eine Konzeption, die sich selber “ökonomischer Im149 perialismus” nennt. Die entscheidende Schwäche der Konzeption von Karl Homann liegt darin, daß er alle sozialen Beziehungen auf ökonomisch rationales Handeln zurückführen will. Diese Konzeption aber verkennt die tatsächlich vorhandenen solidarischen Strukturen in einer Gesellschaft, wenn sie meint, daß Gesellschaften allein durch die Nutzenmaximierung der je einzelnen ihren Zusammenhalt und die solidarischen Beziehungen sichern können. Karl Homann will Ethik dadurch mit der Ökonomik versöhnen, daß Ethik ihren systematischen Ort allein in der Rahmenordnung erhält. In einer solchen Versöhnung von Ethik und Ökonomik kommt jedoch Ethik als eigener Zugang zur Wirklichkeit nicht selber zur Sprache. Ethik steht nämlich für das Bemühen, gerade wegen aller systemlogischen Einschränkungen und fachlichen Ausdifferenzierungen dennoch zu einer fachübergreifenden Verständigung beizutragen und die verschiedenen Zugangsweisen zur Wirklichkeit, die Ökonomik und Ethik kennzeichnen, miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Spannung löst Karl Homann auf, indem er den spezifischen Zugang zur Wirklichkeit, welcher der Ethik zu eigen ist, nicht zuläßt. Die Folge ist: Die Ökonomik kann dann gerade nichts von der Ethik und umgekehrt auch die Ethik nichts von der Ökonomik lernen. Karl Homann blendet aus, daß Menschen moralisch handeln, wenn sie wirtschaftlich tätig sind. Indem er dieses moralische Handeln aber ausblendet, trägt er zu einer Erosion eben jener Moral bei, deren jede Marktwirtschaft für ihr Funktionieren bedarf, denn wenn nur noch zweckrationales Verhalten prämiert wird, gilt am Ende auch nur noch die “Marktethik” als einzige Ethik. Die Entsorgung der Ökonomie von Ethik bestätigt eine Ökonomie, in der das moralische Handeln des Menschen ausgeschlossen ist. Eine solche Ökonomie-Ethik bringt wohl Ethik und Ökonomie zur Deckung, aber um den Preis, daß sie nicht mehr leistet, als daß sie ein bestehendes ökonomisches System auch noch mittels 147 148 149 66 W. Weimer, Das Teilen und die Moral der Märkte. Wirtschaftsleitartikel, in: FAZ Nr. 299 vom 24.12.1993, 9; so auch K. Homann, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, in: J. Gründel (Hg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs der Moral, Bd. 2, Düsseldorf 1992, 70-116. K. Homann, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 98. G.S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Verhaltens, 2. Aufl. Tübingen 1993. Ethik überhöht. Deshalb unterbleibt die interdisziplinäre Verständigung, die sie eigentlich wollte. Nach dem Niedergang der sozialistischen Systemalternative kann sich diese Denkhaltung zudem bestätigt fühlen. Nicht allein der Sozialen Marktwirtschaft wird nunmehr eine “moralische Qualität” bescheinigt; der so lange diskreditierte und verpönte Begriff Kapitalismus wird rehabilitiert. Rehabilitiert wird aber nicht allein der Begriff - auch die Sache selber, nämlich eine Marktwirtschaft, die sich aller Attribute entledigt hat. So kann der Wirtschaftsethiker Peter Koslowski in der nach 1989 erfolgten Neuauflage seines Buches zur Ethik des Kapitalismus sagen: “Die bisher als selbstverständlich vorausgesetzte pejorative Bedeutung des Begriffs 150 Kapitalismus gilt nicht mehr.” Marktwirtschaft wird nicht nur als alternativlos, sie wird quasi als Ergebnis eines geschichtlichen Selektionsvorgangs angesehen und nunmehr als „naturgemäß‟ verteidigt. Sie braucht deshalb auch keine Ethik als Wertorientierung, die von außen und nicht aus der Ökonomie selber kommt. Eine Begründungsfigur stellt ganz offen eine Entsprechung zwischen der Qualität der Marktwirtschaft und ei151 nem biologischen Motiv her. Das ökonomische Gewinnmotiv entspreche dem biologischen Selbsterhaltungstrieb. Deshalb könne sich dieses ökonomische Gewinnmotiv als eine quasi naturgemäße Triebkraft der Ökonomie ausgeben. “Eine Unternehmer-Ethik, die den natürlichen Selbsterhaltungstrieb nicht bekämpft, ihn vielmehr umlenkt zum Nutzen und im Dienst des Ganzen, zur Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt - eine solche Ethik verdient Respekt.” Eine Marktökonomie, die sich als naturgemäß begründet und gegen kritische Infragestellungen immunisiert, unterliegt einem fatalen naturalistischen Fehlschluß. Sie schließt von geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf einen evolutiven Vorgang. 2.3 Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen Die Ökonomie hatte sich lange in einer Arbeitsteilung eingerichtet: Ethik wurde nicht in einen Zusammenhang mit Ökonomie gebracht und umgekehrt. Ökonomie galt als ethikneutral und allein Sachgesetzen und ihren Zwängen unterworfen. Ein solches arbeitsteiliges Denken zwischen Ökonomie und Ethik ist unter Druck geraten. Sind es doch genau jene von der Wirtschaft selbst hervorgerufenen Probleme, die diese ethische Unbekümmertheit in Frage stellen. Während die Logik des Sachzwangs wirtschaftlichen Handelns zwar ein getrenntes Nebeneinander von Ethik 150 151 P. Koslowski, Ethik des Kapitalismus, 4. Aufl. Tübingen 1991, 10. W. Weimar, Das Teilen und die Moral der Märkte. 67 und Wirtschaft behauptet, faktisch jedoch die Ethik der Wirtschaft unterordnet, so bringt der Ansatz von Karl Homann wohl Ethik und Wirtschaft zur Deckung - doch um den Preis, daß Ethik in Ökonomie aufgeht. Welcher Maßstab gilt aber für moralisches und welcher für wirtschaftliches Handeln? Auf diese Frage kennen beide Argumentationen keine Antwort. Sie verorten die Zugänge zu ethischen Fragen im Zusammenhang des Wirtschaftens abstrakt und abseits konkreter gesellschaftlicher Strukturen, Prozesse und Auseinandersetzungen. Darin zeigt sich eine eigentümliche Arbeitsteilung zwischen denen, die theoretisch Ethik konstituieren und denen, die in der Praxis ökonomisch handeln. Ethische Normen sind jedoch nicht im Elfenbeinturm zu Hause. Sie entstehen überall dort, wo um mehr Humanität, um mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit gerungen wird. Friedhelm Hengsbach hat deshalb die Arbeitsteilung zwischen Ethik und Ökonomie, aber auch die zwischen Spielregeln und Spielzügen (Karl Homann) einer Kritik unterzogen. Seine Gegenthese lautet: Bezugspunkt der Wirtschaftsethik ist zwar die Rahmenordnung der Wirtschaft als Ort der Ethik, doch diese Rahmenordnung ist ihrerseits bereits institutionell geronnenes Ergebnis ethisch bedeutsamer politischer Praxis. Politische Praxis findet jedoch nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb dieses Rahmens statt. Ort der Ethik in der Marktwirtschaft ist nicht allein die Rahmenordnung, sondern auch das Handeln innerhalb des Rahmens. Der Ort, an dem Ethik und Ökonomie bereits vermittelt sind, ist die politische Öffentlichkeit, in der sich das politische und soziale Handeln vollzieht. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat eine “Wirtschaftsethik 152 sozialer Bewegungen” vorgelegt, die Ökonomie und Ethik nicht abstrakt vermittelt, sondern die Beiträge der politisch-öffentlichen Debatte über die Rahmenordnung der Wirtschaft und die Praxis zur Veränderung der Rahmenordnung aufnimmt, in der ethische und ökonomische Aussagen immer schon miteinander verbunden sind. Sein Ansatz einer “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” ist nicht abseits gesellschaftlicher Prozesse angesiedelt. Deshalb stellt der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach auch Wirtschaftsethik in einen Zusammenhang mit einer verändernden Praxis. Er versteht Wirtschaftsethik als einen Reflexionsprozeß, bei dem das Kräftespiel der Interessengruppen im politischen Entscheidungsprozeß reflektiert und die fortwährende Reform des Wirt- 152 68 F. Hengsbach, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Münster 29 (1988) 127-150; ders., Arbeitsethische Innovationen durch alte und neue soziale Bewegungen, in: B. Bievert, M. Held (Hg.), Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie. Eigentum, Verträge, Institutionen, Frankfurt 1989, 156-188; ders., Wirtschaftsethik, 66-80; ders., Art. Soziale Bewegungen, in: G. Enderle u.a. (Hg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 963-968. schaftssystems durch ethische Impulse, die von sozialen Bewegungen ausgehen, kritisch und sympathisch begleitet wird. “Wirtschaftsethik ist innerer Bestandteil und Resultat gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse und Konflikte, die ganz erheblich von sozialen Bewegun153 gen reflektiert und getragen wurden.” Die von Friedhelm Hengsbach vorgelegte Vermittlung von Ökonomik und Ethik weigert sich, ökonomisches Handeln und ethisches Urteilen oder Handeln gleichsam auf zwei verschiedene Welten zu verteilen. Ethik ist nicht allein angesiedelt in einem ethisch bedeutsamen Ordnungsrahmen, der wiederum selber alles ökonomische Handeln innerhalb dieses Ordnungsrahmens ethisch entlastet, wie es bei Karl Homann heißt. Die Orte und die Subjekte der Wirtschaftsethik rücken deswegen 154 in das Zentrum. Friedhelm Hengsbach sieht in den sozialen Bewegungen Subjekte der Wirtschaftsethik. Der herkömmliche wirtschaftsethische Diskurs betrachtet dagegen vornehmlich Unternehmensleitungen, Manager und unternehmerisch tätige Funktionsträger als wirtschaftsethisch relevante Subjekte, die kommunikative Prozesse oder Organisationsprozesse in Unternehmen initiieren oder eine corporate identity des Unternehmens verstärken. Es waren auch Unternehmensleitungen, die vor zwei bis drei Jahrzehnten Ethik “entdeckten” und sich ethische Unternehmensrichtlinien (code of ethics oder code of conducts) gaben, in denen sie Werte formulierten, die für das Unternehmen Geltung gegenüber Kapitalgebern, Mitarbeitern, Kunden, allgemein gegenüber der Gesellschaft haben sollten. Betriebsräte, Vertrauensleute oder andere Organe der Betriebs- und Unternehmensverfassung dagegen sind bezeichnenderweise keine Sub155 jekte von Wirtschaftsethik. Die “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” hat demgegenüber einen anderen sozialen Ort. Sie entsteht aus einer Betroffenheit über Ungerechtigkeiten, die als strukturell bedingt wahrgenommen werden. Mögliche Humanität wird vorenthalten, Lebenschancen werden ungleich verteilt. Gegen diese leidvollen Erfahrungen setzen sich Menschen zur Wehr. Das Leiden an einer konkreten Lage bringt Leitbilder für eine an153 154 155 F. Hengsbach, Wirtschaftsethik, 168, vgl. auch 66f. So F. Segbers, Die Praxis der Gewerkschaftsbewegung reflektieren. Zu einer Wirtschaftsethik am Ort der Arbeit, in: kda. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt. Zeitschrift für evangelische Arbeitnehmer, Bad Boll Nr. 1 / Februar 1990, 15f. Vgl. dazu exemplarisch: J. Wieland, Die Ethik der Wirtschaft als Problem lokaler und konstitutioneller Gerechtigkeit, in: ders. (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1993, 7-31.; K.- W. Dahm, Management of Values. Ethikseminare für Führungskräfte, Teile IIII, Teile IV - V, in: Forum Wirtschaftsethik 1 (1993) 4-9; Forum 2 (1994) 3-11.; ders., Unternehmensbezogene Ethikvermittlung. Literaturbericht: Zur neueren Entwicklung der Wirtschaftsethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 33 (1989) 121-147. 69 dere Zukunft hervor. Gegen menschliche, soziale, ökonomische oder ökologische Defizite setzt man sich zur Wehr und versucht, Schritt für Schritt, das Bild einer besseren Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses solidarische Handeln ist ethisch gehaltvoll und drängt politisch darauf, die als ungerecht erfahrenen Verhältnisse zu überwinden. Man gibt sich deshalb nicht zufrieden mit der Rede von einer ethischen Qualität einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die dann doch wieder wertneutrale Steuerungsmittel zuläßt und das wirtschaftliche Geschehen nach ökonomischen Regeln ablaufen läßt. Die Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen verteilt die prozeßethische Verantwortung für eine Humanisierung des Kapitalismus auf zahlreiche kollektive Entscheidungsträger. Weder Unternehmer noch Verbraucher noch Gewerkschaften sind in der Lage, die wirtschaftsethisch gebotenen Reformen jeweils allein durchzuführen. Erst die Kooperation, aber auch der Konflikt der verschiedenen wirtschaftsethisch relevanten Trägergruppen eröffnet die Chance, jene Reformen in Angriff zu nehmen, die für mehr Humanität und Gerechtigkeit der Marktwirtschaft vonnöten sind. Das Unbehagen nicht weniger Menschen an einer Wirtschaft ohne Moral drückt sich in den Leitlinien aus, die Wirtschaften und Moral wieder zusammenbringen wollen. Nicht einzelne, sondern ganze Gruppen, Schichten oder Personenkreise sind von dieser Situation betroffen. Deren Unbehagen bündelt sich in kollektiven Trägern. Besonders sind dies die sozialen Bewegungen, die auf soziale und ökologische Defizite und auch auf die Grenzen der Marktwirtschaft verweisen. Diese sozialen Bewegungen sind von einem Ethos motiviert. Sie sind die verteilungskritischen Agenturen der Neuzeit, die in praktisch-politischen Auseinandersetzungen entscheidend dazu beigetragen haben, die jeweils herrschenden sozialen Ungleichheiten abzubauen und mehr Gerechtigkeit schaffen. Geschichtlich ist auf den ethisch bedeutsamen und politisch wirksamen Beitrag sozialer Bewegungen hinzuweisen, die den industriellen Kapitalismus umgebogen haben. Sie haben diesem in einem langen geschichtlichen Prozeß, der noch immer andauert, Humanität und Gerechtigkeit abgerungen. Die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung kämpfte und kämpft um humane Arbeitsbedingungen wie Achtstundentag, Koalitionsrecht, Arbeitsschutz. In diesen Kämpfen zeigt sich eine Ethik der sozialen Gerechtigkeit. Der Frauenbewegung geht es zentral um die Gleichberechtigung, sei es in der Gestalt der politischen Teilhabe, des Zugangs zu Erwerbsberufen oder des gleichen Lohnes für gleiche Arbeit. Eine Ethik der Partizipation und der gleichen Würde aller Menschen unabhängig vom Geschlecht kommt darin zum Ausdruck. Die Friedensbewegung weigert sich, Rüstungsproduktion oder Waffenexport um ökonomischer Interessen willen in Kauf zu nehmen. Eine Ethik des 70 Friedens zeigt sich hier. Die Suche nach einer Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, für die die Umweltbewegung steht, achtet auf die Rechte der Schöpfung. Ihre Ethik ist eine Ethik der Schöpfung. Erst durch diese Bewegungen kann Ethik politisch wirksam werden. Ethik kommt nicht von außen und entsteht auch nicht abseits sozialer oder ökologischer Defizite. Sie hat ihren Ursprung in eben diesen Schieflagen, und sie hat ihren Ort in den Bewegungen. Deshalb hat Ethik vor allem ihren Ort bei denen, die “hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit” (Mt 5,6). 71 72 ZWEITER TEIL WIRTSCHAFTSETHIK DER BIBEL: WIRTSCHAFTEN AUS DER LOGIK DER HUMANITÄT 73 3. WIRTSCHAFTSETHIK AUS DER OPTION FÜR DIE ARMEN 3.1 Diskursethische Begründung von Wirtschaftsethik Drei unterschiedliche Diskurse sind im Verfahren der wirtschaftsethischen Urteilsbildung zu unterscheiden. Im Begründungsdiskurs werden die spezifischen ethischen Orientierungen begründet. Im Anwendungsdiskurs werden die normativen Vorgaben mit anderen Logiken konfrontiert. Dabei ist die aus den christlichen Normen entwickelte Entscheidungslogik als eine unter anderen zu verstehen. Normenkollisionen und Normenkonflikte sind bei dieser Pluralität von Normen deshalb prinzipiell gegeben und auch als Teil einer demokratischen Kultur zu betrachten. Biblisch und sozialethisch begründete Normen und Werte können den spezifischen Beitrag theologischer Ethik im Diskurs in einer pluralistischen Gesellschaft beschreiben. Im Anwendungsdiskurs werden die begründeten Normen kontextualisiert. In einem dritten Diskurs muß nach 156 der Gültigkeit der Normen in konkreten Situationen gefragt werden. Der Begründungsdiskurs soll das Ethos, das sich in der Tora niedergeschlagen hat, darlegen, reflektieren und entfalten (Abschnitt. 3-6). Der Anwendungsdiskurs eruiert die in der Marktwirtschaft impliziten Normen (Abschnitt. 8), die nach ihrer Gültigkeit befragt werden (Abschnitt 9 und 10). In seiner Wirtschaftsethik entfaltet Yorick Spiegel einen Ansatz ethischer Urteilsbildung, der theologische Traditionen, ethische Einsichten und den spezifisch christlichen Beitrag berücksichtigen will. Weil es keine ethische Tradition, aber auch keine allein aus der Vernunft heraus zu begründende Ethik mit einem Absolutheitsanspruch geben kann, muß jede ethische Urteilsbildung drei Kriterien erfüllen: 156 74 Mit diesem Verfahren orientiere ich mich modifiziert an: J. Wieland, “Option für die Armen?”, Grenzübergänge der Sozialethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 62ff. - Die Aussagen einer Ethik müssen einsichtig sein; - eine Ethik muß dialogfähig mit anderen ethischen Ansätzen sein und auf diese anderen Ansätze eingehen; - eine Ethik muß in der Lage sein, Anfragen anderer Ansätze zu überprü157 fen oder aber zu integrieren. Kurz nach der Wende hat das Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes in der DDR 1990 einen Weg ethischer Argumentation vorgeschlagen, der sowohl dem universalen Ansatz ethischer Argumentation gerecht werden als auch einen spezifisch christlichen Beitrag leisten will: “Die Auffassung christlicher Ethik kann sich nur als eine von mehreren Perspektiven verstehen und wird den Dialog suchen, statt rigoristische Forderungen zu stellen. Der Dialog setzt Lernfähigkeit bei sich selber voraus und traut sie auch den anderen zu. Der Dialog sucht Verständigung über gemeinsame Werte, Wege und Ziele. Er appelliert an Vernunft, welche nicht eine urgeschichtlich gegebene und bloß abrufbare Größe darstellt, sondern stets im Vernehmen des hier und heute Menschlichen 158 und Sachlichen Gestalt gewinnt.” Christliche Ethik erhebt einen doppelten Anspruch: Zum einen ist sie eine Orientierung für Christen, zum anderen ein Beitrag in einem umfassenderen öffentlichen Diskurs. Christliche Ethik wird zunächst Christen bei ihrer theologisch-ethischen Handlungsorientierung unterstützen, ohne immer zugleich schon an eine Kommunikabilität gegenüber Nichtchristen zu denken. Sie hat aber auch einen öffentlichen Anspruch, der sie kommunikabel mit der Gesellschaft machen muß und davor bewahrt, nur eine christliche Binnenmoral zu sein. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1997) ist ein herausragendes Beispiel für einen solchen gesellschaftlichen Diskurs, der Gründe für Solidarität und Gerechtigkeit argumentativ einbringen und gesellschaftlich plausibel machen kann, aber auch eine ethische Orientierung für Christen bieten will. Das theologische Argument beansprucht dann keine Allgemeinverbindlichkeit, ist aber argumentativ so darzulegen, daß es der Verständigung in der Gesellschaft über das, was gelten soll, dienlich sein kann. Wie läßt sich ein moralisch begründeter und gesellschaftlich bedeutsamer Konsens herstellen, den gerade eine Gesellschaft braucht, die im Zuge ihrer Pluralisierung Traditionen verloren hat, die von allen geteilt werden? Die formalistisch-prozedurale Rationalität argumentierender Vernunft, wie sie sich im Konzept der Diskursethik begründet, gilt es für jene ethi157 158 Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsspraxis, 17f. Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes in der DDR. Verantwortlich wirtschaften. Studien zu Fragen christlicher Wirtschaftsethik, 1990 (Manuskript). 75 schen Einsichten zu öffnen, die sich in biblischen Traditionen niedergeschlagen haben. Diese Traditionen biblischen Argumentierens sind gesättigt mit der Erinnerung an den befreienden Gott. Biblisch-ethische Rationalität und die Rationalität argumentierender Vernunft brauchen in keiner Weise in einen Streit um den jeweiligen Anspruch auf Überlegenheit einzutreten. In pluralistischen Gesellschaften können zwar religiös vermittelte ethische Einsichten oder Geltungsansprüche nicht mehr mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Universale Verbindlichkeit wird ethisches Argumentieren, das sich biblisch fundiert, dennoch reklamieren können, wenn es gelingt, bibeltheologisch begründete ethische Optionen auch durch rationale Argumente plausibel zu machen. Diskursethisches Argumentieren beschränkt sich auf ein Verfahren zur Findung allgemeinverbindlicher Normen und nimmt nicht das Gute, sondern nur das Gerechte als Verfahrensgerechtigkeit in den Blick. Die diskursethische Argumentation kann deshalb auch nicht die Beiträge biblischer Einsichten, die nicht in dieser formalistischen Weise um gehaltvolle Visionen des guten Lebens kreisen, abrufen. Deshalb fragt Jürgen Habermas auch, ob “denn von den religiösen Wahrheiten, nachdem die religiösen Weltbilder zerfallen sind, nicht mehr und nicht anderes als nur die profanen Grundsätze einer universalistischen Verantwortungsethik gerettet - und d.h.: 159 mit guten Gründen, aus Einsicht, übernommen werden können:” Jürgen Habermas gesteht gerade in Rahmen seines diskursethischen Ansatzes einem biblisch-ethischen Argumentieren eine spezifische Rolle zu. Biblisch begründetes ethisches Argumentieren wird nach Habermas auf die Kirche als “eine von mehreren Interpretationsgemeinschaften” verweisen und theologisch-sozialethisches Argumentieren so darlegen müssen, daß “ihre Konzeptionen des Heils, ihre Visionen eines nichtverfehlten Lebens” öffentlich zur Sprache gebracht werden und mit anderen Entwürfen “um die überzeugendste Interpretation von Gerechtigkeit, 160 Solidarität und der Errettung aus Not und Erniedrigung” streiten. Christliche Ethik wird sich deshalb als eine unter mehreren Perspektiven verstehen und sich in einen Dialog einbringen müssen. Ein von religiösen Traditionen bestimmtes Reden kann “inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führen, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in be161 gründete Diskurse noch harren:” Habermas bezieht diese Gehalte auf Begriffe wie Freiheit, Humanität, Gerechtigkeit oder Moralität, die wir nicht “ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsge159 160 161 76 J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften, Bd. V., 3. Aufl. Frankfurt 1986, 52. J. Habermas, Israel und Athen, in: Orientierung 57 (1993) 243. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 2. Aufl. Frankfurt 1988, 60. 162 schichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen:” Die Erinnerung der Religion enthält ein Wissen über gelungenes und gerechtes Leben, das zu einer Praxis der Solidarität zu motivieren vermag. Bemerkenswert sind diese Argumentationen von Jürgen Habermas, weil er die theologische Ethik daran erinnert, nicht in einem Diskurskonzept auf163 zugehen. Gerade für die “Rettung des Humanen” hätten die Religionen ein semantisches Potential. Die Diskursethik vermag zu erklären, warum es gut sei für eine Gesellschaft, sich an diese oder jene Regel zu halten. Aber warum sich jemand an diese Regel halten soll, das kann eine Diskursethik nicht begründen. Angesichts der Trennung von Gerechtem und Gutem, die Jürgen Habermas ebenso wie den prinzipiellen Vorrang des prozedural Gerechten vor dem substantiell Guten beibehält, kommt dem religiösen Diskurs eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für eine humane und solidarische Gesellschaft zu. Diskursethik allein wird nämlich Humanität und Solidarität für das Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht garantieren können. 3.2 Der spezifische Beitrag bibeltheologischer Aspekte im wirtschaftsethischen Diskurs In der Diskursethik und der Ethik der Befreiung geht es mit den Fragen der Kontextualität oder Universalität der Vernunft immer auch um Begründungsfragen ethischen Handelns. Der lateinamerikanische Philosoph Enrique Dussel hat einen Entwurf einer universalen Ethik vorgelegt, der einen interessanten und weiterführenden Beitrag zur Grundlegung einer theologischen Sozial- und Wirtschaftsethik leisten kann. Auch wenn dieser Ansatz sprachlich und begrifflich sehr deutlich vom politischen, ökonomischen und theologischen Kontext Lateinamerikas geprägt ist, kann er mit seinen theoretischen wie methodologischen Neuansätzen doch auch einen wichtigen Anstoß zu einer europäischen Ethikdiskussi164 on geben. Er relativiert nämlich die Perspektiven des europäischen 162 163 164 Ebd. 23. J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, erw. Ausgabe Frankfurt 1987, 390. A. Lienkamp, Die Herausforderung des Denkens durch den Schrei der Armen. E. Dussels Entwurf einer Ethik der Befreiung, in: F. Hengsbach u.a. (Hg.), Jenseits Katholischer Soziallehre. Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik, Düsseldorf 1993, 191-215; H. Schelkshorn, Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik. Zwei Varianten universalistischer Ethik, in: W. Lesch, A. Bondolfi (Hg.), Theologische Ethik im Diskurs. Eine Einführung, Tübingen 1995, 237-255; H. Schelkshorn, Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie E. Dussels, Wien 1992; vgl. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, Berlin 1989; ders., Ethik der Gemeinschaft, Düsseldorf 1989; ders., Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? In: Concilium 17 (1981) 807-813; ders., Theologie und Wirtschaft. Das theologische Paradigma des kommunikativen Handelns und das Paradigma der Lebensgemeinschaft als Befreiungstheologie, in: R. Fornet-Betancourt, Verändert der Glaube 77 Ethikdiskurses und vermag gerade dadurch den Blick für einen anderen Begriff von Universalität zu öffnen. Wie die Diskursethik will auch die lateinamerikanische Befreiungsethik eine Rekonstruktion und Begründung universalistischer Moral vorlegen. Dieses gemeinsame Anliegen macht ein Gespräch zwischen beiden Ethiken reizvoll. Die gemeinsamen soziohistorischen Wurzeln beider Ethikentwürfe liegen zudem in einer Zeit, die von einem moralischen Pathos geprägt war, das im gegenwärtigen postmodernen Klima zwar merkwürdig deplaziert anmutet, jedoch geschichtlich keineswegs erledigt 165 ist. In der Diskursethik und in der Ethik der Befreiung geht es bei den Fragen der Kontextualität oder Universalität der Vernunft immer auch um Begründung und Praxis ethischen Handelns. Die Befreiungsethik formuliert kritische Einwände sowohl gegenüber der europäischen Diskursethik als auch gegenüber den nordamerikanischen Positionen des Kommuni166 tarismus. Es kann hier nicht darum gehen, die Debatte und die in ihr entstandenen Positionen nachzuzeichnen. Die Kolloquien zwischen Ver167 tretern der Diskursethik und der Befreiungsethik sind dokumentiert. In diesen Kolloquien ist überzeugend herausgearbeitet worden, daß es eine befreiungsethisch ergänzte Diskursethik bzw. eine diskursethisch korrigierte Befreiungsethik ohne Veränderung ihrer jeweiligen Rationalitätsmodelle nicht geben kann. Beide Ethiken haben einen verschiedenen Ausgangspunkt. Der hermeneutische Ausgangspunkt der Befreiungsethik bei den Betroffenen, Beherrschten und Ausgeschlossenen liegt jenseits der Kommunikationsgemeinschaft, die ihrerseits Ausgangspunkt des Diskursethik ist. Die Befreiungsethik artikuliert einen spezifischen Rationalitätstypus und dringt auf eine unabdingbare “Option für die Vernunft” und zwar auf eine Vernunft, zu der gerade die Diskursethik keinen 168 Zugang hat. Dussel will mit seiner Befreiungsethik zu einer biblisch inspirierten Begründung von christlicher Gesellschaftsethik beitragen. Immer wieder greift er argumentativ auf biblische Traditionen zurück. Dieses Anliegen läßt nach den Möglichkeiten einer Rezeption des Ansatzes für die bibli- 165 166 167 168 78 die Wirtschaft? Theologie und Ökonomie in Lateinamerika, Freiburg 1991, 39-57; ders., Ethik der Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug der “ursprünglichen ethischen Vernunft”, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, 83-110. H. Schelkshorn, Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik, 237. E. Dussel, Ethik der Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug der “ursprünglichen ethischen Vernunft”, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz? 83. R. Fornet-Betancourt (Hg.), Ethik der Befreiung, Aachen 1990; ders. (Hg.), Diskursethik oder Befreiungsethik? Aachen 1992; ders.(Hg.), Die Diskursethik und ihre lateinamerikanische Kritik, Aachen 1993; ders. (Hg,), Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994. R. Fornet-Betancourt (Hg,), Konvergenz oder Divergenz? Einführung, 10f. sche Begründung einer theologischen Wirtschaftsethik fragen: Läßt sich dieser Ethikentwurf auch für die Konzeption einer theologischen Wirtschaftsethik fruchtbar machen? Was bedeutet der universalistische Ansatz der Befreiungsethik für hermeneutische Fragen, die sich für den Rückbezug auf biblische Schriften stellen, die aus einer anderen Zeit, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur stammen? 79 3.2.1 Hermeneutischer Ausgangspunkt: Der Arme Während die Diskursethik eine Universalität der Ethik in einem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft zu begründen sucht, stellt Enrique 169 Dussel dieses Apriori grundsätzlich in Frage. Er geht davon aus, daß eine ideale Kommunikationsgemeinschaft eine Fiktion sei, da sie eine offene Gesellschaft unterstelle, zu der alle gleichen Zugang hätten. Dussel fragt nach der hermeneutischen Relevanz derer, die nicht Teilnehmer dieser diskursethisch unterstellten Kommunikationsgemeinschaft sind. Der “Andere”, der Beherrschte, der Ausgeschlossene wird deshalb bei Enrique Dussel zu einem hermeneutischen Ansatzpunkt. Dieser Andere nimmt nicht an der Kommunikationsgemeinschaft teil und transzendiert sie deshalb auch. Dieser Andere ist der im System unbeachtete Arme. In jedem Gesellschaftssystem gibt es einen, der als ein Anderer negiert wird. Enrique Dussel universalisiert den Anderen zu einer “Alterität aller 170 möglichen Systeme” . Darin besteht auch der entscheidende kritische Einwand gegenüber einer ontologischen Ethik: “In jeder „Lebenswelt‟ gibt es notwendigerweise immer einen Anderen, der unterdrückt und negiert 171 wird.” Dieser Andere wird a priori negiert. Er offenbart nicht nur die Schwäche einer als ideal unterstellten Kommunikationsgemeinschaft, an der er per definitionem nicht teilnimmt, er legt auch die Situationen und Bedingungen offen, die ihn zum Anderen machen und dazu führen, daß er ausgeschlossen ist. “Er ist derjenige, der am Rande der Straße, außerhalb des Systems, sein leidendes und deshalb herausforderndes Ge172 sicht zeigt: „Ich habe Hunger! Ich habe ein Recht zu essen!‟” Auf welches Recht aber bezieht sich der Arme, daß er das Recht zu essen einfordern kann? Wie läßt sich diese Forderung begründen? Der Arme bricht mit seiner Forderung in die reale Kommunikationsgemeinschaft ein und sucht nicht einen Diskurs im Rahmen dieser Kommunikationsgemeinschaft, sondern bezieht sein Recht aus etwas, das der Kommunikationsgemeinschaft vorausliegt. Die Existenz der Armen ist das Urteil über den Zustand einer Gesellschaft, die Armut und Arme hervorbringt. Die Armen stellen deshalb die Gerechtigkeitsfrage. “Der Andere, der Arme in seiner extremen Exteriorität dem System gegenüber, ruft nach Gerechtigkeit - d.h., er ruft nach einem außerhalb lie173 genden Ort.” Eine universalistische Ethik, die in der Lage ist, eine Kommunikations- und Lebensgemeinschaft zu konstruieren, die real und 169 170 171 172 173 80 Vgl. dazu beispielsweise K.-O. Apel, Transformation der Philosophie. Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt 1973. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 57. E. Dussel, Ethik der Befreiung, 85. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 57. Ebd. 58. konkret erst allen Teilhabe verschaffen kann, entsteht durch eine Praxis der Gerechtigkeit und Solidarität. 3.2.2 Der kategorische Imperativ: Das Recht der Armen Enrique Dussel erweitert die diskursethische Kommunikationsgemeinschaft, indem er jene Stimme, “die von außerhalb her, von jenseits des 174 Horizonts des Systems” kommt, einbezieht: Das ist die Stimme des Armen, “der aufgrund seines absoluten und heiligen Rechtes als Person 175 nach Gerechtigkeit schreit” . Das Personenrecht eines jeden Menschen begründet Gerechtigkeit für einen jeden Menschen. Der Andere, dem dieses Personenrecht auf Gerechtigkeit vorenthalten wird, wird so zu einem hermeneutischen Ort, von dem aus das Ganze interpretiert werden kann. “Der gerechte Protest des Anderen darf die moralischen Prinzipien des Systems in Frage stellen. Nur der, der ein ethisches Gewissen hat, kann diese Infragestellung vom Standpunkt eines absoluten Kriteriums aus akzeptieren: der Andere als der Andere in Gerechtig176 keit.” Dieser hermeneutische Ansatz ist “in Wirklichkeit die ursprünglich-fundamentale ethische Frage nach der dem Anderen geschuldeten 177 Gerechtigkeit.” Wie aber läßt sich eine universale Ethik formulieren, die diesen Ruf des Anderen nach Gerechtigkeit aufnimmt? Gibt es ein oberstes, absolutes ethisches Prinzip, aus dem sich Kriterien und Normen für eine ethische Praxis ableiten lassen? “Welches ist das absolute Kriterium zur Be178 gründung einer für jede beliebige moralische Situation gültigen Ethik?” Um diese Fragen zu beantworten, führt Enrique Dussel eine Unterscheidung zwischen dem “Prinzip Babylon” und dem “Prinzip Jerusalem” ein. Der herrschenden Gesellschaftsmoral, dem “Prinzip Babylon”, in dem Recht und Gerechtigkeit zu kurz kommen, steht eine Ethik der Gemein179 schaft, das “Prinzip Jerusalem”, gegenüber. Mit dieser Unterscheidung zwischen einem “Prinzip Babylon” und einem “Prinzip Jerusalem” ist zugleich typologisch eine notwendige Differenzierung zwischen Moral und Ethik ausgedrückt, nach der die Ethik die Ebene der für jeden Menschen in jeder geschichtlichen Situation gültigen praktischen Forderungen bezeichnet, während die Moral auf die konkrete Ebene in einem geschichtlichen Kontext beschränkt ist. Jedes geschicht174 175 176 177 178 179 E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 47. Ebd. 47. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 75. R. Fornet-Betancourt, Einleitung, in: E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 7. E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 810. Als Beispiel einer Ethik der Lebensgemeinschaft nennt Enrique Dussel die Lebensgemeinschaft in Apg 2,42-46. So: E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 16-26. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 39f., 60f. 81 liche, ökonomische und gesellschaftliche System betrachtet seine Praktiken allerdings selber immer als gut. Gibt es aber ein Kriterium, das diese selbst zugesprochene “Gutheit” der Praktiken in einem bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystem von einem universal geltenden Maßstab aus kritisch beurteilen kann? Gibt es also ein absolutes Prinzip, welches das gesellschaftlich und geschichtlich Vorhandene relativieren kann? Enrique Dussel sieht dieses universale Prinzip, das überall, zu allen Zeiten und allerorten Geltung hat, in der moralischen Substanz, die in der Würde des Menschen besteht, die jedoch überall dort verletzt wird, wo Menschen Recht und Gerechtigkeit vorenthalten wird. Diese entwürdigende Situation zu überwinden, ist der kategorische Imperativ, der universal gilt. Dieses Kriterium der praktischen Vernunft, das Enrique Dus180 sel “das rationale kritische Kriterium schlechthin” nennt, ist der katego181 rische Imperativ: “Befreie den Armen!” oder: “Befreie die unwürdig be182 handelte Person im unterdrückten Anderen!” Der kategorische Imperativ relativiert die geltende Moralität und fungiert wie eine regulative Idee, die jedes geschichtlich konkrete Gesellschafts- und Moralsystem einer kritischen Prüfung unterziehen kann. “Das absolute Prinzip ist die Achtung der Würde oder der Heiligkeit der menschlichen Person, und zwar 183 überall und jederzeit.” Dieser ethische Imperativ ist “transmoralisch, 184 systemübergreifend” . Die Universalität der Menschenwürde wird nicht durch den normativen Horizont der diskursethisch unterstellten Kommunikationsgemeinschaft begründet. Enrique Dussel lenkt vielmehr den Blick auf die Opfer, die es in jedem gesellschaftlichen und ökonomischen System gibt. 3.2.3 Das absolute und das konkrete Kriterium der Ethik Dussel nimmt eine strikte Unterscheidung zwischen Moral und Ethik vor; Ethik wird als Gegenentwurf zur Moral definiert. Jedes gesellschaftliche System hat seine Moral, welche die eigenen Verhältnisse für gut hält. Deshalb gibt es beispielsweise eine römische, ägyptische, babylonische, kapitalistische oder sozialistische Moral. Jedes Handeln, das in Überein180 181 182 183 184 82 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 64, 83; E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811. E. Dussel, Ethik der Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug der “ursprünglichen ethischen Vernunft”, 86. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 83. E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811. stimmung mit dem geltenden System erfolgt, kann zwar als moralisch gut gelten, wird jedoch relativiert durch das Kriterium der universalen Ethik, wie es sich im kategorischen Imperativ ausdrückt. “Das Ethische übersteigt das System, richtet sich nicht nach den Normen, die das geltende System als gut ansieht. Das Ethische transzendiert so die Moral. (...) Es gibt jedoch nur eine Ethik, und die ist absolut: Sie gilt in jeder Situation 185 und für alle Zeiten.” Es gibt ein biblisches Muster, das den Unterschied zwischen Ethik und Moral zeigen kann. Die biblischen Propheten stellten das herrschende Verständnis von dem in Frage, was in einer bestimmten Konstellation der Gesellschaft als gut galt. Gesellschaftlich gesehen waren die Propheten der Bibel mit ihrer Kritik an den Verhältnissen “illegal”. Sie stellten in Frage, was die Herrschenden als “gut” und “moralisch” le186 gitimiert ansahen. Worin der Unterschied zwischen Ethik und Moral besteht, erläutert Enrique Dussel: “Die ethischen Forderungen sind moralische Gegen-Forderungen. Wenn die Moral besagt: “Respektiere den Lehensherrn!”, dann gebietet die Ethik: “Respektiere den Leibeige187 nen!” Nicht die Moral der Gesellschaft, sondern die Ethik lasse nach einer Gerechtigkeit für den Leibeigenen fragen. Diese Ethik der Befreiung verbindet Universalität und Parteilichkeit, indem sie material nach der Gerechtigkeit fragt. Dieser Ausgangspunkt qualifiziert nicht nur ethisch die biblisch gut begründete Option für die Armen, sondern auch Perspektive, erkenntnisleitendes Interesse, Themenwahl und Problemstellung der ethisch zu behandelnden Probleme, in denen sich das ethische Grundprinzip trotz seiner Absolutheit konkret und nicht nur abstrakt entfalten muß. “Das Prinzip ist konkret und geschichtlich, deshalb heißt es, immer wieder diese „neuen‟ Armen hier und jetzt zu entdecken. Deswegen ist das Prinzip “Befreie den Armen!” ein absolutes (und keine relatives) Prinzip, aber ein konkretes (kein universales von einer Universalität, die in Wirklichkeit 188 Partikularität ist, welche sich Universalität anmaßt).” Bei diesem Übergang vom Abstrakten zum Konkreten wird die bleibende Materialität des ethischen Prinzips als Praxis solidarischer Gerechtigkeit entfaltet. Der kategorische Imperativ will die Achtung der Menschenwürde eines jeden und ist deshalb kontextuell-konkret und zugleich universalistisch. “Es ist reiner Zufall, ob jemand als Kind eines Millionärs in New York oder eines Bettlers in New Delhi zur Welt kommt. Aus theologischer Sicht gibt es die Forderung, daß dieser historische „Anfangsunterschied‟ später aufgehoben werden muß. Der Zufall rechtfertigt nicht, daß die Un185 186 187 188 E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 59. Ebd. 77-86. Ebd. 110. Ebd. 86f. 83 189 terschiede ethischerweise aufrechterhalten werden müssen.” Dieses absolute Kriterium der Menschenwürde eines jeden drängt auf eine Praxis, die konkret zur Überwindung von Unrecht und Ungerechtigkeit beiträgt. Die einzelnen Momente einer Praxis der Überwindung von Unrecht und Ungerechtigkeit liest Enrique Dussel auf der Folie des biblischen Exodus. Der historische Exodus des Auszugs aus Ägypten wird zum exemplarischen Bruch mit einer ägyptischen Moral, die Unrecht und Ungerechtigkeit legitimiert. Die Anderen (die Hebräer) brechen in das ägyptische System von außen her ein. Die ägyptische Moral wird durch eine Ethik relativiert, die dem kategorischen Imperativ “Befreie die Armen!” Gestalt geben will. Dieser hermeneutische Ansatz will deshalb nicht allein auf seine theoretische Konsistenz hin geprüft sein, sondern verweist auf ein Praxiskriterium, nämlich die Überwindung einer als ungerecht beurteilten Situation. Der kategorische Imperativ “Befreie die Armen!” kann als konkretes und zugleich absolutes Kriterium für jede beliebige Situation gelten, das die Moral einer jeden Gesellschaft relativiert. Die Not und die erfahrene Ungerechtigkeit der Opfer ist intrakulturell und interkulturell jener universale Ansatz, der ein Kriterium für ein soziales, gesellschaftliches oder ökonomisches System abgeben kann. Dieser universalistische Ansatz erlaubt es deshalb auch, nach der Relevanz biblischer Traditionen für gegenwärtige Fragestellungen so zu fragen, daß auf dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Moral und Ethik zugleich eine Unterscheidung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten der Ethik getroffen werden kann. “Es ist nicht dieser oder jener Typ von Armen, sondern der Arme als solcher: Es geht hier um eine absolute Forderung und nicht um eine, die zu diesem oder jenem geschichtlichen Moralsystem relativ wä190 re.” Gerechtigkeit ist eine ethische Forderung, “die in jedem System 191 und in allen Zeiten” gilt. Zur Begründung seiner universalen Ethik verweist Enrique Dussel auf die ethisch-ökonomischen Kriterien, die bereits in frühen Kulturen den Maßstab abgaben. Er nennt dabei Gewährsleute aus dem babylonischen und ägyptischen Kulturraum. Seine Typologie “Prinzip Babylon” meint das Großreich Babylon mit seiner unterdrückenden Herrschaft. Sehr alte Gesetzessammlungen sprechen sich zugunsten der Armen aus und wenden sich ausdrücklich an die Ausgeschlossenen in der Gesell- 189 190 191 84 E. Dussel, Theologie und Wirtschaft. Das theologische Paradigma des kommunikativen Handelns und das Paradigma der Lebensgemeinschaft als Befreiungstheologie, 52. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 110. Ebd. 108. 192 schaft. Der babylonische Kodex Hammurapi wendet sich an den unterdrückten Menschen: “Damit der Starke den Schwachen nicht unterdrü193 cke, um den Witwen und Waisen in Babylon Recht zu schaffen.” Den Hungrigen Brot zu geben, Wasser den Dürstenden, Kleider den Nackten 194 ist ein fester Topos der Idealbiographien alt-ägyptischen Kultur. Seit den frühesten Kulturen in der ägyptisch-mesopotamischen Welt gibt es also eine Orientierung an dem, was Dussel den kategorischen Imperativ “Befreie den Armen!” nennt. Diese Kulturen und Religionen kannten bereits aus diesem kategorischen Imperativ resultierende Prinzipien einer Ethik, aus der die Tora, die Propheten Israels und mit ihnen auch Jesus 195 von Nazaret geschöpft haben und die auch heute noch gültig sind. Der abstrakte kategorische Imperativ will in der konkreten Person des Armen konkret werden, wie es ihn in allen Kulturen und Gesellschaften gab und gibt. “Jedermann weiß in jeder konkreten Situation, wer arm und unterdrückt ist, wer weniger Möglichkeiten, Güter, Werte und Rechte be196 sitzt.” Der kategorische Imperativ ist deswegen keineswegs abstrakt 197 oder konturlos; er hat einen “materialen Inhalt” . E. Dussel erläutert am Beispiel des biblischen Erlaßjahres, worin der materiale Gehalt des kategorischen Imperativs bestehen kann. “Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen” (Dtn 15,11). Ethische Normen wie diese sind “absolute ethische Forderungen, die für alle Menschen und in allen relativen moralischen Systemen gültig sind ... Die moralischen Forderungen sind empirisch, geschichtlich, relativ und systembezogen, die ethischen Forde192 193 194 195 196 197 So ließ der König von Lagash, Uruinimgina (2352-2343 v.Chr.), in seiner Gesetzesreform erklären: “Er befreite und erließ die Schulden für jene verschuldeten Familien (...), die als Schuldner lebten. Er versprach Ningirsu feierlich, daß er den Waisen und die Witwen dem Unterdrücker niemals ausliefern würde.” F. Lara Peinado (Hg.), Los primeros códigos de la humanidad, Madrid 1994, 24-25, zit. in: E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive der Theologie der Befreiung, in: Concilium 33 (1997), 217. Zit. in: E. Dussel, Ethik der Befreiung, 86; vgl. auch E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testamentes, 87. Ähnlich das ägyptische Totenbuch aus der Zeit vor bis zu 5000 Jahren mit seinen ethisch-ökonomischen Kriterien: “Ich mache nicht elend. (...) Ich lege nichts auf die Waagschale (um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen) und störe nicht das Gewicht der Waage. (...) Ich wehrte nicht das Wasser zu seiner Zeit. Ich dämmte es nicht ein bei seinem Strömen. (...) Ich raubte keine Nahrung, (...) ich (gab) Brot dem Hungrigen, (...) Wasser dem Dürstenden, Kleidung dem Nackten, eine Fähre dem, der keine hatte.” Das große ägyptische Totenbuch. Schriften des österreichischen Kulturinstituts Kairo, Kairo 1969, Bd. I., Abschnitt 125, 32-36. zit. in: E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive, 217. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 133f. E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive, 217. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 85. E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811. 85 rungen dagegen transzendent, absolut und dennoch konkret (nicht uni198 versal).” Zwar läßt sich die inhaltlich-materiale Füllung dieses Imperativs nicht ein für allemal für alle Gesellschaften festschreiben. “In jeder 199 neuen Situation können sie einen neuen Inhalt bekommen.” Doch von entscheidender Bedeutung ist, daß diese jeweils neuen Inhalte keineswegs geschichtlich oder gesellschaftlich relativ oder beliebig sind, sondern einen materialen Inhalt haben. Die Formulierung des kategorischen Imperativs in den ethischen Forderungen der Tora beispielsweise darf also nicht dogmatisiert werden, sondern muß für eine konkrete Kontextualisierung offen bleiben, wobei ihre Ethik als Regulativ für konkrete Inhalte zu verstehen ist. “Es handelt sich darum, dem Hungernden Essen, dem Nackten Kleidung, dem Fremden Wohnung zu geben. Es ist eine produktive (ein Produkt für den Konsum hergeben: Brot), eine praktische (im Hinblick auf den anderen), eine ökonomische Forderung (hinsichtlich der geschichtlichen Strukturen der Unterdrückungssysteme, denen eine Absage erteilt ist, und der uto200 pischen Strukturen, die es aufzubauen gilt).” Dussel versteht eine “gerechte Wirtschaft als totale Summe der Artefakte, die durch die menschliche Arbeit produziert und nach dem Kriterium der Gleichheit unter dem 201 Volk verteilt werden” . Inhaltlich-material besteht die Verschränkung von Konkretem und Absolutem darin: “dem Hungernden und dem Armen Brot geben, sich für die Schutzlosen und Witwen, die Einsamen und 202 Waisen einzusetzen” . Die eine Ethik ist sowohl universal wie konkret: “Dieser Arme ist anders als jeder andere Arme (denn der Leibeigene ist 203 kein Lohnarbeiter).” Auch wenn es heute keine Leibeigenen mehr gibt, so dennoch weiterhin Arme. Die Lage der Lohnarbeiter ist durch Abhängigkeit charakterisiert. Diese abhängige Existenz aufzuheben, konkretisiert den kategorischen Imperativ. Dussel folgert aus dem kategorischen Imperativ geschichtlich konkrete Normen. Aus dem gemeinschaftsethischen Prinzip der absoluten Achtung der Würde der menschlichen Per204 son, dem Recht auf Leben folgt beispielsweise ein “Recht auf Arbeit” . Denn erst durch dieses Recht auf Arbeit kann sich derjenige, der zum Erhalt des Lebens auf Arbeit angewiesen ist, die zum Leben notwendigen Güter besorgen. Diese sind aber nicht nur materiell zu verstehen. Zu den unveräußerlichen Rechten gehören auch kulturelle Güter wie Bil198 199 200 201 202 203 204 86 E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 108. Ebd. 84. E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 120. Ebd. 120. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 113. Ebd. 83f. dung, Kunst, Demokratie. Die Erfordernisse und konkreten Inhalte der Ethik sind nicht ein für allemal festzulegen, sondern müssen in konkreten geschichtlichen Kontexten neuen Inhalt bekommen. 3.2.4 Der kategorische Imperativ wirtschaftsethisch übersetzt Diese Argumentation zeigt, daß zwar begrifflich die Philosophie der Befreiung kontextgebunden ist. Doch dies eröffnet umgekehrt die Chance, die Kontextgebundenheit der eigenen ethischen Kommunikation wahrzu205 nehmen. Die geradezu idealisierende Rede von den Armen kann gewiß nicht einfach übertragen werden, aber Enrique Dussel zeigt, daß seinem Denken eine Hermeneutik zugrunde liegt, welche die biblisch begründete Option für die Armen als Ausgangspunkt hat. Konsequent will er diesen Blickwinkel einer Option für die Armen entfalten und für die Hermeneutik fruchtbar machen. Der Arme ist in der Hermeneutik Dussels eben nicht abstrakt, sondern in jedem System anzutreffen. Zu fragen ist, wer unter den Bedingungen entwickelter Industrieländer jene konkreten Armen sind, die Dussel als hermeneutischen Ausgangspunkt versteht. Wer ist dieser Andere und Arme für den europäischen Kontext? Auch wenn die Kategorien von Unterdrücker/ Unterdrückter jedenfalls für mitteleuropäische Verhältnisse nicht brauchbar sind, bleibt die Frage nach dem, der aus der Kommunikationsgemeinschaft ausgeschlossen ist, bestehen. In dieser Ausrichtung auf eine solidarische Praxis der Gerechtigkeit, die Ungerechtigkeit überwindet, ist der eigentlich inspirierende und provozierende Ansatz der Befreiungsethik für eine Wirtschaftsethik im Kontext Europas zu sehen. Der Einspruch des Anderen kann zur Sprache kommen im Einspruch zukünftiger Generationen gegen die ökologische Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, im Einspruch der Peripherie gegen einen eurozentrisch dominierten Globalismus, der sich als Globalisierung ausgibt, im Einspruch der von Arbeit Ausgeschlossenen gegen ökonomische oder sozialstaatliche Modernisierungskonzepte. Dieser Ansatz einer universalistischen Gerechtigkeitsethik ist durch ihren kontextuell-konkreten Gehalt für eine Wirtschaftsethik relevant, die ihrerseits in einem konkreten Kontext Gestaltungsräume eröffnen und eine ethisch verantwortete Praxis vor einem universalen Horizont verantworten will. Die Ethik der Befreiung geht von einem materialen Verständnis von Gerechtigkeit aus, das sich von der Erfahrung der Ungerechtigkeit her entwickelt und Parteilichkeit und Universalität dadurch 205 Vgl. dazu die Ausführungen bei: A. Lienkamp, Die Herausforderung des Denkens durch den Schrei der Armen, 210-212. 87 miteinander verbinden kann. Der biblisch begründete Ausgangspunkt in der Option für die Armen qualifiziert das Denken Enrique Dussels in besonderer Weise für die Suche nach einer biblisch fundierten Wirtschaftsethik. Der kategorische Imperativ “Befreie die Armen!” ist die Kehrseite der biblischen Option für die Armen und muß sich in jenen Themenstellungen, denen sich eine theologische Wirtschaftsethik widmet, konkretisieren. Der kategorische Imperativ klärt den Ort einer theologische Wirtschaftsethik. Eine theologische Wirtschaftsethik nimmt das wirtschaftliche Geschehen aus der Perspektive derer wahr, die “unten” stehen, die Leidtragende oder Opfer ökonomischer Prozesse sind. Deren Lage effektiv zu verbessern, konkretisiert den universal gültigen kategorischen 206 Imperativ. 206 88 Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland hat sich diesen hermeneutischen Ausgangspunkt zu eigen gemacht, wenn es aus der Option für die Armen folgende Perspektive entwickelt: “In der Perspektive einer christlichen Ethik muß darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt” (Ziff. 107). 3.2.5 Orientierungspunkt: Gerechtigkeit Johann Baptist Metz kritisiert eine “Halbierung des Geistes des Christen207 tums” . Der Geist der hellenistischen Antike habe nur zu lange das ethische und theologische Argumentieren bestimmt: “Athen und Rom, 208 nicht aber Jerusalem definierten die geistige Landschaft Europas.” Johann Baptist Metz will deutlich machen, daß Israel theologiegeschichtlich zu einer überholten heilsgeschichtlichen Voraussetzung des Christentums herabgedeutet wurde. Doch durch seine Separation von den jüdischen Ursprüngen habe das hellenistische Christentum auch die biblische Tradition als ein spezifisches Angebot an das Christentum verdrängt, das in einer Verpflichtung zur Gerechtigkeit besteht. Metz versteht das Christentum als eine Religion, die “aus ihrem biblischen Erbe (...) im Namen ihrer Sendung Freiheit und Gerechtigkeit für alle 209 sucht.” Deshalb merkt er kritisch an, daß die Folge dieser “Halbierung des Christentums” ein hellinisiertes Christentum sei, das in seiner Theologie gegenüber dem Verlangen nach universaler Gerechtigkeit unemp210 findlich geworden ist. Habermas nennt die von Metz vorgenommene Zeichnung der philosophischen Traditionen Athens, die ja nicht in Platonismus aufgingen, “zu flächig”, da es vielmehr eine “Unterwanderung der griechischen Metaphysik durch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft” ge211 geben habe. Daher müsse eine Gegenüberstellung “Athen” versus “Jerusalem” differenzierter gesehen werden. Auch die politische Ethik berufe sich auf das biblische Erbe, das Gerechtigkeit und Freiheit für alle suche. Gleichwohl gäbe es eine Spannung zwischen dem Geiste Athens und dem Erbe Israels, die sich aber innerhalb der Philosophie nicht weniger folgenreich ausgewirkt habe als innerhalb der Theologie. Angesichts des rasanten Verlustes der Gerechtigkeitstraditionen in der politischen Kultur der Gegenwart, der sich im Abbau des Sozialstaates und der Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft manifestiert, sollte der Streit nicht nur darum geführt werden, ob von “Jerusalem” oder von “Athen” aus die prägenden Impulse in die europäische Kultur eingegangen sind. Wichtiger ist, ob die Erinnerung an “Jerusalem” lebendig fortwirkt, Träger findet und eben zu einer Verlebendigung der Gerechtigkeitstraditionen motivieren kann. Die Typisierungen dienen Johann Baptist Metz letztlich 207 208 209 210 211 J. B. Metz, Athen versus Jerusalem. Was das Christentum dem europäischen Geist schuldig geblieben ist, in: Orientierung 60 (1996) 59. Ebd. 59. F.-X. Kaufmann, J.B.Metz, Zukunftfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, FreiburgBasel-Wien, 1987, 118. J. B. Metz, Athen versus Jerusalem, 59. J. Habermas, Israel und Athen, 242. 89 nur dazu, auf einen doppelten Verlust hinzuweisen: Das Christentum habe sich von der mit dem Judentum zutiefst verbundenen Gerechtigkeitstradition im Christentum getrennt, die Walter Dietrich die Mitte des Alten 212 Testaments nennt. Ethisches Handeln und Urteilen hat es nach Eilert Herms immer mit 213 “Vorzüglichkeitskriterien” zu tun. Unter den mit Ökonomie immer gegebenen Knappheitsbedingungen müssen Entscheidungen getroffen werden, denn Knappheitsfragen sind immer Gerechtigkeitsfragen. Welche Vorzüglichkeitskriterien aber sollen gelten? Ethische Kriterien und Normen zu finden, gehört nach Arthur Rich “zur vornehmlichsten Aufga214 be einer christlichen Wirtschaftsethik.” Wie aber konstituieren sich diese Kriterien und Normen? Welche Kriterien und Normen machen eine Wirtschaftsethik zu einer spezifisch theologischen Wirtschaftsethik? Eilert Herms betont, daß es dazu eines Rückgriffes auf die biblische Tradition bedürfe, denn erst dieser Rückbezug erreiche, “daß die theologi215 schen Beiträge spezifisch sind.” Er stellt drei Ansprüche an eine theologische Wirtschaftsethik. Sie hat zum einen zu verdeutlichen, daß “aus der christlichen Tradition und ihrem biblischen Zentrum nur gewisse Allgemeinkriterien für die Vorzüglichkeit zu formulieren sind, die jedoch 216 “letztlich immer inhaltlich bestimmte Vorzugskriterien” sind. Der biblischen Tradition sind also nicht lediglich nur formale Mechanismen des sozialen Ausgleichs zu entnehmen. Zweitens habe eine theologische Wirtschaftsethik immer mit der Anwendung der inhaltlich bestimmten Vorzugskriterien zu tun. Drittens könne eine theologische Wirtschaftsethik drittens nicht durch einen Rekurs auf biblische Vorgaben die Verantwortung des ethischen Subjekts dispensieren. “So verstanden fungieren die theologischen Beiträge zur Wirtschaftsethik als Einladung und Ermutigung zur selbständigen Teilnahme am Prozeß der wirtschaftsethischen Begründung von Vorzüglichkeitsurteilen über Ziele und Wege der wirtschaftlichen Interaktion heute auf dem Boden der christli217 chen Überzeugung von Natur und Bestimmung des Daseins.” Diese Forderungen von Eilert Herms nach einer Begründung von christlicher Wirtschaftsethik, die erst dann das Attribut “christlich” zu Recht tragen würde, wenn ihre Beiträge auf das biblische Zeugnis zurückgriffen, sind jedoch für Wirtschaftsethik ein bislang unerfüllt gebliebenes Postulat. 212 213 214 215 216 217 90 W. Dietrich, Der roten Faden im Alten Testament, in: Evangelische Theologie 49 (1989) 236. E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 104. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1, 241. E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 103. Ebd. 106. Ebd. 105. Herms versteht die Bibel keineswegs als ein Autoritätsargument. Nicht autoritative Entscheidungen oder heilige Befehle begründen die ethische Autorität, “sondern immer nur verbindliche Maßstäbe, verbindliche Begründungsinstanzen für ethische Vorzüglichkeitsurteile, über einzelne in konkreten Situationen wählbare Ziele und Wege, die jeweils von den 218 Entscheidungsträgern selbst gefunden werden müssen.” Eilert Herms ist zuzustimmen, daß nicht ethische Indikative und Imperative, die mit biblischer Autorität ausgestattet werden, das ethische Urteil ersetzen können oder dürfen. Er geht von einer “Orientierung anhand der christli219 chen Maßstäbe” aus. Er räumt zwar ein, daß eine theologische Wirtschaftsethik aus der biblischen Tradition nur Allgemeinkriterien für die Vorzüglichkeit” formulieren könne, doch entscheidend sei, daß diese letztlich immer inhaltlich bestimmt sein müssen. Solche inhaltlich bestimmten Überzeugungen aber würden immer von entscheidungsleitenden weltanschaulichen Grundsätzen oder Voraussetzungen geführt, die 220 allerdings letztlich nicht rational begründet werden könnten. Mit dieser Position wendet sich Eilert Herms zu Recht gegen zwei Prämissen der kommunikativen Rationalität der Diskursethik. Es gebe das Dogma, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen zur Begründung der Vorzüglichkeit von Zielen und Wegen seien rein privat und aus der Begründung öffentlichen Handelns herauszuhalten. Ein anderes Dogma korrespondiere mit dem ersten, nämlich daß das formale Kriterium der Befolgung einer verallgemeinerbaren Regel hinreichend sei. Beide Dogmen stellt Eilert Herms in Frage und versteht ein ethisches Argumentieren, das sich nicht auf rationale Normbegründungen reduzieren läßt, als einen Beitrag zur Aufklärung über die heimlichen und ungenannten Dogmen, eben als eine Aufklärung der Aufklärung. Herms spricht den biblischen Einzel-anweisungen jegliche Relevanz in der heutigen Diskussion ab, da sie eine völlig andere Wirtschaftsform voraussetzen. Dennoch gibt es zwei Regeln, die sich auf alle möglichen wirtschaftlichen Situationen beziehen. Das formale Kriterium der Befolgung einer Verfahrensregel ist für eine theologische Ethik nicht ausreichend. Deshalb sucht auch E. Herms ein inhaltlich bestimmtes Vorzugskriterium, das der Toratradition gerecht wird, herauszuarbeiten, das in universal gelten Regeln zum Tragen kommen kann. Die beiden Regeln, in denen dieses inhaltlich und material konkrete Vorzugskriterium sich ausdrückt, sind die Regel der Gerechtigkeit und die Regel der bewußten Relativierung des Wirtschaftens auf die Bedingungen oder die Ziele der Gesamt- 218 219 220 Ebd. 105. Ebd. 105. So auch A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 170. 91 221 existenz. Eilert Herms besteht auf inhaltlich und normativ zu begründenden Vorzugsregeln, die theologische Ethik erst zu einer spezifischen Ethik machen. Theologische Ethik wirke also nicht allein motivierend, sondern müsse einen materialen Gehalt haben. Theologische Ethik ist nicht zu trennen von einer Vorstellung oder von Leitbildern einer gerechten Gesellschaften und einer humanen Wirtschaft. Diese Leitbilder eines guten und gelingenden Lebens gehören zum Argumentationsstil einer christlichen Ethik. Doch E. Herms umgeht die Frage nach dem hermeneutischen Ausgangspunkt und die Frage, was die absolut geltenden Regeln auch konkret bedeuten könnten. Enrique Dussel ist dort konsequent, wo Eilert Herms die Argumentation abbricht. Enrique Dussel formuliert in seinem kategorischen Imperativ “Befreie den Armen!” eine absolut und universal geltende Norm, die zugleich abstrakt und konkret ist. Der Arme stellt jedes System in Frage und ist dennoch in allen Systemen konkret. Theologische Ethik tritt als Anwältin speziell für die von den Diskursen Ausgeschlossenen auf und wird die Interessen der Benachteiligten artikulieren müssen. Dadurch löst christliche Ethik das Universalisierbarkeitsprinzip ein. Die abstrakte Argumentation von Eilert Herms dagegen bekommt diesen Kern der Toratradition, der sich mit dem hermeneutischen Ausgangspunkt einer Option für die Armen beschreiben läßt, nicht in den Blick. Der von Enrique Dussel formulierte kategorische Imperativ “Befreie den Armen!” läßt sich aus dem Kontext des globalen Südens in den mitteleuropäischen Kontext übersetzen und wirtschaftsethisch so auslegen: Sorge dafür, daß den ökonomisch, ökologisch, politisch und sozial 222 Schwachen Gerechtigkeit widerfährt und sie zu ihrem Recht kommen. Eine theologische Wirtschaftsethik, die diesem Anspruch des kategorischen Imperativs auch inhaltlich gerecht wird, verdient das Attribut theologische Wirtschaftsethik. Mit dem inhaltlich qualifizierten Anspruch, der die Option für die Armen aufnimmt, werden aus der Perspektive der Armen Themenstellung, Themenauswahl und Problemlösungen der Wirtschaftsethik eindeutig. Im Abschnitt 9 soll diese Perspektive in den “Wirtschaftsethischen Impulsen” auf ihre Folgen für verschiedene Themenfelder der Wirtschaftsethik entfaltet werden. Deshalb gerät als erstes die Arbeit des Menschen in den Blick. Der hermeneutische Ausgangspunkt bei den Armen und bei den im System Benachteiligten läßt nach 221 222 92 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik. 96-98. Weitere Ausführungen unten unter Abschnitt 6.2. Vgl. nähere Ausführungen zum kategorischen Imperativ der Tora unten: Abschnitt 4 . An dieser Stelle möchte ich auf meinen Sprachgebrauch hingewiesen, der sich durchgehend aus Gründen sprachlicher und syntaktischer Kongruenz einer inklusiven Sprache bedient. Auf die Tatsache, daß gerade Frauen in besonderer Weise oft auch mehrfach politisch, sozial und ökonomisch benachteiligt sind, sei hier besonders hingewiesen. dem gerechten Lohn und nicht nur ökonomisch nach dem gerechten Preis fragen. Der wirtschaftsethische Impuls “Sorgsam haushalten” (Abschnitt 9.5) versucht über die Ökonomie des einen Haushaltes der Schöpfung Fragen der ökologischen und sozialen Gerechtigkeit so zu integrieren, daß das Lebensrecht aller Bewohner des einen Haushaltes der Schöpfung garantiert ist. Eine biblisch begründete theologische Wirtschaftsethik wird dadurch erst zu einer spezifisch theologischen Ethik, wenn sie den Anspruch einzulösen vermag, von jener Mitte der biblischen Botschaft her eindeutig zu werden, die der Alttestamentler Walter Dietrich mit dem Begriff und der Sache des biblischen Verständnisses von Gerechtigkeit als einem gemeinschaftsgemäßen Verhalten bezeich223 net hat. 3.3 Kritischer Maßstab und Impuls für Gerechtigkeit: Option für die Armen 3.3.1 Gerechtigkeit - Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse für die Bedrängten “Was rechtens sei? - darum kommt man nicht herum.” So beginnt Ernst 224 Bloch seine Ausführungen über Naturrecht und menschliche Würde. Was Recht ist, soll der objektivierte Maßstab dessen sein, was als “Gerechtigkeit” gilt. Dieser Maßstab wird mit den Worten des römischen Rechtsphilosophen Domitius Ulpian (ca. 170-228 n. Chr.) definiert als 225 “constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi” - zu deutsch: “Gerechtigkeit ist der beständige und andauernde Wille, jedem sein Recht zu gewähren.” Europäisches Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis geht auf Wurzeln im griechisch-römischen Denken zurück. Gemeint ist also ein subjektives Recht, das den Anspruch des einzelnen beschreibt. Gerechtigkeit wird in den älteren philosophischen und theologischen Lehrbüchern als ein grundlegender Ordnungsbegriff der Gesellschaft entfaltet, der zum Ausdruck bringen will, daß dem einzelnen das Seine oder auch sein Recht zukommt, sein Leben in eigener Verantwortung zu gestalten. Wolfgang Huber wertet diese philosophische und auch theologische Tradition als eine Tradition, die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vorwiegend aus der Sicht der Täter be226 trachtet. Diese Tradition sah demnach Gerechtigkeit als diejenige Tugend, die jedem das Seine gewährte, und fand Ungerechtigkeit dort, wo 223 224 225 226 W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 236. Weitere Ausführungen unten Abschnitt 3.4. Frankfurt 1961, 11. Ulpian, Fragmente 10; vgl. dazu die Ausführungen bei: W. Härle, “Suum cuique”. Gerechtigkeit als sozialethischer und theologischer Grundbegriff, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 41 (1997) 303-312. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 184. 93 es an dieser Tugend fehlte. Doch diese Perspektive verschiebe sich grundlegend, wenn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht aus der Perspektive der Täter, sondern aus derjenigen der Opfer betrachtet werde. Ungerechtigkeit erscheine dann nicht als Abwesenheit von Tugend, sondern als Verweigerung von Anerkennung. Dieser Perspektivenwechsel zeigt sich in der Vorstellung von Gerechtigkeit in der Hebräischen Bibel, die sich von diesem griechischrömischen Gerechtigkeitsbegriff grundlegend unterscheidet. Was im Deutschen mit “Gerechtigkeit” gemeint ist, sei - so Gerhard von Rad “nicht nur eine sehr unzulängliche, sondern oft eine geradezu irreführen227 de Wiedergabe des Hebräischen sedaka.” Sedaka benennt etwas dezidiert Positives und meint “einen gerechten, richtigen Zustand (saedaeq), ein rechtes, rechtschaffenes Handeln (sdq, sedaqah), einen rechtschaffenen, aufrechten Charakter (saddiq). Insgesamt geht es um ausgeglichene, wohltuend geordnete, lebensfreundliche Verhältnisse: im 228 menschlichen Zusammenleben wie in den Gottesbeziehungen.” Diese Begriffsbeschreibung zeigt, daß die übliche Übersetzung von sedaka mit “Gerechtigkeit” eher die vom griechisch-römischen Denken geprägten Begriffsinhalte assoziieren kann, während das hebräische Verständnis von einer viel umfassenderen Vorstellungswelt ausgeht. Alles, was eine heile Existenz des Menschen ausmacht, umschließt der biblische Begriff von Gerechtigkeit, der die “Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedroh229 ten” meint. Im hebräischen Denken meint Gerechtigkeit ein “gemein230 schaftsgemäßes Verhalten” . Gerechtigkeit läßt sich “im geforderten sozialen Verhalten des einzelnen gegenüber und innerhalb der Gemein231 schaft” am deutlichsten erkennen. “Gerecht ist demnach der, der die Gemeinschaft bewahrt, ihren Erwartungen entspricht und die Gesamtheit 232 menschlicher Verpflichtungen erfüllt.” Gerechtigkeit ist ein sozialer Relationsbegriff, der nach biblisch-hebräischem Verständnis mit Frieden, Befreiung, Erlösung, Heil, Gnade, Freiheit zusammenhängt. Was Solidarität meint, ist in mancherlei Hinsicht zur Wiedergabe dessen geeignet, was hebräisch mit sedaka gemeint ist. Die biblische Bundestheologie geht davon aus, daß alle Gerechtigkeit zwischen den Menschen von Anfang an im Zusammenhang des Bundes Gottes mit den Menschen steht. Dieser Bund ist Gottes Selbstverpflich227 228 229 230 231 232 94 G. von Rad, Theologie des AT, 1. Band, 6. Aufl. München 1969, 386. W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 237. Ebd. 241. K. Koch, Art. sdq = gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd.II., Sp. 515. H. Monz, Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der Hebräischen Bibel. Übereinstimmung, Fortführung und zeitgenössische Identifikation, Baden - Baden 1995, 66. Ebd. 67. tung zur Gemeinschaftstreue mit den Menschen und allen seinen Geschöpfen. Gerechtigkeit Gottes meint deshalb ein Handeln Gottes an seinem Volk, das Recht und Gerechtigkeit schafft. Israel wird von der Knechtschaft in Ägypten gerettet, und Gott befreit aus Unterdrückung, indem er einen Anführer schickt (Ri 2,16-19; 3,10; 4,4; 16,31); Gott ist der rettende Trost für den Beter (vgl. Ps 71); der Unterdrückte erfährt Gottes Gerechtigkeit - der Unterdrücker Gottes Strafgericht (vgl. Ps 9,6): “Du entreißt den Schwachen dem, der stärker ist, den Schwachen und Armen dem, der ihn ausraubt” (Ps. 35,10). Gott schafft Hoffnung in ausweglosen Situationen, indem er Heil in Aussicht stellt (Jes 46,10 ff.). Inhalt des Bundes ist der Schalom. Gemeinschaftsbezogenes Verhalten ist ein Verhalten, das in allen privaten, sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen Schalom schafft. Diese Gerechtigkeit Gottes ist auch dort, wo sie sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen bezieht, ein Sozialbegriff. Dieser Gerechtigkeit Gottes entsprechend sollen sich die Menschen (und alle Geschöpfe) verhalten. “Gott übt sie - und der Mensch hat sie auch zu üben. Sie ist der Maßstab, an dem sich das Verhältnis zwischen Mensch und Gott und an dem sich die zwischenmenschlichen Verhältnisse messen 233 lassen müssen.” Terminologisch ist der Zusammenhang von Befrei234 ung, Recht, Richten, Gerechtigkeit in der Hebräischen Bibel auffallend. Der Schlüsselbegriff ist spht, ein hebräischer Begriff, der im Deutschen 235 meist mit “richten” übersetzt wird. Das entsprechende Substantiv mspt (mispat) wird zwar zumeist mit “Gericht, Urteil” wiedergegeben, bedeutet jedoch ein “Handeln, durch das die gestörte Ordnung einer (Rechts236 )Gemeinschaft wiederhergestellt wird” , das den (zerbrochenen) Schalom wiederherstellt, oder auch ein Urteil, einen Rechtssatz und dann auch allgemein Gerechtigkeit, und wird deshalb oft in einer Doppelung mit dem hebräischen Wort für Gerechtigkeit (sedakah) verwendet. Gerechtigkeit (sedakah) und Richten (mispat) verbinden den Gehorsam Gott gegenüber mit der Achtung vor dem Mitmenschen und der Sorge für ihn. “Mispat ist demnach so etwas wie der auf Gemeinschaftstreue gegründete und durch gemeinschaftsgemäßes Verhalten (sedaqa) täglich neu zu bewährende Bestand des Volkes, seine kultische, politische und 237 wirtschaftliche Existenz schlechthin.” “Richten” (mispat) bedeutet also 233 234 235 236 237 W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 248. Vgl. dazu G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze, Neukirchen 1971, 62ff. Die abendländische Auslegungstradition versteht im Anschluß an die Septuaginta mispat als “Recht” und sedaqa als “Gerechtigkeit”. Vgl. K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, 249. G. Liedke, Art. spt = richten, in: THAT,Bd. II., Sp. 1001. K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, 254. 95 ein Handeln, das den zerbrochenen Schalom einer Gemeinschaft wieder 238 herstellt. Drei Aspekte können den biblisch-hebräischen Begriffsinhalt von Gerechtigkeit/sedaka verdeutlichen: 3.3.1.1 Unausgewogene Gerechtigkeit: Option für die Armen Der Exodus ist das biblische Grunddatum. Anders als die altorientalischen Religionen, die sich aus mythischer Urzeit herleiten, ist die JHWHReligion geschichtlich in einem Befreiungsprozeß begründet, der auf Gerechtigkeit drängt. Das gibt ihr von ihrem Ursprung her eine geschichtliche Ausrichtung und eine soziale Dimension, die für die ganze Geschichte Israels kennzeichnend bleiben soll. Eine gemeinschaftsbezogene Gerechtigkeit knüpft an dieses Grunddatum an und begründet die Forderung der Gemeinschaftstreue aller zueinander. Die in Ägypten erlittene Zwangsarbeit widerspricht der göttlichen Ordnung. Armut und Ungerechtigkeit sind nicht schicksalhaft. Sie stehen den Absichten Gottes entgegen. Gott befreit sein Volk und gibt ihm nach der Befreiung aus der Sklavenhaltergesellschaft Ägyptens mispatim (Rechtssätze, vgl. Ex 15,25) und später Richter, die dem Schwachen Recht schaffen (Ex 18). Aus der Erfahrung mit den ägyptischen Verhältnissen erwächst ein Ethos, das stereotyp in der Sorge um die Machtlosen, “die Armen, Witwen und Waisen” (Ex 22,21, Dtn 10,18; 24,17 u.ö.) zum Ausdruck kommt. Gemeinschaftsbezogene Gerechtigkeit soll sich so auswirken, daß die Armen und Schwachen zu ihrem Recht kommen. Die Ausgeschlossenen werden zum Maßstab dafür, wie es um die Gerechtigkeit steht. Armut und gesellschaftliche Asymmetrien werden als Widerspruch gegen die geforderte Gemeinschaft wahrgenommen. Erst wenn der Gegensatz zwischen Arm und Reich aufgehoben ist und es keine Armen mehr gibt, da Unterdrückung und Ungleichheit ein Ende gefunden haben, 239 herrscht Gerechtigkeit. Die israelitische Gesellschaft verfügt zwar über den Maßstab “Gerechtigkeit”, aber sie wird ihm in der Realität nicht immer gerecht. Prophetische Kritik geißelt die Oberschicht, die sich an den Armen bereichert. Nur die Armen und Unterdrückten verdienen es, in den Augen der Propheten “Gerechte” genannt zu werden (Am 2,6; 5,12 u.ö.). Die herrschenden Schichten lassen es an “Recht und Gerechtigkeit” fehlen, deshalb weist die prophetische Kritik den Mächtigen und Reichen die Schuld an den desolaten sozialen Verhältnissen zu (Am 5,7; 6, 12; Mi 3,9; vgl. Jes 6,14). Die soziale Anklage der Propheten ist keineswegs eine objektive Gesellschaftsanalyse, sondern eine bewußt einseitige Parteinahme. 238 239 96 G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze, 74. Vgl. die Ausführungen bei: C. Boff u. J. Pixley, Die Option für die Armen, Düsseldorf 1987. Die wirtschaftlich Mächtigen profitieren von einer Entwicklung, die die wirtschaftlich Schwächeren zu Opfern macht. Auffallend bei den Propheten ist, daß nicht Einzeltaten oder Einzelpersonen angeprangert werden, sondern das gesamte “System”. In Erinnerung an “Recht und Gerechtigkeit” (Jes 5,7; Am 5,7.24; 6,12; Mi 3.1.8.9), die Grundwerte der vorstaatlichen israelitischen Gesellschaft, kritisieren sie eine Wirtschafts- und Rechtsordnung als Unrecht, die sich nicht mehr an diesen Grundwerten 240 orientiert, so legal es auch zugehen mag. Diese unhaltbaren Zustände des Unrechts und der Ungerechtigkeit lassen deshalb auch keine Rückkehr zur Gerechtigkeit aus eigener Anstrengung erwarten. Gott wird Gerechtigkeit errichten. “Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Heißt das nicht, mich wirklich erkennen? - Spruch des Herrn” (Jer 22,16). Gerechtigkeit üben ist Erkenntnis Gottes. Gerechtigkeit für sozial und rechtlich Schwache schaffen wird so mit der Verehrung von Israels Gott identifiziert, daß sie auch der “Kult” ist, den der Gott der Bibel erwartet. Eine auf den Kult beschränkte Verehrung Gottes lehnen die Propheten ab (Am 5,21-25; ähnlich Jes 1,11.13.15-17; Hos 6,6; Jer 7,1-10). Kultisches Handeln kann Gerechtigkeit nicht ersetzen. Wenn Israel solidarisches Verhalten gegenüber Notleidenden praktizieren würde, statt religiöse Praktiken wie das Fasten zu vollziehen, dann würde Gerechtigkeit Israel umgeben und die ersehnte Nähe Gottes Realität werden (Jes 58,6-10). Israel hat seinen Gerechtigkeitsbegriff aus dem Alten Orient übernommen. Nicht erst die Bibel, sondern auch andere kulturelle und religiöse Traditionen des Alten Orients kennen schon ein Sozialethos, in dessen Zentrum eine Option für die Armen steht, wenn sie es den politischen Führungseliten und in besonderer Weise dem König zur Pflicht machen, für die Armen einzutreten. Den altorientalischen Traditionen und der Hebräischen Bibel ist die Sorge um das Auseinanderbrechen der Gesellschaft gemeinsam. Die Option für die Armen diente also der gesellschaftlichen Integration und der Sicherung des Systems. Die Klassenstruktur der Gesellschaft sollte aber nach den babylonischen, mesopotamischen oder alt-ägyptischen Gesetzestexten trotz einer Option für die Armen nicht angetastet werden. Die biblische Option für die Armen verdankt sich dem Exodus aus den ägyptischen Verhältnissen und will aus dieser Erfahrung heraus eine andere Ordnung, nämlich eine ökonomische, soziale und politische Ordnung der Freien und Gleichen errei241 chen. Ein Vergleich mit anderen Rechtsauffassungen der Antike zeigt, 240 241 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 259f. N. Lohfink, Gott auf der Seite der Armen, in: ders., Das Jüdische im Christentum, Freiburg 1987, 122-143; vgl. auch oben die Ausführungen zum Kodex Hammurapi und zum ägyptischen Totenbuch unter Abschnitt: 3.2. 97 daß in der Tora jene Gesetze fehlen, die die Mächtigen und Starken in ihrem Besitzstand sichern. Nicht abstrakte oder formale Gerechtigkeitsprinzipien bestimmen das Denken, die Tora steht vielmehr einseitig und bewußt auf der Seite der Schwachen der Gesellschaft. Dahinter steht die Überzeugung, daß es gerade die Schwachen sind, die des Schutzes bedürfen. Der biblische Begriff der Gerechtigkeit fällt mit dem Recht der Schwachen und Bedürftigen zusammen. Walter Dietrich wendet sich gegen alle Idealisierungen, hebt aber dennoch hervor, daß in Israel eine aus seiner spezifischen Religionsgeschichte heraus zu erklärende Für242 sorge für die Besitz- und Machtlosen entstanden ist. 3.3.1.2 Gerechtigkeit als Rechtsanspruch der Benachteiligten Recht ist die einzige Alternative zur Gewalt, um Konflikte und Interessengegensätze zu regeln. Diese Einsicht hat sich in biblischen Konzepten struktureller Gerechtigkeit niedergeschlagen (z.B. Sabbatgesetze, Sabbatjahr, Jobeljahr, Zinsverbot u.a.). Nicht nur die prophetische Tradition, auch die Gesetzestradition der Hebräischen Bibel nimmt in einer spezifischen Weise den Gerechtigkeitsbegriff auf. Die Gesetzestradition ist dadurch gekennzeichnet, daß sie drei Themen miteinander verbindet. Sie enthält zum einen Regeln über den Kult als Ort der Verehrung des einen Gottes. Zum anderen enthält sie Regeln der Gerechtigkeit. Sie sollen ein menschliches Zusammenleben ermöglichen, in dem Menschen sich gegenseitig als gleich anerkennen. Und schließlich finden sich in den Rechtskorpora gewisse Regeln, in denen sich ein Ethos der Barmherzigkeit niederschlägt. Barmherzigkeit meint nicht eine gelegentliche Zuwendung zu dem in Not geratenen Nächsten. In einer sehr spezifischen Weise wollen die Gesetze Barmherzigkeit in einer erwarteten und verpflichtenden Zuwendung Gestalt werden lassen, die sich in besonderer Weise den an den Rand Gedrängten zuwendet, um ihnen Recht und Gerechtigkeit zuzusichern. Der Schutz der Schwachen wird zu einem gemeinschaftsbezogenen Rechtsanspruch. Gerade diejenigen, die von den Zuständen in der Gemeinschaft benachteiligt sind, haben Anspruch auf ein besonderes Verhalten der Gemeinschaft und auf die Aufhebung dieser Zustände. Die Haltung des Erbarmens wird nicht als mildtätige Wohltat verstanden, 243 “sondern als ein Akt der Aufrichtung von Gerechtigkeit” . “Zur Alleinverehrung gehört damit ein bestimmtes Recht und eine ihm vorgeordnete 244 Gerechtigkeit.” Die Unterprivilegierten werden durch den Rechtsan242 243 244 98 W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 247. M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 117. F. Crüsemann, Die Tora, 424. spruch zu Rechtsträgern und dadurch in die Gesellschaft integriert. Auch wenn das altorientalische Recht mit dem alttestamentlichen in enger Beziehung steht, gibt es doch einen bedeutenden Unterschied: “das israelitische Grunddatum von Recht als direkt göttlicher Setzung ist keine in 245 der Antike übliche Vorstellung” . Die Armen sind nicht Almosenempfänger, sondern Rechtsträger, die ihr Recht nicht durch hoheitliche Huld bekommen. Die prophetische Literatur ist von einem Ringen um Recht und Gerechtigkeit geprägt. Ihre Kritik an den Zuständen der Gesellschaft schlägt sich in einem Gesetzeswerk nieder, das Institutionen der Gerechtigkeit enthält. Zu diesen gehören Einrichtungen wie die Armenversorgung durch einen Zehnten, der Sabbat, das Sabbatjahr oder das Jobeljahr 246 (Dtn 5,12ff.; 14,28f.; 26,12f.; Lev 25,1ff.). Sie können als Institutionen verstanden werden, die verbindlich dafür sorgen, daß ein sozialer Ausgleich, die soziale Solidarität mit den Schwachen und das Teilen der Ressourcen nicht in das Belieben des einzelnen gestellt werden, sondern mit einer an Rechtskraft gebundenen Verläßlichkeit versehen sind. Die Intention zur Gerechtigkeit allein reicht nicht aus, deshalb muß das Ethos durch Institutionen der Gerechtigkeit gestützt werden. 3.3.1.3 Gerechtigkeit und Machtkritik Prophetische Sozialkritik hat Eingang in das israelitische Recht gefunden. Mit Vehemenz attackieren die Propheten eine Oberschicht, die eine immer größer werdende gesellschaftliche Schicht von Armen produziert. Die Kritik der Propheten ist nie gegen Reichtum oder Luxus an sich gerichtet, sondern gilt einem mit Unrecht, ungerechter Machtausübung oder Unterdrückung verbundenen Reichtum. In nahezu allen sozialkritischen Aussagen ist es eben diese Herkunft der Reichtümer, an der sich die Kri247 tik entzündet. Was die Propheten anprangern, ist ein Reichtum durch “Gewalt und Unterdrückung” (Am 3,10). Die Reichen verursachen die gesellschaftlichen Mißstände und sind deshalb ihres unsolidarischen Verhaltens wegen verantwortlich für den Bruch von Gerechtigkeit im Sinne von Gemeinschaftstreue. Gegen die Erfahrung gesellschaftlichen Unrechts dringen die Propheten darauf, daß alle ein Anrecht auf Gerechtigkeit haben. Die sich dieser Verwirklichung der Gerechtigkeit entgegenstellen, werden deshalb auch zur Verantwortung gezogen. Eine Wirtschafts- und Rechtsordnung, die sich nicht mehr an den Grundnormen 245 246 247 Ebd. 24. Nähere Ausführungen dazu in Abschnitt 6.1.2. Vgl. auch zum folgenden F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” 37ff. 99 von mispat und sedaqa orientiert und die Lebensrechte der gesellschaftlichen Randgruppen nicht schützt, ist Unrecht, so legal es auch darin zu248 gehen mag. Die Bibel Jesu war die Hebräische Bibel, das Erste Testament, das er - wie die Urchristenheit - lebte, bekräftigte, auslegte und nicht als alt, nur vorläufig oder ergänzungsbedürftig ansah. Zu den Gerechtigkeitsvorstellungen der neutestamentlichen Tradition sei nur soviel festgehalten: Zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der Hebräischen Bibel und denen des Neuen Testamentes gibt es Überschneidungen. Walter Dietrich betont die Nähe zwischen dem Gerechtigkeitsverständnis des Neuen Testaments und dem der Hebräischen Bibel: “Die gesamte paulinische Rechtfertigungslehre ist im Alten Testament präludiert - wie sie ja Paulus auch aus ihm, nicht gegen das Judentum in toto, entwickelt hat. Gewiß, die Christusgestalt fehlt noch, aber auch sie ist präludiert: in Propheten etwa, die sich bei Gott für die Ungerechten verwenden, oder in dem Got249 tesknecht, der durch sein Leiden „Vielen zur Gerechtigkeit hilft‟.” Die Forderung nach dem Rechttun des Christen an seinem Nächsten und vor Gott ist nicht ohne die Gerechtigkeitsvorstellungen der Hebräischen 250 Bibel zu verstehen (Mt 5,6.20; 25, 37.46). Der biblische Gerechtigkeitsbegriff ist dynamisch. Gerechtigkeit ist eine Gesellschaft und Geschichte vorantreibende Kraft. Die von Gott gewollte Ordnung entsteht sowohl durch sein Wirken in der Geschichte als auch durch entsprechendes Handeln des Menschen. Biblische Gerechtigkeit sprechen mit der Machtkritik immer auch eine Gegenwartskritik in einer eschatologischen Dimension aus. Utopisches Denken gewinnt reale Bezüge, die aus der Erfahrung gegenwärtiger Ungerechtigkeit gewonnen werden. Eine Zukunft ohne Klassengegensätze und Spaltungen zwischen Arm und Reich, oben und unten wird in Aussicht gestellt. Die eschatologische Zeit wird eine Zeit sein, in der die Bedürfnisse befriedigt sind und Ausbeutung und unterdrückende Gewalt ein Ende haben werden (vgl. Jes 65,21-22; 2,2-4; 11,6-8; Ps 37, 11; 72,2-3; 85,11-14 u.ö.). 3.4 Gerechtigkeit und Option für die Armen als Problem gegenwärtiger ökonomischer und sozialer Verhältnisse Der bedeutende katholische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning registriert eine dreifache strukturelle Benachteiligung von Arbeitnehmern in einer kapitalistischen Marktwirtschaft: 248 249 250 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 260. W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 248. Vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd.I/1, Zürich, Neukirchen - Vluyn 1985, 209-218; 240-250. 100 Da Arbeitnehmer erstens außer ihrer Arbeit über keine Erwerbsquelle verfügen, sind sie gezwungen, “ein Lohnarbeitsverhältnis mit Subordina251 tion der Arbeit unter das Kapital” einzugehen. Diejenigen, die Kapital in den Produktionsprozeß einbringen, bestimmen aber über Produktionsvolumen und Produktionsrichtung, also eben darüber, ob, wann, wo und wie Arbeitsplätze geschaffen werden, d. h. sie verteilen Lebenschancen. Aus dem Nichteigentum an Produktionsmitteln resultiert eine “Machtun252 terlegenheit” der Arbeit. Zweitens ist Arbeit im Produktionsprozeß instrumentalisiert. Der arbeitende Mensch ist “heute noch viel weiter gehend als sachlich geboten und darum unvermeidlich - auf die Objektrolle 253 beschränkt” . Arbeit ist “bloßes Betriebsmittel für diesen Prozeß, nicht 254 tragende Säule der ökonomischen Gebilde” . Arbeit ist drittens rechtlich-strukturell ausgegrenzt. Das zeigt sich darin, daß Arbeit in einen Produktionsprozeß einzubringen keinerlei Mitgliedschaft oder Mitgliedsrechte im Unternehmen begründet. Mit dem Unternehmen sind nur diejenigen rechtlich verbunden, die Kapital einsetzen. Oswald von NellBreuning besteht darauf, daß allein für die Minderheit derjenigen, die über die Produktionsmittel verfügen, “die volle Subjektstellung gewähr255 leistet” sei. Dagegen sind die arbeitenden Menschen zwar Mitarbeiter, 256 aber “im Rechtssinn Außenstehende” eines Unternehmens. Die grundlegende Tatsache, die über die reale Lage der Arbeit entscheidet, resultiert somit aus der “Verfügung und Nichtverfügung über Produk257 tionsmittel” . Aus einer Position der unbedingten Ausrichtung auf den Menschen und seiner personalen Würde formuliert Nell-Breuning folgendermaßen: “Der Realfaktor „Kapital‟ bestimmt, er ist Subjekt; über den 258 personalen Faktor „Arbeit‟ wird bestimmt, er ist Objekt.” Die reale Arbeit, wie sie von der Mehrheit der Menschen erlebt wird, ist abhängige Arbeit. Die fehlende Teilhabe an wirtschaftlichen Prozessen, das Objekt - sein, macht den Kern dieser realen Situation der Lohnabhängigen aus. Und genau darum geht es, wenn die Bibel von “Armut” spricht. Biblisch meint Armut nicht allein den materiellen Aspekt der Notlage. Die Armen sind in der Tat diejenigen, die unter der Last ihrer Exis251 252 253 254 255 256 257 258 O. von Nell-Breuning, Eigentum und wirtschaftliche Demokratie. Schriftenreihe der IG Metall Nr. 64, Frankfurt 1975, 14. O. von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit? Zu Grundfragen der Sozialordnung aus christlicher Verantwortung, Freiburg 1975, 170. O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung - wer mit wem? Freiburg 1969, 32. Ebd. 33. Ebd. 32. O. von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit, 123. O. von Nell-Breuning, Situation und soziokulturelle Umwelt der Arbeiterschaft, in: J. Wiener, H. Erharter (Hg.), Arbeiterpastoral in der Pfarre, Wien 1979, 11. O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung - wer mit wem? 33. 101 tenz so niedergedrückt sind (anaw), daß ihre Hauptaufgabe allein darin 259 besteht, ihr Leben und Überleben zu sichern. Die biblische Tradition benennt mit “Armut” eine Situation der Abhängigkeit. Für die Menschen der Bibel sind die Armen nicht so sehr mittellos, als vielmehr untergeordnet, minderwertig, klein und unterdrückt. “Im biblischen Sinn ist der „Ar260 me‟ der Beherrschte.” Armut ist ein sozialer Begriff, nicht ein Zustand, in dem sich Menschen befinden. Biblisch beschreibt Armut eine Beziehung, in der sich Menschen als ausgeschlossen und in ihren Lebensmöglichkeiten gemindert erfahren. “Der Gegenbegriff zum Armen ist im Alten Testament der Gewalttäter, der den Armen unterdrückt und ins 261 Elend stößt und sich auf seine Kosten bereichert.” Arm ist man nicht an sich, sondern im Verhältnis zu Starken, die die Schwäche ausnutzen können. Diese Objektrolle macht nach biblischem Verständnis Armut aus, materielle Notlage hingegen ist Folge und Auswirkung dieses ökonomischen und sozialen Abhängigkeitsverhältnisses. Der Bibel ist das Wissen um den Kreislauf von Armut und Abhängigkeit vertraut: “Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers Knecht.” (Spr 22,7). Wenn die Bibel von Armut spricht, benennt sie diese Herrschaftssituation, die am besten mit dem Begriff der fehlenden Teil262 habe erfaßt werden kann. Die von Oswald von Nell-Breuning beschriebene Lage der abhängigen Arbeit läßt sich mit jenem Defizit angemessen beschreiben, auf das auch die theologische Rede einer Option für die Armen reagiert. Die Lage der Arbeit in der real existierenden Marktwirtschaft entspricht dem, was die Bibel mit dem hebräischen Begriff “Armut” zur Sprache bringen will, nämlich eine Abhängigkeit oder Objektrolle des Menschen. Geprägt haben die Formel der “Option für die Armen” zwar lateinamerikanische Theologien, doch steht sie in einer älteren Traditionslinie. So betont der Sozialreformer Friedrich Naumann (1860-1919) bereits Ende des letzten Jahrhunderts Jesu Nähe zu den Armen, die es zur vordringlichen Aufgabe mache, “die soziale Frage vom Standpunkt der Bedrängten, für die Be263 drängten und mit den Bedrängten”, eben “von unten her” zu bearbeiten. Nicht anders Dietrich Bonhoeffer, der darauf hingewiesen hat, daß es der Weg Jesu selbst sei, der dazu anhalte, geschichtliche Ereignisse “von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, 259 260 261 262 263 Die hebräische Wortwurzel „nh /‟nw bedeutet “gebeugt, bedrückt” sein - R. Martin-Achard, Art.„nh=elend sein, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München ,Zürich 1984, Sp. 341. E. Dussel, Vier Themen zu Theologie und Ökonomie, in: Th. Buhl u.a. (Hg.), Option für die Armen und kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika, Leipzig 1990, 292. J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 97. H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 169f.; auch C. Boff u. J. Pixley, Die Option für die Armen. Gotteserfahrung und Gerechtigkeit, Düsseldorf 1987, 34 - 123. F. Naumann, Gesammelte Werke, Bd. 1, 346; vgl. ähnliche Aussagen ebd. 354, 378ff. 102 Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz 264 der Leidenden” wahrzunehmen. Diese Perspektive schärft den Blick für das, was Gerechtigkeit aus der Perspektive der Opfer bedeutet. Daß der Gott der Bibel zu den Armen und Schwachen hält, zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel. Diese Option für die Armen läßt sich als ein Grundanliegen bezeichnen, das in der Hebräischen Bibel fest verwurzelt ist und zu den prägenden Traditionen des Neuen Testaments gehört. Und Jesus von Nazareth hat nach dem Zeugnis des Neuen Testaments diesen Blick von unten eingenommen. Mittlerweile ist die Option für die Armen zum Konsens der ökumeni265 schen Christenheit geworden. So sprach sich in Dresden die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1988 für eine “Option für die Armen” (I., 29) aus. Ähnlich bekräftigte die Ökumenische Weltversammlung von Seoul 1989, “daß Gott auf der Seite der Armen steht” (Grundüberzeugung II). Auch die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 hat sich zu der “Option für die Armen” bekannt (Hintergrundmaterial Ziff. B 22). Erstmals haben auch die Kirchen in Deutschland in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort offiziell sich diese Option zu eigen gemacht, wenn sie von einer “vorrangigen Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” (Ziff. 3.3.2) sprechen. Die Stärke des Begriffs einer Option für die Armen liegt darin, daß er einen Maßstab entwickelt, der nach den Opfern des Systems fragt. Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn die Theologie der Befreiung seit einigen Jahren den ursprünglich soziologisch geprägten Begriff der Option für die Armen um die ökologische Dimension erweitert. Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff sagt: “Das am meisten bedrohte 266 Geschöpf: der Arme.” Der Ausgangspunkt, von dem aus die Theologie der Befreiung sich auf die ökologische Katastrophe einläßt, ist die soziale Katastrophe, der die Armen ausgesetzt sind. “In diesem Kontext gesehen, sind die am meisten bedrohten Lebewesen nicht die Wale, 267 sondern die Armen, die zu einem vorzeitigen Tod verurteilt sind.” Die 264 265 266 267 D. Bonhoeffer, Nach zehn Jahren, in: ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, 14. Aufl. München 1990, 26. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Option für die Armen: P. Rottländer, Option für die Armen. Erneuerung der Weltkirche und Umbruch der Theologie, in: Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für J.B. Metz, Mainz 1988, 72-88; H. Bedford-Strohm, Vorrang der Armen, 199 - 203; G. Collet, “Den Bedürftigen solidarisch verpflichtet”, Implikationen einer authentischen Rede der Option für die Armen, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, Bd. 33, Münster 1992, 67-84. L. Boff, Theologie der Befreiung und Ökologie: Alternativen, Gegensatz oder Ergänzung, in: Concilium 31 (1995) 423-430.428. L. Boff, Theologie der Befreiung und Ökologie, 429. 103 Option für die Armen um ein Verständnis zu erweitern, das ökologische Bedrohungen einschließt, geht von der Analyse aus, daß es die gleiche Logik des Systems der Kapitalakkumulation und einer gesellschaftlichen Organisation ist, die Menschen unterdrückt und die auch den Raubbau an der Natur betreibt. In einer weiteren Ergänzung versteht die Theologie der Befreiung den Armen immer auch als den Anderen, der ausgeschlossen und nicht Teil des gesellschaftlichen Systems ist. Die Option für die Armen meint deshalb immer eine Option für den armen Anderen. Diese Option bringt drei Aspekte zum Ausdruck: Erstens enthält sie einen ethischen Maßstab, der alle - auch die wirtschaftlichen - Prozesse danach bewertet, was sie den Armen tun, was sie ihnen antun, was sie ihnen ermöglichen zu tun. Sie will also eine angemessene Beteiligung aller am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglichen. Zweitens erfüllt die Option für die Armen eine kritische Funktion. Sie ist kritischer Maßstab für eine theologische Ethik, an dem sich die Tauglichkeit wirtschaftlicher Strukturen und Ordnungskonzepte zeigt. Drittens will sie den Umgang mit den Armen zu ihrem Gunsten und gemeinsam mit ihnen verändern. Aus der Perspektive der Armen und Schwachen wird gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit wahrgenommen und versucht, im Interesse des Gesamtsystems zu beenden. Deshalb ist die Option für die Armen nur scheinbar ein Einsatz für Teilinteressen. Sie zielt auf eine gerechtere Gesellschaft und hat das allgemeine gesellschaftliche Interesse im Blick. Die Frage nach der wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit aus der Perspektive der Armen zu stellen, ist ein Ansatz, den eine biblisch begründete christliche Wirtschaftsethik aufnehmen muß. Heinrich Bedford-Strohm hat dargelegt, daß der biblische Ansatz, Gerechtigkeit von den Armen her zu erschließen, auch mit dem philosophischen Gerechtigkeitsverständnis von John Rawls verknüpfbar und säkular 268 kommunikabel ist. Ein Gerechtigkeitsverständnis, das sich an einem am Vorrang für die Armen orientierten Gerechtigkeitsbegriff ausrichtet, steht im Dienst der Forderung nach Gerechtigkeit für alle und obwohl zunächst eine partielle Solidarität, stellt sie ein Mittel zur universalen Solidarität bereit. Rawls begründet sein Gerechtigkeitsverständnis mit dem Gedankenkonstrukt, sich in die Lage der am meisten Benachteiligten zu versetzen, um von dort her die Einsicht zu ermöglichen, daß es beim Vorrang der Armen keineswegs um den Versuch geht, lediglich für eine bestimmte Gruppe Gerechtigkeit in Geltung zu setzen. Wo Nachteile und Vorteile der gesellschaftlichen Zusammenarbeit ungleich verteilt sind, dort vertritt die Forderung nach Gerechtigkeit die Interessen derer, denen 268 H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 293 - 306. 104 ihr Anteil an den Gütern und Chancen der Gesellschaft vorenthalten wird. Deshalb läßt sich die Schlußfolgerung ziehen: “Sowohl aus theologischer als auch aus philosophischer Sicht ist wichtiges Kennzeichen eines am Vorrang für die Armen orientierten Gerechtigkeitsverständnisses seine 269 Inklusivität.” Rawls‟ Gerechtigkeitsverständnis und die biblische Option für die Armen lassen sich also gut miteinander verknüpfen. 269 Ebd. 307. 105 4. TORA ALS GRUNDLAGE THEOLOGISCHER ETHIK 4.1. Ethik der Tora als Grundlage 4.1.1 Biblisch fundierte Ethik Der Alttestamentler Frank Crüsemann hat die Forderung aufgestellt, “daß unbeschadet des historischen Abstandes allein die Tora die Grund270 lage einer biblisch orientierten Ethik sein kann.” Weder eine rationale Normbegründung noch eine “angebliche Deduktion von Normen aus 271 dem puren Evangelium” könne eine theologische Ethik begründen. Die Tora sei vielmehr Grundlage des Kanons und deshalb auch einer neutestamentlichen Ethik. Er möchte für eine Tora-Rezeption “historische 272 Grundlagen” bereitstellen. Mit diesem Ansatz verfolgt Frank Crüsemann das Anliegen einer “Reintegration der Tora in eine Evangelische 273 Theologie” . Können die ethischen Orientierungen der Tora aber überhaupt für den Christen maßgeblich sein? Christofer Frey hat sich kritisch mit Frank Crüsemanns Forderung auseinandergesetzt. “Was ist zu diesem Versuch zu sagen, postulatorisch im Christentum eine Evidenzbasis zu schaffen, indem es sich mit der Tora derer, die häufig seine Opfer waren, identifiziert, also in 274 eine spezielle Identitätsethik eintritt?” Frey hält Crüsemann entgegen: Wenn der Exeget selbst sich moderner Kategorien historischer Forschung bediene, so seien dem Ethiker auch moderne ethische Kategorien gestattet. Die Tora sei im Unterschied zu einer Folgenethik eine Identitätsethik, die nicht aus abstrakten Prinzipien, sondern aus konkre270 271 272 273 274 F. Crüsemann, Die Tora, 424f.; kritisch setzt sich mit diesem Ansatz auseinander: Chr. Frey, Tora für Protestanten - oder über die sich rasch wechselnden Evidenzen in der protestantischen Theologie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 38 (1994) 242-246. F. Crüsemann, Die Tora, 12. Ebd. 425. Ebd. 9. Mit dieser Forderung macht er sich eine Position von F.-W.Marquardt zu eigen. Chr. Frey, Tora für Protestanten, 246. 106 ten Gemeinschaftsverhältnissen hervorwachse. Crüsemann fordere eine solche Identitätsethik. Doch wie könne sich die Christenheit unter die Tora stellen, die Gott allein Israel gegeben habe? Gegen eine Applikation von der Tora entnommener Normen erhebt Frey den Einspruch, “unmittelbare Aktualität zu wittern bedeute, die Ethik auf einen unbestimmten Appell schrumpfen zu lassen, statt kritische Reflexion gelebten oder 275 neuen Ethos in Gang zu setzen.” Den Rückbezug auf die Tora versteht Christofer Frey gar als Ersetzung der Christologie. Sein Fazit: “Dem Protestantismus ist deshalb zu wünschen, daß er davon abläßt, von Thema zu Thema zu flattern - in der Hoffnung, daß das jeweils Gewählte seine 276 Gegenwartsbedeutung moralisch und apologetisch begründe.” Christofer Freys Kritik wirkt nicht überzeugend. Wenn er bezweifelt, daß die Tora als ein geschichtlich gewachsenes Ethos auch universale Gesichtspunkte hervorbringen könne, übersieht er den universalen Anspruch der Tora, die sich nicht allein auf die Geschichte Israels, sondern auch auf die Geschichte der Menschheit bezieht. Israel lebt bereits nach einer Weisung, die eines Tages auch andere Völker befolgen sollen, besitzt also ein Wissen, das eines Tages auch von fremden Völkern beachtet werden wird. Das meint jedenfalls Jesaja, wenn er Israel als “Licht für die Völker” bezeichnet (Jes 42,6). In diesem Bild kündigt sich sehr früh eine Art von Universalismus an, die jeden Partikularismus einer Identitätsethik übersteigt. Ausdrücklich formuliert wurde dieser universalethische Ansatz in den sog. noachidischen Geboten. Klaus Müller hat in seiner Abhandlung Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und An277 sätze zu ihrer Rezeption im Christentum die universalethische Debatte im Judentum im Abfassungszeitraum der neutestamentlichen Schriften nachgezeichnet. Dem Judentum und dem Christentum war in je eigener Ausprägung die Fragestellung nach der Geltung der Tora in dem Moment aufgegeben, als der palästinensisch-israelitische Kulturraum verlassen wurde. Die sog. sieben noachidischen Gebote hat die jüdische Theologie ausdrücklich als ein universalethisches Angebot für die ganze Menschheit in der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems formuliert. Diese bestehen aus dem Verbot des Götzendienstes, der Gotteslästerung, des Mordes, des sexuellen Vergehens, des Raubes und des Essens lebendiger Tiere sowie dem Gebot, Gerichtshöfe einzurichten. Tora für die Völker heißt nach dem Aposteldekret zunächst Freistellung der Völker von der dem Judentum zugehörigen Mosetora und die Verpflichtung der universalen Menschheit auf den Dreierkatalog: Verbot des Götzendienstes, der Unzucht und des Blutvergießens (so in: Apg 15,19-2; vgl. Gal 5,19275 276 277 Ebd. 245. Ebd. 246. Berlin 1994. 107 21; 1 Kor 5,10f; 6,9f.; 1 Tim 1,9f; Apk 9,20f; 21,8). Die drei Hauptverbote entsprechen dabei faktisch einer Kurzform der Tora, wie ja auch das Liebesgebot oder die Goldene Regel (Lev 19,18 / Mk 12,31; Mt 7,12; Lk 6,31) aus der Tora Israels schöpfen. Die frühe neutestamentliche Ethik orientiert sich an dem klassischen jüdischen Konzept einer Tora für die Völker. Die Kurzform der Tora ist ein Zugang zur ganzen Mosetora, die als Weisung Gottes vom Sinai nach rabbinischer Auskunft für alle Erdenbewohner offen steht. Rabbi Meir verweist auf Lev 18,5: Dort heißt es nicht, daß den Priestern oder Israeliten, sondern den Menschen die Tora gegeben sei: der Mensch, der sie - die Weisungen der Tora - tut, werde 278 leben. Klaus Müller stellt zwischen der universalethischen Absicht der jüdischen Tora und der neutestamentlichen Ethik einen Zusammenhang her: “Was jüdischerseits innerhalb des Abfassungszeitraums der neutestamentlichen Schriften an universalethischem Ansatz vorliegt, kommt mithin bei der Bemühung um Tora für die Völkerchristen voll zum Zuge und wird zum integralen Bestandteil christlicher Ethik. Das neutestamentliche Christentum macht die Frühform der noachidischen Tora in Gestalt 279 der Kardinalsündentrias zur verbindlichen Weisung.” Das aber bedeutet: Die Ethik der Tora steht keineswegs einem universalethischen Ansatz entgegen; der universalethische Ansatz der Tora gibt dem universalethischen Ansatz des neutestamentlichen Christentums vielmehr die Richtung vor. Die Tora als partikulare Identitätsethik ohne Universalitätsanspruch und die christliche Ethik demgegenüber als eine Ethik mit Universalanspruch zu verstehen, wird theologisch weder der Tora noch dem Judentum noch dem neutestamentlichen Christentum gerecht. Die Tora ist das Medium, in dem Gott und die Lebensbereiche zusammengefaßt werden. Die Tora zu halten, ist nach biblischem Verständnis ein Vollzug des Bundes mit Gott und Anweisung zu einem existentiellen und praktischen Gottesverhältnis. Gegen Vorbehalte einer christlichen Rezeption der Tora ist darauf hinzuweisen, daß das Neue Testament selber in den Horizont der Frage nach der Geltung der Tora gehört und dadurch als Teil einer auf Sinai zurückreichenden Tradition zu verstehen ist. Leo Baeck stellte 1938 in seiner Schrift Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte die neutestamentliche Überlieferungsgeschichte in die Sinaitradition. “In dieses eigentümliche jüdische geistige Leben und in die Art und Weise dieser jüdischen Tradition gehört die alte Evangeliumsüberlieferung hinein. Sie hat an all diesem Charakteristischen ihren vollen Anteil, sie ist nichts anderes als ein 280 Stück davon.” Das Neue Testament setzt also die Tora voraus; es 278 279 280 Sanhedrin 59a, zit. nach: K. Müller, Tora für die Völker 13. Ebd. 195f. L. Baeck, Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin 1938, 29. 108 setzt sie nicht außer Kraft, sondern radikalisiert sie eher, als daß es sie 281 relativiert. Deshalb ist auch der Vorwurf von Christofer Frey, daß die Chiffre Moses bei Frank Crüsemann die Christologie ersetze, nach dem exegetischen Befund nicht haltbar, wie im folgenden ausführlich darge282 stellt werden soll. Das Verhältnis der neutestamentlichen Schriften zu denen der hebräischen Bibel läßt sich exemplarisch am Sabbat darstellen. Gerhard Dautzenberg nennt in seinem Bericht über den Forschungsstand das Verhältnis Jesu zur Tora eines der schwierigsten und umstrittensten Themen283 felder der neutestamentlichen Forschung. In der kaum noch zu überschaubaren exegetischen Literatur lassen sich drei Grundmuster der In284 terpretation ausmachen: - Jesus hat durch seine provozierende Sabbatverletzung den in seiner Zeit verdunkelten, jedoch ursprünglichen und dem Willen Gottes entsprechenden Sinn des Sabbat wieder ans Licht gebracht; - Jesus hat eine kritische Stellung dem Sabbat gegenüber eingenommen; - Jesus hat den Sabbat aufgehoben. In den neutestamentlichen Wissenschaften zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Von W. Bousset an herrschte ein Jesusbild, das von einem Gegensatz zwischen Jesus und der Tora bestimmt war: In souveräner Freiheit habe Jesus Tora und Kult außer Kraft gesetzt, den Sabbat provokativ gebrochen und bewußt an der Tora, der Grundlage des jüdischen Gemeinwesens, gerüttelt. Es mehren sich jedoch die Stimmen, welche diese torakritische Position Jesu bestreiten und - das ist entscheidend - sein Verhalten und seine Weisungen im Rahmen des frühjüdischen Toraverständnisses und eben nicht im Gegensatz zu diesem interpretieren. Dieses Frühjudentum muß sowohl vom biblischen wie auch 281 282 283 284 So auch S. Schulz in seiner Neutestamentlichen Ethik, Zürich 1987. Dort heißt es: “Jesus steht auf dem Boden der von ihm radikalisierten Tora, und seine gesamte Ethik beabsichtigt nur eines, den Willen Gottes uneingeschränkt und keineswegs nur formal zur Geltung zu bringen.” (83) Das “Gesetz vom Sinai” (34) sei in allen Auseinandersetzungen um die Tora immer die Grundlage geblieben. Widerspruch gegen Mose habe sich innerhalb der Gesetzestradition vollzogen. - Vgl. die Darstellung unten in den Abschnitten 6.1.2.2; 6.1.2.3; 9.6.2.1. Chr. Frey, Tora für Protestanten, 245 mit Bezug auf F. Crüsemann, Die Tora, 112, 121. G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (I), in: Orientierung 55 (1991) 229-232; G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (II), in: Orientierung 55 (1991) 243-246. Im Folgenden wird die Forschungssituation nach Dautzenberg referiert. - Zur Debatte vgl. auch: F. Avemarie u. H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicher Tradition, Tübingen 1996, B. Schaller, Jesus und der Sabbat, Franz-Delitzsch-Vorlesung 1992, Münster 1994. Spier, E, Der Sabbat, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1992, 25. 109 vom rabbinischen Judentum abgehoben werden. Gerhard Dautzenberg zieht aus der Debatte um das Toraverständnis Jesu die Folgerung, daß dieses Paradigma, das Jesu Verhalten zur Tora im Rahmen der frühjüdischen Torainterpretation versteht, die Entwicklung der Jesustradition in der Gesetzesfrage besser zu erklären vermag. Religionsgeschichtlich gehört das Urchristentum in seinen Anfängen zum Frühjudentum. Dieses Frühjudentum ist in seinem Gesetzesverständnis und seiner Gesetzespraxis vielfältiger als das rabbinische. Unbestritten war in allen Gruppierungen - also auch im Urchristentum - die anerkannte Autorität und Funktion der Tora. Weniger im Verständnis der Tora als in der Gesetzespraxis, der Halacha, unterschieden sich die Gruppierungen des Früh285 judentums. In ihrer Praxis vollzog sich immer schon eine kreative Selektion und Weiterbildung der schriftlichen Sinaitradition. Nach dem exegetischen Befund läßt sich jedoch feststellen, daß Jesus und die ersten nachösterlichen Gemeinden nicht eine neue spezifische Ethik gegen die Tora oder gar in Abgrenzung zu ihr begründeten, sondern sich als Teil 286 des jüdischen Volkes wußten und der Tora verpflichtet waren. Auch das spannungsreiche paulinische Gesetzesverständnis orientierte sich 287 ebenfalls durchaus an der frühjüdischen Gesetzesauslegung. Theologisch ist es deswegen nicht zu rechtfertigen, wenn Tora und Hebräische Bibel in einen Gegensatz zu den neutestamentlichen Schriften gebracht werden. Die stereotype Formulierung “das Gesetz und die Propheten” in den neutestamentlichen Schriften belegt den Zusammenhang von Hebräischer Bibel und Evangelien (Mt 5,17.18; 17,12.23; 11,13; 22,40; Lk 22,44; Joh 7,19 u.ö.). Die Bezeichnung “Erstes Testament” oder “Hebräische Bibel” für das Alte Testament will dieser Sichtweise Rechnung tragen. Wenn sich so der gegenwärtige Forschungsstand beschreiben läßt, dann hat dies weitreichende Folgen für die Relevanz der Tora für eine spezifisch christliche theologische Wirtschaftsethik. Die neutestamentlichen Schriften gehören in den Zusammenhang der innerbiblischen Debatte um Geltung, Interpretation und Weiterführung der Tora. Das theo285 286 287 So auch: E. W. Stegemann u. W. Ekkehard, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995, 185f. Vgl. dazu u. a. R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern-Salzburg 1995, 92-94. Der Ansatz, die neutestamentlichen Diskussionen als Teil der innerjüdischen Debatte um die Geltung der Tora zu verstehen, wird in weiteren Beiträgen des Sammelbandes aufgegriffen: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Eine sehr deutliche Lesart aus Sicht der Tora: M. Vidal, Le Juif Jésus et le Shabbat. Une lecture de l‟Évangile à la lumière de la Torah, Paris 1997. G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (II), 244. 110 logische Proprium christlicher Ethik definiert sich dann nicht aus einem Gegenüber zur Tora, sondern als Entfaltung, Weiterführung, Selektion und kreative Aneignung der einen Tora. Die Sozialtraditionen der Hebräischen Bibel erhalten deshalb einen Eigenwert auch für eine christliche Ethik. Herkunft und Etymologie des hebräischen Wortes tora sind unsi288 cher. Nach dem ursprünglichen Sinn bezeichnet Tora eine “Weisung”. Sie kann die göttliche Weisung (vgl. Ex 35,34; Dtn 33,10; Jes 2,3), eine Weisung von Vater und Mutter (Prov 1,8; 4,1f; 6,20), das Wort des Propheten (Jes 8,16; 30,9f; Jer 17,19ff.) oder in der Weisheitsliteratur auch eine Belehrung (Spr 13,14) bedeuten. Das Hebräische verwendet für das göttliche Gesetz, die Tora im engeren Sinn, keinen einheitlichen Begriff, sondern gebraucht für die Forderungen Gottes mehrere Lexeme mit je 289 unterschiedlichen Bedeutungsnuancen. In der Hebräischen Bibel begegnet man Weisungen, “Weisungen Gottes” (Jos 24,26), “Gesetzen des Herrn” (2 Kön 10,31) oder “Weisungen des Mose” (Jos 8,31). Sie bezeichnen mehr als Gesetze im modernen Sinn. Gerhard von Rad ver290 steht unter “Gesetz/Tora” die gesamten Willensoffenbarungen Gottes. Gerade um den mit Gesetz konnotierten juridischen Aspekt nicht in den Vordergrund zu rücken, hat Martin Buber in seiner Bibelverdeutschung von “Weisung” gesprochen. Die Weisungen der Tora regeln einen jeden Aspekt des kultischen, privaten und gesellschaftlichen Lebens: Landwirtschaft, Handel, Wirtschaft, Kleidung oder Zubereitung der Nahrungsmittel. Michael Welker hat wichtige Einsichten vorgetragen, die deutlich machen, daß das biblische Gesetz keineswegs als “Forderung von Werken” 291 zu verstehen sei. Was das biblische Gesetz vielmehr zur Sprache 292 bringen will, ist eine “lebensfördernde Erwartungshaltung” . Welker will damit zum Ausdruck bringen, daß das biblische Gesetz als Beitrag zur Herausbildung einer Erwartungskultur zu verstehen sei. Die jedoch sei nicht beliebig, sondern durch das Gesetz werden drei zusammenhängende und inhaltlich präzise Funktionsbereiche gefördert, nämlich Recht, 293 Kult und Erbarmen. Diese sollen eine Ordnung dessen konstituieren, was Gottes Wille ist. Mit der durch das Gesetz hervorgerufenen Erwartungskultur wird eine gegenseitige Verläßlichkeit über das, was gelten soll, hervorgerufen. Die Tora ist deswegen nichts Geringeres als das 288 289 290 291 292 293 So R. Rendtorff, Art. Tora, in: RGG 3. Aufl. Bd. 6, 950. K. Koch, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 43. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, 203f. M. Welker, Erwartungssicherheit und Freiheit. Zur Neuformulierung der Lehre von Gesetz und Evangelium, in: Evangelische Kommentare 18 (1985), 680-683 (Teil 1); ders., Erbarmen und soziale Identität, in. Evangelische Kommentare 19 (1986) 39-52 (Teil 2). M. Welker, Erwartungssicherheit und Freiheit, 680. Das Wichtigste des Gesetzes nennt Mt 23,20: “Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue.” 111 Projekt, alle Bereiche des Lebens und der menschlichen Erfahrung in das Licht Gottes zu stellen. Die gelebte Tora vollzieht die Gottesbeziehung. Sie ist das Medium, in dem die Vielfalt der Wirklichkeitsbereiche und Gott zusammengebracht werden. Der Gegensatz “Gesetz” und “Evangelium” hat lange eine theologisch angemessene Sicht der Tora verstellt. Eine Kritik der theologischen Gesetzeskritik ist überfällig, um ein Verständnis der Tora gewinnen zu können, das der biblischen Tradition entspricht und auch dem Judentum gerecht wird. “Wer die Gesetze hält, wird durch sie leben” (Lev 18,5). Das biblische Gesetz, die “Weisung”, ist selbst eine Art von Evangelium. Denn sie ist “heilig, gerecht und gut” (Röm 7,12). Als “Gesetz” steht sie nicht in einem Gegensatz zum Evangelium. Auch vom Neuen Testament her ist die Weisung der Hebräischen Bibel nicht als ethischer Indikativ oder Imperativ zu verstehen, sondern als eine Weisung zum Leben. Die Einsicht der Alttestamentler, zwischen “Gesetz” und “Evangelium” nicht einen Gegensatz zu konstruieren, ist zwar in die protestantische systematische Theologie theologisch aufgenommen worden, doch auf einem abstrakten Niveau, “das heißt ohne Bezug auf die realen Inhalte der To294 ra” - so die Kritik des Alttestamentlers Frank Crüsemann. Was bedeutet die theologisch systematische Aussage von der bleibenden Erwählung des Volkes Israel für die christliche Ethik? Frank Crüsemann verweist auf die bereits 1940 von Martin Noth erhobene Forderung, die theologische Ethik müsse “die alt- und neutestamentliche Erscheinung des Gesetzes stets zur Grundlage ihrer Arbeit 295 machen.” Doch diese Einsicht Noths hat bislang so gut wie keine Wirkung auf die theologische Ethik gehabt. Dieses Defizit ist um so bemerkenswerter, als es bei der Tora um ethische Normen und Werte geht, die das private, öffentliche und auch wirtschaftliche Leben regeln sollen. Luise Schottroff nennt das biblische Wirtschaftsrecht “das Herz der gesam296 ten biblischen Tradition.” Das läßt fragen, warum die theologische Ethik bislang kaum die wirtschaftsethisch relevanten Einsichten der Exegese rezipiert hat. 4.1.2 Tora als Weisung zur Gerechtigkeit Historisch ist das Recht der Tora nicht zu der Zeit entstanden, wo es jetzt literarisch angesiedelt ist. Die Propheten des 8./7.Jh. kennen noch kein 294 295 296 F. Crüsemann, Die Tora, 9. M. Noth, Die Gesetze im Pentateuch, SKG.G 17,2, 1940 = ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, Göttingen, 2. Aufl. 1960, 10., zit nach: F. Crüsemann, Die Tora, 9. L. Schottroff, Das Sabbatjahr und das Grundrecht auf Arbeit, in: dies., Suchet mich bei meinen Kindern. Bibelauslegung im Alltag einer bedrohten Welt, München 1986, 19f. 112 schriftlich fixiertes Recht, dürften jedoch zur Entstehung des ältesten Gesetzes, des sog. Bundesbuches, den Anstoß gegeben haben. In der Tora findet sich ein Nebeneinander ganz verschiedener Traditionen. Entstanden zu unterschiedlichen Zeiten, setzen sie verschiedene soziale, ökonomische und politische Bedingungen voraus und haben auch unterschiedliche theologische Aussageabsichten. Eckart Otto verweist auf diese Vielzahl von Ethiken im Alten Testament und kommt zu der 297 Schlußfolgerung: “Die Einheit der Ethik des AT ist ihre Geschichte.” Während Eckart Otto also kein inhaltlich-materiales Identitätsmerkmal der Ethiken des Alten Testamentes kennt, hat Walter Dietrich in einer überzeugenden Argumentation dargelegt, daß Gerechtigkeit wie ein “roter Faden” die Schriften der Hebräischen Bibel durchziehe. Er kommt zu dem Schluß: “Die Mitte des Alten Testaments läßt sich am besten mit 298 dem Begriff und der Sache der „Gerechtigkeit‟ bezeichnen.” Israel war sich der inhaltlich bestimmten Besonderheit seines Rechts, das die Frage nach der Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt hatte, durchaus bewußt. Leo Baeck schreibt über die Tora: “Die Gesetze in der Welt ringsumher - in der orientalischen, in der griechischen, in der römischen Welt - waren geschrieben vom Standpunkte der Besitzenden aus . (...) Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, ist vom Standpunkt des Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben . (...) Ein ganz anderer Standpunkt ist eingenommen: Vom Standpunkte des Schwachen, des Bedürftigen, des Kleinen aus werden die Gesetze gegeben, werden sie immer neu verkündet und prokla299 miert.” Ähnlich charakterisiert Benno Jacob die Tora: “Das Sinaigesetz kennt unter Israeliten keine Rangklasse, aber seine Lieblinge sind die Witwe und die Waise, der eigene Knecht, der Fremdling und der Arme, 300 für den es allein drei Namen hat. Es ist gerecht, billig und human.” Gerechtigkeit ist nicht subjektlos, sie legt sich hier als eine Parteinahme aus. Die freigekommenen und aus ägyptischen Verhältnissen befreiten Sklaven schufen eine Sozial- und Wirtschaftsordnung, die einen Rückfall in ägyptische Verhältnisse mit erneuter Versklavung und Unterdrückung abwehren und die der Menschenwürde, insbesondere auch der arbeitenden Menschen, rechtlich und ökonomisch Gestalt geben wollte. Errungene Freiheit galt es zu bewahren. Deshalb hielt Israel Erfahrungen der Unterdrückung in Erinnerung und begründete die sozialen Schutzbe297 298 299 300 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 12. W. Dietrich, Der rote Faden im Alten Testament, 236. Zitiert im Nachwort von B. Klappert: A.Friedlander, Leo Baeck. Leben und Lehre (1973), München 1990, 305. B. Jacob, Das Buch Exodus, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Shlomo Mayer, Stuttgart 1997, 1061. - Benno Jacob (1862-1945) stand in der Tradition des deutschen Reformjudentums und mußte 1939 emigrieren. Der Exodus-Kommentarband wurde posthum ediert. 113 stimmungen immer wieder mit der Formel: “Denk daran: als du Sklave warst in Ägypten (...)” (Dtn 24,22; 15,15; Ex 22,20; 23,9; Lev 19,34.36 u.ö.). Was aber bedeutet diese Formel angesichts sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse? Einseitig wird aus der Erinnerung heraus Partei genommen für die Sklaven. Über die Sozialgesetzgebung des Deuteronomium sagt Frank Crüsemann deshalb mit vollem Recht: “Ge301 gen wen diese Gesetze stehen ist ebenso klar wie für wen sie stehen.” In der Hebräischen Bibel zeigt sich ein Durchbruch in der altorientalischen Rechtsgeschichte: Die Rechtssätze werden nicht durch die Königsmacht, sondern durch die göttliche Offenbarung begründet. Mit dieser Rechtsbegründung unterscheidet sich Israel von den Rechtsbegründungen Mesopotamiens. Nicht der König, sondern JHWH ist die Quelle des Rechts. Diese Rechtsbegründung führt zu einer immanenten Herrschaftskritik, denn auch der König untersteht dem Recht; gegen den König kann an das Recht JHWHs appelliert werden. Die Tora entzieht sich so einer politischen Funktionalisierung, das Recht der Tora kann der staatlichen Macht gegenübertreten. 4.1.3 Erinnerung an den Exodus und Gegenwartsweisung Die inneralttestamentliche Rezeptionsgeschichte ist ein kreativer, dynamisierender Umgang der Bibel mit ihrer eigenen Tradition: Wertentscheidende Normen durchziehen die biblische Überlieferung. In jeweils neuen sozialen und ökonomischen Situationen wird die eine Verpflichtung der Tora modernisiert. “Das judäische sich zum Ethos entwickelnde Recht fordert die permanente Solidarität des wirtschaftlich Starken mit dem 302 Schwächeren.” Frank Crüsemann spricht von einem “entscheidenden 303 Prinzip der Tora” : Es bestehe darin, daß Prinzipien die ausformulierten Regeln bestimmen. Es ist eine unbedingte und vorrangige Logik der Humanität, die Recht und Gerechtigkeit gegen andere Rationalitäten durchsetzen will. Die Tora wird in ihrem Kern von Grundprinzipien gelei304 tet, die als “Meta-Norm und kritische Instanz” oder Regulativ für alle Dynamisierungen und kreativen Anpassungen der Tora an veränderte Verhältnisse fungieren. Fortgeschrieben und aktualisiert wurde die Tora in der sog. “mündlichen Tora”, dem Talmud, der selbst einen quasikanonischen Rang erhält und Offenbarungsqualität beansprucht. Damit 301 302 303 304 F. Crüsemann, “...damit er dich segne...” (Dtn 14.29). Die Produktionsverhältnisse der späten Königszeit, dargestellt am Ostrakon von Mesad Hashavjahu, und die Sozialgesetzgebung des Deuteronomium, in: L. Schottroff, W. Schottroff (Hg.), Mitarbeiter der Schöpfung. Bibel und Arbeitswelt, München 1983, 95. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88. F. Crüsemann, Die Tora, 228. Ebd. 228. 114 die Festschreibung des göttlichen Willens nicht in Erstarrung führt, bedarf es einer Ergänzung durch weitergehende innovative Gottesrede. 305 “Der Kanon und die viva vox gehören zusammen.” Die Konzeption einer “mündlichen Tora” geht von einem Prozeß der Fortführung und Aktualisierung aus, in dem Gott durch Mose zu allen Generationen immer wieder spricht und gehört wird. Eine talmudische Legende bringt dieses dynamische Prinzip der Tora gut zum Ausdruck: Mose kommt in das Lehrhaus des Rabbi Akiba, setzt sich in die achte Reihe und - versteht 306 nichts. Das Urdatum biblischen Bewußtsein ist die Erfahrung der Befreiung aus Knechtschaft. Diese Erfahrung wird in immer neuen Aktualisierungen erinnert. Die geschichtliche Erfahrung wird zu einem normativen Anspruch, der auch spätere Generationen einbezieht. Der Mahnung “Denk daran, als du Sklave warst in Ägypten” (Dtn 24,22 u.ö.) entspricht die Begründung “denn der Herr hat euch gesagt, ihr sollt auf diesem Weg nie wieder zurückkehren” (Dtn 17,16; 6,12; 8,14f. u.ö.). Israel und Ägypten sind zwar geographisch Nachbarländer, zwischen denen zahlreiche politische, ökonomische und ideologische Verbindungen bestehen. “Auf der Landkarte der Erinnerung jedoch erscheinen Israel und Ägypten als zwei entgegengesetzte Welten . (...) Israel ist die Negation Ägyptens, und Ägypten steht für alles, was Israel überwunden und hinter sich gelassen 307 hat.” Die Erinnerung an Ägypten ist ein Akt fortwährender Distanzierung. An Ägypten zu erinnern bedeutet, zu wissen, was einmal war und nicht wieder eintreten darf. Nach dem Urteil der Bibel war Ägypten sehr wohl ein Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Num 16,13). Ägypten wird nicht angelastet, ein Land hoher Zivilisation, Kultur und des Wohlstandes zu sein. Ägypten ist eine Metapher, die aussagt, daß all dies auf Kosten der Schwachen und Rechtlosen geschieht. Die Tora enthält eine akkumulierte Erinnerung an diese unwürdigen Verhältnisse in Ägypten. Sie werden in einer produktiven Erinnerung wachgehalten, die Widerstand gegen solche Verhältnisse wie in Ägypten nähren und stützen kann. Die Erinnerung ist einerseits geschichtsbezogen, da sie sich auf ein einmaliges geschichtliches Ereignis des Exodus bezieht; andererseits aber ist sie auch gegenwarts-kritisch, indem sie die Gegenwart an einem Freiheitsprojekt mißt und so mit ihren Plausibilitätsstrukturen durchbricht. Außerhalb dessen, was die Gegenwart bestimmt, nimmt die Erinnerung 305 306 307 Ebd. 422. Mitgeteilt ohne Angaben ebd. 423. J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Wien 1998, 24. Assmann wendet sich gegen die mosaische Unterscheidung Israel/Wahrheit und Ägypten/Unwahrheit. Diese Typologie habe Ägypten zu einem Land der Despotie, der Idolatrie und der Tierverehrung gemacht (J. Assmann, Moses der Ägypter, 29f.; 281f.). 115 einen kritischen Standpunkt ein, der in jeweils verschiedenen Situationen das Interesse an Freiheit in der Gestalt von Recht realisieren will. Immer wieder wird an den Entstehungs- und Lernprozeß von Freiheit und Würde erinnert, die aufs Spiel gesetzt würden, wenn sie dem Vergessen anheimfallen würden. Ohne die Vergegenwärtigung durch die Erinnerung kann errungene Freiheit wieder verlorengehen. Das Exodusereignis zeigt, daß sich Freiheit und Gerechtigkeit keineswegs ausschließen. Aus der Erfahrung von Ungerechtigkeit wird ein Prozeß angestoßen, der errungene Freiheit sichern will. 4.1.4 Exodusdenken und Exoduspolitik Der Auszug der Hebräer aus dem “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) ist ein Paradigma von bleibender Bedeutung. “Du bist es, der aus Ägypten ausgezogen ist! Nicht nur unsere Vorfahren hat Er befreit, sondern auch uns zugleich mit ihnen hat Er befreit,” so heißt es in der jüdischen Haggada, der jüdischen Passahzeremonie bis zum heutigen Tag. Jüdische Theologie hat den Exodus nie als Ausgangspunkt nur der jüdischen Heilsgeschichte gewertet, sondern ihm eine universelle Bedeutung als Wendepunkt in der Weltgeschichte gegeben. “Nicht nur Israel zog aus Ägypten”, sagen die Rabbinen in der Auslegung von Ex 12,38, sondern 308 mit ihnen zog die ganze Menschheit aus dem Haus der Knechtschaft. Die Erinnerung an den Exodus wurde zur Weisung für die Gestaltung der Gegenwart. Diese Weisung war nicht ein für allemal in ihrer Ausgestaltung in überzeitlichen Gesetzen oder Regulierungen verbindlich. Was verbindlich war, war der Grundimpuls, die leitende Grundnorm: Freiheit für die Sklaven der Arbeitswelt zu bewahren. Deshalb wurde auch durch die Geschichte Israels dieses Grundanliegen immer wieder in neue Formen gebracht. In allen Dynamisierungen blieb Israel diesem Grundimpuls treu. Das Neue Testament setzt die Hebräische Bibel voraus, findet in ihr seine Grundlage und ist besonders dort, wo sozialethische Themen behandelt werden, im Horizont einer dynamisierenden Auslegung der Tora zu lesen. Eine theologische Wirtschaftsethik findet deshalb nur in dieser “Einheit von Geschichtserinnerung und Gegenwartsanweisung, von Geschichts309 vergegenwärtigung und geschichtlicher Normenverankerung” ihren Ort, wenn sie eine biblisch grundgelegte Wirtschaftsethik sein will. “Die schöpferische und vielfältige Wiederholung des Exodusmotivs innerhalb der Bibel zeigt die Vorrangigkeit des Sinnes des Exodus gegenüber dem 308 309 Zit. in P. Lapide, Exodus in der jüdischen Tradition, in: Concilium 23 (1987) 30. F. Crüsemann, Die Tora, 329. 116 Exodusereignis selbst, eine Vorrangigkeit, die ihrerseits für uns zur Inter310 pretationsnorm wird.” Aus der biblischen Erinnerung fragt deshalb eine theologische Ethik nach den Opfern und Verlierern der real existierenden Gesellschaft. Wenn sie so argumentiert, nimmt sie das biblische Exodusmotiv auf, das auch die Tora begründet. Seit dem Exodusereignis entfaltet die biblische Tradition dieses Grundmotiv in unterschiedlicher Gestalt, sein verpflichtender Kern aber bleibt: den sozial und ökonomisch Schwachen Recht und Gerechtigkeit schaffen. Der biblische Glaube äußert sich als eine freiheits- und gerechtigkeitsstiftende Praxis. Der wirtschaftsethisch relevante Kern der Tora läßt sich so beschreiben: “Gegen die wirtschaftlichen Zwänge eine neue Solidarität zu wecken, den Rechtsanspruch der sozial Schwachen zu schützen und damit 311 einer besseren Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen.” Es kommt also darauf an, diese Tora-Grundlinie der Bibel für eine theologischwirtschaftsethische Reflexion aufzunehmen. Die Tora hat selber den Anspruch erhoben, einen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten Ordnung der Ökonomie zu leisten. In ihrer Zeit und für ihre Situation sprechen die biblischen Texte normative Forderungen aus, indem sie Gerechtigkeit fordernde Weisungen auch für Fragen der Ökonomie formulieren. Verbindlich können diese kontextuellen normativen Forderungen nicht in ihrer konkreten Ausformung sein. Es kann nicht darum gehen, die Ausformulierung einer Ethik aus der Zeit der Vormoderne für eine Zeit verbindlich zu machen, die sich selber als Postmoderne definiert. Verbindlich bleiben allerdings der sozialethische Kern und die Perspektiven, die in diesen normativen Forderungen enthalten sind, nicht aber die ausformulierten sozialen Normen selbst. Was macht deren Kern aus, der sozialethisch relevant ist? Eine unbedingte Logik der Humanität, oder anders gesagt: die Ausrichtung auf den, der ökonomisch, sozial, rechtlich oder politisch an den Rand gedrängt wird, macht den bleibenden Kern der Tora in allen Dynamisierungen im Laufe der Zeit aus. Frank Crüsemann sagt deshalb zu Recht über die Wirtschaftsethik der Tora: “Die Gesetze Gottes durchbrechen die ökonomischen Gesetze da, wo sie zu 312 Ausbeutung und Abhängigkeit führen.” Dies macht den bleibenden Kern aus, veränderlich sind allerdings die zeitabhängigen ökonomischen Prozesse, die zu Abhängigkeit führen. Die Dominanz des Ökonomischen wird zugunsten des Lebensrechts aller, besonders der Armen, gebrochen. Nicht anders Arthur Rich, der in seiner Wirtschaftsethik von dem 310 311 312 J. S. Croatto, Die soziohistorische und hermeneutische Bedeutung des Exodus, in: Conc 23 (1987) 84. R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu Themen des konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 19. F. Crüsemann, Die Tora, 219. 117 Ansatz ausgeht, daß Wirtschaftsethik bei aller Sachbezogenheit “beharrlich und unerbittlich nach dem Menschengerechten im Sachgemäßen zu 313 fragen” habe. Über das, was das Menschengerechte sein könnte, existieren allerdings unterschiedliche Auffassungen. Im Streit der divergierenden Auffassungen über das Menschengerechte kann die Tora ihre Sicht einbringen und definieren, was die Wertkategorie menschengerecht nach ihrem Verständnis ausmacht. Die Spezifität der theologischen Wirtschaftsethik besteht also darin, das Menschengerechte zur Sprache zu bringen. Wirtschaftsethik wird nach Arthur Rich aber noch einen zweiten Schritt vornehmen müssen, nämlich “das Sachgemäße an das Men314 schengerechte” zu binden. Auch die Tora hatte die ökonomischen Gesetze immer von der Logik des Menschengerechten her betrachtet und reguliert. Michael Walzer hat auf den wirkungsgeschichtlichen Aspekt der Toratradition hingewiesen. Er versteht das biblische Exodusmotiv als ein treibendes Moment der europäischen Geschichte. Exodus meint mehr als die Wiedergabe eines historischen Ereignisses. Wenn es etwas gebe, was die europäische Geschichte kennzeichne, so sei es dieses: “Der Exodus ist eine buchstäbliche Bewegung, ein Vorrücken durch Raum und Zeit, die ursprüngliche Form (oder Formel) der fortschrittlichen 315 Zeit.” So läßt sich die Geschichte Europas auch lesen als eine Geschichte von Männern und Frauen, die den biblischen Text in Zusammenschau mit ihren eigenen Erfahrungen gelesen haben. Das erste und exemplarische Befreiungsereignis, das den Gott der Bibel offenbart, ist eine Befreiung aus unterdrückerischen ökonomischen und politischen Verhältnissen. Seitdem hebräische Sklaven aus ägyptischen Verhältnissen freigekommen sind, durchzieht die jüdisch-christliche Geschichte ein treibendes Moment, das auch in säkularer Form weiterlebt. Der Exodus hat eine bis in die Gegenwart hineinreichende Erinnerungsspur hinterlassen. Michael Walzer erkennt im christlich-jüdischen Umgang mit der Ge316 schichte ein “Exodus-Denken”. Ägyptische Verhältnisse werden nicht einfach zurückgelassen. Sie werden abgelehnt und moralisch gerichtet. Da nicht Resignation, sondern Hoffnung auf Veränderung aus der ethischen Bewertung folgt, wird der Exodus zu einer nach vorn gerichteten Bewegung. “Er ist ein Marsch auf ein Ziel zu, ein moralischer Fortschritt, 317 eine tiefgreifende Verwandlung.” Es gibt einen besseren Ort, eine gerechtere Gesellschaft; wo man lebt, hat man es mit Ägypten zu tun. Die313 314 315 316 317 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 73. Ebd. 73. M. Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988, 24f. Ebd. 142. Ebd. 21. 118 ser Impuls setzt eine Vorwärtsbewegung in Gang. Der Impuls ist komparativisch; er drängt auf mehr Humanität, mehr Gerechtigkeit, größere Freiheitsrechte. Der jeweilige Kampf um mehr Humanität und Gerechtigkeit ist nur die Variation; die ursprüngliche Version ist der Exodus aus Ägypten. Diese komparativische Ethik setzt Impulse der beharrlichen, kontinuierlichen Arbeit an der Veränderung frei, eben eine “Exodus318 Politik” . Das Christentum versteht sich als Teil dieser Erinnerungsbewegung. Eine theologische Ethik, die biblisch fundiert ist, versucht An319 schluß an den Anfangsimpuls der Tora zu finden. Ägypten ist eine Hochkultur. Doch die Bibel nimmt dieses Land mit seinen beachtlichen ökonomischen und kulturellen Leistungen, “wo Milch und Honig fließen” (Num 16,13), als eine Zivilisation wahr, die auf Unterdrückung und Zwangsarbeit basiert (vgl. Ex 1,14f.). Diese Deutungskategorie führt auf das Feld der Wirtschaftsethik, denn sie achtet nicht nur abstrakt auf ökonomische Effizienz, sondern stellt die ethische Frage: Effizient für wen und für wen nicht? Wer profitiert? Wer ist Verlierer? Diese Grundfragen verdanken sich der Erinnerung an den Exodus. Der biblische Exodus ist als eine Geschichte der Gegenwart zu lesen. Vom “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) in ein Land zu entkommen, in dem die ehedem Zukurzgekommenen menschenwürdig leben können, ist eine Bewegung, die sich in historischer Zeit abspielt und mit beharrlicher Arbeit zu tun hat. Dieser christlich-jüdische Impuls lebt auch in säkularer Form fort. Geschichtliche Träger dieses Impulses sind soziale Bewegungen. Eine theologische Wirtschaftsethik wird sich deshalb den argumentativen und methodischen Ansatz der von Friedhelm Hengsbach vorgelegten “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” aus historischen, sozialethischen und theologischen Gründen zu eigen machen können. Sie entspricht in ihrem sozialethischen Ansatz der gleichen Bewegung, die mit dem Exodus theologisch reflektiert wird. Geschichte wird als ein Prozeß verstanden, in dem Verantwortung wahrgenommen wird. Die Betroffenen 318 319 Ebd. 141 - 157. Der israelische Staatspräsident Ezer Weizman hat aus der Geschichtserinnerung die Gegenwart gelesen und sich selber als Teil einer Geschichtstardition verstanden, als er in “Ich-Form” in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte: “Ich war Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berge Sinai, mit Josua und Elijah überschritt ich den Jordan ... Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden ... und ich habe im Warschauer Aufstand gekämpft. ... Und wie von uns verlangt wird, kraft der Erinnerung an jedem Tag und jedem Ereignis unserer Vergangenheit teilzunehmen, so wird auch von uns verlangt, kraft der Hoffnung uns auf jeden einzelnen Tag unserer Zukunft vorzubereiten. ... Wir sind ein Volk der Erinnerung und des Gebets. Wir sind ein Volk der Worte und der Hoffnungen. Wir haben keine Reiche geschaffen, keine Schlösser und Paläste gebaut. Nur Worte haben wir aneinander gefügt. Wir haben Schichten von Ideen aufeinandergelegt, Häuser der Erinnerung errichtet und Türme der Sehnsucht gebaut.” E. Weizman, Mit dem Rucksack der Erinnerungen und dem Stab meiner Hoffnung, in: FR Nr. 14 vom 17.1.1996, 14. 119 sind die Subjekte, die zu einem Handeln ermutigt werden, das zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit führt. Aus der Erfahrung von vorenthaltener Würde und Gerechtigkeit entwickelt sich ein Handeln. Ethik reflektiert dieses Handeln und ist deshalb gegenüber der Praxis ein zweiter Akt. Warum hat die Ethik der Tora die Gestalt des Rechts angenommen? “Exodus-Denken” wird durch Rechtspositionen und Rechtsansprüche erst zu einer “Exodus-Politik”. Die enge Verbindung von Recht und Ethos spiegelt die Erfahrung, daß Überzeugungen und ethische Positionen allein den Armen und Bedrängten nicht den Schutz geben können, den sie brauchen. Was in der neuzeitlichen Moderne mit dem Begriff des Menschenrechts artikuliert wird, ist der Sache nach gemeint. Hannah Arendt 320 hat das “Recht, ein Recht zu haben” , ein primäres menschliches Grundrecht genannt. Die Rechtsansprüche des Armen werden zu einem elementaren Recht, das der Arme nicht menschlicher Rechtssatzung verdankt. “Die rechtschaffende Treue JHWHs bildet die Grundlage für 321 die rechtliche Ordnung des Zusammenlebens im Volk Israel.” Der Schutz der Armen wird zu einem zentralen Element der biblischen Gesetze der Tora. “Indem das Erbarmen zum Inhalt des Gesetzes wird, soll es dem beliebigen, dem nur zufälligen und neigungsgelenkten Verhalten der Individuen, der Stimmungs- und Situationsabhängigkeit entzogen 322 werden.” Der Aufgabe des biblischen Gesetzes in der Tora entspricht die Option für die Armen. Auf diese achtet die Tora und ihnen will sie reale Freiheitsrechte einräumen. “Indem das Gesetz einen strengen Funktionszusammenhang von Recht, Kult und Erbarmen betreffenden Bestimmungen darstellt, macht es deutlich, daß das Recht ohne routinisierten Schutz der Schwächeren (...) den großen Namen „Gerech323 tigkeit‟ nicht verdient.” 4.2 Tora-Ökonomie Methodisch wird eine theologische Wirtschaftsethik, die sich an den Einsichten und Kategorien der Bibel orientiert, in zwei Schritten vorgehen müssen. In einem ersten Schritt ist die Frage zu stellen: Wie beantwortet die Tora die ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen)? In diesem und in Abschnitt 6 “Ansätze zu einer bibeltheologischen Begründung von Wirtschaftsethik” werden deshalb die Antworten der Tora auf die ökonomischen Grundfragen erarbeitet. In einem zweiten Schritt wird eine biblisch fundierte theologische Wirtschaftsethik, wenn sie einen konstrukti320 321 322 323 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3. Aufl. München 1993, 452. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 131. M. Welker, Gesetz und Geist, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 4, “Gesetz” als Thema Biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1989, 220. M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 111. 120 ven Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten und sachgemäßen Ordnung der Wirtschaft leisten will, die Beantwortung der ökonomischen Grundfragen durch die Tora kritisch mit den Wirtschaftsfragen der Gegenwart zu verbinden haben. Dies will ich in Abschnitt 9 “Wirtschaftsethische Impulse” entfalten. Die Frage, ob und wie sich Folgerungen aus dem Umgang der Tora mit der Ökonomie ihrer Zeit für die Gegenwart gewinnen lassen, ist nichts grundlegend Neues: Sie hat die Geschichte des Judentums bis in die neutestamentliche Zeit und darüber hinaus begleitet. Der vorgeschlagene Weg zur Begründung einer biblisch fundierten Wirtschaftsethik entspricht also im Grunde dem Weg der innerbiblischen Hermeneutik der kreativen, dynamischen Aneignung der Tora, die sich immer schon in einer Selektion, Fortführung und Weiterbildung der schriftlichen Sinaitradition vollzog. Clodovis Boff hat diese Hermeneutik als eine Dia324 lektik der “lebendigen Erinnerung und der schöpferischen Treue” gegenüber biblischer Tradition und gegenwärtigen Herausforderungen bezeichnet. Diesem Argumentationsweg folgt auch die Studie des Ökumenischen Rates der Kirchen, wenn sie die Frage nach den ökonomischen Grundfragen so aufnimmt: “Wenn wir die „ökonomischen‟ Vorschriften des Alten Bundes lesen, wird deutlich, daß diese heute nicht mehr wörtlich angewendet werden können. Aber man kann durchaus die Grundsätze befolgen, die ihnen zugrunde liegen. Jedes ökonomische System, sei es alt oder neu, ist voll von Geboten und Verboten, sonst könnte es die materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft nicht befriedigen. Die Frage 325 ist, welche Grundsätze angewendet werden und wem gedient wird.” Mit der Tora ist jedes Wirtschaftssystem zu befragen: Welche Grundsätze gelten? Wem nützen sie, und wem schaden sie? Die Studie des ÖRK formuliert als Richtlinie: “Jede wirtschaftspolitische Maßnahme und jedes Wirtschaftssystem muß daher unter dem Gesichtspunkt geprüft 326 werden, wie sie bzw. es auf die Situation der Armen sich auswirkt.” Das ist das wirtschaftsethische Kriterium, das den kategorischen Imperativ der Tora aufnimmt, zugleich aber auch einem kreativen und dynamisierenden Umgang mit der biblischen Tradition verpflichtet ist. 4.2.1 Unterscheidung der Ökonomien: Haushaltsökonomie oder Kapitalerwerbswesen 324 325 326 C. Boff, Theologie und Praxis, 353. ÖRK, Erklärung zum Wirtschaftsleben, in: epd-Dokumentation Nr. 45/1991, 18. ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft, 20. 121 Die Römer nannten das Mittelmeer mare nostrum, unser Meer. Das Meer verband die antiken Kulturen Griechenlands, Roms, Ägyptens und des Nahen Osten. Vielfältige Beziehungen gab es zwischen den Kulturen dieses Mittelmeergürtels. Gemeinsam hatten sie ziemlich einheitliche klimatische Bedingungen mit Regen im Winter und langen Trockenperioden im Sommer. Die Landwirtschaft beruhte nicht auf einem Bewässerungssystem wie im antiken Vorderasien. Nicht allein Ägypten und Mesopotamien, auch Griechenland gehört zum Umfeld Israels. Griechenland und Palästina waren Agrargesellschaften. Ganz anders als die ägyptischen und babylonischen Kulturen an den großen Strömen Nil, Tigris und Euphrat hatten Palästina und Griechenland vergleichbare klimatische, geophysikalische und geographische Bedingungen für die Agrarproduktion. Die agrargesellschaftliche Basis Palästinas und Griechenlands verdankt sich nämlich nicht der Lebensader großer Flüsse. Kulturen und Gesellschaften, die von einem großen Strom abhängen, entwickeln entsprechende soziale und politische Strukturen, die das Bewässerungssystem organisieren. Auch wenn es fruchtbare Landstriche in Griechenland und Palästina gab, so mußten doch auch dem gebirgigen und steinigen Land Agrarerzeugnisse abgerungen werden. Das Bergland mußte mühsam terrassiert werden. Das Haus bildete die ökonomische und soziale Grundeinheit. Das Haus, griechisch oikos/oikía, hebräisch bajit, bezeichnet nicht nur eine Sozial- und Wirtschaftsform unter anderen, sondern die grundlegende, elementare Wirtschaftsform schlechthin nicht nur in der Antike und der Kultur des Mittelmeerraumes, sondern vermutlich aller vorindustriellen 327 Kulturen, die sich bis in unsere Zeit erhalten hat. Aristoteles (384-322 328 v.Chr.) hat in seiner Schrift Politik / Politika eine umfassende ökonomische Theorie des Hauses zu der Frage entwickelt, wie Produktion, Distribution und Konsum im Haus geregelt werden sollen. Aristoteles reflektiert also die ökonomischen und sozialen Bedingungen einer Ökonomie des Hauses. Seine Reflexionen gehören mithin systematisch in den Bereich der Ethik. Wie die Hauswirtschaft organisiert werden soll, ist eine Fragestellung, die nicht allein Aristoteles behandelt, auch die Tora tut 329 es. Während allerdings die ökonomische Konzeption des Aristoteles 327 328 329 D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, New Test. Stud. NTS 27 (1981) 87. Ich danke D. Lührmann für den Hinweis, daß es nicht nur Bezüge zwischen dem hebräischen bajit und der griechisch-hellenistischen oíkos-Ökonomie gibt, sondern auch zwischen neutestamentlichen Traditionen und der antiken Ökonomie.. Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. von F.F. Schwarz, Stuttgart 1989. Auch andere antike Autoren haben sich mit der ökonomischen Theorie beschäftigt. D. Lührmann verweist auf Xenophon, PsAristoteles Oeconomica I sowie Philodemus von Gadara: D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 85f. Siehe auch: H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 23-35. 122 über die Hauswirtschaft in einer theoretischen und ausgearbeiteten Abhandlung vorliegt, gibt es in den biblischen Schriften kaum systematische oder theoretische Ausführungen, sehr wohl aber im Wirtschafts- und Sozialrecht der Tora praktische Anweisungen zu gerechtem Wirtschaften im Haus. Der Begriff Ökonomie ist griechischen Ursprungs und besteht aus den beiden Begriffen oikos (die häusliche, gemeinschaftliche Produktionseinheit) und der Wurzel nem-/nómos (regeln, verwalten, organisieren/das 330 gerechte Gesetz). Oíkos benennt also den Ort, an dem produziert wird; nómos gibt Auskunft darüber, wie produziert wird. Ökonomie (oíkonomía) hat also von der ursprünglichen Wortbedeutung her mit der Verteilung der produzierten Güter nach dem Maßstab der Gerechtigkeit zu tun. Ökonomie hat es also von seiner sprachlichen Ursprungsbedeutung her mit der Sorge um Produktion und Konsum in der ökonomischen 331 und sozialen Grundeinheit “Haus” zu tun. Aristoteles hat in seiner Schrift Politik unterschiedliche ökonomische Ordnungskonzeptionen analysiert. Er unterscheidet zwei Arten von Ökonomie: die Hausverwaltungskunde (oikonomiké) und das Kapital332 erwerbswesen (chremastiké). Die Erwerbskunst “im Einklang mit der 333 Natur” als Teil der Hausverwaltungskunst (oikonomiké) dient der Selbstversorgung und tauscht die Überschüsse aus; diese hat es in erster Linie mit der Beschaffung derjenigen Güter zu tun, die zum Leben in Haus und Staat nützlich, notwendig und unverzichtbar sind. Die Kapitalerwerbskunst (chremastiké) hingegen, die nach Aristoteles “am meisten 334 der Natur zuwiderläuft” , ist jene Erwerbswirtschaft, die kommerziellen Interessen dient, auf Geld- und Handelsgewinn abzielt und das Zinswe335 sen kennt. Aristoteles unterscheidet beide Arten der Ökonomie so: “Doch gibt es noch eine weitere Art von Erwerbskunst, die man ganz besonders, und das zu Recht, das Kapitalerwerb(s)wesen nennt, der zufolge es keine Grenze für Reichtum und Besitz zu geben scheint. Viele vertreten die Ansicht, dieses sei ein und dasselbe mit der vorhin genannten Kunst, und zwar wegen der Nachbarschaft zu ihr. Dies ist aber weder ein 330 331 332 333 334 335 So M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1993, 9; vgl. auch unten Abschnitt 9.5. K. Raiser entfaltet in seinem Buch Ökumene im Übergang einen Zusammenhang von Ökumene und Ökonomie mit einem neuen Paradigma des Haushalts (K.Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung? München 1989, 125ff.). Aristoteles, Politik, A 8 p.1256 a 1. Aristoteles, Politik, A 8 p.1256 b 27. Aristoteles, Politik, A 10 p.1258 b 7. Das Widernatürliche dieser Ökonomie zeigt sich nach Aristoteles im Geldgewinngeschäft und im Zinswesen, wie schon das griechischen Wort für Zins (tókos) sprachlich ausdrückt: tókos meint junges Kleinvieh. Das Geborene wird zum Gebärenden, wenn aus Geld neues Geld erzeugt wird. Aristoteles, Politik, A 10 p.1258 b 7. 123 und dasselbe mit der eben angesprochennoch allzu weit von ihr fern. Die Erwerbskunst nämlich gibt es von Natur aus, das ist aber nicht beim Kapitalerwerb(s)wesen der Fall, dazu kommt es vielmehr kraft einer gewis336 sen Erfahrung und Fertigkeit.” In der Hausverwaltungswirtschaft dient der “naturgemäße” Gebrauch der Güter dem guten Leben und kennt ein Maß der Güter, während im Kapitalerwerbswesen der “naturwidrige” Gebrauch und Besitz der Güter auf den Tausch zu Erwerb- und Gewinnzwecken zielt. Das Ziel der Hausverwaltungsökonomie ist die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse. Anders das Kapitalerwerbswesen / Chrematistik, für die “es 337 keine Grenze für Reichtum und Besitz zu geben scheint.” Aristoteles kritisiert nicht den Gelderwerb als solchen oder als Bestandteil der HausÖkonomie, sondern lehnt ihn nur als einen “naturwidrigen” Weg ab, als er zu einem Selbstzweck wird, auf den hin alles ausgerichtet sei. Ziel sei hier die Vermehrung oder gar die Selbstvermehrung von Geld (durch Zinsen). “Darum scheint das Kapitalerwerb(s)wesen sich zumeist auf das Geld zu konzentrieren, und seine Aufgabe scheint darin zu liegen, beobachten zu können, woher eine Menge Geldmittel zu beziehen sei; es scheint nämlich die Kunst zu sein, die Reichtum schaffe und somit 338 Geld.” Aus nützlichen und lebensnotwendigen Gütern in der Hausverwaltungswirtschaft werden in der Kapitalerwerbswirtschaft Güter, die allein dem Zweck der Geldvermehrung dienen. Dieses Ziel treibt die Ökonomie zur Mehrproduktion an. Es entsteht eine völlig neue Art Ökonomie: die Kunst des Gelderwerbs. Der Übergang von der Hausverwaltungsökonomie zur Bereicherungsökonomie (Kapitalerwerbswesen) ist die 339 Umwandlung von lebensdienlichen Gütern in Waren. In einer Formel lassen sich diese Prozesse der beiden Ökonomien so darstellen: 1. Hausverwaltungskunst im Einklang mit der Natur: 336 337 338 339 Aristoteles, Politik, A 9 p.1256 a 40 - A 9 p. 1257 a 4. Aristoteles, Politik, A 9 p.1256 b 40. Aristoteles, Politik, A 9 p.1257 a 5-6. Hans Chr. Binswanger kommentiert diese Einsicht in ihrer Bedeutung für ein Urteil über heutiges Wirtschaften: “Wer die Antriebskräfte der modernen Wirtschaft - ihre „kapitalistische‟ Motivation - verstehen will, muß gemäß Aristoteles das Geld und das Geldstreben als richtungsweisende Größe einbeziehen.” H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 28. Bereits in ihren Ursprüngen ging es also, wie Aristoteles aufzeigt, um Alternativen zu einer reinen Marktwirtschaft.Vgl. auch U. Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft, 19-53. G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, in: Moral als Kapital. Perspektiven des Dialogs zwischen Wirtschaft und Ethik, Kath. Akademie Stuttgart, Stuttgart 1990, 226. 124 Gebrauchsgut (1) - Gebrauchsgut (2) - Gebrauchsgut (3) Ziel ist die Erstellung von Gebrauchsgütern. Aus dem Gebrauchsgut (2) wird im Zuge der Ausweitung des Handels Geld. 2. Kapitalerwerbswesen gegen die Natur gerichtet: Gebrauchsgut (1) - Geld durch Handel mit Gebrauchsgütern (2) - Geld (3) Aus dem Gebrauchsgut, das zur Lebensführung nötig ist, wird Geld, das sich selbst zum Zweck werden kann, weil es aus der Beziehung zur Lebensführung herausgelöst werden kann. Ziel ist Erwerb von Geld. Die aristotelische Unterscheidung zwischen einer “naturwidrigen” und “naturgemäßen” Erwerbswirtschaft läßt sich mit folgendem Schema verdeutlichen: Wirtschaftliches Handeln: Hausverwaltungskunst (oikonomiké) Kapitalerwerbswesen (chremastiké) Zweck/Ziel: Verwendung von nützlichen und notwendigen Gütern Erwerb und Vermehrung von Gütern, Waren und Geld Qualifizierung: naturgemäßer Erwerb von Gütern naturwidriger Erwerb durch Geld- und Handelsgewinn und Zinsen Kriterium: Gebrauch der Güter für ein gutes Leben Besitz und Handel mit dem Ziel der Geldvermehrung 4.2.2 Die Politische Ökonomie der Tora: Das Haus Israel Wirtschaftliche Grundlage bildet die Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht. Das Handwerk ist Teil der Hauswirtschaft (vgl. Gen 4,22). Die Ökonomie des Hauses (oikos/bajit) beruht auf dem Ideal einer möglichst großen Autarkie. Grundlage ist die gemeinsame Erwirtschaftung der Lebensgrundlagen. Handel und Tausch spielen eine nur geringen Rolle. 125 Von dieser Grundlage her entwickelt sich der Ökonomiebegriff: Ökonomie ist nicht die Lehre von der optimalen Gewinnerwirtschaftung, sondern die Anleitung zur Führung eines Hauses als sozialer und wirtschaftlicher Einheit. Unter “Haus” wird also nicht nur das Gebäude verstanden, sondern der Personenverband aller im Hause lebenden Menschen, der patriarchalisch ausgerichtet und dominiert ist. Charakteristisch für den oikos ist, daß hier Produktion und Konsum noch eine Einheit bilden und nicht auf getrennte soziale Bereiche verteilt sind. Nach biblischer Vorstellung bestand die Familie aus dem Mann mit seinem Haus, der Hausfrau, den Kindern, den Sklaven oder Knechte. und den Feldern (vgl. Mi 2,2). Das Sabbatgebot im Dekalog zählt die ganze Hausgemeinschaft auf und zeigt, daß diese Gemeinschaft auch eine Produktionsgemeinschaft ist: Sie umfaßt Hausherr, Sohn, Tochter, Sklave, Sklavin, Rind, Esel, die Fremden, das ganze Vieh (Dtn 5,14). An dieser Stelle wird die patriarchale Struktur des Hauses deutlich: Wohl werden Tochter und Sklavin, nicht aber die Hausherrin erwähnt. Die Ökonomie des Hauses umfaßt drei grundlegende Beziehungen: Mann - Frau, Vater (Eltern) - Kinder, Herr - Abhängige. Das 340 Recht des Hausvaters erstreckt sich auf alle Hausgenossen. Kein Angehöriger des Hausverbandes erwirbt etwas für sich, sondern immer für das Haus, genauer: für den Herrn des Hauses, der die Verteilung vornimmt. Der Herr des Hauses kontrolliert deshalb den Besitz des Hauses und übt über die abhängig Arbeitenden Herrschaft aus, ohne zwischen wirtschaftlichen, individuellen und sozialen Belangen zu unterscheiden. Adressaten der Weisungen in der Tora sind zunächst die erwachsenen Männer, die rechts- und kultfähig sind, über Land- und Viehbesitz verfügen, die Sklaven besitzen. Angesprochen sind also die Besitzenden, aber auch die Frauen, Sklaven und Sklavinnen, Tagelöhner u.a. (vgl. Neh 8,2f.), letztlich das Volk, Arme und Reiche, Bedrücker und Unter341 drückte. 4.2.2.1 Ökonomische Grundeinheit: Das Haus 340 341 An dieser Stelle muß auf den unterdrückerischen Charakter der oíkos-Ökonomie bei Aristoteles und in der griechisch-römischen antike hingewiesen werden. Der Freiheit und Verfügungsmacht des Mannes, der Besitzer des Hauses, Ehemann und Vater war, entsprach die Unfreiheit und Abhängigfkeit aller anderen Mitglieder des Hauses. Der griechisch-römischen Konzeption der oíkos-Ökonomie ist Unterordnung und Beherrschung immanent. Wo die oíkos-Ökonomie nach der griechisch-römischen Konzeption von jener der Tora sich unterscheidet, wird im weitereren Verlauf ausgeführt. So F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 28-35. 126 Zwischen Griechenland und Palästina bestanden zahlreiche ökonomische Verbindungen und gedankliche Einflüsse. Rainer Kessler verweist auf den biblischen Propheten Amos und den griechischen Philosophen Hesiod, bei denen “nicht nur im Inhalt ihrer Sozialkritik, sondern auch im Kriterium, der Forderung nach Recht und Gerechtigkeit, engste Überein342 stimmungen bestehen.” Auch in den ökonomischen Vorstellungen des Aristoteles und der Tora bestehen zahreiche Übereinstimmungen und Bezüge. Aristoteles hatte auf dem Boden der antiken Polis eine Konzeption des Hauses als eine Wirtschafts- und Lebenseinheit entwickelt. M. 343 Douglas Meeks zeigt in seinem Buch God the Economist überzeugend, daß nicht nur Aristoteles von Ökonomie als Haushalt/oikonomia spricht, sondern auch die Hebräischen Bibel. Bajit = Haus bezeichnet nicht nur das Hausgebäude, sondern immer eine strukturierte, organisierte Größe oder soziologische Einheit. Die Grundbedeutung bajit = Haus wird auf die im Hause lebende Gemeinschaft erweitert; ganze Volksgemeinschaften wie “Haus Jakob” (Ex 19,3), Königsdynastien, wie zum Beispiel “Haus David” (Jes 7,2.13 u.ö.) oder ein politischer Herrschaftsbereich wie das “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) werden als bajit bezeichnet. “Haus” steht für Israel und seinen Lebensraum (Hos 8,1; 9,8; Jer 12,7; Sach 9,8). Sogar die ganze Schöpfung wird “Haus” ge344 nannt (Ps 36,9). Die Tora hat den Begriff oikos aus ihrer Umwelt übernommen und das hebräische Wort bajit mit einer klaren theologischen Aussageabsicht ge345 füllt. Die biblische Ökonomie bezieht sich auf die soziale und ökonomische Grundstruktur des Hauses, das Teil des größeren Hauses, der Schöpfung, ist. Die Hausgenossen haben den Boden zu bearbeiten, für die Viehhaltung und die Versorgung aller, die im Hausverband leben, zu sorgen. Dabei geht die Tora-Ökonomie von dem Ansatz aus, daß diese Schöpfung Gottes produktiv ist und der Mensch diese vorgegebene Produktivität verwalten und organisieren muß. Deshalb hat der Mensch einen treuhänderischen Auftrag: “Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner” (Ps 24,1). Die rabbinische Exegese hat an dieser Stelle das Wort oikonomos verwendet und erklärt: “Gott ist der Herr des Hauses, weil die ganze Erde sein Eigentum ist, und 342 343 344 345 R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft, 426. Zu den Verbindungen zwischen Griechenland und Palästina vgl. die Hinweise in: W. Nethöfel, Theologische Hermeneutik, 62, Anm. 3. M.D. Meeks, God the economist. The doctrine of God and political economy, Minneapolis 1993. E. Jenni, Art. bajit=Haus, in: THAT, Bd. I., 4. durchgeseh. Aufl. München , Zürich 1984, Sp. 311f. M.D. Meeks, God the economist, 33. Anm. 12. 127 346 Mose ist sein oikonomos.” Mose ist der Ökonom und steht für die Tora, welche Weisungen für den rechten Umgang im Haushalt Gottes geben will. Die Tora ist eine Hausordnung zum Schutz des Lebens im 347 Haushalt Gottes. “Der Haushalt steht im Zentrum der meisten israelitischen Definitionen von Gemeinschaft. Oikos ist eine wesentliche Art und Weise, von Gottes Bundesverpflichtung gegenüber Israel zu sprechen (Ex 19,4-5). Gott hat Israel aus allen Stämmen zu einem Haushalt gemacht und wird daher als ein Begründer oder Leiter des Haushalts angesehen. Gottes Zorn läßt es mit treulosen „Haushalten‟ bergab gehen und 348 baut den treuen Haushalt auf (Jer 31,28; 33,7; Am 9,11).” Wenn vom Haus die Rede ist, dann werden zahlreiche Bezüge für ein Verständnis von Ökonomie, in dem soziale, politische, ökologische, ökonomische und auch theologische Aspekte miteinander verknüpft sind, zur Sprache gebracht. “Gott einen Ökonomen zu nennen bedeutet, daß der Gott Israels und der Gott Jesu grundsätzlich an dem zu erkennen ist, was Gott in bezug auf den Aufbau und die Führung eines Haushaltes 349 tut.” Oikos ist der Ort, an dem Gott und Ökonomie in Beziehung zueinander treten. Die Bibel kennt viele Bilder, in denen sie von Gott spricht: Fels, Hirte, König. Wenn die Bibel von einem Gott spricht, der Leben bewahrt und errettet, dann zeigen sich in diesem Bild Aspekte eines Verständnisses von Gott als einem Ökonomen. Die biblischen Namen für Gott beschreiben narrativ die Beziehung Gottes zu den Menschen und seiner Schöpfung. Gott zeigt sich als ein Ökonom, der für den oikos sorgt: Er hat die Schöpfung reichlich mit Gütern ausgestattet und gibt eine Hausordnung für den gerechten Umgang mit diesen Gütern. “Mitten im alles umfassenden Horizont der Schöpfung als eines Haushalts besteht die Ökonomie Gottes, kurz gesagt, in der Austeilung von Gottes 350 Gerechtigkeit.” Die Tora stellt das wirtschaftliche Handeln in einen Zusammenhang mit der Bundesverpflichtung gegenüber Gott und der Gemeinschaft. Sie ist die Hausordnung im Hause Israels, deren Ziel es ist, allen Hausbewohnern Leben zu ermöglichen. Aus dem Sklavenhaus Ägypten hat Gott sein Volk befreit (Ex 13,3; Dtn 5,6). “Die aus dem Tod der Sklaverei Befreiten sind aufgerufen, diesem befreienden Ökonomen entsprechend zu leben, der einen neuen Haushalt schaffen will, einen Haushalt des Friedens. Sie werden zu Ökonomen, die die „Tora hal346 347 348 349 350 Mitgeteilt ohne Beleg bei: J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zu einer messianischen Ekklesiologie, München 1975, 196. Vgl. die weiteren Ausführungen unten Abschnitt 9.5.1. K. Raiser hat die Metapher “Haus” aufgenommen und als Paradigma einer ökumenischen Sozialethik ausgeführt: K. Raiser, Ökumene im Übergang, 134ff. Ebd. 33f, eigene Übersetzung. Ebd. 77, eigene Übersetzung. Ebd. 77, eigene Übersetzung - dt. Übersetzung im Erscheinen. 128 351 ten‟.” Gott vertraut dem Menschen die Verwaltung dessen an, was ihm - nämlich Gott - gehört. Die Berufung des Menschen zu einem Haushalter zeigt Vertrauen in den Menschen, den Gott zu seinem Haushalter macht. Er ist bevollmächtigt, im Namen Gottes die Schöpfung zu verwalten. M.Douglas Meeks faßt die Rede von Gott dem Ökonomen so zusammen: “Gottes Geschichte mit der Schöpfung ist die göttliche Ökono352 mie.” Meeks deutet die ganze Heilsgeschichte als Kampf Gottes mit dem Tod: “Dieser Kampf läßt sich in den großen ökonomischen Taten Gottes erkennen: im Exodus, in der Schöpfung, in der Auferstehung. Jeder ökonomische Akt fordert entsprechende ökonomische Taten von sei353 ten des Menschen, der Gottes eigener Ökonom ist.” Das Alte Israel war eine agrarische Gesellschaft. Man lebte vom Land und seinem Ertrag und war auf eine intakte Großfamilie angewiesen. Zum Haushalt im weiteren Sinn gehören alle, die den Erdkreis bewohnen: “Herr, du hilfst Menschen und Tieren. (...) Die Menschen laben sich am Reichtum deines Hauses” (Ps 36,7.9a). Dieser Haushalter-Gott macht alle Menschen zu Hausgenossen. “Gott hat auf die unbegrenzte Ausübung seines Rechts als Hausherr verzichtet; er hat einen Bund mit seinem Haus geschlossen und sich zur Fürsorge für alle im Haus verpflichtet. Der Bund wird konkret in der „Hausordnung‟ (Thora), die das 354 Lebensrecht aller Hausgenossen schützen soll.” Diese Regulierungen erstrecken sich nicht allein auf die sozialen Beziehungen, sondern werden auch auf alle Beziehungen im “Hause Israel” ausgedehnt: Soziale und ökologische Gerechtigkeit stehen dann nicht gegeneinander; sie sind integriert, denn das Lebensrecht aller Hausbewohner soll geschützt werden. Der Haushalter Mensch vertritt den Haushalter Gott, und seine Aufgabe ist es, den Haushalt Gottes treuhänderisch in Fürsorge für das Leben der Bewohner des Haushaltes zu verwalten (oikonomia). Wenn es im Psalm heißt: “Ich bin nur Gast auf Erden. Verbirg mir nicht deine Gebote” (Ps 119,19), geht es um die Einsicht in das, was nach Gottes Willen rechte Lebensführung im Hause, dem oikos der Schöpfung ist. 4.2.2.2 Hausordnung der Tora 351 352 353 354 Ebd. 83, eigene Übersetzung. Ebd. 75 - eigene Übersetzung. Dieser Ansatz wird auch in der Erklärung der UCC zu “Christlicher Glaube. Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit” aufgenommen. Vgl. auch: M. Robra, Ökumenische Sozialethik, 83ff., 172f. sowie F. Segbers, “... und alle aßen und wurden satt” (Mt 14, 20). Meditation zu einer biblischen Ökonomie des Genug - oder: Teilen macht satt, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 97 - 105. Ebd. 77, eigene Übersetzung. K. Raiser, Ökumene im Übergang, 159. 129 Wie kann das alltägliche Zusammenleben und Wirtschaften im dem kleinen Wirtschaftsraum des Hauses und im umfassenderen, größeren Haus der ganzen Schöpfung geregelt werden? In der Klärung dieser Frage ist der Mensch nicht einfach Befehlsempfänger, sondern ein verantwortliches Subjekt, das treuhänderisch Institutionen der Gerechtigkeit schaffen, halten und diese den veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen anpassen muß. In Gottes Haushalt zu leben, bedeutet Gottes Hausordnung zu beachten. “Die Tora bekämpft die Disharmonie, die zwischen den Klassen herrscht und die durch die große Diskrepanz in der Verteilung des Reichtums entsteht, mit Hilfe verschiedener Institutionen: Brachjahr, Sabbatjahr, Jobeljahr. In Gottes ToraHaushalt kann die Anhäufung von Reichtum angesichts der Armen, die von dem ausgeschlossen werden, was ihnen Leben und Zukunft gibt, nicht gerechtfertigt werden. Man darf anderen weder wegnehmen noch vorenthalten, was sie brauchen, um zum Leben von Gottes Ökonomie für 355 Gottes Volk beizutragen.” Die sozialen und ökonomischen Weisungen im Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), im Deuteronomium (Dtn 12-26) und im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) stellen die Hausordnung dar. Die einzelnen 356 Gesetze und Bestimmungen lassen sich in drei Kategorien aufteilen: 1. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung: Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.) Beschränkung der Pfandnahme (Ex 22,25f.; Dtn 24,12ff.). 2. Gesetze zum Schutz der sozial Schwächeren: Sabbatgebot (Dtn 5,12ff.; Ex 23,12; 20,8ff.); sowie weitere Schutzgesetze: Schutz oder Einschränkung körperlicher Gewalt gegen Sklaven (Ex 21,20f.26f.); Schutz der geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f); tägliche Ausbezahlung des Lohnes an die Tagelöhner (Dtn 24,14f.); Unterdrückungsverbot, Recht auf humane Behandlung (Lev 25,43.46.53); Almosenwesen; Recht der Nachlese auf den Feldern und Weinbergen (Lev 19,9f; 23,22; Dtn 24,19-22); Recht, bei der Brache des Sabbatjahres die Felder abzuernten (Ex 23,10f.; Lev 25,6f.); der Zehnte als Sozialsteuer für die “Witwen und Waisen”, d.h. zugunsten derer, die über keine eigenen Einkünfte verfügen (Dtn 14,22-29; 26,12f.). 3. Gesetze zur Regulierung der Wirtschaft Sabbatjahr und Schuldenerlaß alle sieben Jahre (Dtn 15,1f.); zeitliche Befristung der Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18); Jobeljahr (Lev 25,10ff.). 355 356 Ebd. 88, eigene Übersetzung. Einteilung nach: R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 80-88; weitere Ausführungen unten in Abschnitt 6.1.1. Das Wirtschaftsrecht der Tora. 130 Die Tora will die Verhältnisse im Haus gestalten und formuliert des357 halb Hausregeln oder Anweisungen mit ausdrücklich “ethischen Ziele” : Der Sabbat zum Schutz der abhängig Arbeitenden, Regulierungen wie das Brachjahr zum Schutz der Ressourcen des Bodens (Ex 21,10), das Sabbatjahr zur Entschuldung (Dtn 15,1-11) und das Jobeljahr zur Korrektur der Akkumulation von Besitz und Vermögen (Lev 25,8-55), Begrenzung von Kauf und Handel mit Eigentum an Grund und Boden nach Marktgesetzen (Lev 25,8-24), das Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.) u.a. Ursprünglich allein sozialen Beziehungen geltende Regelungen wie werden ausgeweitet auf die ökologischen Beziehungen im “Hause Israel”. Die Metapher des Hauses formuliert nicht nur die Regeln eines sorgsamen Umgangs im Hause, sondern beschreibt auch die Grenzen und das Maß. Das ökologische Maß ist eine Beziehungsgröße, die sich auf das Zusammenleben aller im Haus der Schöpfung er358 streckt. Dieter Lührmann hat darauf hingewiesen, wie in den neutestamentlichen Haustafeln die oikonomía-Tradition übernommen wird, die durch 359 das hellenistische Judentum aus der Stoa vermittelt worden ist. Während die Hausordnung der Tora auf eine Agrargesellschaft bezogen sind, wollen die neutestamentlichen Haustafeln das Leben in einer städtischen Situation gestalten. Die Haustafeln enthalten ethische Anweisungen für Männer und Frauen, Kinder, Sklaven und Herren (Kol 3, 18-4,1; Eph 5,22-6,9; auch 1 Petr 2,13-3,7; 1 Tim 2,8-15; Tit 2,1-10). Wie in der Hebräischen Bibel wird auch hier von Gott in der Metapher eines Ökonomen gesprochen, “der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen” (1 Tim 6,17). Christen sollen miteinander wie gute “Ökonomen” umgehen: “Dient einander als gute Verwalter (kaloi oikonomoi) der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat” (1 Petr 4,10; vgl. 1 Kor 3,16; Röm 8,9.11; Eph 2,19f.; Hebr. 3,1ff.). Die Gemeinde bekommt die Sorge für schwächere Mitglieder aufgetragen ( 1Tim 5,3ff.).Grundlage der Gemeinde ist ein eigenes soziales Gebilde eines christlichen oikos. Die Haustafeln formulieren Anweisungen für das Zusammenleben von Mann / Frau, Herr / Sklave, Eltern / Kinder, die von Anfang an unter den Bedingungen der Stadtkultur nach der oikos-Struktur realisiert werden. Darin zeigt sich, daß das Christentum auch unter der Naherwartung dauerhafte soziale Gebilde formen wollte und einen latenten politischen An- 357 O. Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, 74. Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung, Göttingen 1997, 239ff. 359 D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 94- 97. 358 131 spruch wahrnahm, also keineswegs nur individualethisch zu verstehen sei. 4.2.2.3 Ökonomie der Fülle Aristoteles kritisiert an der Kapitalerwerbsökonomie, daß Habgier und Maßlosigkeit mit ihr strukturell verbunden sind. “Bei der Kunst der Hausverwaltung aber, die ja kein Kapitalerwerbswesen darstellt, gibt es eine Grenze. Denn diese Geldbeschaffung ist nicht Aufgabe der Kunst der Hausverwaltung. Demnach scheint es insofern bei jedem Reichtum eine Grenze geben zu müssen; angesichts der Tatsachen sehen wir aber, daß das Gegenteil eintritt. Alle Geschäftemacher nämlich wollen ins Un360 begrenzte hinein ihr Geld vermehren.” Aristoteles bezieht sich dabei auf den Staatsmann Solon (ca. 640 - ca.560 v. Chr.): “Für den Reichtum 361 liegt bei den Menschen keine sagbare Grenze vor.” Die biblische Tradition kennt ebenfalls diese aristotelische Unterscheidung und lehnt jene 362 Maßlosigkeit ab, die Aristoteles ein “Begehren ins Grenzenlose” nennt. “Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug” (Koh 5,9). Die Haltung der Habgier oder der Maßlosigkeit wird mit theologischen Gründen abgelehnt. Gott hat wie ein guter Ökonom die Schöpfung mit Gütern reich ausgestattet. Im Psalm 104 heißt es: “Du läßt Gras wachsen für das Vieh, auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinne von der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut, damit sein Gesicht von Öl erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt” (Ps 104, 14f.; ähnlich auch Ps 34,11; 65,10ff.; 146,7; 147,14). Die Schöpfung ist von Gott mit Gütern reich ausgestattet. Deshalb heißt es auch im Psalm: “Die Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel, sie laben sich am Reichtum deines Hauses, du tränkst sie mit dem Strom deines Hauses” (Ps 36,8b.9). Weil Gott wie ein guter Ökonom für die reichliche Ausstattung der Erde mit Gütern gesorgt hat, geht wirtschaftliches Handeln nicht von einer Knappheit der Güter aus, sondern von einer bereits vorhandenen Fülle in der Schöpfung. Drei große Feste prägen das Erntejahr (Ex 23,14-17; 34, 18-22ff; Dtn 16,16f.). Die Erstlingsgaben der Ernte sollen vor den Altar gebracht werden. Dabei wird daran erinnert, daß die Fülle der Ernte wie auch das Land Gott zu verdanken sind (vgl. Dtn 26,2-5). Im Psalm 145, 15f. heißt es: “Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt nach dei360 Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 30ff. Aristoteles, Politik, A 9 p 1256 b 33. 362 Aristoteles, Politik, A 9 p 1258 a 1. 361 132 nem Gefallen.” - “Die Menschen laben sich am Reichtum deines Hauses, du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen” (Ps 36,9). Ausgangspunkt ist nicht Knappheit, sondern eine ausreichende Fülle. Für eine Knappheitsökonomie sind immer Fragen der Mehrproduktion zur Überwindung von Knappheiten zentral, während eine Ökonomie, die von einer vorhandenen Fülle der Güter ausgeht, sich in den sozialen und ökologischen Kontext der Schöpfung einbindet und Fragen der gerechten Verteilung thematisiert. Die Knappheitsökonomie ist vom Ansatz her auf Wachstum ausgerichtet, das strukturell keine Begrenzung kennt, während die Ökonomie der Fülle um ein Maß weiß. Die ökonomische Tugend in die Ökonomie der Tora ist eine Haltung des Vertrauens auf die Güte des Schöpfers und die Fülle der Schöpfung; die ökonomische Tugend in der Kapitalerwerbsökonomie ist aufgrund des Knappheitstheorems dagegen strukturell die Habgier, die von zahlreichen antiken Autoren wie auch in der Bibel als Untugend oder Laster 363 abgelehnt wird (Hab 2,6ff.; Spr 11,28; 13,11; 28, 25; Ps 119,36). Da in der Ökonomie aus Vertrauen auf die Fülle der Schöpfung alle mit der Schöpfung, die ihnen anvertraut ist, haushälterisch umgehen, sind nicht eigennützige Konkurrenzbeziehungen, sondern solidarische Beziehungen der Menschen untereinander die Folge. In einer Ökonomie der Knappheit dagegen ist eine Haltung nötig und vernünftig, die Wachstum und Gewinne zur Beseitigung der Knappheiten erzielen will. Knappheiten wirken sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus: Menschen konkurrieren um die knappen Güter miteinander. Den beiden gegensätzlichen Ökonomien entsprechen also zwei gegensätzliche ökonomische Tugenden, die auch die Sozialbeziehungen der Menschen prägen: Die Ökonomie der Bereicherung mit der Tugend Habgier und zwischenmenschlichen Konkurrenzbeziehungen einerseits und die Ökonomie aus Vertrauen mit solidarischen Beziehungen andererseits. Die rabbinische Theologie kritisiert nicht nur die Auffassung, Habgier sei eine ökonomisch vernünftige Haltung, sie erweitert die Ablehnung der Habgier zusätzlich um einen religiösen Aspekt: Habgier macht Geld zu etwas Göttli364 chem. Zwischen Gott und Mammon besteht ein grundsätzlicher Gegensatz (Mt 6,24 par). Im neutestamentlichen Schrifttum wird vor der Habgier gewarnt (Lk 12,15; Mt 6,19f.). Im Einklang mit der rabbinischen 363 364 Die US-amerikanische Ökonomin Sabine U. O‟Hara hat vor der Herbstsynode der evangelischLutherischen Kirche in Bayern (1995) in einem Referat “Wirtschaften ist mehr als Knappheit” zwei gegenteilige Begriffe von Wirtschaften entwickelt: Wirtschaften als Umgang mit Knappheiten oder Wirtschaften als Umgang mit Vertrauen. (Unveröffentlichtes Redemanuskript) Nähere Ausführungen dazu unter Abschnitt 9.5.2 und 9.6.1. 133 Theologie seiner Zeit nennt Paulus Habgier Götzendienst (Eph 5,5; Kol 3,5). Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von einer “sinngebenden 365 Idee einer Ökonomie der Lebensfülle” . Aus dem wirtschaftsethischen Leitbild des guten Lebens resultiere, daß jenseits des elementaren “Kampfs ums Dasein” nicht das Reich des Überflusses sondern das eines sinnvollen und kulturellen Lebens herrsche. Das bedeutet: “Die Kategorie „genug‟ ist keine ökonomische, sondern eine kulturelle Katego366 rie.” Eine Ökonomie, die von dem Ansatz der Fülle ausgeht, ist von der Idee getragen, das menschliche Leben, seinen Sinn und die kulturelle Dimension des Lebens in den Mittelpunkt zu rücken. Sie ist eine lebensdienliche Ökonomie. Ökonomie wird von diesem Ansatz her zu einer gesellschaftlichen Nebensache, die lediglich die Funktion hat, das Produktions- und Verteilungsproblem einer Gesellschaft zu lösen. Die kulturelle Frage nach dem Genug stellt sich allerdings nicht erst jenseits eines bestimmten Lebensstandards, wie Ulrich angesichts des Produktivitätsniveaus moderner Ökonomien meint, sondern ist eine ökonomisch bedeutsame ethische Grundhaltung auf allen ökonomischen Entwicklungsstufen. Ohne diese grundsätzliche Haltung gibt es keinen Maßstab und keinen Begriff für ein Jenseits des Genug, denn die Frage stellt sich immer: Wann ist genug auch genug? Welche Kriterien oder Maßstäbe gibt 367 es, die anzeigen, wann genug erreicht ist? Subjektiv empfundene Knappheit ist prinzipiell grenzenlos. Was “genug” sein kann, ist deswegen auch nicht ökonomisch, sondern kulturell und ethisch zu bestimmen. Der Sabbat ist Symbol für eine Ökonomie, welche die Kategorie des Genug kennt. Er durchbricht ein an Leistung und Erholung bestimmtes Verhältnis von Arbeit und Ruhe. Sabbat meint mehr als die Regeneration der Leistungskraft; er ist ein Ort, an dem ein Wohlstand gelebt wird, der sich gerade nicht materiell auslegt. Erich Fromm versteht den Sabbat in der rabbinischen Auslegungstradition als einen Tag, an dem der Mensch lebt, “als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel außer zu sein, d.h. seine essentiellen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, sin368 gen, lieben.” Der Sabbat ist der Tag, an dem das Sein gelebt wird, und ein Tag, an dem die Tendenzen des Habens dispensiert werden. Am 365 366 367 368 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 214. Ebd. 215. Die aktuelle Debatte um den arbeitsfreien Sonntag belegt dies: ökonomisch und an Wohlfahrtskategorien gemessen konnten sich weit ärmere Gesellschaften als die heutigen Industrieländer den arbeitsfreien Sabbat/Sonntag “leisten”, während reiche Industriegesellschaften mit ihrem bislang menschheitsgeschichtlich nicht gekannten Produktions- und Wohlfahrtsniveau sich diesen Ruhetag von der Arbeit nicht mehr leisten können. E. Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976, 57. 134 Sabbat soll der Knecht kein Knecht und der Herr kein Herr sein. Verboten wird allerdings nicht Arbeit an sich, sondern zweckdienliche, lebensnotwendige Arbeit. Ein Lebensraum soll eröffnet werden, an dem andere Tätigkeiten des Menschen als nur die herstellenden, zweckdienlichen gelebt werden können. Erlebt und praktiziert wird am Sabbat ein Wohlstand, der nicht auf die materielle Dimension reduziert ist, sondern humane und immaterielle Dimensionen zuläßt. Der Sabbat ist das Symbol eines solchen Zeitwohlstandes, der nicht abhängig von dem erreichten Stand einer Produktionshöhe oder eines materiellen Wohlstandsniveaus 369 ist. Der Sabbat steht den sechs Werktagen gegenüber. Das verleiht ihm ein paritätisches Gegengewicht: Er ist jener Ort, an dem eine Gegenkultur gelebt wird, die sich nicht über Leistung und Produktion definiert, sondern über immaterielle und kulturelle Werte. Abraham Heschel nennt ihn deshalb einen Tag, “an dem der Umgang mit Geld als Entweihung gilt, an dem der Mensch seine Unabhängigkeit bestätigt von dem, was der oberste Götze der Welt ist. Der siebte Tag ist der Exodus aus der Spannung, die Befreiung des Menschen aus seiner eigenen Verwirrung, 370 die Einsetzung des Menschen zum Herrscher in der Welt.” Der Sabbat, der die Werktage regelmäßig unterbricht, ist ein Symbol für eine Freiheit, die darum weiß, daß Arbeit und Produktion an den sechs Werktagen in einer Schöpfung der Fülle ausreichen, und deshalb allen die Freiheit zu einer Unterbrechung gibt: der siebente Tag ist frei für andere, nämlich kulturelle oder kommunikative Tätigkeiten. 4.2.3 Die Tora-Ökonomie: Eine ökonomische Alternative Für den wirtschaftsethischen Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist die Frage zu stellen: Welche aktuelle Bedeutung kann der Politischen 371 Ökonomie der Tora oder des Aristoteles zukommen? Diese Frage zu 369 370 371 J. Rinderspacher, Warum nicht auch mal sonntags arbeiten? In: K.-W. Dahm, u.a. (Hg.), Sonntags nie? Die Zukunft des Wochenendes, Frankfurt / New York 1989, 34. A. Heschel, Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen - Vluyn 1990, 25f. Jüdisch-rabbinischer Theologie war deshalb auch die Aussage immer schon geläufig, daß durch den Sabbat schon jetzt ein Siebtel des Lebens hier auf Erden als Paradies erlebt wird. Eine Auslegung von Rabbi Salomon von Karlin kann dies verdeutlichen: “Wenn man nicht lernt, den Sabbat zu schmecken, solange man in dieser Welt lebt, wenn man nicht lernt, die Ewigkeit in der zukünftigen Welt zu lieben, wird man den Geschmack der Ewigkeit in der zukünftigen Welt nicht genießen können. Traurig ist das Los dessen, der unerfahren dort ankommt und nicht die Fähigkeit besitzt, die Schönheit des Sabbat wahrzunehmen, wenn er zum Himmel geführt wird.” Zit. ebd. 59. Diese Fragestellung wird ausführlich aufgenommen in Abschnitt 9.4.1. 135 beantworten, bedeutet auf zwei Dimensionen dieser Frage einzugehen: erstens geht es um ein wirtschaftshistorisches Urteil über den Entwicklungsstand der damaligen Ökonomie; zweitens um die theoretische Frage nach der Aufgabe der Ökonomie. Zum wirtschaftsethischen Urteil über den Entwicklungsstand der Ökonomie: Gab es in der antiken Ökonomie überhaupt Märkte? Strittig ist, wie die Rolle der Märkte in den antiken und altorientalischen Gesellschaften und Ökonomien überhaupt zu bewerten ist. Karl Polanyi geht in seinem bekannten Buch The Great Transformation davon aus, daß die Entwicklung der Wirtschaft zu einem ausgebildeten Marktsystem sich erst im Zusammenhang mit der industriellen Revolution im 18./19. Jahrhundert vollzogen habe. Der Wirtschaftshistoriker Moses I. Finley betont die Diskrepanz ebenfalls und verweist darauf, daß zentrale Begriffe der modernen Ökonomie wie Arbeit, Produktion, Kapital, Profit/Gewinn, Investition, Güterkreislauf, Marktpreise, Angebot und Nachfrage etc. nicht 372 in der lateinischen oder griechischen Sprache vorkommen. Auch wenn die Begriffe fehlen, so gab es jedoch sehr wohl die mit diesen Begriffen bezeichnete Wirklichkeit. Gewinn wurden erwirtschaftet und man wußte vom Schwanken der Preise nach Angebot und Nachfrage. Und doch: Ökonomie sollte nicht das Ziel haben, einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen, sondern zur Führung der Ökonomie des Hauses anleiten. Unter den Wirtschaftshistorikern besteht keine Einigkeit darüber, wie der Entwicklungsstand der antiken Wirtschaft seit Aristoteles und im Al373 ten Israel einzuschätzen ist. Die sog. “Modernisten” (E. Meyer, M. Rostovtzeff, F.M. Heichelheim, A. Ben-David) gehen von einem hohen Entwicklungsstand der antiken Ökonomie aus, im Gegensatz zu den sog. 374 “Primitivisten” (K. Polanyi, E. Bücher, M. Weber). Wenn es darum 372 373 374 M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 3. erw.Aufl. Stuttgart 1993, 13f.. Wie sehr bereits in die Bezeichnung der antiken Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme eigene Wertvorstellungen eingehen, hat Rainer Kessler in seinem Beitrag über Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus und antike Klassengesellschaft diskutiert. R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaft des alten Israel, in: Evangelische Theologie 54 (1994), 423f. Weitere Ausführungen, die sich speziell auf Israel beziehen, in: ders., Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda vom 8. Jahrhundert bis zum Exil, Leiden u.a. 1992. Nach Max Weber ist die altisraelitische Gesellschaft von einem Konflikt zwischen Stadt und Land gekennzeichnet: “Die antike Klassenschichtung: das stadtsässige Patriziat als Gläubiger, die Bauern draußen als Schuldner, bestand also auch in den israelitischen Städten.” (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III (1921) Tübingen, 7. Aufl. 1983, 26.) M. Rostovtzeff, Wirtschaft und Gesellschaft im römischen Kaiserreich, 2 Bde. Leipzig 1929; F. M. Heichelheim, Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 2 Bde. Leyden 1939. Nachdruck 3 Bde. Leyden 1969; K. Polanyi, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt 1979; E. Meyer, Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, in: ders., Kleine Schriften I, 2. Aufl. Halle 1924, 79168. E. Bücher Die Entstehung der Volkswirtschaften, in: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, 3. Aufl. Tübingen 1901, 101-174. 136 geht, die antiken Wirtschaft zu charakterisieren, ist es sinnvoll, zunächst die Debatte zwischen Bücher und Meyer nachzuzeichnen. Nach Bücher fehlte in der Hauswirtschaft als der zentralen Wirtschaftsform der Antike eine marktorientierte Produktion. Zudem habe es weithin keinen Handel und keine Lohnarbeit gegeben. Gegen Bücher betonte Meyer, daß die antike Ökonomie gerade durch marktorientierte Produktion, Handel und freie Lohnarbeit zu charakterisieren sei. Die antike Wirtschaft habe einen modernen Charakter gehabt und deshalb seien enge Parallelen zwischen den antiken und modernen, neuzeitlichen Verhältnissen zu ziehen. Finley unterstützt die Grundthese von Bücher: die antike Wirtschaft sei 375 nicht marktwirtschaftlich organisiert. Nach Frank Crüsemann ist es durchaus unklar und strittig, ob es in der israelitischen Königszeit wirklich einen Markt gegeben hat, denn in der damaligen Gesellschaft habe man weitgehend für den Eigenbedarf 376 produziert. Ekkehard W. und Wolfgang Stegemann gehen von einem erweiterten Begriff des Marktes aus. Sie verstehen den Markt nicht lediglich als einen Mechanismus, der Angebot und Nachfrage reguliert. Entscheidend sei die Frage, ob es Gewinnerwartungen gewesen sind, die das ökonomische Verhalten stimulierten. Daraus folgern sie für die Zeit des römischen Imperiums einschränkend: “In diesem Sinne gab es allerdings in den antiken Gesellschaften des Mittelmeerraumes kaum Märk377 te.” Ein freies Spiel der Marktkräfte habe sich durch die staatlichen Interventionen zur Zeit des römischen Kaiserreiches nicht entwickeln können. Heinz Schröder klassifiziert dagegen das ökonomische System zur Zeit Jesu wiederum gar als “ein sozialmarktwirtschaftlich orientiertes, 378 bäuerliches Wirtschaftssystem.” Ben-David nennt es selber erstaunlich, in welchem Maße die Gelehrten von Talmud und Mischna bereits in der Darstellung und Erkenntnis nationalökonomischer Marktgesetze fortgeschritten gewesen seien. Zur Illustration dieser Aussage verweist er 375 376 377 378 M.I. Finley, Die antike Wirtschaft. F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen” (Jes 2,7f). In: R. Jost u. R. Kessler u. Chr. Raisig (Hg.), Auf Israel hören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung, Luzern 1992, 31f. E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995, 44. H. Schröder, Jesus und das Geld, 269. Auf Grund der Tora-Bestimmungen kommt er zu dieser Einschätzung. Dieses affirmative Urteil berücksichtigt jedoch die Folgen der römischen Besatzung nicht. Wie gegenläufig sozialhistorische Aussagen sind, kann beispielhaft an den beiden folgenden Aussagen illustriert werden: Palästina sei im 1. Jh. keineswegs ausgeblutet, sondern wirtschaftlich reich mit pulsierendem Leben gewesen (J. Habbe, Palästina, 47); zu einem anderen Urteil kommen aufgrund sozialgeschichtlicher Untersuchungen: E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Sie sprechen von Verschuldung und Enteignung der Kleinbauern als Kennzeichen der römischen Epoche (107). 137 auf Rabbi Akiba (50/55 - 135 n. Chr.), von dem eine knappe Definition des Wirtschaftsgesetzes von Angebot und Nachfrage stammt: “Die Mengen des zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmen wieder ab, so (kehrte) der Markt (will sagen die Preise am Markt) wieder 379 zu seinem alten Platze (Stand) zurück.” Dieter Georgi kennzeichnet die Ökonomie des Mittelmeerraumes im 1. Jahrtausend v.Chr. als eine Ökonomie, die durch Geld und Markt bestimmt war. Zur Zeit Jesu habe eine monetäre Ökonomie von weltweiten Proportionen mit einer gemeinsamen römischen Währung existiert. Die städtische Gesellschaft sei von einer universalen Marktstruktur bestimmt gewesen, Industrie, Handel, Arbeits- und Sklavenmarkt eingeschlossen. Ein expansives Netzwerk 380 von Märkten habe in der griechischen und römischen Welt floriert. Dieter Lührmann vertritt eine Position, die den Gegensatz zwischen den sog. Modernisten und Primitivsten überwinden soll. Er hat deshalb vorgeschlagen, jenseits der mit neuzeitlichen Wertvorstellungen verbundenen Begriffe “Sklavenhaltergesellschaft” oder “Klassengesellschaft” den Terminus “Haus” als Deutungskategorie für die antike soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit zu verwenden. Der Begriff oikos-Gesellschaft habe den Vorteil, die sozio-ökonomische Struktur zu beschreiben und ei381 ne Deutungskategorie der damaligen Zeit zu sein. Die wissenschaftliche Diskussion über die antike Ökonomie verläuft kontrovers und hat bislang nicht zu einem einheitlichen Bezugsrahmen geführt. Es gibt vermittelnde Positionen: Günther Bien geht davon aus, daß es zwar eine Mischung von modernen und primitiven Elementen mit einer sehr intensiven Marktwirtschaft gegeben habe, diese aber nicht in der Lage gewesen sei, die Sozialstruktur und das Sozialdenken ent382 scheidend zu verändern. Ähnlich resümiert Hans G. Kippenberg die Diskussion: Die Debatte über die antike Ökonomie sei noch unabgeschlossen und lasse sich in einer doppelten Hypothese zusammenfassen: Die antike Ökonomie ist weder eine primitive, legt man die Kriterien einer institutionalisierten Surplusproduktion zugrunde, noch eine moderne, legt man das Kriterium einer tauschwertorientierten Produktion zu383 grunde. Kuno Füssel präsentiert über diesen integrativen Ansatz hinaus eine Erklärung, welche die in der Literatur häufig als divergierend dargestellten Ansätze von Karl Marx, Max Weber und Karl Polanyi zu 379 380 381 382 383 Zit. in A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, XX. D. Georgi, Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus, 2. erw. Aufl. Neukirchen - Vluyn, 1994, 123ff. D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 89. G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 227. H.G. Kippenberg, Die Typik antiker Entwicklung, in: ders. (Hg.), Seminar: Die Entstehung der antiken Klassengesellschaft, Frankfurt 1977,18, zit. in: K. Füssel, Die politische Ökonomie des römischen Imperiums in der frühen Kaiserzeit, 38. 138 übernehmen und zu integrieren erlaubt: “Die Wirtschaftsform - wie auch die Erklärung ihrer Funktionsweise - bestimmt sich danach durch die Art 384 und Weise ihrer Einbettung ins politische System.” Deshalb wählt er als Erklärungsansatz die politische Ökonomie. Dieser Ansatz hat den Vorteil, Arbeit nicht nur als eine Grundtatsache menschlicher Selbsterhaltung zu betrachten, sondern von Anfang an auch als ein soziales Verhältnis, eine Tätigkeit, in der Menschen arbeitsteilig produzieren. Hier kann eine Verbindung mit der sozio-ökonomischen Grundstruktur der oikos-Ökonomie hergestellt werden, welche die Beziehungen zwischen denen, die in der Hausgemeinschaft auch eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden, ins Zentrum rückt. Fragen von Macht, Herrschaft und Verteilung dessen, was produziert wurde, stellen sich mit der Tatsache der Arbeitsteilung. Herrschaftsbestimmt ist die Verteilung des Arbeitsertrages immer dann, wenn andere als die Produzierenden den Verteilungsmodus bestimmen oder die Nichtarbeitenden über das Arbeitsergebnis anderer verfügen. Im “Haus” bilden Produktion und Konsum eine Einheit. Das Haus (oikos/bajit) ist deshalb der Ort, wo die sozialen und ökonomischen Ansprüche und Interessen des Besitzenden und der abhängig Arbeitenden aufeinandertreffen. Wie werden die oben genannten ökonomischen Grundfragen beantwortet werden, wie sie Samuelson formuliert hat: Wie erfolgt die Verteilung? Wer bestimmt sie? Wer produziert für wen? Wer 385 profitiert, wer trägt die Kosten? Binswanger verweist jenseits der Alternative zwischen Modernisten und Primitivisten auf einen zentralen wirtschaftshistorischen Aspekt, der es auch nach meiner Meinung erlaubt, zwischen der Marktökonomie der Moderne und der Ökonomie der Antike eine Gemeinsamkeit von zentraler Bedeutung herzustellen: “Schon vor Aristoteles, Xenophon und Platon haben sich aber auch die sieben Weisen des Altertums mit dem Wesen 386 der modernen Marktwirtschaft befaßt.” Binswanger richtet sein Interesse nicht auf Fragen nach der Reichweite des Handels, der Existenz von Lohnarbeitern oder ähnlichen ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auf die wirtschaftshistorisch unbestrittene Tatsache, daß sich in der Antike mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft ein durchgreifender Transformationsprozeß vollzogen hat. “Weil aber damals die Marktwirtschaft noch im status nascendi, im Anfangszustand war, konnten die spezifischen Eigenschaften dieses modernen Wirtschaftens - insbesondere das erwerbswirtschaftliche Streben nach „immer mehr‟ im Sinne des wirtschaftlichen Wachstums - besonders deutlich erkannt werden. Wol384 385 386 K. Füssel, Die politische Ökonomie des römischen Imperiums in der frühen Kaiserzeit, 39. Wie nach welchen ethischen Gesichtspunkten diese ökonomischen Grundfragen beantwortet werden, wird in Abschnitt 4.4.4 ausgeführt. H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 33. 139 len wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen, müssen wir daher zu ihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnanten und scharfsinnigen Analysen und Vorschlägen der damaligen Zeit zurückgehen, um 387 auch von dort Richtlinien für unser eigenes Handeln zu gewinnen.” Die antike und die moderne Marktwirtschaft haben ein gemeinsames Wesen, das in einer Gewinnorientierung, einer Suche nach “immer mehr” besteht. “Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirt388 schaft, deren Triebfeder das Gewinnstreben ist.” Geld, das um seiner selbst willen begehrt wird, fördert ein Gewinnstreben, das demnach als jenes Moment verstanden werden, das die heutige mit der antiken Ökonomie in der Grundmotivation gemeinsam hat. Binswanger nennt dies 389 das Wesen der Marktwirtschaft. Auch wenn erst mit der industriellen Revolution im 18./19. Jahrhundert sich ein vollausgebildetes Marktsystem entwickelt hat, so sind doch die Mechanismen und Triebkräfte der Marktwirtschaft mit dem Motiv des Gewinnstrebens aus keimhaften Ursprüngen in der Antike inzwischen zu einem mächtigen Exemplar herangewachsen. In der Antike gab es eine Auseinandersetzung um die ökonomischen Mechanismen der Marktwirtschaft, die sich in der Auseinandersetzung um ein ökonomisches Verhalten spiegelt, das in der Tradition als Untugend galt, nunmehr aber ökonomisch gefördert wurde. Die Kehrseite des 390 ökonomischen Gewinnstreben ist eine Haltung der Habgier. Für die gesamte antike Welt war die Habgier eine Untugend. Die ägyptische Weisheit lehnte gleich den griechischen und lateinischen Philosophen und Dichtern wie Aristoteles, Plautus, Juvenalis, Lucanus, Cicero und Plutarch die Habgier, das “Mehr-Haben-Wollen”, als Untugend oder gar 391 als die seelische Krankheit der avaritia (Habgier) ab. Aristoteles betrachtet Habsucht nicht bloß als eine individuelle Untugend, es ist die Kapitalerwerbsökonomie, die diese Untugend der Habsucht strukturell fördern. Auch die Tora reagierte auf diese neuen ökonomischen Bedingungen und entwickelte Instrumentarien, die das ökonomische Gewinnmotiv in Schranken halten sollten. Einige seien hier aufgezählt: Der Sabbat mit seiner Unterbrechung der Arbeitszeit, das Sabbatjahr mit seiner regel387 H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 34. Ebd. 34. 389 Ebd. 33. 390 Nähere Ausführungen unten Abschnitt 9.5 sowie 9.6. 391 Vgl. weitere Nachweise bei: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” (Eph 5,5) Kritik an der Habsucht als theologische Analyse, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern, Salzburg, 1995, 170ff. sowie für den ägyptischen Kulturbereich: E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 122, 125, 130, 133f, 136f. 388 140 mäßigen Ackerbrache oder die Jobeljahrformel, die statt eines Tauschpreises für Grund und Boden einen am Nutzen orientierten Kaufpreis be392 stimmte. Der Habgier als einem strukturbedingten Sachzwang wird mit diesen Bestimmungen und Einrichtungen eine Grenze gesetzt. Habgier soll sich nicht frei ausleben dürfen, ist das mit diesen Regelungen beabsichtigte Anliegen. Im alttestamentlichen Gedankengut werden Gewinn, Reichtum und Besitz als Ergebnis von Besitzstreben zwar nicht gänzlich verworfen, doch dieses Streben, nämlich die Habgier, hat fast durchgehend einen 393 negativen Klang. “Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug” (Pred 5,9). Habgier ist die Kehrseite eine Ökonomie, die auf eine Spirale von Gewinn und Mehr-Gewinn ausgerichtet ist. Das strukturell geförderte Handlungsmotiv, nach Gewinn zu streben, wird nicht belohnt, sondern Untugend genannt. Es bekommt dadurch eine innere Grenze. Die Institutionen des Sabbat, des Sabbat- und Jobeljahres setzen der ökonomischen Verführung zur Gewinnorientierung eine äußere Grenze: Arbeit wird unterbrochen, die Nutzung des Boden alle sieben Jahre ausgesetzt, Ansammlung von Reichtum wird wieder zurückgeführt. Die Einrichtungen der Tora wollen es also nicht bei einer bloß tugendethischen Bewertung der Habgier belassen. Sie überführen die ethische Disqualifizierung der 394 Habgier institutionen-ethisch in sozialrechtliche Bestimmungen. Im rabbinischen Denken wird die antike Kritik der Habsucht um einen religiösen Aspekt erweitert: Habsucht ist Götzendienst oder verleitet zu Götzendienst, denn Geld tritt an die Stelle Gottes, wie die folgenden Zitate belegen können: “In der Verführung durch das Geld nennt man die 395 Götter, die keine sind.” “Habgier führt zu den Götzenbildern” oder “Wenn jemand seine Augen von der (materiellen) Wohltätigkeit abwen396 det, so ist es ebenso, als würde er Götzen anbeten.” Auch neutestamentlich wird Habgier negativ eingeschätzt (Mk 7,22; Lk 6,20 par.; Mt 6,12-21par.; Mt 6,24 par.; Mt 8,18-21par.; Mt 19,16-23par.). Wenn Pau392 393 394 395 396 Nähere Ausführungen unten Abschnitt 6.1. Vgl. Ex 18,13-27; Jes 33,15; 56,9-12; 57,17, Jer 6,13; 8,10; 22,13-19; Ez 22,12f. 27; 33,31; Hab 2,9; Ps 119.36: Prov 1,19; 15,27; 28,16. Weitere Nachweise und Belege bei: R. Rieth, “Habsucht” bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und soziale Wirklichkeit im Zeitalter der Reformation, Weimar 1996, 44f. Gegen T. Jähnichen, der in seiner biblisch begründeten theologischen Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Motiv des Selbstinteresses das biblische Gebot der Nächstenliebe als Begrenzung und relative Würdigung dieses Selbstinteresses wertet. Die biblische Tradition verfügt nicht nur über personalistische Begrenzungen durch das Gebot der Nächstenliebe, sondern über ausdrückliche institutionelle Begrenzungen in Gestalt des Sabbat, des Sabbatjahres oder des Jobeljahres. Vgl. T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 69ff. XII Test. Juda 18.1 zit. nach: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” 171. Zit. in: K. Müller, Tora für die Völker, 179. 141 lus Habgier als Götzendienst bezeichnet (Eph 5,5; Kol 3,5), dann bleibt 397 sein Denken im Rahmen der jüdischen Diskussion. Die prophetische Kritik und die Regelungen der Tora werden insbesondere seit Ernst Troeltsch mit dem Vorwurf des unrealistischen Uto398 pismus überzogen. Daß zentrale Bestimmungen des Wirtschaftsrechts der Tora zumindest seit der Zeit des Nehemia allgemein gelten, läßt sich 399 historisch belegen. Daß jedoch das Jobeljahr eine Idealkonstruktion war, gilt als Beleg für wirtschaftlichen Utopismus der Tora insgesamt. Alles nur Zufall oder drückt sich darin die Absicht aus, die tatsächliche Umsetzung des Wirtschafts- und Sozialkonzepts der Tora herunterspielen zu können? Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Morris Silver hat in sei400 nem Buch Prophets and Markets den Vorwurf gegen die Propheten erhoben, daß sie mit ihren wirtschaftspolitischen Forderungen mitten in der blühenden Wirtschaftsphase des 8. Jh.v.Chr. eben genau jene soziale und politische Katastrophe herbeigeführt hätten, vor der sie gewarnt haben. Die Forderungen nach Gerechtigkeit seien nämlich nicht marktgerecht gewesen und hätten Produktion und Markt gestört. Die Hausordnung der Tora sei also nicht nur für Fragestellungen neuzeitlicher Ökonomie irrelevant, sondern seien bereits im Alten Israel illusionär und ökonomisch schädlich gewesen. Frank Crüsemann kritisiert zu Recht an dieser Position, daß zum einen die modernen Gesetze des Marktes als universal vorgestellt und zum anderen moderne Zustände auf antike Gesellschaften zurückprojiziert würden. Zweitens zur Frage nach der Aufgabe von Ökonomie: Von der aristotelischen Unterscheidung der ökonomischen Grundsysteme zwischen Haushaltswirtschaft und Kapitalerwerbswesen her gesehen, fragt der Philosoph Günther Bien zugespitzt nach den meta-ökonomischen Grundentscheidungen: “Welche Art von Leben und Lebensform sollen wir wollen: einen bios politikos oder einen bios chrematistikos, ein Leben in freier Selbstbestimmung mit dem Zweck einer Realisierung humaner Glücksbedingungen oder eine auf die Produktion und Vermehrung von 401 Gütern allein um ihrer selbst willen abzielende Arbeitsexistenz?” In den ökonomischen Konzeptionen sind implizit immer Wertentscheidungen 397 398 399 400 401 Martin Luther steht in dieser sozialphilosophischen und theologischen Traditionslinie, wenn er die Habgier zu den “Haupt-Todsünden” zählt. WA 51, 422, 4; vgl. dazu: H. J. Prien, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992, 129-131; 220f. So mit Verweisen: F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” 28ff. Ausführungen und Belege dazu unten Abschnitt 6.1.1 und 9.6.2. M. Silver, Prophets and Markets. Political Economy of Ancient Israel, Boston, The Haguse, London 1983. Referiert nach: F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” 30f. G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 229f. 142 enthalten, die sozialethisch gehaltvolle Vorstellungen von gutem Leben und gerechtem Zusammenleben wiedergeben. Die aristotelische Theorie der Haushaltswirtschaft und die Ökonomie der Tora stellen deshalb auch nicht primitive oder noch unausgebildete Ökonomietheorien dar, der gegenüber die Marktökonomie der Moderne weiterentwickelt wäre und zu denen es kein Zurück mehr gäbe, vielmehr gehen in die Vorstellungen einer Ökonomie des Haushalts andere ökonomische Zielvorstellungen und andere normative Vorstellungen von gutem Leben und gerechtem Zusammenleben ein als in die einer modernen Ökonomie des Marktes. Die Tora schließt Marktelemente keineswegs grundsätzlich aus, sondern läßt sie dort zu, wo sie funktional und sozial erträglich sind; wo die Marktgesetze ethischen Anforderungen allerdings nicht gerecht werden, dort wird der Markt begrenzt oder sogar außer Kraft gesetzt. Dies zeigt, daß nicht ein Gegensatz nur auf der Ebene Haushaltsökonomie oder Marktökonomie besteht. Nicht Vor-Moderne und Modernität stehen sich gegenüber, sondern zwei konkurrierende normative Konzeptionen von Ökonomien. Welche Bedeutung haben diese anderen alternativen normativen Vorstellungen von gutem Leben und gerechtem Zusammenleben? Auch wenn es nicht darum gehen kann, die Haus-Ökonomie als Vorlage für gegenwärtige Wirtschaftsfragen zu benutzen, so kann dennoch ein Verständnis von Ökonomie als Haushalt einen kritischen Gegenpol zur herrschenden Vorstellung von Marktökonomie bilden. Dieses Ökonomieverständnis enthält alte Einsichten, die in der neuzeitlichen Ökonomie in Vergessenheit geraten sind. Ökonomie ist die Sorgfalt in der Ver402 waltung des Haushaltes (oikos). Wirtschaft war ursprünglich keineswegs Medium der unbegrenzten Steigerung des Wachstums, sondern eine vernünftige Behebung des Mangels. Diese ökonomische Zweckbindung will die Hausordnung der Tora wie auch Aristoteles‟ Politika erreichen. Sie können deshalb als gesellschaftlich eingebettete und regulierte Ökonomien gelten. Eine so organisierte Ökonomie ist eingeordnet in den größeren Haushalt des Lebens. Diesem Haushalt des Lebens und dem Leben der Bewohner in dem Haushalt hat Ökonomie zu dienen. Die Erfüllung dieser Aufgabe überläßt die Tora ebensowenig wie Aristoteles den Prozessen des Marktes. Sie fordern ein steuerndes und regulierendes Eingreifen in die Marktprozesse, damit die Ökonomie den Bedürfnissen des Lebens im Haushalt gerecht wird. Das aber bedeutet, die Frage nach Sinn, Aufgabe und Ziel des Wirtschaftens wieder in die Ökonomie zu integrieren. 402 G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 52. 143 In drei Aspekten berühren sich die ökonomischen Äußerungen über die Haushaltsökonomie der Tora mit jenen Äußerungen des Aristoteles: Erstens postulieren Tora und Aristoteles ein Maß dessen, was für den Menschen (und die Kreatur) gut ist. Was Aristoteles eine unnatürliche Erwerbs-Wirtschaftsweise oder Kapitalerwerbswesen (Chrematistik) nennt, ist eine Wirtschaft, die einem Wachstumszwang unterliegt. Auch die biblische Ökonomie weist mit der Metapher “Haus” auf den begrenzten Raum der Schöpfung hin, in dem es kein unbegrenztes Wachstum geben kann. Zweitens verstehen beide die Ökonomie als ein Mittel zu einem Zweck, nämlich zur Versorgung der Menschen mit den Gütern des Lebens. Die Unterscheidung zwischen dem Prinzip des Verbrauchs (in der Haushaltsökonomie) und jenem des Gewinns (in der Kapitalerwerbsökonomie) ist der Schlüssel zu zwei verschiedenen Zivilisationen und ökonomischen Kulturen. Drittens haben die Ökonomie der Tora und des Aristoteles gemeinsam, daß sie auf eine sozio-ökonomische Transformation mit verheerenden sozialen Folgen reagieren. Aristoteles registrierte die sozialen Folgen des Übergangs von einer Hausverwaltungsökonomie in eine Kapitalerwerbsökonomie. Nicht anders die Tora. Die ökonomischen Transformationsprozesse und die offen auftretende Klassenspaltung im 8. Jahrhundert im Alten Israel und ähnliche ökonomische Prozesse in Griechenland im 4. Jahrhundert gaben den Anstoß zur Entwicklung der ökonomischen Vorstellungen in der Tora und bei Aristoteles. Nicht theoretische Überlegungen stehen also am Anfang, sondern Erfahrungen mit einem tiefgrei403 fenden Umbruch der Wirtschaftsordnung seit dem 8. Jahrhundert. Die ökonomischen Vorstellungen der Tora und des Aristoteles sind Antworten auf sozio-ökonomische Umbrüche. Der brasilianische Exeget Milton Schwantes verweist auf die Umorientierung der Ökonomie von einer landwirtschaftlichen Produktionsweise auf Markt- und Handelsbeziehun404 gen als Auslöser für die scharfe Kritik des Propheten Amos. König Jerobeam II. wollte sich aktiv am internationalen Handel beteiligen. Doch die Tauschbedingungen von israelitischen Landprodukten gegen Eisen und Gold waren für Israel unvorteilhaft. Dadurch verarmten die Kleinbauern und wurden mehr und mehr von den städtischen Großgrundbesitzern in die Schuldsklaverei getrieben (Am 4,1-3; 7, 10-17; Mi 2,1-4; Jes 5,810). Rainer Kessler deutet ähnlich die von den Propheten kritisierte Ent- 403 404 Dazu K. Koch, Art. Propheten / Prophetie II, in: TRE Bd. 27, 488. Zu den verschiedenen Erklärungsansätzen: R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft. M. Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München 1991, 22; vgl. auch R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 248f. 144 405 wicklung als eine Folge der ökonomischen Transformation. Das relativ einheitliche frühe Israel mit seinen solidarischen Gesellschaftsstrukturen zerbrach, ein Teil der Gesellschaft wurde reicher und mächtiger, während ein anderer bis in Sklaverei und Schuldknechtschaft hinein verarmte. Wirtschaftshistorisch gesehen löste die prophetische Kritik im 8. Jh. V. Chr. einen Prozeß aus, in dem jene Kräfte bestärkt wurden, die den gesellschaftlichen Transformationsprozeß rechtlich regulieren wollten. Die Tora entstand als Antwort auf die ökonomische, soziale und politische Krise. Auch Aristoteles wollte mit seinen Äußerungen zur politischen Ökonomie eine Antwort auf die politische, ökonomische und sozia406 le Krise des 4. Jahrhunderts v. Chr. geben. Historisch zeigt sich ein wirtschaftsethisch bedeutsamer Tatbestand: Die Tora-Ökonomie ist nicht theoretisch konzipiert worden, sondern eine Antwort auf konkrete sozioökonomische Verhältnisse. Angesichts dieser Verhältnisse hat sie Alternativen formuliert. Die Propheten lebten an der Wende eines ökonomischen Zeitalters. Klaus Koch fragt nach den Gründen für die plötzlich im 8. Jahrhundert auftretende Gesellschaftskritik und gelangt zu der Beurteilung: “Dergleichen hat es vor und neben den 407 Schriftprofeten im gesamten Altertum nicht gegeben.” Der prophetischen Kritik kommt also das Verdienst zu, bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt im großen Transformationsprozeß von der traditionellen Stammesgesellschaft zur antiken Klassengesellschaft im Keim die Probleme des ausgewachsenen Exemplars einer freien Marktwirtschaft er408 ahnt zu haben. Israel nimmt mit diesem Transformationsprozeß teil an einer ökonomischen Umwälzung, die den gesamten Mittelmeerraum seit dem 8. Jahrhundert v.Chr. erfaßte. Zusammenfassend läßt sich die Alternative der Tora-Ökonomie in folgenden fünf Aspekten kennzeichnen: 1. Die Ökonomie der Tora basiert auf einer Gottesvorstellung: Grundlage des ökonomischen Denkens und der sozialen Weisungen der Tora ist die Vorstellung von Gott als einem Ökonomen (Ps 65,10; 405 406 407 408 R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft, 422f. G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 228. K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, in: H.W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München 1971, 238. O. Loretz kritisiert diese Anschauung, die davon ausgeht, daß Prophetie innerhalb der Alten Welt etwas Singuläres gewesen sei; mitgeteilt mit Verweisen bei: R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft, 416f. Dort wird auch die Debatte um die Benennung des altorientalischen Wirtschafts- und Gesellschaftsystems nachgezeichnet. So auch Karl Polanyi über Aristoteles, in: K. Polanyi, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt 1979, 151; vgl. H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft der Antike, 23. 145 104,10ff. u.o.). Die mit reichen Gütern ausgestattete Schöpfung ist Beweis des ökonomischen Handelns Gottes. Nicht Knappheit der Güter, sondern Fülle ist die ökonomische Prämisse. Die Tora enthält ein Wirtschaftsrecht, das den rechten Umgang mit und in der Schöpfung reguliert. Ökonomie wird also in einen Zusammenhang mit dem Recht Gottes gesetzt. In diesem Punkt unterscheiden sich die Tora und die Ökonomie-Konzeptionen des Aristoteles. 2. Die Ökonomie der Tora orientiert sich an einer Ökonomie der Hausverwaltung: Die Tora enthält eine “Hausordnung”, die die Ökonomie des Hauses regulieren soll. “Haus” ist nicht nur das einzelene Gebäude, sondern die strukturierte Einheit. Ganz Israel wird nach einem “Hausprinzip” organisiert. Das Haus als Ort von Produktion, Distribution und Konsum ist eingebunden in den größeren Haushalt der Schöpfung. Was in der sozialen und ökonomischen Grundeinheit eines Hauses geschieht, findet sein Maß und seine Ordnung durch dieser Einbindung in das größere Haus der Schöpfung. Die Politische Ökonomie der Tora geht davon aus, daß die Schöpfung alles hervorbringt, was zu einem guten Leben im Haushalt der Schöpfung benötigt wird. Auf dieser Grundlage hat Ökonomie die Aufgabe, mit den vorhandenen Güter sorgsam umzugehen und sie für die Bedürfnisse der Gemeinschaft umzuwandeln. Die Hausverwaltungsökonomie ist ein Gegenbild zur Knappheitsökonomie, die Kapital- und Gütererwerb zum Ziel hat. Zweck und Ziel der Hausverwaltungsökonomie ist die Befriedigung der natürlichen, nützlichen und täglichen Bedürfnisse. Kehrseite ist eine scharfe Kritik der Geld- und Habgier. Die Hausverwaltungsökonomie enthält ein inhaltliches Kriterium: das, was für alle Kreatur gut ist. 3. Die Ökonomie der Tora bindet ökonomisches Handeln an ethische Ziele: Die Tora setzt ethische Maßstäbe und Ziele, die sich an einer Option für die Armen orientieren. Von diesem perspektivischen Standort aus werden Werte wie Würde des Menschen, Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden inhaltlich geprägt. Gerechtigkeit als gemeinschaftsfähiges Verhalten ist die wirtschaftsethische “Primärtugend”. Daraus ergibt sich eine eindeutige Vorzugsregel: Im Konfliktfall kommt der Logik der Humanität der Vorrang vor den Interessen des Ökonomischen zu. Nicht das Maximum einer größtmöglichen Güterproduktion, sondern das Optimum dessen, was gut ist für das “Haus der Erde” und die, die es bewohnen, ist der Maßstab. Die Ökonomie der Tora weiß sich in den sozialen und ökologischen Kontext des Haushaltes der Schöpfung eingebunden. Der Haushalter-Gott hat die unerschöpfliche 146 Fülle des Schöpfung geschaffen und den Menschen und mit ihm alle Geschöpfe zu Hausgenossen gemacht. Die ökologische und soziale Dimension gehören zusammen. Der Mensch ist Haushalter der Schöpfung. Diese treuhänderische Funktion macht ihn nicht zum Herrn über die Schöpfung, sondern zum Herrn in der Schöpfung. 4. Die Ökonomie der Tora will strukturelle Gewalt, die von der Ökonomie ausgeht, minimieren: Die Weisungen der Tora richten sich nicht nur an das Individuums sondern sind Weisungen für ein Kollektiv oder für Institutionen. In der Tora wird die Ordnung für ein sozial und ökologisch gerechtes Leben sichtbar, die mit der Schöpfung gegeben worden ist. Sabbat, Sabbatjahr, Jobeljahr sind Institutionen der Gerechtigkeit. Die Tora durchbricht oder begrenzt die ökonomischen Gesetze des Marktes da, wo sie zu Ausbeutung und Abhängigkeit führen. Der Sabbat steht für die Begrenzung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit (Ex 20,8ff.; Dtn 5,12ff.). Der Umgang des Menschen mit der Schöpfung soll so gestaltet werden, daß die Schöpfung ihren Reichtum und ihre Lebensfähigkeit nicht verliert (Sabbatjahr: Lev 15,2; Ex 23,10f.). Was Aristoteles die strukturelle Maßlosigkeit der Kapitalerwerbswirtschaft nannte, wird auch in der Tora angesprochen. Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahr sind Institutionen, die auf die Maßlosigkeit einer Kapitalerwerbswirtschaft reagieren: Diese Mechanismen unterbrechen ökonomische Prozesse, begrenzen sie und setzen ihnen ein Maß. 5. Die Ökonomie der Tora hat die Gestalt des Rechts: Die prophetische Kritik wurde, historisch gesprochen, in Recht umgesetzt. Die ethischen Ziele der Menschenwürde, Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden bleiben nicht auf einer appellativen oder individuellen Ebene; sie gewinnen in Rechtssatzungen eine klare Rechtsgestalt. Die zentrale Frage ist deshalb die nach den Folgen wirtschaftlichen Handelns für die Armen und Schwachen, “die Witwen und Waisen” (Dtn 10,18 u.ö.). In die Abläufe der Ökonomie wird eingegriffen, wenn die Gesetze des Marktes sich zu Lasten der Armen auswirken. Die Rechtsgestalt der Weisungen versetzte die Armen in die Position eines Rechtsträgers, der einen einklagbaren Rechtsanspruch auf eine gesicherte und ausreichende Lebensgrundlage hatte. Die Ökonomie der Tora will eine ökonomische Alternative zu einer Kapitalerwerbswirtschaft formulieren. Ihre Absichten lassen sich mit ihrem Gegenentwurf im nachstehenden Schema verdeutlichen: 147 Voraussetzung: Ziel: Mittel: Haltung: 148 Wirtschaften als Umgang mit Vertrauen in der Tora - Haushalter-Gott als Schöpfer der Fülle und des Reichtums der Schöpfung - Schöpfung als Haushalt, - Mensch als treuhänderischer Haushalter, - politische Ökonomie nach dem Vorbild einer HaushalterÖkonomie (bajit=Haus), - Hausgemeinschaft als Produktionsgemeinschaft - gerechte Versorgung, - gutes Leben im Haushalt der Schöpfung zur Befriedigung der natürlichen und nützlichen Bedürfnisse, - Gerechtigkeit als gemeinschaftsfähiges Verhalten, - optimaler, sorgsamer Umgang mit den Ressourcen, - nach Gottes Willen rechte Lebensführung im Hause der Schöpfung, - Lebensrecht aller Hausgenossen, Maß und Begrenzung, - Hausordnung (Tora) als Lebens-ordnung im Haushalt der Schöpfung, - Hausgenossenschaft, - Marktregulierungen mit dem Ziel der Schaffung und Sicherung von Gerechtigkeit, Außerkraftsetzung marktwirtschaftlicher Preisbestimmung durch den Gebrauchswert (z.B. bei der Preisbestimmung von Immobilien Jobeljahrformel Lev 25,15f.) - Einbettung des wirtschaftlichen Geschehens in die Gesellschaft; - Selbstproduktivität der Schöpfung, - rechtliche Regulierungen zum Schutz der sozial und ökonomisch Schwachen (Sabbat, Sabbatjahr-Brache etc.), - Zinsverbot - Vertrauen in die Fülle der Schöpfung - solidarische Beziehungen Wirtschaften zur Erzielung von Gewinn - Knappheit der Mittel und Ressourcen, - Versorgung mit Gütern, - Geldvermehrung, - Akkumulation, - maximale Güterversorgung, - Markt, Angebot und Nachfrage, - Konkurrenzbeziehungen - Preisbestimmung durch den Tauschwert am Markt - Zins- und Geldwirtschaft - Erwerb, Produzieren, Herstellen - Konkurrenzbeziehung 149 4.2.4 Leitlinien einer Haushaltsökonomie der Tora Die Tora setzt die Grundstruktur einer Haushaltsökonomie nicht einfach voraus, sondern will diese nach ethischen Gesichtspunkten gestalten. Wie beantwortet die Tora in ihrem Umgang mit der Ökonomie die oben gestellten universal geltenden ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen)? 1. Was soll in welchen Mengen produziert werden? Die Haushalts-Ökonomie der Tora geht von der Voraussetzung aus, daß Gott die Erde mit Gütern, die für alle reichen, ausgestattet hat. “Du sorgst für das Land und tränkst es; du überschüttest es mit Reichtum” (Ps 65,10). Wirtschaften ist deshalb nicht ein Umgang mit Knappheiten, sondern ein Umgang mit Vertrauen auf den Reichtum, mit dem die Schöpfung überschüttet ist. Nicht das Knappheitstheorem, sondern die Fülle der Güter ist der ökonomische Ausgangspunkt. Ökonomisches Handeln basiert in der Tora auf einer Haltung des Vertrauens: Alles, was zum guten Leben benötigt wird, bringt die Schöpfung hervor, und die Menschen gebrauchen die Güter der Schöpfung für ihre Bedürfnisse. Handlungsprinzip ist deshalb auch nicht die Effizienz, sondern die Suffizienz. Wirtschaften wird verstanden als verantwortungs- und vertrauensvoller Umgang mit den Gütern der reich ausgestatteten Schöpfung Gottes. Was produziert werden soll, ergibt sich nicht aus einem Knappheitstheorem und wird nicht der Steuerung des Marktes allein überlassen, sondern orientiert sich an einem sorgsamen Haushalten mitten in der Fülle der Schöpfung. Wirtschaften zielt deswegen nicht darauf, immer mehr zu schaffen oder die Effizienz immer stärker erhöhen zu müssen. Das Gesetz der Knappheit geht von der Voraussetzung aus, daß die vorhandenen Güter der Schöpfung nicht ausreichen. Deshalb befördert das Knappheitstheorem ein prinzipiell unbegrenztes Wachstum und kennt kein Genug, während das Wirt409 schaften aus Vertrauen auf die Güter der Schöpfung ein Maß kennt. Die Schöpfung ist das ökonomische Maß. Sie ist so produktiv und mit Fülle ausgestattet, daß ein gerechtes Wirtschaften ökonomische Knappheitsprobleme lösen kann, wenn der Mensch die Hausordnung einhält und für Recht und Gerechtigkeit eintritt. Die Ethik des guten Lebens in der Schöpfung verbindet sich mit einer Ethik der Gerechtigkeit im Umgang mit den Gütern der Schöpfung. Gott hat seine Schöpfung so reich ausgestattet, daß das Verteilungsproblem nicht das ökonomische Grundproblem darstellt. Verteilungsfragen sind prinzipiell lösbar. Deshalb heißt es von Gott im Psalm: “Recht verschafft er den 409 Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.5.2. 150 Unterdrückten, und den Hungernden gibt er Brot” (Ps 146,7). Der Ökonom Gott will, daß Menschen nach seinem Vorbild in der Schöpfung haushalten. Die Tora konzentriert sich auf die Bedürfnisse und Rechte derer, die am Rande der Gesellschaft stehen, die Armen (Ex 23,6 u.ö.), die Fremden (Ex 23,9 u.ö.), die Witwen und Waisen (Dtn 24,17-22 u.ö.). Die Tora ist die Hausordnung, die Leben schützen soll. Sie enthält Regelungen, die in Auseinandersetzung mit dem Markt entstanden sind und sich mit dem Marktgeschehen auseinandersetzen. Markantes Beispiel ist die bereits oben dargestellte Begrenzung von Kauf und Handel mit Eigentum an Grund und Boden, die das 410 Subsistenzrecht garantieren kann (Lev 25,8-24). Auch Deuterojesaja spricht in einer metaphorischen Sprache von dem Grundrecht auf Existenz. “Auf ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide und eßt, kommt und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung” (Jes 55,1; vgl. auch Vv 2-5). Deuterojesajas Formulierungen sind widersprüchlich, wenn er davon spricht, Getreide einerseits zu kaufen und es andererseits auch ohne Geld und Bezahlung zu kaufen. Diese widersprüchliche Formulierung verdeutlicht, daß das Recht auf Leben und Existenz nicht ausschließlich an Geld und Kaufkraft im Rahmen einer Marktökonomie gebunden werden darf. Schwächere Marktteilnehmer sollen nicht von der Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausgeschlossen werden, wenn sie kein Geld haben. Das Recht auf Subsistenz darf nicht an das “monetäre” Kaufen gebunden sein. Deuterojesaja formuliert kein Wirtschaftsprogramm. Doch er will in einem Gegenbild zu gegenwärtigen Zwangsverhältnissen Vorstellungen eines befreiten Lebens darlegen. Wenn die Marktökonomie das Leben all derer gefährdet, die keine mit Geld ausgestattete Nachfrage einbringen können, dann hat das Lebens- und Existenzrecht Vorrang vor der Ökonomie des Marktes. Jesus reiht sich in diese Traditionslinie der Hebräischen Bibel ein, wenn er es eine falsche Sorge nennt, zu fragen, was zu essen oder was zu trinken sei (Lk 12,22f). Diese Fragen sind Indizien einer ökonomischen Grundhaltung, die von der Knappheit der Güter, und nicht von der Fülle der Schöpfung ausgeht. “Die Vögel des Himmels, die keinen Speicher haben” (Lk 12,24) und “die Lilien des Feld, die nicht arbeiten” (Lk 12,27) stehen für eine Ökonomie des Vertrauens auf die ausreichenden Güter der Schöpfung 411 Gottes und sind nicht ein Beweis für ökonomische Naivität. Die 410 411 Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 5.1.2 und 9.3.2. Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.4.1 ; vgl. dazu F. Segbers, “Ich will größere Scheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durch Gerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 105-114; 151 “Bildrede vom großen Weltgericht” verdeutlicht auf diesem Hintergrund, welche ökonomischen Kriterien gelten: Es sind die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Wohnung, Asylschutz (Mt 25,31-46). Dem Grundsatz des Existenz- und Lebensrechtes wird vor den Gesetzen der Ökonomie des Marktes Vorrang eingeräumt. Durch diese Prioritätensetzung wird nicht die Ökonomie suspendiert, sondern viel412 mehr das Leitbild einer lebensdienlichen Ökonomie entwickelt. 2. Wie sollen die Güter produziert werden? Die Frage nach dem Wie der Güterproduktion thematisiert die Elementarfrage nach dem Sinnzusammenhang und dem Eigenwert des Lebens. Wenn nach dem Sinn gefragt wird, kommt eine Perspektive der Humanität zur Sprache, die in der Lage ist, Ansprüche des ökonomischen Systems zu begrenzen. Aus der Perspektive einer Frage nach dem Sinn und dem guten Lebens wird der Ökonomie die Aufgabe zugeteilt, Mittel im Dienst höherer Lebensziele zu sein. Wie wollen wir leben und arbeiten? Ist die Art und Weise, in der wir die Dinge des Lebens besorgen und erstellen, den Ansprüchen an ein gutes und eines gerechtes Leben zuträglich? Das Arbeits- und Sozialrecht der Tora enthält Vorstellungen eines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens. Um diese durchsetzen zu können, erinnert sie an das Negativbild der ägyptischen Verhältnisse. Sie will einen Rückfall in diese ägyptischen Verhältnisse der Sklavenarbeit verhindern. Deshalb behält Israel Erfahrungen der Unterdrückung im Gedächtnis und begründet die sozialen Schutzbestimmungen mit der Formel: “Denk daran: als du Sklave warst in Ägypten ...” (Dtn 24,28 u.ö.). Einseitig wird aus der Erinnerung an die ägyptischen Verhältnisse Partei genommen für die Schwächeren und eine Rechtsordnung gesetzt, die die Armen und Schwachen schützt und der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft Grenzen setzt. Arbeit und Humanität werden nicht auseinandergeris413 sen. Arbeit wird nicht abgewertet; sie ist keine von Göttern auf die Menschen abgewälzte Tätigkeit. Der Mensch ist Ebenbild eines Gottes, der auch arbeitet. Arbeit dient nicht nur der Selbsterhaltung, sondern ist immer auch ein soziales Verhältnis. Die politische Ökonomie der Tora setzt diese Herrschaftsstruktur teilweise außer Kraft. Die Hausgenossen haben keinen anderen Herrn als den Hausvater, den Ökonomen Gott. Der Sabbat unterbricht für Herrn, Knecht und Vieh und auch den Fremden die Arbeit. Die hierarchische Ordnung der Ar- 412 413 auch: F. Segbers, “... und alle aßen und wurden satt” (Mt 14,20). Meditation zu einer biblischen Ökonomie des Genug - oder : Teilen macht satt, in: K. Füssel u. F. Segbers, “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 97 - 105. Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.4.1. Weitere Ausführungen oben Abschnitt 5.1.2 und 5.1.2. 152 beit ist am Sabbat real und periodisch erfahrbar aufgehoben (Dtn 5,6; Ex 20,10). Die Ökonomie der Tora fällt eine klare Wertentscheidung: Die humanen Ansprüche auf ein gutes Leben haben Vorrang gegenüber den Ansprüchen des ökonomischen Systems, wie es in dem Bild der ägyptischen Verhältnisse zur Sprache kommt. Die Metapher des Haushalts versteht alle Geschöpfe als Bewohner der Schöpfung Gottes. Die sozialen Schutzordnungen der Hausordnung wollen die Lebensmöglichkeiten für alle schützen. Wirtschaften ist Teil eines sorgsamen Umgangs mit den Gütern, die Gott den Hausbewohnern anvertraut hat. So hat der Sabbat eine soziale Dimension, wenn er Arbeit unterbricht, und eine ökologische, wenn durch diese Unterbrechung der Arbeit die Schöpfung ihre Regenerationsfähigkeit wiedergewinnen kann (Ackerbrache im Sabbatjahr: Ex 23,10ff.; Lev 414 25,1ff). Ökonomie und Ökologie sind zwei Aspekte desselben Auftrages, verantwortliche Haushalter im Haushalt Gottes zu sein. 3. Für wen soll produziert werden? Leitlinie der politischen Ökonomie der Tora ist jener Maßstab für ein gerechtes Zusammenleben, wie er in der Mahnung zum Ausdruck kommt: “Doch eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben” (Dtn 15,4). Die Armen sollen deshalb zu ihrem Recht kommen. Das Herz biblischer Ethik ist die Option für die Armen, die sich gegen den Ausschluß von Menschen aus der Gesellschaft wendet und für eine gesamtgesellschaftliche Integration auspricht. Im Haushalt soll die ökonomische Logik des Teilens und der Solidarität gelten. Ökonomie nach den Vorstellungen der Tora muß sich gegenüber den Armen rechtfertigen. Legitimiert ist diese Ökonomie erst dadurch, daß die Armen zu ihrem Recht kommen. Die Tora enthält deshalb Institutionen der Gerechtigkeit, die periodisch zu einem Ausgleich zwischen Arm und Reich beitragen wollen: Brachjahr (Ex 23,10ff.; Lev 25,1ff.), Sabbatjahr zum Schuldenerlaß (Dtn 15,1-11), Zinsverbot (Ex 22,24; Dtn 23,20f.; 415 Lev 25,35ff.), Jobeljahr (Lev 25,8-55). In Gottes Tora-Haushalt kann die Akkumulation von Reichtum angesichts der Armen nicht gerechtfertigt werden, die von dem ausgeschlossen werden, was ihnen Leben und Zukunft gibt. Man darf anderen nicht vorenthalten, was sie brauchen. Ökonomie verstanden als “Haushalten” ist dann eine Fürsorge für Leben und Wohlergehen aller Mitbewohner des Haushaltes, die besonders auf die Armen achtet. Diese Aufgabe führt der Mensch treuhänderisch aus; er vertritt dabei den Hausherrn, nämlich Gott. Im 414 415 Weitere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.2.2.1. Weitere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.1: Sabbat: Abschnitt 6.1.2.1; Sabbatjahr als Brachjahr: Abschnitt 6.1.2.2.1; Sabbatjahr als Erlaßjahr: Abschnitt 6.1.2.2.2, Jobeljahr: Abschnitt 6.1.2.3 und 8.6.2. 153 Haus soll Gerechtigkeit herrschen, das heißt ein “gemeinschaftsge416 mäßes Verhalten” aller Hausbewohner. Wirtschaftsethisch dringt die Tora auf einen Vorrang der humanen Ansprüche an ein gerechtes Zusammenleben gegenüber den Ansprüchen und Zwängen der Ökonomie. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Das Wirtschafts-, Sozialund Arbeitsrecht der Tora läßt sich als eine ethisch gehaltvolle Antwort auf einen ökonomischen Transformationsprozeß verstehen, der die zentralen ethischen Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellte. Die Propheten begründen eine Kultur des Erinnerns, die die alten Werte der Solidarität und Gerechtigkeit auch unter neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen lebendig hält und sich in den Weisungen und Haushaltsordnungen der Tora niederschlägt. In der Tora selber zeichnet sich ein kontinuierlicher innerbiblischer Rezeptionsvorgang ab, der das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora jeweils neuen Verhältnissen anpaßt und sich dabei angesichts der Bedrohungen der Gegenwart an die Vergangenheit erinnert. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden durch Erinnerung an älteres Wissen erkannt und korrigiert. Die Tora ist in kritischer Auseinandersetzung mit marktwirtschaftlichen Prozessen entstanden und will zerstörerischen ökonomischen Tendenzen Widerstand entgegensetzen, indem sie sich an der Solidarität der alten Gesellschaft orientiert. Die Tora entwickelt eine sozial und ökologisch durchdachte Alternative zu jener Ökonomie, die Aristoteles als Kapitalerwerbsökonomie charakterisiert. 416 K. Koch, Art. sdq = gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd.II., 3. durchgeseh. Aufl. München , Zürich 1984, Sp.515; vgl. auch ders., Wesen und Ursprung der “Gemeinschaftstreue” im Israel der Königszeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 6 (1961) Heft 2, 72-90; vgl. auch unten Abschnitt 3.3.1. 154 5. OPTION FÜR DIE ARMEN: BEZUGSPUNKT EINER BIBLISCH BEGRÜNDETEN WIRTSCHAFTSETHIK 5.1 Arbeiten - biblische Einsichten “Wie der Stand der Forschung erweist, bereitet die Erfassung des alttestamentlichen Materials zum Thema Arbeit nur geringe Schwierigkeiten . 417 (...) „Arbeit‟ ist innerhalb des AT kein besonders wichtiges Thema.” Diese Aussage über “Arbeit” in der Theologischen Realenzyklopädie zeigt, wie wenig theologisch und sozialethisch registriert wird, daß die Arbeit und das Leiden an unmenschlichen Arbeitsverhältnissen zu einem Grunddatum der menschlichen Existenz gehören. Was biblisch über Arbeit gesagt wird, nimmt seinen Ausgang im Exodus, dem “Herzstück der 418 hebräischen Bibel” . Der Exodus muß als Befreiung aus dem Haus der Knechtschaft, dem Arbeitshaus gelesen werden (so wörtlich Ex 20,2). Die Kritik an unwürdigen Arbeitsverhältnissen gibt den Anstoß zum Exodus. Zwischen Arbeit, Exodus und Befreiung aus unwürdiger Arbeit besteht ein enger Zusammenhang, der theologisch bedeutsam ist. So läßt sich mit guten Gründen sagen, daß in der biblischen Tradition Arbeit eine zentrale theologische Stelle einnimmt. Mit diesem Grunddatum biblischer Theologie wird Entscheidendes über Arbeit gesagt: Das Exodusereignis rückt Arbeit theologisch in den Mittelpunkt und begründet eine Würdetradition der menschlichen Arbeit. Auf diese Tradition hat Israel sich immer durch die wechselvolle Geschichte hindurch gegen die real erfahrene Würdelosigkeit berufen können. Der Exodus wurde zu einer Quelle der ethischen Inspiration der Arbeitswelt. 417 418 H.D. Preuß, Art. Arbeit, I., in: TRE 1978, Bd. 3, 613. So D. Tracy, Der Exodus. Eine theologische Überlegung, in: Concilium 23 (1987) 77. 155 Das biblische Arbeitsverständnis läßt sich von dieser Grundvorausset419 zung her in drei Aspekten darstellen: 5.1.1 Arbeit und Zwangsarbeit - eine notwendige Differenzierung Der sich im Exodusgeschehen offenbarende Gott ist der Gott der “Hebräer” (Ex 3,18; 5,3; 7,16; 9, 1.13; 10,3). Solange die Israeliten in Ägypten sind, werden sie auffällig häufig als “Hebräer” bezeichnet (Ex 1,15f.19; 2,6f.11.13).Viel spricht dafür, daß sich der Name “Hebräer” von dem Wort habiru ableitet, das auch in ägyptischen, akkadischen, sumerischen 420 und ugaritischen Texten vorkommt. Mit “Hebräer” werden aber mit wenigen Ausnahmen weder ein Volk noch eine Gruppe von Völkern, sondern werden Menschen unterschiedlicher Herkunft bezeichnet, die außerhalb der Gesellschaftsordnung stehen: “unstete Elemente minderen Rechts und oft geringen wirtschaftlichen Vermögens, Outlaws der bronzezeitlichen Städte, die sich zu ihrem Schutz und zur Sicherheit ihres Lebens in Abhängigkeitsverhältnisse begeben mußten (Arbeiter, Söld421 ner) oder ein freies Leben als Räuber und Wegelagerer führten.” Die habiru - Leute sind eine Außenseitergruppe am Rande der Gesellschaft. Sie haben ihre frühere soziale Stellung nicht zuletzt durch wirtschaftliche 422 Einflüsse verloren. Rainer Albertz sieht in den habiru-Leuten “eine wirtschaftlich angepaßte, aber sozial deklassierte und durch staatliche Maßnahmen entsolidarisierte Großgruppe fremdländischer Fronarbeiter der ramesidischen ägyptischen Gesellschaft, auf die die Jahwereligion 423 bei ihrer Entstehung bezogen ist.” Der Exodus spricht von der hohen technischen und kulturellen Zivilisation Ägyptens ausschließlich in ihren negativen Aspekten. Die ägyptische Zivilisation und Ökonomie basierte nach biblischem Bild auf Sklaven- und 424 Fronarbeit. Israel geriet in diese Sklaven- und Fronarbeitsverhältnisse in Ägypten (Ex 1,13b.14). Wichtig ist, eine Unterscheidung herauszuarbeiten, die die biblischen Texte durchzieht. Klar betont werden die unterschiedlichen Bedingungen von Arbeit: Es gibt eine Tradition, die von 419 420 421 422 423 424 W. Bienerts Ansatz, “Die Arbeit nach der Lehre der Bibel” systematisch darzustellen, wird dem geschichtlichen Charakter wohl kaum gerecht. Damit schließe ich mich den Vorbehalten von H.D. Preuß (Art. Arbeit, 613) an. J. Thiel, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Neukirchen-Vlyun 1985, 76. H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn. Grundzüge (ATD Erg.-Reihe 4/1) Göttingen 1984, 71. J. Thiel, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 76. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 76. N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974) 140. 156 der Mühsal der Arbeit (Gen 3,17f; Ex 1,14; 2,23-25; 3,7f; 5,1ff; 6,6f.), und eine andere, die von der Würde der Arbeit spricht (z.B. Mi 4,4; Jes 5,1ff, Ps 127,2 ). In der Priesterschrift im Pentateuch werden zwei Arbeitserfahrungen gegenübergestellt: Unwürdige Arbeitsverhältnisse und die bedrückende Lage der Zwangsarbeit im Sklavenhaus Ägypten werden geschildert (Ex 1,7-14; 2,23-25; 6,2-9), während der Bau des Heiligtums (Ex 35,4-10.20-29; 36,2-6; 39,32.43) mit entgegengesetzten Begriffen erzählt wird. Norbert Lohfink sieht in der Gegenüberstellung der beiden 425 Arbeitsverhältnisse eine bewußte Komposition. Die differenzierten Anweisungen zum Bau des Heiligtums zeigen ein anderes Verhältnis zur Arbeit, die sich in Gottes Werk einfügt. Im Detail wird hingewiesen auf das, was zu tun ist (Ex 25-31). Der Bau des Heiligtums wird als eine Fortsetzung des ersten Schöpfungswerks der sechs Tage durch den Menschen verstanden. Die Herrlichkeit Gottes bedeckte sechs Tage lang den Berg, bevor dann am siebenten Tag die Anweisung zur Arbeit gegeben wird (Ex 24,16). Das Land, in dem Milch und Honig fließen, stellt den Gegensatz zu ägyptischen Arbeitsverhältnissen dar. Arbeit in Freiheit und Würde beim Bau des Heiligtums bildet die Gegenerfahrung zur Arbeitswelt der ägyptischen Sklaven. “Im Gegensatz zur Weltumgestaltung in Ägypten, die auf dem Prinzip des Sklaventums basierte, herrscht in Is426 rael das Prinzip der Freiwilligkeit.” In den Texten, die vom Bau des Heiligtums erzählen, häufen sich Wörter, die von Freiwilligkeit und der Bereitschaft zur Arbeit sprechen. Fähigkeiten werden gezeigt und sind nötig, die bei der Sklavenarbeit im Arbeitssystem Ägyptens nicht gefragt waren. Begabungen und Kreativität kommen zum Zug (Ex 35,5.21.25.26.29). Diese Gegenüberstellung zeigt, daß Arbeit nicht mit Fron- oder Sklavenarbeit und Mühe gleichgesetzt werden darf. Sie kann auch eine Tätigkeit sein, in der der Mensch sich als schöpferisches Wesen erfährt. Die “Sinaiperikope zeigt, daß der Mensch zwar diese Welt verwandeln soll, aber in ein Abbild eines himmlischen, mit dem Werk der ersten sechs Tage in Harmonie stehenden Modells. Durch diese Verwandlung soll es möglich werden, daß Gott unter den Menschen 427 wohnt.” Soweit Technik und Arbeit diesen humanen und auch ökolo428 gischen Bedingungen genügen, setzten sie das Schöpfungswerk fort. Mit dem Exodus-Motiv geraten Arbeitsverhältnisse und Ökonomie in das Zentrum des biblischen Gottesverständnisses. In Form eines “geschichtlichen Credos” hat sich Israel an die Befreiung aus der bedrückenden Zwangsarbeit in Ägypten erinnert (Dtn 26,5-8): 425 426 427 428 Ebd. 141. Ebd. 140. Ebd. 141. N. Lohfink, Die Priesterschrift und die Grenzen des Wachstums, in: StZ Heft7/1974, 436. 157 Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. (...) Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. (...) Der Herr führte uns mit starker Hand. (...) Er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, in dem Milch und Honig fließen. Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Herr (Dtn 26,5b.6.8.9.10a). Das Credo schildert, daß Gott das Schreien des Volkes in harter Fronarbeit hörte und es in ein Land führte, in dem Milch und Honig flie429 ßen. Deshalb soll Israel auch zukünftig keinen Frondienst leisten (1Kön 4, 6; 5,27; 9, 15-19; 11,26-28; 12,4ff; vgl. Prov 12,24 - nur positiv 430 Gen 49,14f.). Die Exodustradition wird im heilsgeschichtlichen Credo mit der Vätertradition verbunden. Beide Traditionen sind aber unmittelbar in die Arbeitsverhältnisse des Alten Israels eingebettet und aus ihnen entwickelt worden. Die “Produktionsweise” der Nomaden ist mit dem Verweis auf den “heimatlosen Aramäer” (Dtn 26,5), einen Nomaden, angesprochen. Der Bezug auf Ägypten thematisiert die Sklavenarbeit (Dtn 26,6). Gott hat Israel aus diesen Arbeits- und Produktionsverhältnissen herausgeführt und in menschenwürdigere Arbeitsverhältnisse in ein Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Dtn 26,9), hineingeführt. Humanität in der Arbeit bildet hier die Folie der biblischen Rede von Gott. Der Dekalog begründet die Gebote mit dem Verweis auf “Gott, den Herrn, der dich aus Ägypten herausgeführt hat” (Dtn 5,6). Das Sabbatgebot bildet die Mitte des Dekalogs. Im Sabbatgebot wird die Erinnerung an die versklavende Arbeit zu einem Ruhegebot, das alle umfaßt: “An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn, deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat. Dein Sklave und 429 430 Der Biologe A. Hüttermann verweist auf einen Aspekt, der bei der Rede von “Milch” und “Honig” kaum assoziiert wird. Gemeint ist nicht ein paradiesischer Zustand oder ein üppiges Kulturland, sondern ein verstepptes, aber als landwirtschaftliche Fläche nutzbares und wiederherstellbares Gebiet, das pflanzensoziologisch etwa der Macchie entspricht. Die “Milch” ist ein Produkt der nomadischen Kleinviehhaltung, die ausschließlich auf unbebautem Land erfolgt. “Honig” wurde von Wildbienen gewonnen, die dort hauptsächlich in der Macchie vorkommen. Vgl. A. Hüttermann, Die ökologische Botschaft der Thora. Die mosaischen Gesetze aus der Sicht eines Biologen, in: Naturwissenschaften 80 (1993) 152. Nach Max Weber war Palästina für Hirten ein eher unsicheres Land. Nur in guten Jahren war es ein Land, in dem Milch und Honig fließen, gemeint sei offenbar der Dattelhonig, vielleicht auch Feigenhonig, so M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, 13. H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616. 158 deine Sklavin sollen ausruhen wie du. Denk daran, daß du in Ägypten Sklave warst” (Dtn 5,14.15a). Zweck des Sabbat ist das Ruhen der Arbeit aller. Der Sabbat ist ein Tag, an dem nicht gearbeitet wird. Dieser Grundzug wird in der Anwendung des Sabbatgebotes auf geänderte gesellschaftliche und ökonomische 431 Verhältnisse und auf Einzelfälle durchgehalten. Diese Ruhe hat eine klare soziale Schutzfunktion zugunsten der Sklaven und sogar der Arbeitstiere. Sie sollen zu ihrem Recht auf Ruhe kommen und vor grenzenloser Ausnutzung oder Ausbeutung der Arbeitskraft geschützt werden. Das Arbeitsverbot bezieht sich nicht auf alle Arbeiten und Tätigkeiten, sondern gerade auf zweckdienliche und für die Sicherung der materiellen Existenz notwendige Arbeit. Arbeit ist nicht nur eine Grundtatsache menschlicher Selbsterhaltung, sondern immer auch ein soziales Verhältnis von zusammenwirkenden Menschen. Die horizontale Differenzierung von Arbeit im Rahmen der Arbeitsteilung wird durch eine vertikale Differenzierung ergänzt. Die Gesellschaft insgesamt wird dadurch herrschaftlich zwischen Arbeitenden 432 und Nichtarbeitenden strukturiert. In der Tora lassen sich Absichten erkennen, die den Prozeß der herrschaftlichen Teilung der Gesellschaft unterbrechen wollen. Der Sabbat kann als ein wirksames, weil praktiziertes Symbol dieser permanenten Infragestellung der Herrschaft der Herren über die Knechte gesehen werden. Eingeführt wird der Dekalog mit dem Hinweis auf JHWH, der Israel aus der Knechtschaft befreit hat. Exodus und Sabbat stehen also in einer direkten Beziehung und sind Symbole der Freiheit. So schreibt Benno Jacob in seinem GenesisKommentar: “Der Sabbat ist ein Symbol der Freiheit, welche sich noch mehr als im Arbeiten und Schaffen in der souveränen, sich selbst Halt gebietenden Ruhe bekundet. Diese Freiheit hat außer Gott nur der Mensch, der nicht Sklave eines andern ist. Darum wird der Sabbat erst dem aus ägyptischer Sklaverei befreiten Israel als ein von der Schöpfung 433 her bereitliegendes Geschenk (Ex 16,29) verliehen.” Der Leitgedanke des Sabbat ist das befreite Leben ohne Fremdbestimmung. In der Ruhe des Sabbattages wird das Gegenstück zur Sklavenarbeit gelebt. Hans Walter Wolff nennt wegen dieses Bezugs auf die Arbeitsverhältnisse den 434 Sabbat sogar einen “regelmäßigen Streik” . Der Sabbat gehört in die Dialektik von Herr und Knecht. Aus der in Erinnerung gehaltenen Sklaverei in Ägypten wird der Sabbat zu einem Tag, an dem die Herrschaftsverhältnisse zwischen Herr und Knecht ausgesetzt und aufgehoben werden. “Da führt ihm (dem Herrn. F.S.) der Sabbat vor Augen, daß er auch 431 432 433 434 R. Kessler, Das Sabbatgebot, 99. W. Hofmann, Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft, Reinbek 1969, 28. B. Jacob, Das erste Buch der Tora, Berlin 1934, 67. H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 201. 159 nur Mensch ist wie der Knecht und der Knecht von Gottes Gnaden 435 gleichfalls ein geborener Freiherr.” Im Sabbat scheint deshalb eine Alternative zur realen Arbeitserfahrung auf. Die herrschaftlich strukturierten Arbeitsverhältnisse werden in Frage gestellt. Im Konflikt zwischen dem Interessen des Herrn an einer möglichst langen Nutzung der Arbeitskraft und dem Interesse des Knechtes auf humane Arbeit wird eine Entscheidung zugunsten des Knechtes gefällt. Die Erfahrung von Abhängigkeit am Werktag wird aufgehoben durch die Erfahrung von Gleichheit und Gleichberechtigung am Sabbattag. Zugleich aber eröffnet der Sabbat einen alternativen Erfahrungsraum: Arbeit soll nicht unter ägyptischen Verhältnissen getan werden, sie soll also von Unterdrückung und Abhängigkeit frei sein. Von “ägyptischen Verhältnissen” befreit zu arbeiten, ist eine Arbeit unter Gleichen und Freien. Ansprechpartner des Dekalogs ist der frei wirtschaftende israelitische Bauer (Dtn 5,12.15). Der mit “Du” Angeredete wird in seiner Verantwortung angesprochen, dafür Sorge zu tragen, daß ägyptische Verhältnisse nicht einreißen und Verhältnisse freier Arbeit von Gleichen sich durchsetzen. Die Bibel spricht weder abstrakt von der Arbeit des Menschen, noch sucht sie eine Wesensbestimmung oder eine Lehre der Arbeit zu formulieren. Man arbeitet vom Morgen bis zum Abend, heißt es nüchtern. “Nun geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zum Abend” (Ps 104,23; auch Ps 128,2; Prov 31,10ff. u.ö.). Arbeit ist das 436 ganz normale Los eines Menschen und nicht nur das des Sklaven. Eine Abwertung körperlicher Arbeit gegenüber geistiger ist dem Alten Testament im Unterschied zur griechischen Antike fremd. Weder im Griechischen noch im Lateinischen gab es ein Wort, mit dem man die allgemeine Bedeutung von Arbeit als einer anerkannten sozialen Funktion aus437 drücken konnte. Die biblische Perspektive hat nicht die Entbindung vom Zwang der Arbeit im Blick, sondern die Entbindung der Arbeit vom Zwang. Humanität in der Arbeit und nicht eine Humanität ohne Arbeit steht vor Augen. Ideales Menschsein ist nicht ein Leben ohne Arbeit. Auch im Paradies wurde gearbeitet. Es gibt deshalb eine biblische Perspektive für Befreiung und Humanität in der Arbeit. Die Bibel kennt Bilder des guten Lebens in der Arbeit und nicht bloß jenseits der Arbeit. Diese Bilder sprechen von einer Utopie attraktiver, nicht entfremdeter Arbeit. “Was deine Hände erwarben, kannst du genießen, wohl dir, es wird dir gut ergehn” (Ps 128,2). Jedermann möge in Frieden unter seinem Weinstock leben, war eine Utopie, die vor Augen stand. “An jenem Tag - Spruch des Herrn der Hee435 436 437 B. Jacob, Das Buch Exodus, 575. H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616. So M.I. Finley, 91. 160 re - werdet ihr einander einladen unter Weinstock und Feigenbaum” (Sach 3,10; auch 1Kön 5,5). “Und es wird ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum sitzen, ohne daß mehr einer den anderen schreckt” (Mi 4,4). Daß die Arbeitenden über die Produkte ihrer Arbeit selber verfügen können, ist eine biblische Vision. “Sie bauen nicht, damit ein anderer in ihrem Haus wohnt, und sie pflanzen nicht, damit ein anderer die Früchte genießt (...), sie arbeiten nicht mehr vergebens” (Jes 65,22.23). Auch wenn dieses Ideal nicht immer Wirklichkeit war, so entwickelten diese Bilder doch eine utopische Kraft, die verhinderte, daß das vor Augen stehende Ideal in sein Gegenteil verkehrt wurde. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Bibel nicht abstrakt über Arbeit spricht. Es gibt kreative, bereichernde Arbeit, und eine Arbeit, die menschenunwürdig ist, weil sie den Arbeitenden ausbeutet und zur Plackerei wird. Mit dieser Arbeit gibt sich die biblische Überlieferung nicht zufrieden. Sie setzt gegen diese Arbeitsrealität visionäre Akzente, die Gerechtigkeit, Gleichheit und Gleichwertigkeit für alle artikulieren. 5.1.2 Gottes Arbeit und des Menschen Arbeit Für eine an realen Arbeitsverhältnissen interessierte Wirtschaftsethik ist es erhellend, das biblische Reden von Arbeit auf dem Hintergrund der realen Arbeit unter den Verhältnissen des Alten Israel zu lesen. Verglichen mit den Nachbarregionen in Mesopotamien oder am Nil ist das Alte Israel ein eher armes Land gewesen. Mühselig mußte Ackerboden durch Terrassierungen geschaffen werden. Israel war arm an Bodenschätzen. Das Land galt für den Handel eher als ein Durchgangsland. Das Alte Israel war eine Agrargesellschaft. Die Landwirtschaft im Rahmen einer Mischökonomie von Ackerbau und Kleinviehzucht bot die Lebensgrundlage. Die vielen Textstellen, die von der Gefahr der Versteppung des Landes sprechen, zeigen an, wie gefährdet diese Lebensgrundlage war (Ijob 30,3; 38, 26; Jes 13,9; 33, 9; Jer 2,15, Ez 6,14 u.ö.). Immer wieder verweist die Bibel auf die Tatsache, daß kultiviertes Land durch kriegerische Verwüstungen, aber auch durch unsachgemäße Bewirtschaftung wieder zur Steppe und Wüste werden konnte. Der altisraelitische Bauer bearbeitete den Boden durchaus in dem Bewußtsein, daß der Natur die eigene Lebensgrundlage durch harte Arbeit abgerungen werden mußte. Im Kampf gegen die Natur, gegen Versteppung und Gefahren durch wilde Tiere, wie Bären und Löwen, war der Mensch nicht notwendig der Stärkere (1 Sam 17,36; Spr 17,12; Am 5,19 u.ö.). In den beiden Erzählungen über die Erschaffung der Erde wird der Mensch in seinem Verhältnis zur Arbeit gesehen (Gen 1,1-4a; Gen 2,4bff.). Jürgen Ebach hat deshalb recht, wenn er sagt: “Der Mensch tritt im Alten Tes161 tament von Anfang an als arbeitender bzw. zur Arbeit bestimmter 438 Mensch auf.” Im Bericht des Jahwisten heißt es von der Arbeit des Menschen: “Und Gott (...) setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und bewahre” (Gen 2,15). Der Jahwistische Schöpfungsbericht unterscheidet sich vom priesterschrift-lichen durch ein anderes Verständnis von Arbeit. Der Mensch wird in den reichen Gottesgarten, den Garten Eden, gesetzt, damit er dort die als Ideal vorschwebende Arbeit eines Gärtners an wasserreichem Ort versieht. Es ist ein Kulturland, das der Bebauung und Bewahrung bedarf, aber auch dem Können und der Arbeit des Menschen anvertraut ist. Das Paradies wird nicht als Schlaraffenland oder als Ort der Untätigkeit gemalt. Mit den beiden Verben “bebauen und bewahren” steht dem Erzähler die Arbeit des palästinensischen Bauern vor Augen. Die Arbeit gehört zum Menschsein, weil der zugewiesene Lebensraum 439 diese Arbeit erfordert. Von Arbeit spricht der Erzähler im Blick auf den noch nicht geschaffenen Menschen (Gen 2,5), auf den Menschen im Garten Eden (Gen 2, 15) und im Blick auf den aus dem Garten vertriebenen Menschen (Gen 3,23, dazu 4,2.12). Die Besonderheit dieses Arbeitens besteht in der Komplementarität von Bebauen und Bewahren, in der “Hege” und “Pflege”. Arbeit wird nicht schlechthin zur Strafe, sondern 440 nur ihre Mühsal ist eine Folge der Sünde. Nach der Vertreibung aus dem Paradies wird diese Komplementarität von Bebauen und Bewahren auseinandergerissen. Arbeit außerhalb des Gottesgartens wird unter Mühe und Schweiß zu geschehen haben und dann auch noch Dornen und Disteln hervorbringen. Aus dem ausgewogenen Verhältnis im Garten Eden wurde das bloße Arbeiten in Mühe (Gen 4,2.12.17ff.;3,23). Nach der Vertreibung aus dem Paradies ist dieses Reden über Arbeit “eine 441 utopische Erinnerung” , die als Kritik der jeweils erfahrenen Arbeitswirklichkeit praktisch werden will. Anders als in sumerischen oder babylonischen Mythen von der Welterschaffung stellen die biblischen Erzähler in der Priesterschrift die Erschaffung der Welt nicht als Ergebnis eines Götterkampfes dar, sondern als das Werk des Schöpfergottes, der als einer geschildert wird, der ar442 beitet. Während in sumerisch-babylonischen Schöpfungserzählungen der Mensch erschaffen ist, um das Joch der Götter zu tragen, zielt die biblische Schilderung nicht auf ein Göttergeschehen, sondern auf den 438 439 440 441 442 J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, in: ders., Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen - Reflexionen - Geschichten, Neukirchen - Vluyn 1986, 91. C. Westermann, Genesis, Kap. 1-11, BK, Bd.1/1, 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1983, 299-302. H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615. J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 93 - 98. C. Westermann, Genesis, 50ff. 162 Umgang mit der Erde. Die altorientalischen Mythen erzählen von Göttern, die den Menschen schufen: Anstatt der Götter sollten diese Menschen arbeiten. In sumerisch-akkadischen Mythen wie auch im Epos Enumaelis werden die Menschen überhaupt bloß zu dem Zweck geschaffen, die Arbeit zu tun, die den Göttern anfangs auferlegt war. Die niedrigen Götter streiken gegen die Arbeitslast. Der Ausweg ist die Erschaffung der Menschen. Die Göttin Mami kündigt nach der Erschaffung der Menschen den niederen Göttern an: Eure schwere Zwangsarbeit schaffte ich ab, euren Tragkorb lud ich den Menschen auf; ihr habt das Geschrei auf die Menschheit abgeschüttelt; 443 ich löste die Zwangsarbeit, erwirkte die Lastenbefreiung. Hier werden Menschsein und Arbeit ineins gesetzt. Wenn Menschen arbeiten, dann dienen sie den Göttern, indem sie jene Arbeit tun, die eigentlich die Götter tun sollten. Gegen diese Mythen erzählt die Bibel von einem Gott, der selber arbeitet und den Kosmos schafft. Gott arbeitet, und der Mensch ist sein Ebenbild (Gen 1,1- 2,4a). Der Mensch arbeitet nach dem Schöpfungsbericht der Bibel nicht für JHWH oder an Stelle 444 JHWHs, sondern für sich selbst. Die sumerischen und babylonischen Erzählungen über die Menschenerschaffung zeigen eine konstitutive Verbindung zwischen Arbeit und Menschsein. Nach den alttestamentlichen Texten arbeitet nicht der Mensch für die Götter, sondern Gott selber arbeitet und erschafft eine Welt für die Menschen. In dieser für ihn erschaffenen Welt soll der Mensch arbeiten. Arbeit ist weder Fluch noch Selbstzweck; sie steht vielmehr unter Gottes Segen (Gen 1,28, auch Gen 8,22), der eine Voraussetzung allen positiven Arbeitsresultates ist (Lev 25,20f; Dtn 15,10; 16,15; 28,1-8; 30,9; Ps 65,10ff; 127,1f; Hi 1,10; Prov 10,22; 14,23; Koh 3,13, Ps 90,17). Arbeit wird dennoch nüchtern als notwendig für den Erwerb des Lebensunterhaltes (Gen 1, 29; 2,15; Ps 128, 2; Prov 14, 23; 16, 26) und als Dienst am anderen Menschen angesehen, da sie der Bedarfsdeckung der Gemeinschaft wie auch des Einzelnen dient. Arbeit steht in einem Zusammenhang von Ertrag, Solidarität 445 und Segen (vgl. dazu Dtn 14,29). Nach der Veröffentlichung der Studie Grenzen des Wachstums durch den Club of Rome fand in der Exegese eine breite Debatte darüber statt, wie die Beauftragung zur Herrschaft nach Gen 1,26-30 zu verstehen sei. 443 444 445 WeitereTextbelege aus den altorientalischen Mythologien ebd. 301f. H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615. J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 98f.; auch H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616; das genaue Verhältnis von Gesetzesbefolgung und göttlichem Segen ist exegetisch nicht ausreichend geklärt, so K. Koch, Art. Gesetz I., 47. 163 Auch wenn der bisweilen eher verteidigende Argumentationsstil nicht übersehen werden soll, führte die Debatte doch zu einer neuen Lesart der Schöpfungsgeschichte. Die Interpretation von Gen 1, 26ff. wurde deutlich im Rahmen des literarischen Kontextes gelesen: Die Schöpfungsgeschichte mit dem Auftrag an den Menschen zu herrschen wurde mit ihrem Zielpunkt der Heiligung des siebten Tages und der Ruhe Gottes gelesen (Gen 1,26; 2,2f.). Relativiert wurde dieser Auftrag zum Herrschen aber auch noch durch zwei weitere Bezüge: Gen 1,26ff wurde in Relation zum jahwistischen Schöpfungsbericht gesetzt (Gen 2,15); Gen 1,26ff ist nur ein Schöpfungsbericht neben anderen biblischen Aussagen über die Stellung des Menschen in der Schöpfung (vgl. Ps 104; Ijob 38). Zum anderen steht Gen 1,26ff. nicht nur in einem Gegensatz zu anderen altorientalischen Schöpfungserzählungen, sondern ist selber auch ein altorientalischer Text. Die Bilder entstammen dem Kontext des Alten Orients. Die priesterschriftliche Schöpfungserzählung geht mit dem Auftrag des Menschen zur Arbeit über die jahwistische hinaus, insofern sie dieses herrschaftliche Tun des Menschen im Hebräischen mit den Schlüsselverben kbs und rdh bezeichnen, was soviel heißt wie “Herrschen, Unterjochen, Niedertreten” (Gen 1, 26.28; vgl. Sir 17,1ff sowie Gen 9, 1446 3). Was wollen kbs in Gen 1,28 und rdh in Gen 1, 26.28 besagen? Die Begriffe bezeichnen einen Vorgang, der mit Unterwerfen zu tun hat: Kelter treten (Joel 4,13), Völker unterwerfen (Jes 14,6), die Herrschaft des nach Gottes Abbild geschaffenen Menschen in der Schöpfung (Ps 8,7). Beide Verben lassen erkennen, daß der Mensch als Herrscher einge447 setzt ist. Wie Gott bei der Schöpfung Ordnung in das Chaos brachte, soll auch Gottes Ebenbild handeln. Diese ordnende Aufgabe wird im Bild der altorientalischen Königsvorstellungen beschrieben. Die herrschaftliche und Ordnung erzwingende Verfügungsgewalt, die mit der Königsvorstellung verbunden ist, hat immer mit Macht und Herrschaft zu tun. Den Herrscherrechten entsprechen aber auch Herrscherpflichten. Die Vorstellung von “despotischem” Herrschen wird erst von unserer Gegenwartserfahrung her in die Diskussion hineingetragen. Die Annahme einer herrschaftlichen Machtausübung des Menschen gegenüber der Natur ist absurd angesichts der damaligen Situation der Gefährdung des Menschen durch eine Natur, die sehr wohl bedrohlich für den Menschen sein 446 447 Norbert Lohfink versteht das hebr. kbs als einen Ausdruck, der meint: “die Hand auf etwas legen”. Mit Verweisen ausgeführt bei: N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? 138f. Gegen C. Westermann versteht Wildberger kbs als eine Beauftragung des Menschen, als König über die Schöpfung zu herrschen. Die Beauftragung des Menschen zur Herrschaft über die übrige Schöpfung steht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen. Vgl. H. Wildberger, Art. säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München , Zürich 1984, Sp. 560. H. Wildberger, Art. säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., Sp. 560. 164 konnte. Von daher kann der Menschen des Alten Orients seinen Lebenskampf nicht mit harmlosen, sanften Vokabeln beschreiben. Die Herrschaftsideologie darf deshalb nicht allein zu negativen Assoziationen verleiten. Herrscherrechte sind mit Herrscherpflichten untrennbar verbunden. Die Herrschaftsausübung der Natur gegenüber kann nicht darin bestehen, den Lebensraum zu zerstören. Claus Westermann versteht den Auftrag eher undramatisch. Man könne jede Art von despotischer Ausbeutung ausschließen. “Der Mensch würde seine „königliche‟ Stellung im Bereich des Lebendigen gerade verlieren, wären ihm die Tiere 448 nur noch Gegenstand der Nutzung oder gar der Ausbeutung.” Diese Interpretation nimmt die wirkliche Situation des Bauern und Viehzüchters nicht genügend in den Blick. “Sich untertan machen” meint nicht “niedertreten” im Sinne von Zerstörung, sondern beschreibt die Arbeit des Bau449 ern, der “die Erde für Viehzucht und Siedlung nützen” will. Bearbeitung des Bodens und seine Nutzung für den Ackerbau ist also gemeint. Angesichts der Gefährdungen, in denen der altisraelitische Mensch sich real befand, übte der Bauer und Viehzüchter immer eine Herrschaftsfunktion aus; eine Herrschaft allerdings, die der Sicherung des Lebensraumes und der eigenen Subsistenz diente. Gen 1,26ff. enthält ein herrschaftskritisches Potential und ist darin ein utopischer Text. Die in der Schöpfung angelegte Idealordnung widerspricht der real erlebten Wirklichkeit. Arbeit, die ausbeutet, steht im Wi450 derspruch zur Würde des Menschen. Dem Menschen wird eine königliche Stellung und Würde zugesprochen: Diese Aussage enthält erstens einen kritischen Maßstab gegenüber einer Arbeit, die unwürdig ist. Unwürdige Arbeit gerät in einen Widerspruch zu Königswürde des Menschen. Nicht als Arbeitssklave, sondern als Mitarbeiter Gottes ist der 451 Mensch geschaffen. Zweitens spricht die Rede von der Königswürde des Menschen die Verantwortung für solche Verhältnisse an, die der Würde des Menschen entsprechen. Die Herrschaft des Menschen bei der Bearbeitung des Bodens und bei der Viehzucht ist auf das Subsistenzrecht bezogen, aber kein Freibrief zur Ausplünderung der Natur oder zur Herrschaft über andere Men448 449 450 451 C. Westermann, Genesis, 219f. K. Koch, Gestaltet die Erde, doch hegt das Leben! Einige Klarstellungen zum dominium terrae in Gen 1, in: Wenn nicht jetzt, wann dann? Aufsätze für H.-J. Kraus zum 65. Geburtstag (hg. von H.-G. Geier u.a.) Neukirchen - Vluyn 1983, 28. N. Lohfink verweist darauf, daß Gen 1,28 keineswegs einen vortechnischen Erfahrungshorizont hatte. Die Priesterschrift ist zu verstehen auf dem Hintergrund der Kenntnis der hochorganisierten Stadt- und Bewässerungskultur Babyloniens mit ihrer Zivilisations- und Kunsttradition. Vgl. dazu N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? 139f. C. Westermann, Genesis, 218ff. H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615. 165 schen. Mit dem der altorientalischen Königsvorstellung entnommenen Bild ist ein Verantwortungsbegriff verbunden. Der Mensch wird auf seine Verantwortung angesprochen, die jedoch nicht subjektlos verstanden werden darf. Es macht einen Unterschied, wer auf seine Verantwortung hin angesprochen wird: der israelitische Bauer, der den Boden bestellt, oder der König, der das Land durch Krieg verwüstet (Jes 16,8). Für ein heutiges ökologisches Ethos problematisch ist der Anthropozentrismus, der die Mitgeschöpflichkeit aus den Augen verloren hat und die nichtmenschliche Natur als Objekt menschlicher Herrschaft betrachtet. 5.1.3 Arbeit und Ruhe - ein ganzheitliches Verständnis Arbeit und Ruhe bezeichnen in der griechisch-römischen Antike Klassengegensätze. Volles Menschsein hat bereits der Handwerker nicht, und der Sklave gilt als Sache. Ruhe statt “Arbeit” ist das griechischrömische Ideal. Die körperliche Arbeit, aber auch Handel und Geschäftetreiben werden neg-otium, genannt, während die Muße oder Ruhe = otium als Urzustand oder Ausgangspunkt angesehen wird: Arbeit ist die Negation der Muße. Für die Arbeit waren Sklaven oder Handwerker zuständig, die gering geschätzt oder denen sogar das volle Menschsein abgesprochen wurde. Aristoteles bezieht sich auf ein Sprichwort: “Keine 452 Muße gibt es für Sklaven.” Sie sind für das Herstellen der lebensnötigen Dinge da. Nach Aristoteles macht die Muße (scholía) den Angelpunkt aus. Deshalb kommt es darauf an, “nicht bloß in richtiger Weise einer Beschäftigung nachzugehen, sondern auch in der Lage zu sein, sittlich richtig die Muße zu pflegen. Denn dies ist das Prinzip von al453 lem.” Die Geschäftigkeit des Werktags ist nicht das Zentrum. Die Muße ist gegenüber der Arbeit höher einzuschätzen, wie Aristoteles formu454 liert: “Wir sind unmüßig, um Muße zu haben.” Um diese Maxime leben zu können, konnte Muße gesellschaftlich nicht verallgemeinert werden. Arbeit war in der griechischen Antike kein gesellschaftlicher Integrations-, sondern ein Ausschlußfaktor. Ganz anders im Alten Israel: Dort bilden Arbeit und Ruhe keine Merkmale, nach denen sich Klassen differenzieren. Arbeit verbindet nach alttestamentlicher Auffassung alle Menschen. Nicht zu arbeiten, wird weder mit der Paradiesesvorstellung verbunden, noch wird von einer guten Zukunft erwartet, daß sie Arbeit erübrigt. 452 453 454 Aristoteles, Politik, 7, 1334 b 18. Aristoteles, Politik, 7, 1337 b 31. Aristoteles, Nikomachische Ethik 10, 7 (1177 b). 166 Dem biblischen Arbeitsbegriff ist jener Gegensatz von Arbeit und Ruhe fremd, der die europäische Kultur prägt. Die Ruhe beendet nach biblischem Verständnis nicht die Arbeit, ist auch kein Gegensatz zur Arbeit, sondern vollendet sie. Die Ruhe des Sabbat ist im hebräischen Denken nicht eine Alternative zur Arbeit, sondern Korrektiv und Ergänzung zur 455 Arbeit. Der siebente Tag und die sechs Tage stehen paritätisch gegenüber. “Sie sind die beiden Seiten derselben Sache, ergänzen einander und haben dieselbe Wurzel. (...) Ebensogut wie die Ruhe am siebenten Tage folgt die Arbeit an den sechs Tagen dem göttlichen Vorbilde, wenn sie mal‟achah, sinnvolle, zweckmäßige, lebensfördernde Arbeit ist und mit der Ruhe des Sabbat abgeschlossen werden soll. Die irdische und weltliche Arbeit an den sechs Tagen wird dadurch nicht minder zur Pflicht wie die Ruhe am siebenten und erhält gleichfalls eine Art religiöser 456 Würde und Verdienstlichkeit. Sie ist eine Vorhalle zum Heiligtum.” Jeder Tag hat seine eigene Berechtigung, Bestimmung und Würde. Dadurch ergänzen und korrigieren sie sich gegenseitig. Vom Sabbat her werden die Tage zwischen den Sabbaten betrachtet und einer kritischen Bewertung unterzogen. Arbeit und Ruhe werden nicht voneinander getrennt erfahren, sondern zusammen als mandatum Gottes aufgefaßt. Die Vollendung der Weltschöpfung geschieht durch die Ruhe des siebenten Tages. “Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte”(Gen 2,2). Arbeit ohne Ruhe bleibt unvollständig. Erst die Ruhe des Sabbattages schließt die Schöpfung ab. Nicht der Mensch, sondern der Ruhetag ist die Krone der Schöpfung. Darin drückt sich ein ganzheitliches Verständnis von Leben und Arbeiten aus, das spätestens seit der Industrialisierung und der damit verbundenen Ökonomisierung der Arbeit verlorengegangen ist. Das Sieben-Tage-Schema des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes läßt mit der Sabbatterminologie auch den Sabbatgedanken anklingen und begründet umgekehrt den Sabbat im Dekalog mit der Einsetzung bei der Schöpfung. “Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt” (Ex 457 20,11). “Die von Arbeit und Wirken angefüllten Tage allein sind nicht die Zeit, die Gott geschaffen hat; die von Gott geschaffene Zeit ist ge458 gliederte Zeit; die Werktage haben ihr Ziel in einem Ruhetag.” Gesegnet wird der siebente Tag der Schöpfung. Segen bedeutet Fruchtbarkeit. 455 456 457 458 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616. B. Jacob, Das Buch Exodus, 574. J. Ebach, Arbeit und Ruhe, 101; vgl. C. Westermann, Genesis, 234 - 238. C. Westermann, Genesis, 236. 167 “Der heilige, abgesonderte Tag, der ein Tag der Ruhe ist, erhält im Segen die fördernde, belebende, das Dasein bereichernde und erfüllende Kraft. Das heißt, gesegnet wird nicht eigentlich der siebte Tag als Größe für sich, gesegnet wird vielmehr der Tag in seiner Bedeutung für die Gemeinschaft bzw. hier im Zusammenhang der Schöpfung: der Tag in 459 seiner Bedeutung für die Gemeinschaft und die Menschheit.” Das Arbeitsethos hat in der biblischen Tradition einen so zentralen Stellenwert, daß Walther Bienert in seiner Monographie über Die Arbeit nach der Lehre der Bibel zu dem Schluß kommt, daß “allein die biblische Arbeitslehre ein sicheres Fundament für eine christliche Arbeits- und So460 zialethik abgeben kann.” Arbeiten kann nach biblischem Verständnis als eine gemeinschaftsstiftende, schöpferische, bewahrende, gestaltende Tätigkeit verstanden werden. Sie ist Mühsal, aber auch Dienst an der Gottheit oder am König, Priesterdienst und Feldarbeit und kann von Gott 461 wie vom Sklaven ausgesagt werden. Da es in der biblischer Perspektive nicht um eine Befreiung von der Arbeit, sondern um eine dem Menschen gemäße Arbeit geht, die als Teil erfüllten Lebens anzusehen ist, lautet der Gegensatz nicht wie in der Antike Arbeit oder Befreiung von der Arbeit. Dort sind otium (Muße) positiv und neg-otium (Arbeit) negativ definiert. Das ganzheitliche Arbeitsverständnis der Bibel, das sogar noch Ruhe umgreift, entfaltet einen Arbeitsbegriff, der nicht im Gegensatz zur Muße steht. Menschenwürdige Arbeit versteht die Bibel als eine gute Arbeit, die Teil erfüllten Lebens ist; ein erfülltes, menschenwürdiges Leben in der Arbeit oder menschenunwürdiges Leben in der Arbeit lautet die Al462 ternative nach biblischem Verständnis. 5.2 Menschenrecht auf Arbeit Von einem “Ende der Arbeitsgesellschaft” wird gegenwärtig angesichts der verfestigten Massenarbeitslosigkeit gesprochen. Die Arbeitslosenforschung mit den empirisch belegten Ergebnisse zeigt: - Arbeitslosigkeit steigert das Grundgefühl, das der abhängig Beschäftigte zeit seines Lebens gehabt hat, nämlich das Grundgefühl existentieller Abhängigkeit beim Verkauf seiner Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt; 459 460 461 462 Ebd. 237. W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel. Eine Grundlegung evangelischer Sozialethik, Stuttgart 1954, XII. H.D. Preuß, Art. Arbeit, 613. T. Meireis, “Arbeit macht das Leben süß...”. Das „Recht auf Arbeit‟ - eine reformatorische Herausforderung? In: J. Becker (Hg.), Ethik in der Wirtschaft, Stuttgart, Berlin 1996, 170. 168 - Arbeitslosigkeit hat trotz der sozialstaatlichen Sicherungen nichts von ihrer menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Dramatik verloren; - Entlassen zu werden, wird so empfunden, als werde man nicht mehr gebraucht; - Das traditionelle Bewußtsein davon, durch seine Arbeit in der Produktion oder in der Dienstleistung einen Beitrag zur Gesellschaft geleistet zu haben, löst sich zugunsten eines resignativen Selbstverständnisses auf; - Die Arbeitssituation war immer auch ein Ort des tagtäglichen sozialen 463 Kontaktes. Arbeitslosigkeit führt zur Isolation. In der Negativerfahrung von Arbeitslosigkeit zeigt sich, welche hohe anthropologische, soziale und gesellschaftliche Bedeutung Arbeit als Erwerbsarbeit hat. Günter Brakelmann nennt zu Recht Erwerbsarbeit “das Sinnzentrum, von dem das ganze Leben seinen Inhalt und seine Struktur 464 bekommt.” Die gesellschaftliche Zentrierung um die Erwerbsarbeit wird im Zuge der ökonomischen Krise noch einmal verschärft. Sichere und ausreichend bezahlte Arbeitsplätze werden zu einem knappen und deshalb wertvollen und umkämpften Gut. Erwerbsarbeit ist nach wie vor der Modus, der individuelle Identität und gesellschaftliche Anerkennung bildet. Erwerbsarbeit ist ein Ort gesellschaftlicher Betätigung. Arbeitslosigkeit stellt hingegen die immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelte 465 Würde der Person in Frage. Wie fragwürdig die Hypothese vom Ende der Arbeitsgesellschaft ist, zeigen folgende Aspekte: Erwerbsarbeit hat nach wie vor im Bewußtsein der abhängig Beschäftigten einen hohen Stellenwert. Viel mehr Menschen als je zuvor sind an der Aufnahme einer Erwerbsarbeit interessiert. Insbesondere die Erwerbsarbeitsneigung bei den Frauen hat in den letzten Jahrzehnten rapide zugenommen. Es schwindet zwar der traditionelle Charakter von Erwerbsarbeit, die durch den Berufscharakter geprägt war, doch neue Arbeitsbilder sind statt dessen entstanden. Es zeigt sich bei alledem überdeutlich, daß diejenigen, die arbeitslos geworden sind, 463 464 465 G. Brakelmann, Sinn der Arbeit - Sinn des Lebens, in: ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 197-199. Ebd. 199. Nicht anders O. Negt: “Welche Berechtigung es auch haben mag, ... das endgültige Ende der Arbeitsgesellschaft zu verkünden: Die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste sprechen eine ganz andere Sprache. Es lassen sich kaum Hinweise darauf finden, daß Erwerbsarbeit, also jene vorherrschende Form bezahlter Arbeitsleistung, über deren gesellschaftliche Anerkennung individuelle Identität und Selbstwertgefühl sich bilden, im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Abwertung erfahren hat.” (O. Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatz zweier “Ökonomien”, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/1995, 7.) Chr. Gremmels u. F. Segbers (Hg.), Arbeitslosigkeit. Herausforderung der Kirchen, Mainz München 1979. 169 nicht mit Transfereinkommen, Lohnersatzleistungen oder Arbeitslosengeld ausgesteuert werden wollen. Sie wollen ein Einkommen erhalten, das durch eigene Arbeit erworben worden ist. Die Kirchen wenden sich in ihrem Wort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit dagegen, angesichts der langanhaltenden Arbeitslo466 sigkeit von einer “Illusion Vollbeschäftigung” zu sprechen: “Solange die Erwerbsarbeit die existentielle Grundlage für die Sicherung des Lebensunterhalts, die soziale Integration und persönliche Entfaltung des einzelnen ist, ist es die Aufgabe einer sozial verpflichteten und gerechten Wirtschaftsordnung, allen Frauen und Männern, die dies brauchen und wünschen, den Zugang und die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu eröffnen.” (Ziff. 168) Eine Erwerbsarbeit, die den Zugang zur eigenen Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verschafft, begründet ein “Menschenrecht auf Arbeit” (Ziff. 151), das die Kirchen vorrangig als ein Menschenrecht auf Erwerbsarbeit auslegen, auch wenn sie für ein neues Arbeitsverständnis offen sind, das über ein marktzentriertes hinausreicht. Arbeit ist allerdings mehr als die am Markt getauschte Arbeit und umfaßt andere Tätigkeiten des Menschen. “Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen.” (Ziff. 152) Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen stellt das Recht auf (Erwerbs-) Arbeit in den Zusammenhang der Menschenrechte. Das Recht auf Erwerbsarbeit ist zwar nicht einklagbar, wird aber 467 zur Maßgabe und Verpflichtung der Politik. 5.3 Wirtschaftsethische Übertragung: Priorität der Arbeit Unter der Bedingung kapitalistischer arbeitsteiliger Produktionsverhältnisse sind Kapital und Arbeit getrennt. Sachlich notwendig jedoch ist für die Produktion ein Miteinander von Kapital als den Sachmitteln und von Arbeit als Verrichtung an diesen Sachmitteln. Der trennende Dualismus bezieht sich also nicht auf Kapital und Arbeit an sich, also nicht auf den Produktionsprozeß, sondern auf die gesellschaftlichen Trägerschichten, die hinter Kapital und Arbeit stehen. Arbeit ist unmittelbar mit der Person verbunden, was vom Kapital nicht gesagt werden kann. Im Verhältnis zum Kapital hat die menschliche Ar466 467 So W. Dettling, Illusion Vollbeschäftigung, in: Die Zeit vom 14.1.1994. H. Ruh, Recht auf Arbeit, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland. Kirchen und Gewerkschaften gemeinsam für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität, Bochum 1998, 99-104. 170 beit deshalb eine unvergleichlich höhere anthropologische und soziale Bedeutung. Anthropologisch steht Arbeit, nicht aber Kapital mit der Würde des Menschen in einem Zusammenhang. Da das Kapital nur instrumentellen Charakter besitzt, Arbeit aber einen personalen, können Arbeit und Kapital nicht gleichwertig sein. Eine Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit zu postulieren, hieße den personalen Charakter des Menschen auf eine Stufe mit dem instrumentellen des Kapitals zu stellen. Aus dieser anthropologischen Überlegung heraus hat die katholische Soziallehre einen Vorrang der Arbeit vor dem Kapital formuliert. In der Enzyklika Laborem exercens (1981) hat sie dabei jene anthropologisch-personal begründeten Argumentationslinien, die immer schon die Sonderstellung der Arbeit betonten, konsequent weiterentwickelt und sozialethisch das 468 Prinzip eines Vorrangs der Arbeit formuliert. Laborem exercens begründet den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital mit naturrechtlichen Kategorien. Gibt es andere Zugänge, den Primat der Arbeit zu begründen? Nur einzelne evangelische Sozialethiker haben sich diese in der katholischen Ethik ursprünglich beheimatete sozialethische Leitformel zu eigen gemacht. Zu ihnen gehört Arthur Rich, der es eine unbestreitbare Tatsa469 che nennt, “daß die Arbeit dem Kapital vorangeht.” Rich macht sich hier offensichtlich die auf Aristoteles zurückgehende Anschauung der al470 leinigen Fruchtbarkeit der Arbeit zu eigen. Deshalb begründet er die Priorität der Arbeit mit dem Sachverhalt, daß das Kapital primär produ468 469 470 O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980, 213. Zur Tradition der Forderung nach einem Primat der Arbeit vor dem Kapital: F. Segbers, Streik und Aussperrung sind nicht gleichzusetzen. Eine sozialethische Bewertung, Köln 1986, 293-298-302; ders., Die Arbeitl hat Vorrang vor dem Kapital. Die Enzyklika “Über die menschliche Arbeit” von Johannes Paul II., in: Neue Stimme 1/ 1982, 12-15; ders., Wende, die wir meinen. Der Vorrang der Arbeit in der Sozialenzyklika Laborem exercens, in: Neue Stimme 4/1984, 14-16. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 85. “Der Zins jedoch vermehrt dieses (das Geld, F.S.) selbst. Ähnlich ist nämlich das Geborene selber dem Gebärenden, und so bedeutet der Zins Geld vom Geld. Demnach ist diese Art des Kapitalerwerbs die, die am meisten der Natur zuwiderläuft” (Aristoteles, Politik A 10 p1258 b 5 ff.). Die Widernatürlichkeit des reinen Geldgeschäftes zeigt bereits die Bezeichnung: das griechische Wort für Zins (tókos) leitet sich ab von dem Wort tokein = gebären: Geld gebiert also Geld. Diese Anschauung diente in der Scholastik und der Neuzeit der römisch-katholischen Sozialethik als Begründung für das Zinsverbot. Da allein Arbeit fruchtbringend sei, könne Geld nicht Zins “abwerfen”. Auch G. Wünsch weist in seiner “Evangelischen Wirtschaftsethik” auf diese Traditionslinie hin: “Kapital wie Grund und Boden sind an sich nichts, sie werden erst etwas durch die Arbeit” (Evangelische Wirtschaftsethik, 687). Die erste römische Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) nimmt diese Tradition der Fruchtbarkeit der Arbeit auf, wenn sie sagt, daß “es eine unumstößliche Wahrheit ist, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen entstehe Wohlhabenheit im Staat” (RN 27, präzisiert in: Quadragesimo anno 53). Vgl. die Ausführungen dazu von: O. von Nell-Breuning, Die Arbeitswertlehre in der scholastischen Theologie, in der katholischen Soziallehre und nach Karl Marx, in: Th. Strohm (Hg.), Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Aufgaben. Festgabe für Arthur Rich, Zürich 1980, 57-74. 171 ziertes Produktionsmittel ist: “Allein, dieser empirisch belegte Sachverhalt ändert nichts daran, daß der Faktor Arbeit unter dem anthropologischpersonalen Aspekt gesehen gegenüber dem Faktor Kapital im Vorrang steht.” Daraus folgert Arthur Rich: “Darum ist und bleibt die Arbeit als personal-gesellschaftliche Leistung der eigentliche Produktionsfaktor in der Wirtschaft. Jede Art von Vorrangstellung des Kapitals vor der Arbeit entbehrt der Begründung und steht sowohl zum Menschengerechten als auch zum Sachgemäßen im Gegensatz: zum Menschengerechten, weil der Vorrang des Kapitals die Subsumierung der Arbeit unter eine Sache und damit die Preisgabe des Menschen als Subjekt, als Grund und Zweck der Wirtschaft bedeuten würde; und zum Sachgemäßen, weil sich ökonomisch mehr als Gleichrangigkeit des Kapitals mit der Arbeit als 471 Produktionsmittel, als knappes Gut, nicht begründen läßt.” Für Wolfgang Huber besteht auf der Basis des christlichen Menschenbildes und seiner positiven Wertung der Arbeit ein “unaufgebbarer Vorrang der Ar472 beit vor dem Kapital” . Und Günter Brakelmann unterstreicht die Bedeutung des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital aus sozialethischer Sicht: “Priorität der Arbeit, Priorität für die Arbeit dürfte als sozialethische 473 Leitformel eine sachgerechte christliche Aufgabe sein.” Der faktische Vorrang des Kapitals vor der Arbeit, wie er in einer kapitalistischen Marktwirtschaft besteht, “entspricht aber nicht dem Wesen der Sache 474 und muß” - so Brakelmann - “entsprechend korrigiert werden” . Auch die Ökumene hat sich die Formel des Vorrangs des Menschen vor den Interessen der Ökonomie als einen zentralen Begriff christlicher Orientierung zu eigen gemacht. So hat die Botschaft der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung 1997 in Graz dazu aufgerufen, “den Vorrang der menschlichen Person gegenüber wirtschaftlichen Interessen 475 wieder herzustellen oder aufrechtzuerhalten.” Leider ist das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit hinter diesen ökumenischen Konsens zu- 471 472 473 474 475 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 86. W. Huber, Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Ruhetag. Festvortrag zur Verleihung des Hans - Böckler - Preises an den KDA, in: kda Nr. 1/1996, 29; auch: W. Huber, Zukunftsfähigkeit - Zehn Thesen zur Wirtschaftsethik, in: W. Huhn u. F. Segbers u. W. Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 123-128. G. Brakelmann, Die Zukunft der Arbeit, in: ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 112; auch G. Brakelmann, Priorität der Arbeit vor dem Kapital. Nachwort zu “Laborem exercens”, in: ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 39-42. G. Brakelmann, Priorität der Arbeit vor dem Kapital, 41. Botschaft, Herausforderungen III, zit. nach: epd-Dokumentation 35/1997, 3. 172 rückgefallen und hat sich diese sozialethische Leitformel des Vorrangs 476 der Arbeit vor dem Kapital nicht zu eigen gemacht. Vorrang der Arbeit vor dem Kapital bedeutet nach Oswald von NellBreuning, daß dem Kapital nicht das Recht zukomme, “sich als den einzigen oder auch nur als den führenden Ordnungsfaktor der Wirtschaft aufzuwerfen und die Arbeit bestenfalls als zweitrangig und folgerichtig 477 untergeordneten Faktor gelten zu lassen.” Denn die Verfügung über Eigentum dürfe nicht Herrschaft über Sachen und zugleich Herrschaft über Menschen legitimieren. Mit der Forderung nach einem Vorrang der Arbeit vor dem Kapital soll deshalb “die im Kapitalbesitz begründete Machtüberlegenheit beseitigt, ausgeräumt oder irgendwie unschädlich 478 gemacht werden.” Die sozialethische Forderung nach der Priorität der Arbeit will eine Antwort auf die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft im Unternehmen geben. Nell-Breuning hat aus dieser sozialethischen Wertung der Arbeit vor dem Kapital zwei Folgerungen gezogen: der ökonomische Erfolg darf sich erstens nicht zum Selbstzweck verselbständigen, sondern muß dem persönlichen Wohl der im Einzelunternehmen oder in der Gesamtwirtschaft tätigen Menschen dienen und darum im Fall einer Ziel- oder Interessenkollision zurücktreten und sich 476 477 478 W. Krämer, Dortmund, verdanke ich den Hinweis, daß alle Vorentwürfe der Diskussionsgrundlage für ein Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland an der sozialethischen Position eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital ausdrücklich festgehalten hatten: Textstufe vom 8.4.1994, Ziff. 82: “Die Wirtschaft ist für den Menschen da. Es ist der Mensch, der in ihrem Mittelpunkt steht. Sie muß aus diesem Grunde menschengemäß geordnet sein. Es muß deutlich sein, daß der Mensch und seine Arbeit mehr ist als das Kapital.” Textstufe vom 28.7.1994, Ziff. 117 und Textstufe vom 25.8.1994 lauten identisch: “Es muß deutlich sein, daß der Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital. Ein Ungleichgewicht zwischen Sozialsystem und Wirtschaftssystem gefährdet grundsätzlich beide Teile.” Die Endredakteure haben zwar die Aussage von einem “Ungleichgewicht zwischen Sozialsystem und Wirtschaftssystem” in die Endfassung der Diskussionsgrundlage übernommen. Die prinzipienethische Konkretion, “daß der Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital”, haben sie gestrichen (Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen, Gemeinsame Texte 3; hg. Kirchenamt der EKD,Hannover u. Sekretariat der DBK, Bonn (Bonn, o.J.-1994). Die Kirchen wollten sich offensichtlich in der Endredaktion jene Position der lehramtlichen Aussagen in römischen Enzykliken nicht zu eigen machen. Die Streichung muß jedoch keineswegs auf Bedenken des evangelischen Partners zurückgehen. Die römisch-katholische Kirche in Deutschland hatte sich immer schon schwer getan, die lehramtliche Aussage eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital für die Verhältnisse in Deutschland zu rezipieren. Wie in dieser ökumenischen Diskussionsgrundlage auch auf weitere sozialethische Einsichten mit Hinweis auf den ökumenischen Partner verzichtet wird, habe ich ausgeführt in: F. Segbers, Ökumene auf der Bremsspur? Zum Sozialwort der Kirchen, in: epd-Dokumentation Nr. 16 vom 10.4.1995, 31-36. O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980, 213. O. von Nell-Breuning, Arbeit vor Kapital. Kommentar zur Enzyklika Laborem exercens von Johannes Paul II., Wien, 1983, 93. 173 unterordnen; zweitens muß die Willensbildung in Unternehmen wie Gesamtwirtschaft so institutionalisiert sein, daß der Faktor Arbeit stark genug ist, in der konkreten Politik des Unternehmens oder der Wirtschafts479 politik die Zielrichtung durchzusetzen. Die sozialethische Forderung nach einem Vorrang der Arbeit will gegenüber der Logik des Kapitals für die Arbeit eine ökonomisch, sozial und rechtlich führende Rolle garantieren. Erst dadurch kommt eine sachgemäße Partnerschaft zwischen Arbeit und Kapital zustande, denn zwischen dem personalen Beitrag des Menschen im Produktionsprozeß und dem Faktor Kapital kann es aus anthropologischen Gründen nicht zu einer Gleichstellung kommen. Arbeit des Menschen besitzt einen Wert, der nicht in einem Tauschverhältnis zum Kapital aufgehen kann. Gleiches kann vom Kapital nicht gesagt werden, denn Kapital besitzt keine Würde, die mit der anthropologischen Würde vergleichbar wäre. Die Formel vom Vorrang der Arbeit vor dem Kapital wird in der normativen Konkurrenz zwischen der ökonomischen Logik und den Ansprüchen des Menschen eine wertende Entscheidung treffen. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß sich die Ethiker bei der Begründung eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital auf sozialphilosophische oder anthropologische, nicht jedoch auf biblische Gesichtspunkte beziehen. Im folgenden möchte ich aufzeigen, wie sozialethische Wertungen, die von einem Vorrang der Arbeit einerseits und einer Option für die Armen andererseits sprechen, biblischen Aspekten zugänglich sind, denn sie enthalten folgende Strukturaffinitäten: Erstens der Subjektcharakter: Der Vorrang der Arbeit geht von einer Sicht des Menschen aus, die diesem aufgrund seiner Arbeit das Recht zuerkennt, ein mitwirkendes und mitbestimmendes Subjekt zu sein. Wie die Option für die Armen geht auch die Forderung nach einem Primat der Arbeit von der Tatsache aus, daß gleichberechtigte Teilhabe oder Partizipation vorenthalten wird. Oswald von Nell-Breuning erkennt einer Wirtschaft das Attribut “sozial befriedigend” erst dann zu, “wenn sie so geordnet ist, daß jeder Mensch Subjekt des Sozialprozesses ist und keiner 480 bloßes Objekt.” Ausgangspunkt sowohl der Forderung nach dem Primat der Arbeit als auch der biblischen Option für die Armen ist die Tatsache fehlender Teilhabe. Biblisch bezeichnet “arm” eine Beziehung, durch die Starke den Schwachen gegenüber sich mächtig und überlegen zeigen. Beide Positionen verbindet die moralische Substanz einer Achtung der gleichrangigen subjekthaften Würde aller Menschen. Die biblische Option für die Armen hat ein Interesse an Partizipation. “Dabei werden 479 480 Ebd. 101. O. von Nell-Breuning, Die soziale Marktwirtschaft im Urteil der katholischen Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft heute, Zeitfragen Bd. 3, Freiburg 1960, 101. 174 die Armen und Schwachen nicht als passive oder gar unmündige Hilfeund Almosenempfänger angesehen. Ihre aktive Teilnahme an sozialen, ökonomischen und rechtlichen Lebensverhältnissen wird vielmehr vorausgesetzt, unterstellt. Sie wird aber als gefährdet und des besonderen 481 Schutzes bedürftig angesehen.” Deshalb stehen beide Optionen für eine gemeinsame Zielrichtung, nämlich vorenthaltene Gleichberechtigung einzulösen. Die Option für die Armen wie die Forderung nach Priorität der Arbeit wären mißverstanden, wenn man sie als eine schichtenoder gar klassenspezifische Forderung ansehen würde. Nur scheinbar sind sie partikularistisch, tatsächlich sind sie universalistisch, denn sie wollen eine vorenthaltene Gleichberechtigung für alle einlösen. Auch wenn sie parteilich sind, sind sie doch dem Ganzen verpflichtet. Zweitens haben die Forderung nach einem Primat der Arbeit und die Option für die Armen gemein, daß beide für eine “sozialethische Eindeu482 tigkeit in der argumentativen Parteinahme” stehen. Sie nehmen die Sichtweise der Schwächeren wahr. Enrique Dussel hat überzeugend dargelegt, daß “der Andere, der Arme in seiner extremen Exteriorität”, 483 der “dem System gegenübersteht” , ein privilegierter Ort ist, die Defizite des Systems wahrzunehmen. Die Option für den armen Anderen durchbricht ebenso wie die Forderung nach einem Primat der Arbeit die Logik des ökonomischen Systems. Dieses wird von außerhalb und von denen befragt, welche die Systemrationalität einer Kapitallogik ausgeschlossen hat. Drittens geht es in beiden Positionen nicht allein um Einstellungen und Haltungen; sie wollen ein Recht formulieren, das politische, rechtliche und soziale Geltung bekommen soll. Nicht allein die ökonomische Systemlogik soll gelten; diese soll vielmehr durch die Logik des ausgeschlossenen, armen Anderen und durch die lebensweltliche Logik der Arbeit ergänzt werden. Mit dieser Forderung werden jedoch zugleich jene Mechanismen in Frage gestellt, die strukturell zur Ungleichheit führen. Die Logik des Marktes - gleichwohl nur ein Teil - gibt sich für das Ganze. Jene wirtschaftsethische und wirtschaftspolitische Denkweise, die nur die Logik und Rationalität der ökonomischen Logik gelten läßt oder diese als die einzig zulässige betrachtet, halbiert die ökonomische und lebensweltliche Rationalität. Die ökonomische Rationalität trennt die anderen, humanen und sozialen Gesichtspunkte ab. Die Option für die Armen und die Anderen überwindet diese Halbierung. Gegenüber der Logik des Humanum müssen alle anderen Logiken zurücktreten. 481 482 483 M. Welker, Geist und Gesetz, 220. G. Brakelmann, Priorität der Arbeit vor dem Kapital, 42. E. Dussel, Philosophie der Befreiung, 58. 175 Viertens stehen hinter beiden Einsichten soziale Bewegungen. Die Option für die Armen und die Forderung nach der Priorität der Arbeit sind nicht subjektlos. Der soziale Ort der Option für die Armen waren in ihrem ursprünglichen Verständnis die sozialen Bewegungen in den Ländern des Südens. Die Forderung nach einem Vorrang der Arbeit hat - wenn auch nicht in dieser Terminologie, wohl aber in dem sachlichen Anliegen - in den sogenannten alten sozialen Bewegungen der Industrieländer, den Gewerkschaften, ihren sozialen Ort. Fünftens verstehen beide Optionen Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit. Wolfgang Huber begründet dieses Verständnis von Gerechtigkeit: “In der modernen Gesellschaft ist Gerechtigkeit vor allem anderen 484 Beteiligungsgerechtigkeit: die faire Chance, das Seine einzubringen.” Den Armen und den abhängig Beschäftigten, der Arbeit, wird eben diese Gerechtigkeit als Beteiligung vorenthalten. Die Option für die Armen dringt wie die Forderung nach einem Vorrang der Arbeit zumindest auf eine Gleichberechtigung der Beteiligten. Diese Gesichtspunkte zeigen, daß Begründungen eines Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital nicht allein auf naturrechtliche oder sozialphilosophische Aspekte zurückzugreifen brauchen. Auch die biblische Orientierung der Option für die Armen und den Anderen kann den Vorrang der Arbeit argumentativ begründen und plausibel machen. Ökonomische Prozesse vom arbeitenden Menschen, oder allgemeiner: von der Arbeit her zu erschließen, ist ein Ansatz, der die biblisch grundgelegte Option für die Armen wirtschaftsethisch auslegen kann. Diesen ethischen Ausgangspunkt hat auch Günter Brakelmann eingenommen, wenn er in seiner kritischen Analyse des Mitbestimmungsurteils zu dem Schluß kommt: “Die Sorge gilt dem konkreten Menschen und nicht einem Ord485 nungsentwurf.” Durch diesen Ansatz wird ein System, das gesellschaftliche Benachteiligungen produziert, aus der Perspektive der Schwächeren wahrgenommen. Ähnlich ist auch der ethische Ansatz eines Vorrangs der Arbeit zu qualifizieren: Er nimmt wahr, daß die Arbeit dem Kapital nachgeordnet ist und dringt darauf, daß die Arbeit des Menschen den Orientierungspunkt einnimmt. Wie es dem Menschen und besonders den Armen in einem System ergeht, ist das zentrale sozialethische Kriterium zur Beurteilung eines jeden Systems. Dieses sozialethische Kriterium heißt in seiner wirtschaftsethischen Übertragung: Die abhängige Arbeit und ihre reale Lage ist aus der Perspektive der Option für 484 485 W. Huber, Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Ruhetag, 29; auch: W. Huber, Zukunftsfähigkeit - Zehn Thesen zur Wirtschaftsethik, 124. G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? Kritische Anmerkungen nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Th. Strohm (Hg.), Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Aufgaben, 313. 176 die Armen der kritische und ethische Maßstab zur normativen Beurteilung ökonomischer Systeme. 177 6. ANSÄTZE ZU EINER BIBELTHEOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG VON WIRTSCHAFTSETHIK 6.1 Wirtschaftsethik in der Bibel Es gibt in der exegetischen Wissenschaft ein neuerwachtes Interesse an der Erforschung der biblischen Gesetzestradition. Frank Crüsemann hat in seiner Monographie Die Tora den sozialgeschichtlichen Zusammenhang herausgearbeitet. Eckart Otto zeichnet in seiner Theologische Ethik des Alten Testaments, nicht allein die Entwicklung des Rechts im Alten Testament nach. Darüber hinaus will er Bezüge dieses alttestamentlichen Rechts zu einer “theologischen Legitimation von Recht und Ethos in 486 der wertpluralen Industriegesellschaft” herausarbeiten. In seinem Beitrag Wirtschaftsethik im Alten Testament bearbeitet E. Otto diesen As487 pekt ausführlich. Zu erwähnen sind aber auch einige ältere Untersuchungen, die sich mit dem Wirtschafts- und Sozialrecht der Tora ausei488 nandersetzen. Hingewiesen werden soll auf zwei kleinere Schriften, die im Kontext der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verfaßt wurden. Otto Weinberger hat vor 1948 eine Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments vorgelegt, die “den dogmatisch-philosophischen Gehalt 489 der alttestamentlichen Wirtschaftsethik” herausarbeiten will. Noch ganz unter dem Eindruck der Folgen nationalsozialistischer Ideologie betont er die bleibende Bedeutung der Tora-Tradition für die Gegenwart, die für “die Wissenschaft von der Wirtschaft fruchtbringende Lehren und 490 Anregungen aus diesem altehrwürdigen Buche auch heute noch” zu 486 487 488 489 490 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 111 - 116. E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt 1994, 279 - 289. Vgl. dazu die Literatur, die A. Ben-David in seiner Talmudischen Ökonomie verwendet hat. O.Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, Vorwort. Ebd. 135. 178 geben vermag. Auch die Schrift von Theodor Schwegler aus dem Jahr 1934/35 über Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischen 491 Gesetz steht im Kontext der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. 6.1.1 Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora Im 8. Jahrhundert vollzieht sich in der altisraelitischen Gesellschaft ein tiefgreifender Transformationsprozeß, der sich als Übergang von einer egalitären Stammesgesellschaft zu einer Gesellschaft beschreiben läßt, die in Klassen gespalten ist. Diese Entwicklung spitzte sich krisenhaft zu. Eine prosperierende Schicht von Großgrundbesitzern, Kaufleuten und Militärs hatte sich über die traditionelle Schicht der Kleinbauern geschoben, deren Produktionsweise auf Selbstversorgung ausgerichtet war (Mi 3,1.9; Jes 1,23; 3,12.14). Weite Teile der kleinbäuerlichen Bevölkerung 492 gerieten unter direkten Druck der Oberschicht. Diese Entwicklung geißelten die Propheten mit scharfen Worten. Sie kritisierten dabei nicht das ungerechte Verhalten einzelner, sondern unterzogen die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse einer strukturellen Kritik. Das System selbst 493 wurde angeprangert. Hauptursache der von den Propheten mit scharfen Worten angeklagten Mißstände ist das die Wirtschaft aller antiken Gesellschaften beherrschende Schuldenwesen. Es sah nicht nur den Zugriff des Kreditgebers auf den gesamten Besitz des säumigen Schuldner vor, sondern auch auf die Familie und seine Person. Dadurch gerieten die Schuldner in die völlige Verfügungsgewalt des Schuldherrn. Das Schuldenwesen trieb die Kleinbauern in einen teuflischen Kreislauf: Um überleben zu können, mußten sie sich Getreide oder Geld leihen. Auf das Darlehen waren hohe Zinsen zu zahlen und zur Sicherheit ein Pfand zu geben. Wenn das Darlehen nicht zurückgezahlt werden kann, trat die Person- und Sachhaftung ein: Eine arbeitsfähige Person des verschuldeten Haushaltes mußte in Schuldsklaverei gegeben werden, oder ein Stück Land fiel an den Gläubiger. Es entstand eine Situation, in der das eintrat, was die 491 492 493 Th. Schwegler, Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischen Gesetz und den Propheten, Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der Stiftsschule Einsiedeln 1934/35. Schwegler wendet sich zudem gegen “liberale Strömungen im Protestantismus”, die dafür sorgen, daß “auch in der Schweiz die feindliche Stimmung gegen das AT Anklang findet” (Vorwort - S. 3). Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 248f. K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, 238: So greift auch Amos nie Einzelpersonen an - mit Ausnahme von Amazja (ders., Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, 242). 179 Propheten immer kritisiert hatten: Besitz konzentrierte sich in immer weniger Händen (Jes 5,8), die Masse der Bevölkerung wurde von ihrem Grund und Boden verdrängt (Am 8,4; Mi 2,9f.); durch Überschuldung verelendet, verloren die Kleinbauern vollends ihre Existenzgrundlage und gerieten in Schuldknechtschaft (Am 8,6; 2,6). Die reiche Oberschicht trat als Kreditgeber auf. Sie nutzte die Notlage der kleinbäuerlichen Betriebe aus, um ihre eigene landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen, den Grundbesitz auszuweiten und ihren Wohlstand zu erhöhen. Die Folge war, daß die gesamtgesellschaftliche Solidarität auseinanderbrach. Die wirtschaftlich Starken profitierten von der Entwicklung, während die Kleinbauern die Opfer, die eigentlich Unschuldigen waren (Am 2,6; 5,12). Die prosperierende Oberschicht bediente 494 sich dabei legaler Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Die Verschärfung der sozialen Lage kann deswegen auch nicht allein auf individuelle Rechtsbrüche zurückgeführt werden. Es handelte sich vielmehr um Auswirkungen struktureller Gewalt, die ihren Grund in wirtschaftlichen 495 und gesellschaftlichen Entwicklungen der Königszeit hatte. Ausgangspunkt der Sozialkritik der Propheten des 8. Jahrhunderts war eine soziale Krise mitten in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität, die ein 496 katastrophales Zusammenbrechen der Gesellschaft befürchten ließ. Diese Situation rief Gegenkräfte auf den Plan, die den Versuch unternahmen, das bisherige Gewohnheitsrecht schriftlich zu fixieren, um so den gesellschaftlichen Transformationsprozeß regulieren und gestalten 497 zu können. Prophetische Kritik an ungerechten wirtschaftlichen Prozessen schlägt sich in einem Recht nieder, das gesellschaftliche Mißstände eindämmen und reduzieren oder gar vom Ansatz her verhindern will. Es entsteht ein Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht, das Rainer Kessler zu Recht eine Antwort auf gesellschaftliche Spaltungstendenzen 498 und Krisen nennt. Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora ist nicht in einem Zug entstanden, sondern Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, der in wenigen Strichen in seinen wichtigsten Etappen dargestellt werden soll. Am Ende des 8. Jahrhunderts entsteht das Bundesbuch (Ex 20,2223,3), das wahrscheinlich auf eine ältere Sammlung von Rechtssätzen zurückgreifen kann, die überwiegend sozial- und wirtschaftsrechtliche 494 495 496 497 498 Ebd. 248. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 252. Ebd. 248 spricht von sozialer Krise und gleichzeitigem wirtschaftlichen Aufschwung. R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 79; vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 139ff. R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 79. R. Albertz nennt es “immer wahrscheinlicher”, daß die Sozialgesetzgebung des Bundesbuches wie auch die sozialen Sprüche (Prov 1,31f.; 19,17; 22,22; 29,14) eher Folge als Voraussetzung der Prophetie des 8. Jh. gewesen sind (R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 259, Anm. 55). 180 499 Fragen regelt. In der Endzeit der Königszeit wurde die gesetzgeberische Arbeit des Bundesbuches fortgeführt und im deuteronomischen 500 Gesetz deutliche Reformakzente gesetzt (ca. 7. Jahrhundert). Eine Entwicklung setzt ein, die für die weitere Sozial- und Religionsgeschichte Israels von großer Bedeutung sein wird: die Sorge um einen gesell501 schaftlichen Ausgleich. Während der exilischen und frühen nachexilischen Zeit entstehen im 6. und 5. Jahrhundert die sogenannten priesterschriftlichen Gesetze, die sich in den Büchern Exodus bis Numeri, vornehmlich jedoch im Buch Levitikus als sogenanntes Heiligkeitsgesetz 502 (Lev 17-26) finden. Zusammengefaßt werden diese Schriften schließlich im 5. Jahrhundert im Pentateuch und galten durch persische Reichsautorisation als verbindliche Richtschnur für das nachexilische Juden503 tum. Prophetie und ein die Armen schützendes Recht berühren sich. Deutlich wird dies beim Propheten Ezechiel. Ist jemand gerecht, so handelt er nach Recht und Gerechtigkeit. (...) Er unterdrückt niemand. Er gibt dem Schuldner das Pfand zurück. Er begeht keinen Raub. Dem Hungrigen gibt er von seinem Brot, den Nackten bekleidet er. Er leiht nicht gegen Zins und treibt keinen Wucher. Er hält seine Hand vom Unrecht fern. Zwischen Streitenden fällt er ein gerechtes Urteil. Er lebt nach meinen Gesetzen, er achtet auf meine Rechtsvorschriften und befolgt sie treu. Er ist gerecht, und deshalb wird er am Leben bleiben Spruch des Herrn (Ez 18,5.7-9). Ezechiel zählt auf, was gerechtes Verhalten konkret heißt. Der Prophet stellt positive Normen zur Orientierung des soziales Handelns auf. Recht und Gerechtigkeit sollen in den gesellschaftlichen Bereichen von Kult und Ökonomie zur Geltung kommen. Der Prophet formuliert Solidarität mit den Armen, den Hungrigen, den Nackten und den Verschuldeten als gesellschaftliches und auch individuelles Ziel. 499 500 501 502 503 F. Crüsemann, Die Tora, 133ff.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, Göttingen 1992, 283ff.; R.Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 79; zum Forschungs- und Diskussionstand vgl. : G. Wanke, Art. Bundesbuch, TRE Bd. 7, 412-415. F. Crüsemann, Die Tora, 247; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 310ff.; R.Kessler, Das Wirtschaftrecht der Tora, 79f.; zum Forschungs- und Diskussionsstand vgl. : S. Dean McBride, Art. Deuteronomium, TRE, Bd. 8, 536-543. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 290. F. Crüsemann, Die Tora, 323ff.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd.1, 438ff.; R.Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 90; zum Forschungs- und Diskussionstand vgl. : H.D. Preuß, Art. Heiligkeitsgesetz, TRE 14, 713-718; E. Zenger, Priesterschrift, TRE, Bd. 27, 435-446; K. Koch, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 47f. F. Crüsemann, Die Tora,381ff.; R.Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 495ff.; H. Seebaß, Pentateuch, TRE Bd. 26, 185-209. 181 Die Maxime “Unter euch soll es keine Armen geben” (Dtn 15,4) kennzeichnet das ethische Profil des Deuteronomium. Die Sozialethik des Deuteronomium will gesellschaftliche Spaltungen überwinden. JHWH ist der Gott des ganzen Volkes. Aus dieser theologischen Begründung heraus soll die Oberschicht zur Solidarität mit den sozial und wirtschaftlich Schwachen motiviert werden. Das biblische Ethos nimmt seinen Ausgangspunkt in der Erfahrung gesellschaftlicher Spaltungen. “Die Sozialgesetzgebung der dtn. Reformbewegung trägt somit ausgesprochen hu504 mane Züge.” Von der gesellschaftlichen Tatsache der Spaltung zwischen Arm und Reich als Folge ökonomischer und sozialer Verhältnisse gehen die Konzeptionen im Bundesbuch, im Heiligkeitsgesetz und im Deuteronomium jeweils aus, doch entwickeln sie ein unterschiedliches sozialethisches Profil im Umgang mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Wie das deuteronomische Gesetz das Bundesbuch weiterführen, korrigieren, ergänzen und ersetzen will, so will es das Heiligkeitsgesetz in Lev 505 17-26 mit dem Deuteronomium tun. Verschiedene Rechtsfassungen bleiben nebeneinander stehen. Frank Crüsemann begründet die Divergenzen der Tora mit dem persischen königlichen Recht, einem additiven Recht, das keine Aufhebung alter Edikte zuließ, sondern das neue Recht 506 auch im Widerspruch zum alten setzte. Im Gegensatz zum Reformwerk des Bundesbuches wertet Eckart Otto das Deuteronomium als ein “utopisches Programm des Neuen Israels 507 nach dem Exil” . Er geht davon aus, daß die wirtschaftlichen Paränesen des Deuteronomium nicht als Gesetzestexte, sondern als gelehrte Programmtexte priesterlicher Kreise entstanden und in Umlauf gekommen seien, die sich, wie Jer 34,8ff. mit der Forderung der Sklavenbefreiung zeige, nicht hätten durchsetzen können. Das Deuteronomium spiegele also nicht das gültige Wirtschaftsrecht und das faktische Wirtschaftsverhalten der Zeit wider. Otto versteht sie als eine Stimme im kontroversen Diskurs der damaligen Gesellschaft. Diese skeptische Haltung gibt keineswegs einen Konsens wieder. Frank Crüsemann versteht das dtn. Gesetz als eine Maßnahme, die ergriffen wurde, als das judäische Volk mit den grundbesitzenden Bauern, dem „am ha‟ares, die Macht ergriffen hatte. Ort des deuteronomischen Reformgesetzes ist die 504 505 506 507 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 347. F. Crüsemann, Die Tora, 323. Ebd. 404ff. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 193. Mit Verweisen bei: ders., Wirtschaftsethik im Alten Testament, 284f. - Gegen R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 310ff., der die josianische Reform als breite nationale, soziale und religiöse Erneuerungsbewegung versteht, die mit z.T. massiven Eingriffen in die Rechte der Besitzenden vorging, um den Verarmungsprozeß in der Gesellschaft zu stoppen (ders., Religionsgeschichte, Bd. 1, 337). 182 508 deuteronomische Bewegung der Volkssouveränität. Frank Crüsemann verweist zur Begründung auf Dtn 26,16-19 und 2 Kön 22ff., die ausführen, daß aus dem deuteronomischen Gesetz eine Dauerregelung werden 509 sollte. Dtn 26,17ff. ist die Inkraftsetzung einer umfassenden Verfassung für Volk und König. Crüsemann datiert das deuteronomische Gesetz in seinen wesentlichen Teilen in jene Zeit, in der das judäische 510 Landvolk die Macht ergriffen hat, also vor Beginn der Exilszeit. Er sieht deshalb im Deuteronomium einen “Verfassungsentwurf für Israel”, der nicht nur gefordert, sondern von der freien Bauernbevölkerung Judas re511 al erkämpft wurde. Rainer Albertz sieht zwischen dem utopischen Charakter und einem tatsächlichen Reformprojekt der Sozialgesetzgebung des Deuteronomium keinen grundsätzlichen Widerspruch. In diesem Reformprojekt sei vielmehr jener Befreiungsimpuls politisch wirksam geworden, der der JHWH-Religion in ihren Anfängen innewohnt, und habe eine solche gesellschaftliche Kraft entwickelt wie nirgendwann sonst in der israelitischen Geschichte. Gerade für die Reformen sei deshalb ein utopischer Impuls unverzichtbar. “Ohne Utopie ist keine Reformbewegung, noch dazu keine so stark motivierte wie die dtn., denk512 bar.” Nach Rainer Albertz sei die soziale Seite des dtn. Programm zudem wegen des Widerstandes der Oberschicht, nicht aber aus Gründen 513 mangelnder Praktikabilität nicht durchgesetzt worden. Für ein sozialethisches Urteil ist die historische Faktizität nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Auch wenn die deuteronomischen Reformgesetze nicht alle in die Praxis umgesetzt wurden, so ist sozialethisch bedeutsam, daß Israel sich diese Norm gegeben hat und diese im Verlauf der Geschichte durch die Erinnerung lebendig hielt. Sozial- und wirtschaftsethisch ist allerdings nicht nur die formale Erinnerungstradition von Bedeutung. Die exakte Beantwortung der historischen Frage, ob es sich bei dem Reformprogramm lediglich um eine Ideal-Norm handelte, ist sozialethisch nicht entscheidend. Sozialethisch zu berücksichtigen ist die Einsicht, daß die aufgeführten Institutionen wirtschaftlicher Gerechtigkeit auch prakti514 kabel sind, wie die “Jobel-Jahrformel” zeigt. Ein historisch-kritischer Umgang mit der Tora-Tradition wird zunächst registrieren müssen, daß die Tora aus einer Folge von Rechtsbüchern zusammengesetzt ist, die einander teilweise sachlich widersprechen und in zeitlicher Abfolge entstanden sind. Frank Crüsemann resümiert: “Wie508 509 510 511 512 513 514 F. Crüsemann, Die Tora, 273ff. Ebd. 316f. Ebd. 242-251. F. Crüsemann, “... damit er dich segne...”,103. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 348. Ebd. 337. Vgl. oben die näheren Ausführungen in Abschnitt 4.2.2. 183 so und warum und durch welche Kräfte aus dem Nacheinander verschiedener Rechtsbücher die eine Tora, der eine Pentateuch, der eine Kanon wurde, ist bisher kaum mit ausreichenden Mitteln angegangen 515 worden.” Für unseren Zusammenhang ist das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora von Bedeutung, das im Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), im Deuteronomium (Dtn 12-26) und im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) formuliert worden ist. Rainer Kessler hat das betreffende Rechtskorpus der Tora in drei Bereiche eingeteilt: in solche, die der Vorbeugung gegen Verelendung dienen; solche, die die sozial Schwächeren schützen sollen, und solche, die regulierend in das soziale und ökonomische System ein516 greifen. 1. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung 1. Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.) Das antike Schuldenwesen war ein Mechanismus, der regelmäßig durch Verschuldung zu Ausbeutung und Abhängigkeit führte. Der Zweck des Zinsverbots bestand darin, die aus Verschuldung und Kreditnahme entstehende Abhängigkeit zu minimieren. 2. Beschränkung der Pfandnahme (Ex 22,25f.; Dtn 24,12ff.) Der Gläubiger mußte zur Sicherheit für sein Darlehen ein Pfand hinterlegen. Die Beschränkung der Pfandnahme sollte den Teufelskreis von immer wieder neuen Darlehen durchbrechen. 3. Korrekte Maße und Gewichte (Dtn 25,13-15) Ein beliebtes Mittel war es, im wahrsten Sinn des Wortes “mit zweierlei Maß zu messen”: Bei der Abmessung des Saatgutes wurde ein kleineres Maßgefäß verwendet, oder Geld als Tauscheinheit wurde mit zweierlei Gewichtsteinen abgewogen. 2. Gesetze zum Schutz der sozial Schwächeren 1. Sabbatgebot (Dtn 5,12ff.; Ex 23,12; 20,8ff.) Das Sabbatgebot der regelmäßigen Arbeitsruhe ist eine bedeutsame soziale Errungenschaft, die dem Knecht, der Magd, dem Herrn und dem Arbeitstier zugute kommt. 2. Weitere Schutzgesetze: 515 516 F. Crüsemann, Die Tora, 15. R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 80-88; eine anders klassifizierte Übersicht über das Wirtschaftsrecht der Tora von F. Segbers in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 340-345. 184 - Schutz vor sexueller Ausbeutung der Sklavinnen (Ex 21,8); - Schutz oder Einschränkung körperlicher Gewalt gegen Sklaven (Ex 21,20f.26f.); - Schutz der geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f); - Bestimmungen über die Versklavung von Mitgliedern des Volkes Israel (Lev 25,39f.); - Tägliche Ausbezahlung des Lohnes an die Tagelöhner (Dtn 24,14f.); - Unterdrückungsverbot, Recht auf humane Behandlung (Lev 25,43.46.53); 185 3. Almosenwesen Das Almosenwesen soll die schützen, die gänzlich aus dem System herausgefallen sind. Almosengeben bedeutet, “Gerechtigkeit tun”, und meint deshalb mehr als karitative Barmherzigkeit. Es erfüllt eine sozialintegrative Funktion. Das Grundrecht auf Leben soll materiell gesichert werden. Mehrere rechtliche Bestimmungen dienen diesem Anliegen: - Recht der Nachlese auf den Feldern und Weinbergen (Lev 19,9f; 23,22; Dtn 24,19-22) - Recht, bei der Brache des Sabbatjahres die Felder abzuernten (Ex 23,10f.; Lev 25,6f.) - Der Zehnte als Sozialsteuer für die “Witwen und Waisen”, d.h. zugunsten derer, die über keine eigenen Einkünfte verfügen (Dtn 14,22-29; 26,12f.) 3. Gesetze zur Regulierung der Wirtschaft 1. Schuldenerlaß alle sieben Jahre (Dtn 15,1f.) Wie in der Antike anderwärts auch üblich, gibt es regelmäßige Schuldenerlasse, um Verarmung durch Verschuldung aufzuheben. Für das Alte Israel ist der Schuldenerlaß in einem zeitlichen Zyklus verbindlich und deshalb absehbar. 2. Zeitliche Befristung der Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18) Schuldsklaverei ist zeitlich befristet. Nach Dtn 15,13f muß den freizulassenden Sklaven und Sklavinnen ein kostenloses Startkapital aus dem Vieh- und Erntebestand des bisherigen Herrn mitgegeben werden. 3. Jobeljahr (Lev 25,10ff.) Das Jobeljahr enthält eine Jobeljahr-Formel zu einer nicht marktförmigen Wertbestimmung von Immobilien. Alle sieben mal sieben Jahre sollen die Anhäufung von Bodenbesitz rückgängig gemacht und die Schuldknechtschaft beendet werden. Sinn der Einrichtung ist es, den Grundbesitz und die Angehörigen der Großfamilie zusammenzuhalten. Akkumulationsprozesse werden zyklisch unterbrochen und rückgängig gemacht. Die Rückführung zu früheren gerechten Zuständen verschafft den Betroffenen eine Chance des Neuanfangs und einen Ausweg aus Verschuldung und Verarmung. Diese Auflistung zeigt, daß es sich nicht allein um ein Wirtschaftsrecht handelt, sondern vielmehr um ein durchdachtes und systematisches Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht vor. Diese Übersicht wirft natürlich die Frage auf, inwieweit dieses Recht mit der tatsächlichen sozialen Rea- 186 lität übereinstimmte. Wurde es realisiert? Welche Rechtsvorschriften wurden nicht realisiert? Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß positives Recht nie die tatsächlichen Verhältnisse einer Gesellschaft spiegelt, denn Recht hat die Aufgabe, die normativen Leitbilder einer Gesellschaft 517 zu formulieren. Von den Rechtsnormen läßt sich deshalb nie direkt auf die soziale Wirklichkeit zurückschließen. Dennoch waren die gesetzgeberischen Reformvorhaben hervorragend geeignet, zur Identitätsbildung und Profilierung des Volkes Israels beizutragen und dadurch die eigene 518 Überlebensfähigkeit in einer anders geprägten Umgebung zu sichern. In der Antike hatte Recht einen anderen Charakter als in der Moderne. In der Moderne wird nach einem Rechtssatz geurteilt. In der Antike jedoch haben die Rechtssammlungen lediglich rechtsgelehrten Charakter. Sie fungieren wie ein Muster, nach dem im Einzelfall zu entscheiden ist. Die sozialen Verhältnisse, wie sie in der biblischen Tradition geschildert werden, zeigen, daß es zwischen dem Anspruch der Tora und der sozialen Wirklichkeit eine tiefe Kluft gab. Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht der Tora dokumentiert die normative Orientierung. Unrecht, Ungerechtigkeit, Rechtlosigkeit, Ausbeutung der Schwachen, Verarmung und Verelendung sollen nicht sein. Deshalb läßt sich die Formulierung in Dtn 15,4 “Unter euch soll es keine Armen geben” auch als programmatische Verpflichtung lesen. Welche Wege werden vorgeschlagen, diese Kluft zu überwinden? Der eine Lösungsversuch besteht in der Entscheidung des einzelnen für das Recht. Die Ijobdichtung zeigt das Ringen um den rechten Weg, wenn Ijob als ein Gerechter dargestellt wird: “Ich errettete den Elenden, der um Hilfe schrie, die Waise, die sonst keinen Helfer hatte” (Ijob 29,12ff.). Neben dem Weg der persönlichen Entscheidung gibt es auch eine Verbindlichkeit der Tora durch eine kollektive Verpflichtung. Markantes Beispiel ist die feierliche Selbstverpflichtung bei Neh 10. Dort wird geschildert, wie eine Selbstverpflichtung gemeinschaftlich zustande kommt, durch die Handelsgeschäfte am Sabbat unterbunden werden; auf den Feldertrag am siebten Tag will man verzichten und gelobt die Einhaltung des siebenjährigen Schuldenerlasses. Die zentralen Bestimmungen des Wirtschaftsrechts der Tora wurden zumindest seit der Zeit des Nehemia, also in der Mitte des 5. Jh., allgemein verbindlich und so gesellschaftliche Wirklichkeit, wie etliche Zeug519 nisse belegen. Unbestritten ist, daß zentrale wirtschaftsethische Be- 517 518 519 R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 89ff. Im folgenden wird die Argumentation von R. Kessler wiedergegeben. So H. Seebaß, Art. Pentateuch, 205. Einige historische Belege sind aufgeführt bei: R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 91f. Ich verweise in meinen Ausführungen in Abschnitt 6.1.2 zu Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahr jeweils auf historische Realisierungen. Welche wirkungsgeschichtlichen Folgen die schriftliche 187 stimmungen der Tora praktiziert wurden; historisches Faktum ist aber auch, daß Israel sich immer wieder bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens auch dann auf die Tora berufen hat, wenn die Realität hinter dem Anspruch zurückgeblieben ist. Israel war über lange Phasen seiner Geschichte politisch und ökonomisch von Großmächten abhängig. Steuern, Tribut und verschiedene 520 Abgabeformen bedrückten das Land. Auch im Lande selber wurden verschiedene Steuern und Abgaben erhoben, die zusätzlich die Lage erschwerten (Tempelsteuer, Erstlingsabgaben auf Getreide, Früchte, Wein, Vieh: Ex 30,11ff; Num 18,13; Dtn 26,1ff; Neh 10,36). Diese zahlreichen Abgabe- und Steuerverpflichtungen führten zu Verarmung und Verelendung. Zu diesem katastrophalen Elend im Lande hätte es nicht zu kommen brauchen, denn Israel hatte mit der Tora ein Gesetzes- und Regelwerk, das eindeutige Bestimmungen enthielt, wie soziales Ungerechtigkeit zu vermeiden war. Die Brüder Ekkehard W. und Wolfgang Stegemann konzedieren in ihrer Urchristlichen Sozialgeschichte zwar, daß die Tora in der römischen Epoche als verbindlich vorgegeben gewesen sei und zu einem gewissen sozialen Ausgleich auch tatsächlich beigetragen habe. Doch andere theologische Traditionen wie die apokalyptischer oder weisheitlich-skeptischer Art hätten ebenfalls ihren Einfluß ausgeübt und den der Tora relativiert. Wie auch immer der Einfluß der verschiedenen geistigen Strömungen einzuschätzen ist, es läßt sich doch sagen, daß die Tora und die sie ergänzenden Prophetenschriften 521 identitäts- und richtungsbildend gewirkt haben. Israel verstand sich als eine Rezeptionsgemeinschaft, die sich immer wieder auf die schriftlich festgelegten Normen bezog und diese geschichtlich veränderten Verhältnissen anpaßte. Die schriftliche Sinaitradition wurde im Talmud fortgeschrieben, der wie die Mischna als “mündliche Tora” gilt. Dieser Rezeptionsprozeß dauert über die neutestamentliche Zeit bis in die Gegenwart des Judentums hinein fort. Wenn Theologie und Kirche die Tora als Grundlage verstehen, erhalten sie Anteil an der Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft der Tora. Aus jüdischer Sicht konnte der Rabbiner Benno Jacob über die bis in die Gegenwart reichende Rezeptionsgeschichte der Tora, die in der jüdischen Religion als einer Erinnerungsgemeinschaft wurzelt, sagen: “Die Tora brauchte nicht ausgegra- 520 521 Sinaitradition hatte, soll auch mit knappen Ausführungen in Abschnitt 9 an Beispielen aus der talmudischen Zeit und Ökonomie skizziert werden. K. Füssel, Drei Tage mit Jesus im Tempel. Einführung in die materialistische Lektüre der Bibel, Münster 1986, 30-36, vgl. auch: E.W. Stegemann, W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, bes. 97ff.; M. Ernst, “... er war der oberste Zollpächter und war sehr reich.” (Lk 19,2) Das Zollwesen, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern-Salzburg 1995, 160-168. E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 98. 188 ben zu werden (wie andere altorientalische Gesetzestexte, F.S.), denn sie ist nie verschüttet gewesen, und ein unsterbliches Volk hat sie wie seinen Augapfel gehütet und von Geschlecht zu Geschlecht bis auf den 522 heutigen Tag vererbt.” Die vorstehende Auflistung darf nicht übersehen lassen, daß das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora teilweise widersprüchlich ist und kein einheitliches Rechtskorpus darstellt. Die divergierenden Rechtsregelungen sind Teil einer Anpassung der Tora an jeweils neue soziale, gesellschaftliche und ökonomische Situationen. “Es geht (...) um die Frage, wie unter veränderten Umständen und in ganz neuen Generationen Gottes neue Weisung zu hören sein wird. (...) Inhaltlich geht es um Fortführung, Aktualisierung, Nivellierung, Ergänzung von Themen und Fra523 gen.” Die jeweilige Aktualisierung ist deshalb als eine der biblischen Tradition selber inhärente kreative Hermeneutik zu verstehen, die einen fundamentalistischen Umgang mit der biblischen Tradition unmöglich macht. Trotz aller Anpassungen und geschichtlichen Veränderungen der rechtlichen Bestimmungen und Regulierungen gibt es eine Konstante. Nach Frank Crüsemann besteht sie in der Verbindung von zwei unterschiedlichen Traditionssträngen, die Wesen und Kern der Tora ausmachen. Der eine besteht aus der strikten Alleinverehrung des einen Gottes (Ex 34,11ff.), der andere aus einer Rechtssammlung in altorientalischer Tradition, in der schwerwiegende gesellschaftliche Konflikte einer rechtlichen, d.h. auf Ausgleich zielenden Regelung zugeführt werden. “Als die eigentliche Geburtsstunde der Torastruktur kann das Zusammentreten dieser beiden Texte mit Grundsätzen zum Schutze der ökonomisch wie rechtlich schwächsten Gruppen der Gesellschaft im Bundesbuch bezeichnet werden. Zur Alleinverehrung gehört damit ein bestimmtes Recht 524 und eine ihm vorgeordnete Gerechtigkeit.” Von diesem Kern aus bildet sich ein Ethos, das sich in Bestimmungen, Regeln und Weisungen im Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora normativ entfaltet. Das Bundesbuch entwickelt angesichts sich verschärfender gesellschaftlicher Gegensätze zwischen Arm und Reich “ein Ethos, das auf die 522 523 524 B. Jacob, Das Buch Exodus, 1066. Im Manuskript findet sich der später gestrichene Zusatz “... was auch der nichtjüdische Leser und Forscher dankend anerkennen soll” (zit. im Vorwort der Herausgeber, in: ders., Das Buch Exodus, XVII.). Für eine Rezeption der Toratradition durch christliche Ethik und Theologie wäre ein Gespräch mit dem zeitgenössischen Judentum interessant. Klaus Müller hat mit seiner Arbeit Diakonie im Dialog mit dem Judentum erstmals das Gespräch mit der nachbiblischen jüdischen Überlieferung über Sozialtraditionen der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Überlieferung aufgenommen. F. Crüsemann, Die Tora, 421. Ebd. 424. 189 525 Überwindung dieser Spaltung der Gesellschaft zielt” . Bereits in diesem ältesten Rechtsbuch des Pentateuch wird die Alleinverehrung Gottes “mit einem auf Gerechtigkeit für sozial und rechtlich Schwache zielenden 526 Verhalten” identifiziert. Frank Crüsemann charakterisiert deshalb das Ethos des Bundesbuches als ein Ethos, das “durch Rechte von Frem527 den, Armen und anderen Ausgebeuteten” geprägt ist. Ein Ethos der Solidarität wird gegen eine ökonomische Logik zur Geltung gebracht, die 528 strukturell gesellschaftliche Asymmetrien hervorbringt. Soziale Schutzbestimmungen gelten als “Meta-Norm und kritische Instanz” und werden 529 dadurch “zum entscheidenden Prinzip der Tora” . 6.1.2 Sabbatordnung als Zentrum der Wirtschaftsethik der Tora Eckart Otto nennt die Sabbatordnung des Heiligkeitsgesetzes ein aus530 drückliches Programm der Sozialethik. Sie will einen Ausgleich zwischen Arm und Reich herbeiführen, geht aber davon aus, daß mit bleibenden Unterschieden zwischen Arm und Reich zu rechnen ist und sieht sich deshalb konsequent dem Ziel verpflichtet, Einrichtungen zu schaffen, die dem sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich dienen und dadurch gesellschaftliche Asymmetrien ausgleichen und gesellschaftliche Spannungen mildern können. Der jüdische Exeget Benno Jacob kritisiert die evangelische Freiheit, mit der man sich seit der Reformation den Dekalog zurechtgelegt habe. “Im ersten Worte hat Luther nicht nur den Nachsatz „der dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechtschaft geführt habe‟, sondern das ganze Bilderverbot weggelassen, im „dritten‟ aus dem Sabbat den „Feiertag‟gemacht.” Jacob betont, 531 “daß der erste Ausspruch als das Fundament für sich steht.” Der Hinweis auf die Befreiung prägt das Ganze des Dekalogs. Auch wenn sich Parallelen in vergleichbaren ethischen Geboten in der Umwelt Israels 525 526 527 528 529 530 531 E. Otto,Theologische Ethik des Alten Testaments, 103. F. Crüsemann, Die Tora, 199f. Ebd. 224, auch 132f. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88. F. Crüsemann, Die Tora, 228. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 249. Das sozialethische Programm des sozialen Ausgleichs (Lev 25) stellt E. Otto dem individualethischen eines Ethos der Nächstenliebe (Lev 19,1.4-37) gegenüber (E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 243-248). Daß Nächstenliebe aber auch den sozialen Randgruppen gilt, zeigt der Kontext (V 17f.). Was E. Otto das individualethische Programm nennt, enthält in seiner Vielfalt die ganze Breite, die das Wesen der atl. Rechtsbücher ausmacht und schließt außer dem Verhältnis zu den Mitmenschen auch das zu Land, Pflanzen und Tieren ein. Nur von einem individualethischen Programm der Nächstenliebe zu sprechen, greift deshalb zu kurz. So auch: F. Crüsemann, Die Tora, 378ff. B. Jacob, Das Buch Exodus, 607. 190 finden, so macht der Hinweis auf die ägyptischen Verhältnisse die Unterscheidung aus. Die Sabbatordnung will eine Hausordnung sein, die an Ägypten erinnert, um einen Rückfall in solche Verhältnisse zu verhindern. 6.1.2.1 Der Sabbat Die Tradition der regelmäßigen Unterbrechung der Arbeit kann auf eine lange Entwicklung zurückschauen, in der “die wesentlichen Elemente dieses Gedankens schon früh angelegt sind und sich als Konstanten 532 durchhalten” . Drei Elemente kennzeichnen den bleibenden Inhalt des Sabbatgedankens: erstens die ausschließlich negative Füllung durch das Nicht-Arbeiten; zweitens die Aussparung des Tages als eines Tages für den Herrn in einer solchen Weise, daß der Sabbat der Verfügungsgewalt des Menschen enthoben ist und deshalb auch nicht um eines wirtschaftlichen Vorteils willen zur Disposition steht; schließlich drittens die Vorstellung, daß Israel durch das Halten dieses Sabbattages seine Identität in 533 einer andersartigen Umwelt sichert. Herkunft und Geschichte des Sabbat sind nicht voll aufgeklärt. Das Wort “Sabbat” benennt das, was gemeint ist: das Ruhen oder Aufhören 534 (hebr. sbt). Das Besondere liegt darin, daß der Sabbat unabhängig von Naturphänomenen, etwa dem Mondzyklus, verläuft. In vorexilischen Texten werden “Sabbat” und “Neumond” jedoch häufig parallel genannt. Als Sabbat wurde wohl auch ein Mondtag bezeichnet, der als kultisch wichtiger Tag angesehen wurde (Am 8,5; Hos 2,13; Jes 1,13; 2 Kön 4,23). Nachexilisch ist es wohl zu einer Synthese des vorexilischen Neumondfestes “Sabbat” mit einer ebenfalls vorexilischen wöchentlichen Unterbrechung der ackerbäuerlichen Arbeit in einem Sieben-TageRhythmus gekommen, der jedoch noch nicht Sabbat genannt wurde (Ex 23,12; 34,21). Aus der Erfahrung in der Exilszeit sind beide Einrichtungen verschmolzen: Das Sabbatfest wurde zum Sabbattag und dadurch aus 535 dem Mondzyklus herausgelöst. Max Weber versteht den Sabbat als Regulativ innerhalb einer sich entwickelnden Marktwirtschaft. Bauern und 532 533 534 535 R. Kessler, Das Sabbatgebot. Historische Entwicklung, kanonische Bedeutung und aktuelle Aspekte, in: D. Georgi u.a.(Hg.), Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994,100. Ebd. 100. Vgl. F. Stolz, Art. sbt=aufhören, ruhen, THAT, Bd.II, 3. durchgeseh. Aufl. München-Zürich 1984, Sp.863-869. Die Bezeichnung “Sabbat” stehe wohl eher mit der akkadischen Bezeichnung sapattu zusammen, so: C. Körting u. H. Speckermann, Sabbat, I. Altes Testament, in: TRE Bd. 24, 518. Vgl. dazu R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 424f.; F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 55; R. Kessler, Das Sabbatgebot, 93f.; C. Körting, u. H. Speckermann, Sabbat, I. Altes Testament, 519. 191 Kleinstädter hätten ein Interesse an regelmäßigen Markttagen gehabt. “Endgültig hat sich das Durchlaufen des Sabbat wohl mit dem Erstarken der Marktwirtschaft durchgesetzt: das spezifische Stadtstaatengesetz, 536 das Deuteronomium, erwähnt die alten Mondfeste nicht mehr.” Die Traditionen aus bäuerlicher vorexilischer Zeit kannten noch keinen Ruhetag, der als Sabbat bezeichnet wurde, sondern lediglich das Ruhen der Arbeit am siebenten Tag. Älteste Belegstelle für die Arbeitsruhe am siebten Tag ist Ex 34,21, während Ex 23,12 wohl eine etwas jüngere Fassung ist. Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen; selbst zur Zeit des Pflügens und des Erntens sollst du ruhen (Ex 34,21). Jeglicher kultische Aspekt fehlt in Ex 34,21. Lediglich von einem Aufhören der Arbeit ist die Rede. Das Gebot richtet sich an den frei wirtschaftenden israelitischen Bauern. Gerade in Zeiten intensiver landwirtschaftlicher Arbeit - beim Pflügen und Ernten - wird ausdrücklich auf die Einhaltung des Sabbat verwiesen. Rein ökonomisch gesehen, ist die Forderung kontraproduktiv. Die gegenüber Ex 34,21 vermutlich etwas jüngere Fassung in Ex 23,12 spricht nicht mehr nur den freiwirtschaftenden Bauern an. Arbeitstiere und Arbeitskräfte kommen zusätzlich in den Blick. Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Sklavin und der Fremde zu Atem kommen (Ex 23,12). Eine deutlich soziale Absicht tritt zutage. Der Tag der Ruhe ist ein Tag des Aufatmens für die, die hart und zugleich auch unter fremder Anweisung arbeiten müssen. Ernst Jenni betont, daß die Ruhe von Haustieren und Sklaven als einziger Zweck des Sabbat genannt wird und sieht in dieser Formulierung einen Hinweis auf eine Verlagerung des Gewichts 537 der Bedeutung des Sabbat auf die soziale und humanitäre Seite. Der Dekalog kann als Zusammenfassung der Tora und das Sabbatgebot wiederum als Zentrum des Dekalogs gelten. Entstanden ist der 538 Dekalog nach Eckart Otto in der Exilszeit. Frank Crüsemann ordnet die Grundauffassung des Dekalogs hingegen der Josia-Reform zu und 536 537 538 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1921), Bd. III.,7. Aufl. Tübingen 1983, 161. E. Jenni, Die theologische Bedeutung des Sabbatgebotes im Alten Testament. Theologische Studien, Schriftenreihe Heft 46, Zollikon - Zürich 1956, 16. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 212ff. Gegen F. Crüsemann, der sich mit der jüdischen Exegese gegen die Sonderrolle des Dekalogs im Rahmen der Tora ausspricht, vgl.: F. Crüsemann, Die Tora, 408f. 192 wendet sich deshalb gegen eine Spätdatierung in exilisch-nachexilischer 539 Zeit. Ist das Sabbatgebot in exilischer Zeit aus einer Kombination von Neumondfest und Arbeitsruhegebot formuliert worden, dann ist es Teil des Programms des Deuteronomium und des deuteronomistischen Geschichtswerks. Die Folge dieses zeitlichen Ansatzes ist: Das Sabbatgebot und mit ihm der Dekalog sind ein Versuch, aus der Vergangenheit zu lernen: Die prophetische Kritik wird unter dem Eindruck der geschichtlichen Katastrophe gehört, erinnert und weitertradiert. Prophetische Kritik, die sich noch nicht auf den Dekalog bezog, und ihre Vorstellungen von 540 Gerechtigkeit kommen zum Tragen. Fehlentwicklungen werden durch Erinnerung an älteres Wissen erkannt und korrigiert; in einer veränderten Situation kommt es zu einer kreativen Neuinterpretation. Der Dekalog wird in der Tora zweimal überliefert, wobei die Textfassungen nicht übereinstimmen. Besonders beim Sabbatgebot sind die Unterschiede beträchtlich (Ex 20,8-11 und Dtn 5,12-15). Die Fassung Dtn 541 5,12ff. ist wohl älter und die Exodusfassung jünger. Beide Textformulierungen stimmen in der Heilighaltung des Sabbat überein, die in einer Arbeitsruhe nach sechs Tagen Arbeit besteht. Beide Gebote sind gleich strukturiert: Zunächst wird das Gebot formuliert (Ex 20,8; Dtn 5,12); es folgen zweitens die Bestimmungen der Arbeitsruhe (Ex 20,9-10; Dtn 5,13-14); dann wird drittens die gebotene Arbeitsruhe begründet (Ex 20,11; Dtn 5,15). Während es bei den vorangehenden Geboten des Dekalogs um die Bewahrung der Freiheit geht, geht es beim Sabbatgebot um die Praktizierung der Freiheit selber. Achte auf den Sabbat: halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat. Sechs Tage sollst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobem Arm dort herausgeführt. Darum hat dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten (Dtn 5,12-15). Anlaß zur Feier des Sabbat ist die Befreiung der Sklaven aus der ägyptischen Sklaverei. Dtn 5 begründet ausdrücklich den Sabbat und 539 540 541 F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 25f.; F. Crüsemann, Die Tora, 407ff. So M.Robra, Ökumenische Sozialethik, Gütersloh 1994, 185f. R. Kessler, Das Sabbatgebot, 94; J.Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” (Lk 6,9) Das Ringen um den Sabbat in den biblischen Schriften, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 247. So auch: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 334f.; Bd. 2, 424-427. 193 seine Arbeitsruhe für Tiere, Sklaven und Sklavinnen mit der Erfahrung der Fronarbeit und Unterdrückung in Ägypten. Die geforderte Arbeitsruhe wird erstmals als Sabbat bezeichnet. Der Tag der Arbeitsruhe erhält einen Namen. Die Begründung hat eine eindeutige soziale Ausrichtung. Für alle soll das Ruhen von der Arbeit gelten. Der Sabbat steht im Gegensatz zur Fronarbeiterexistenz und erinnert kollektiv an diese Erfahrung in Ägypten. Diese kollektive Erinnerung begründet eine gesamtgesellschaftliche Solidarität. Der Tag, an dem Sklave und Sklavin zur Ruhe kommen sollen, wird zum regelmäßig wiederkehrenden Symbol der Befreiung aus ägyptischer Unterdrückung. Die tatsächliche Ungleichheit zwischen oben und unten wird an diesem Sabbattag aufgehoben. Was ist mit den Frauen der hier angesprochenen Männer, die eigentümlicherweise in der Reihe fehlen, die Sohn und Tochter, Sklave und Sklavin auf542 listet? Sabbat heißt nicht nur negativ: Ruhen der Arbeit. Mit der Aufforderung, den Tag zu heiligen, wird die Einhaltung des Sabbat positiv als Heiligung gefordert. Diese Heiligung des Sabbat hat keinen kultischen Gehalt, sondern das Aufhören mit der Arbeit selbst ist die Heiligung des Sabbat. Den Sabbattag zu beachten bedeutet, nicht zu arbeiten und der Unterbrechung der Unterdrückung zu gedenken (Dtn 5,12). Einhalten und Bedenken des Sabbat ist in einem doppelten Sinn Protest gegen Gewalt: nämlich gegen die Gewalt gegenüber der Schöpfung und ge543 genüber dem Menschen. Wird in Dtn 5 das Sabbatgebot in einen befreiungstheologischen Zusammenhang gestellt, so wird es in Ex 20 schöpfungstheologisch begründet: Gedenke des Sabbat: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun . (...) Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt (Ex 20,8.9.11). Neben dem Thema Befreiung wird ein weiteres wichtiges Thema angesprochen: die Schöpfung. Die soziale und ökologische Dimension ge542 543 B. Jacob sieht darin keine Geringschätzung der Frau, sondern allein einen Ausdruck der Tatsache, daß die Frau des Mannes “mit ihm identisch und mit dem „du‟ gleichfalls angeredet” ist. (B. Jacob, Das Buch Exodus, 576) Nach rabbinisch-feministischer Exegese jedoch zeigt sich hier “die tiefe Ungerechtigkeit der Tora selbst”( J. Plaskow, Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie, Luzern 1992, 51). Beim Bundesschluß werden nur die Männer angesprochen (vgl. Ex 19,15ff.). Frauen sind abwesend. “Die Unsichtbarkeit der Frauen im Augenblick des Eintretens in den Bund widerspiegelt sich im Inhalt des Bundes, der sowohl in der Grammatik als auch in der Substanz die Gemeinschaft männlicher Haushaltsvorsteher anspricht. Dies wird in der späteren Tradition verewigt, die in ihren Kommentaren und Kodifizierungen Frauen als Objekt des Interessen oder der Gesetzgebung nimmt, sie aber selten als Gestalterinnen der Tradition und als Handelnde in ihrem eigenen Leben sieht.” (Ebd. 51f.) J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 101. 194 hören zusammen. Der Sabbat gründet in Gottes Schöpfungsruhe. Sie vollendet die Schöpfung. Ex 20 legt den Schwerpunkt auf die Segnung und Heiligung des Sabbat und sondert ihn dadurch von den anderen Tagen aus. Gesegnet wird der Tag, wie sonst nur Geschöpfe gesegnet werden. Der Sabbattag erinnert an Gottes Schöpfung und hält sie in Erinnerung. Die Fassung des Sabbatgebotes in Ex 20 ist stärker kultisch ausgerichtet, denn an diesem Tag finden Gottesdienste und Sabbatopfer 544 statt. Die Einhaltung des Sabbat wird zu einer kultischen Pflicht. Das soziale Moment des Sabbatgebotes, das für Herrn, Knecht und Magd eine gleichmachende Ruhe begründet, tritt eher zurück. Präsent ist die soziale Zweckbestimmung in den mit “Du/Dein” angeredeten Arbeitskräf545 ten. Der Herr trägt Verantwortung für die Einhaltung des Gebotes im Lebens- und Wirtschaftsbereich der Hausgemeinschaft. Die biblische Tradition belegt, daß die Arbeitsruhe am Sabbat nie unumstritten war und immer wieder neu erkämpft werden mußte. Schon die vorexilische Prophetie des 8. Jahrhunderts kämpfte für die Einhaltung des Ruhetages. Am 8,4-6 verweist auf eine Mißachtung des Ruhetages aus ökonomischen Gründen. “Und wann ist der Sabbat vorbei? Wir wollen den Kornspeicher öffnen (...)” (Am 8,5b). Das Neumondfest und der Sabbat stören die Zeit für Handel und Geschäfte (Hos 2,13). Die Sabbatgebote gehen nicht von einem unwirklichen Ideal aus. Diese Gebote bieten vielmehr mit ihrem Menschenbild eine Antwort auf menschenunwürdige Verhältnisse. Die sozio-ökonomischen Verhältnisse im Alten Israel waren so, daß der Ertrag aus dem Landbesitz eher gering war. Deshalb mußte ein Familienverband seinen Lebensbedarf von dem kargen Ertrag des Landes decken. Das Sabbatgebot läßt sich als eine ethisch inspirierte sozialrechtliche Regulierung der Arbeitsverhältnisse verstehen: Es begrenzt die Arbeit für Herrn und Knecht; es verpflichtet den Herrn zu sozialrechtlichen Auflagen und verschafft dem Knecht Rechte gegenüber seinem Herrn; es bezieht die landlosen Fremden in die Versorgung ein. Die Sabbatidee wird immer wieder den sich wandelnden sozio-ökonomischen Verhältnissen angepaßt; die verschiedenen Formulierungen des Sabbatgebotes spiegeln deshalb die sozioökonomischen Verhältnisse. Aus der ursprünglich auf die Agrargesellschaft bezogenen Arbeitsruhe (Ex 34,12. 21; 20,8-11; Dtn 5,14) wird ein Ruhetag, der die kommerziellen Verhältnisse der Stadt berücksichtigt. Den Sabbat zu heiligen bedeutet nun, keinen Handel zu treiben, keine Geschäfte zu machen, keine Verkaufsverhandlungen zu führen (Jes 58,13f. Auch Hos 2,13; Am 8,4ff.). Jer 17,19ff. interpretiert die Arbeitsruhe auf die städti544 545 J. Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 249. R. Kessler, Das Sabbatgebot, 96. 195 schen Verhältnisse hin und verbietet das Lastentragen. Dieses Verbot wird zur praktischen Politik, wenn die sog. Denkschrift des Nehemia zu 546 Sabbatbeginn die Tore Jerusalems schließen läßt (Neh 13,19). Nehemia kämpft politisch um die Einhaltung des Sabbatgebots. Das Sabbatgebot wird erstmals zu einem Gesetz und nicht mehr nur religiös begründet. Als Statthalter der persischen Oberhoheit erläßt er das Sabbatgebot als staatliches Gesetz. In Neh 10,32.34 werden die jüdischen Bewohner Jerusalems auf eine Sabbatordnung verpflichtet, die den Kauf von Waren, Getreide und Grundnahrungsmitteln von Nichtjuden am 547 Sabbat verbietet. Doch die Durchsetzung der Sabbatobservanz stößt auf Widerstand bei der judäischen Bevölkerung. Weiterhin tritt man die Kelter, handelt mit Getreide und transportiert die Güter nach Jerusalem (Neh 13,15-22). Die ursprüngliche Sabbatidee des Ruhens von der Arbeit unter bäuerlichen Verhältnissen wird modernisiert: Aus dem Nichtarbeiten der ältesten Sabbatformulierungen wird eine Heiligung des Sabbat, die darin besteht, keine Geschäfte zu treiben, keine geschäftlichen Verkaufsverhandlungen zu führen, keine Gütern zu transportieren (vgl. dazu Jes 58,13f.). Der Sabbat hatte immer schon seinen Preis und war, an Kriterien ökonomischer Vernunft gemessen, immer kontraproduktiv. Zur Zeit der Ernte und des Pflügens nicht zu arbeiten und Kommerz, Handel und Distribution zyklisch zu unterbrechen, führt allemal zu wirtschaftlichen Einbußen. Wenn nicht gearbeitet und kein Handel getrieben wird, wird ein möglicher Gewinn und Nutzen nicht realisiert. Dennoch - oder gerade deswegen - wird der Sabbat als “Lust” bezeichnet (Jes 58,13). Im Hebräischen wird ein Wort verwendet, das in anderen Zusammenhängen für lustvolle Labung an fettem Essen (Jes 55,2), das Sich-Laben des Säuglings an der Mutterbrust (Jes 66,11), für die königlichen Lustschlösser (Jes 13,22) oder auch für erotische Lust an den Reizen des geliebten Mädchens steht (Hld 7,7). So also soll der Sabbat sein: lebenspendend wie die Mutterbrust, labend wie ein gutes Essen, luxuriös wie ein Lust548 schloß und schön wie eine geliebte Frau. Daß der wöchentliche Sabbat seit Nehemia das gesellschaftliche Leben Israels bestimmte, steht außer Zweifel. Zahlreiche Quellen bestätigen die Praxis. Auch die Diskussionen um die Geltung des Sabbat in den neutestamentlichen Schriften belegen die Sabbatpraxis zur Zeit der römischen Besatzung Palästinas. 546 547 548 Ebd. 98. J.Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 252f. So R. Kessler, Das Sabbatgebot, 100. 196 Zusammengefaßt lassen sich die Absichten des Sabbat folgendermaßen beschreiben: - Der Sabbat begrenzt die Arbeit: Der Sabbat strukturiert Leben und Arbeiten in der sozialen und ökonomischen Grundeinheit des Hauses. Arbeit hat ein Maß und eine Ordnung: sechs Tage Arbeit und ein Tag Ruhe. So wie JHWH nach Abschluß der Schöpfung ruhte, so soll auch der Mensch mit seiner Arbeit zur Ruhe kommen. Begrenzt wird nicht allein die Arbeitszeit, auch das Weisungsrecht des Herrn und der Frau des Hauses über die abhängig Beschäftigten hat eine Grenze: Am Sabbat ist Arbeit unter fremder Anweisung ausgesetzt. - Der Sabbat verpflichtet den Herrn und gibt den im Haus Arbeitenden Rechte: Der Sabbat ist eine soziale Errungenschaft, die den Schwächeren schützt und diesen Schutz rechtlich absichert. Die soziale Absicht dieser rechtlichen Bestimmung ist deutlich. Die ganze Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft samt den Tieren beendet am Sabbat ihre Arbeit. Der mit “Du” (Ex 20,8) angesprochene freie Bauer trägt mit seiner Frau Verantwortung für die Einhaltung der Arbeitsruhe im Lebens- und Wirtschaftsraum des Hauses. Die Arbeit in der noch nicht getrennten Wirtschafts- und Lebenseinheit des Hauses wird für den Herrn und die abhängig Arbeitenden kollektiv unterbrochen, damit alle in den Genuß freier Zeit kommen. Für den Sklaven und die Sklavin ist der Ruhetag ein Anspruch und ein Lohn für die unter fremder Anweisung verrichtete Arbeit. Der Sabbat ist ein Tag der erfahrenen Freiheit. - Die Ruhe am Sabbat ist nicht zweckgerichtet: Geheiligt wird der Tag nicht durch Kultus, sondern dadurch, daß den abhängig arbeitenden Sklaven und den Sklavinnen Freiheit von der Arbeit, ein Ruhetag, gegeben wird. Seine theologische Würdigung erhält der Sabbat nicht durch einen Kultus; die Ruhe selber ist theologisch begründet. Das Ruhen der Arbeit ist die Heiligung des Sabbat. Die Arbeitsruhe ist nicht eine Arbeitspause; sie erfüllt nicht einen Zweck, sie steht für sich selber. Das Arbeitsverbot und Ruhegebot erstreckt sich auf zweckdienliche und für das Leben notwendige Arbeiten, damit andere soziale, schöpferische und kommunikative Tätigkeiten ermöglicht werden. Diese Bestimmung hat eine klare soziale Schutzfunktion. Sie schützt den, der die zweckdienliche Arbeit zu tun hat. Auch der abhängig Arbeitende soll nicht auf zweckdienliche Arbeit reduziert werden. - Die Ruhe für alle ist egalitär: Die Einbindung des Sklaven in den Sabbat begrenzt die Herrschaft des Menschen über Menschen zumindest an diesem Tag und läßt die ur- 197 sprüngliche Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott aufbrechen. Arbeit und Ruhe wird nicht nach der Klassenlage zwischen oben und unten aufgeteilt. Nicht alle müssen immer arbeiten, sondern alle arbeiten und ruhen; leben und arbeiten in einem gemeinsamen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Da alle durch ihre Arbeit zur wirtschaftlichen Existenz beitragen, haben alle ein Recht auf Arbeit und Ruhe. Auffallend ist, daß neben dem Sklaven auch die Sklavin, neben dem Sohn auch die Tochter genannt werden. Die weiblichen Mitglieder des Hauses werden eigens aufgezählt, denn sie bedürfen aufgrund ihrer schwachen Stellung und Unterordnung in einer patriarchalischen Gesellschaft eines besonderen Schutzes. - Der Sabbat regelt die Umverteilung von Arbeit: Die soziale und ökonomische Grundeinheit, die Hausgemeinschaft, muß sich vom dem Ertrag des kargen Bodens ernähren. In die Versorgung werden die landlosen Fremden einbezogen. Die anfallende Arbeit und die Ruhe werden auf alle in der Wirtschafts- und Lebenseinheit des Hauses aufgeteilt. Für alle - einschließlich der landlosen Fremden - gilt der soziale Schutz durch das Arbeitsverbot am Sabbat. Diese in der Tradition der Hebräischen Bibel verankerte Sicht des Sabbat ist nur zu lange durch eine neutestamentliche Exegese verstellt worden, die das Ringen um den Sabbat in den Evangelien als eine Infragestellung des Sabbat wertete. Dieses Ringen um den Sabbat gehört in den Horizont des Ringens um die Geltung des Sabbat, der die Geschichte der rabbinischen Theologie und das Frühjudentum begleitet. Deshalb gilt, daß Jesus zwar die Sabbatpraxis seiner Zeit in Frage gestellt hat, nicht aber den Sabbat als Institution. Diesen hat er hoch ge549 schätzt. Jesus hat das “Sabbatgebot nicht „aufgehoben‟, so daß Men550 schen vor die Alternative gestellt werden: Jesus oder das Judentum.” Vielmehr hat er die in Ex 20 und Dtn 5 ausgeführte Dimension der Be551 freiung, die ursprünglich mit dem Sabbat intendiert war, betont. 549 550 551 J. Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 240 - 245; vgl. auch T.Veerkamp, “Der Sabbat ist für den Menschen da ...” (Mk 2,27) In: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 226-239; R. Kessler, Wirtschaftsrecht der Tora, 92-94.; M. Vidal, Le Juif Jésus et le Shabbat. J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 294. Welche Bedeutung das Sabbatgebot für die frühchristlichen Gemeinden hatte, kann exemplarisch am Markusevangelium verdeutlicht werden. Gerhard Dautzenberg nennt das Markusevangelium Dokument eines Heidenchristentums, “welches ähnlich wie die vor- und außerpaulinischen Gemeinden und auch die paulinischen Gemeinden die sittlichen Gebote der Tora, repräsentiert durch das Gebot der Nächstenliebe oder durch die Gebote des Dekalogs, zu halten bemüht ist. Es ist ein Christentum, das sich seiner Nähe zum Judentum bewußt ist und dieses jüdische Erbe nicht aufgeben will.” G. Dautzenberg, Jesus und die Tora (II.), 245. 198 6.1.2.2 Sabbatjahr und Schuldenerlaß Das Phänomen der Verschuldung spielte in der Antike für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eine entscheidende Rolle. Deshalb kannte die Antike auch Entschuldungen, die anläßlich von Inthronisationen oder anderen verfügten Anlässen vollzogen wurden. Ab dem 8. Jahrhundert gewinnt die Verschuldungs- oder Überschuldungsproblematik eine solche gesellschaftliche Tragweite, daß die vorexilischen Propheten darin die Ankündigung schwerster Katastrophen für die Gesellschaft erblicken. Verschuldung führt zu Schuldknechtschaft (Am 2,6-8; 8,4-6; Jes 10,1f.) 552 oder zum Verlust von Grund, Boden und Haus (Jes 5,8-10; Mi 2,1f.). Der Einschnitt des Exils in Babylon bringt keine grundlegende Änderung, wie die nachexilische Prophetie zeigt. Auch sie hat sich wieder mit Überschuldungsvorgängen auseinanderzusetzen. Als Nehemia die Stadt Jerusalem aufbauen will, bekommt er es sogleich wieder mit Verschuldung zu tun, die sich so verheerend auswirkt, daß er nur mit einem sofortigen Schuldenerlaß einem Volksaufstand zuvor kommen und eine Entlastung herbeiführen will jedoch nur vorübergehend wirkte (Neh 5,1-13). In drei Stufen läßt sich eine Rechtsentwicklung aufzeigen, mit der versucht wird, den Problemen der Verschuldung und der Akkumulation von Reichtum, Grund und Boden zu begegnen: Brachjahr, Schuldenerlaß 553 und Zinsverbot. 6.1.2.2.1 Sabbatjahr (Ex 23,10ff): Brachjahr Das Bundesbuch erweitert den Gedanken des wöchentlichen Sabbat auf 554 ein Sabbatjahr in jedem siebten Jahr. Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im siebten Jahr sollst du es brach liegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen (Ex 23,10f.). Beim Ruhenlassen des Bodens im Sabbatjahr liegt eine dem wöchentlichen Sabbat “vergleichbare Kombination von religiösen, ökonomischen 552 553 554 R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Tradition in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 40f. R. Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Leviticus 25, in: ders., Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu den Themen des konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 40-61. Ebd. 42f. 199 555 und ökologischen Motiven vor.” Interessant ist, daß das erwirtschaftete Surplus oder der Überschuß nicht als Abgabe an die Staatsmacht abgeführt werden sollte, aber auch nicht in Reichtum umgesetzt wurde. Der Überschuß wird genutzt als Sabbat- und Brachjahr für den Boden. Wenn der Boden bei der Brache ruht, dann hat das auch eine soziale Dimension für diejenigen, die den Boden bewirtschaften. Ausdrücklich heißt es, daß die Armen des Volkes abernten dürfen (Ex 23,11). Der Überschuß landwirtschaftlicher Produktion soll nach diesem Gesetz nicht abgeführt werden oder zur Anhäufung von Reichtum dienen. Das Surplus wird nicht von einer Oberschicht angeeignet, sondern gesellschaftlich umverteilt zugunsten der Armen und dient dem Nichtstun im siebten Jahr. Diese Bestimmung zeigt, daß nach biblischem Verständnis Eigentum sozialgebunden ist. Die Armen bekommen einen Rechtsanspruch auf einen Anteil der wildgewachsenen Erträge. Neben dem sozialen ist der ökologische Zweck dieser Bestimmung für eine Brache eindeutig. Die Brache garantiert, daß der Boden vor Übernutzung geschützt wird. Zwischen den Freiheitsrechten der Arbeitenden und den Freiheitsrechten des Bodens besteht ein Zusammenhang: “Der Sinn dieses Brachjahres ist klar: Ist das Land auch dein, so bist du doch nicht der unbedingte Eigentümer, und es hat gleichfalls ein Recht auf Freiheit. Zum Zeichen dessen wird es im siebenten Jahr herrenlos. Was trotzdem wächst, ist Nutznießung dessen, der sonst kein Eigentum hat, des Bedürftigen, dem als Volksgenossen das Land gleichfalls gehört. So556 dann des Tieres, das Gott ebenfalls geschaffen hat und speist.” Dem Boden Freiheitsrechte zu gewähren, ist ökologisch sinnvoll, denn es schützt die Ertragskraft des Bodens. Der Biologe Aloys Hüttermann hat mit Forschungsergebnissen israelischer Forscher begründet, wie diese agrarökonomische Einrichtung der Brache dazu geführt hat, daß sich die israelitische Landwirtschaft zu der wahrscheinlich fortgeschrittensten der antiken Welt entwickelte, während die römisch-hellenistische Landwirt557 schaft stagnierte. Außerbiblische Quellen belegen, daß das Sabbatjahr zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2. nachchristlichem Jahrhundert praktiziert wurde. Neu verpflichtend wurden Sabbat und das Sabbatjahr nach dem Exil in der Zeit des Nehemia und Esra (Neh 10,32). Alexander der Große hat anläßlich des Sabbatjahres den Juden einen Steuererlaß gewährt; aus den Kriegen Israels unter den Makkabäern (1 Makk 6, 49-54), aus der Zeit unter Herodes dem Großen und den Römern wird überliefert, wie sehr die Einhaltung des Sabbatjahres die Verteidigung der belagerten 555 556 557 F. Crüsemann, Die Tora, 267. B. Jacob, Das Buch Exodus, 724. A. Hüttermann, Die ökologische Botschaft der Thora, 253. 200 Städte schwächte, da es nicht genügend Vorräte gab. Nach Josephus gewährten Alexander der Große und Cäsar den Juden für das Sabbatjahr Steuerfreiheit, die dann nach dem Bar-Kochba-Aufstand von den 558 Römern zurückgenommen wurde. Tacitus kommentiert das Sabbatjahr süffisant: “Da das Nichtstun (den Juden) Freude macht, wird auch 559 jedes siebte Jahr dem Müßiggang geweiht.” Ein archäologischer Papyrusfund bestätigt die Durchführung eines Sabbatjahres im zweiten Jahr 560 der Regierungszeit Neros. 6.1.2.2.2 Sabbatjahr (Dtn 15,1-11): Schuldenerlaß Der ökonomische Grundwiderspruch in der antiken Gesellschaft ist der zwischen Gläubiger und Schuldner. Moses I. Finley sagt deshalb über das Schuldrecht: “Wenn man die Grundeinstellung zu den Armen begreifen will, muß man nicht die gelegentlichen Menschenfreundlichkeiten betrachten, sondern das Schuldrecht (...). Dieses Recht war einheitlich hart 561 und gnadenlos.” Am Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner zeigt sich das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Arm und Reich. “Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers Knecht” (Spr 22,7). Der Parallelismus zwischen Arm und Reich sowie Schuldner und Gläubiger ist nur aussagekräftig, wenn er einen 562 Grundwiderspruch thematisiert. Hauptursache des Verelendungsprozesses war das harte antike Kreditrecht. Es ermöglichte den Zugriff des Kreditgebers auf den gesamten Besitz des Schuldners, einschließlich seiner Familie und seiner eigenen Person (2 Kön 4,1; Neh 5,1-4). Pfand und Zinsen waren verhältnismäßig hoch. Ein kleinbäuerlicher Betrieb, der nur über wenig Reserven verfügte, konnte dadurch schon bei kleinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in einen Teufelskreis geraten: Wenn die Zinsen infolge von Mißernten, Steuer- oder Fronbelastungen nicht zurückgezahlt werden konnten, mußte man zuerst die Äcker verpfänden. 558 559 560 561 562 Verweise und Belege bei: H.G. Kippenberg u. G.A. Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 1979, 75ff. Tacitus, Historiae V,4 , zit. nach: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.) “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 345. Die Hinweise in: F. Crüsemann, Der größere Sabbat oder die Weisung, sich nicht zu Tode zu arbeiten. Bibelarbeit über 3 Mose 25,1-13, in: ders., Wie Gott die Welt regiert. Bibelauslegungen, München 1986, 49. Vgl. nähere Ausführungen über eine Kombination von Brache und Schuldenerlaß in der Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2. nachchristlichen Jahrhundert unten Abschnitt: 6.1.2.3. M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 38. - Leider berücksichtigt Finley nicht die Ökonomie des alten Israels. So: R. Kessler, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, WuD NF 20 (1989) 181. 201 Dadurch war bereits ein Teil der Ernte des nächsten Jahres verpfändet. Kam der Schuldner nicht aus den Schwierigkeiten heraus, wurden Familienangehörige und schließlich er selbst verkauft, d.h. er mußte unter Verlust seiner Freiheitsrechte seine Schulden für den Kreditgeber abarbeiten (vgl. 2 Kön 4,7; Neh 5,6-10; Jes 5,8). Neh 5 zeigt deutlich die Verelendungsprozesse: Die Hungersnot zwingt, Getreide zu kaufen. Äcker, Weinberge, Häuser, schließlich Frauen und Kinder müssen verpfändet werden. Verschuldung wird zu einem Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt; die Verarmung wächst mit der Verschuldung. Durch das gnadenlose Kreditrecht geraten die Schuldner in totale Abhängigkeit von 563 den reichen Kreditgebern. Dem Druck der Verarmung durch Verschuldung versuchte mancher durch Flucht und Bandenbildung zu entgehen (vgl. dazu 1 Sam 22,1-2). Schuldenerlaß ist deshalb als eine Reaktion zu verstehen, die jene durch diesen Prozeß hervorgerufene Verarmung unterbrechen will. Frank Crüsemann nennt den regelmäßigen Schuldenerlaß im Sabbat564 jahr “das neben dem Zinsverbot wichtigste Wirtschaftsgesetz” . Aus der ökologisch motivierten Ackerbrache des Sabbatjahres (Ex 23,10f) wird ein sozial orientierter Schuldenerlaß (Dtn 15,1ff.). Die Bestimmungen in Dtn 15 lassen sich deshalb auch als eine Auslegung und Ergänzung der 565 Erlaßjahrbestimmungen in Ex 23,10f. verstehen. Verwendet wird für den Verzicht auf den Ertrag des Ackers im siebten Jahr das hebräische Wort, mit dem auch der Schuldenerlaß bezeichnet wird (schemitta). Der Wortlaut in Dtn 15,1ff. belegt eindeutig, daß es um Streichung von Schulden geht. In jedem siebten Jahr sollen alle Außenstände erlassen werden. In jedem siebten Jahr sollst du die Ackerbrache einhalten. Und so lautet eine Bestimmung für die Brache: Jeder Gläubiger soll den Teil seines Vermögens, den er einem andern unter Personalhaftung als Darlehen gegeben hat, brachliegen lassen (Dtn 15,1-2a). Die Institution des Schuldenerlasses stellt einen weitgehenden Eingriff in das Kreditwesen dar. Der Versuch wird gemacht, jene ökonomischen und gesellschaftlichen Mechanismen außer Kraft zu setzen, die in der Antike regelmäßig zur Überschuldung führen. Die Staaten des Zweistromlandes kannten ebenso wie die griechische Antike und Ägypten Schuldenerlasse, die jedoch in zeitlich unregelmäßigen Abständen er563 564 565 Schuldscheine belegen horrend hohe Jahreszinsen, so etwa auf Elephantine in der Höhe von mindestens 60%. Nachweise in: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 250, Anm. 18. F. Crüsemann, Die Tora, 264.; R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 92-94. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 339ff. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 184. 202 566 folgten. Deren Ziel war es wie im Alten Israel, die Armen zu schützen und Gerechtigkeit zu bewahren. Diese Schuldenerlasse dienten in Israel wie in der Antike überhaupt dem Ziel, wirtschaftliche Produktivität wie auch die gesellschaftliche Ordnung insgesamt zu sichern. Proklamiert wurde der Schuldenerlaß in Mesopotamien durch den König bei der Inthronisation und immer dann, wenn es nötig schien. In mancher Hinsicht können diese Erlasse mit den biblischen Sieben-Jahres-Einrichtungen zur Freilassung der Sklaven und zum Schuldenerlaß verglichen wer567 den. Israel steht deshalb in seinem Versuch nicht allein, Institutionen der Entschuldung zu schaffen. Das Gesetz über einen allgemeinen Schuldenerlaß in einem berechenbaren Zyklus war sicher wirkungsvoll, wenn es denn befolgt wurde. Seine Grenze besteht dort, wo die ökonomisch Mächtigeren als Darlehensgeber ein Darlehen zum Überleben des in Not Geratenen verweigern, weil ein regelmäßiger Schuldenerlaß ansteht. Der dtn. Gesetzgeber weiß um diese Schwäche und versucht durch einen Appell an die Solidarität des Darlehensgebers das Problem zu lösen: Segen liegt auf dem Tun (Dtn 15,7-11). Sanktionen kennen die Bestimmungen nicht. Sie argumentieren lediglich mit der Zusage des Segens Gottes. Wie es alle sieben Jahre einen allgemeinen Schuldenerlaß gibt, so auch eine auf sieben Jahre befristete Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18). Nach Dtn 15,13f steht den freizulassenden Sklaven und Sklavinnen ein kostenloses Startkapital aus dem Vieh- und Erntebestand ihres bisherigen Herrn zu, das ihnen nach ihrer Entlassung zu übergeben ist. Und wenn du ihn als freien Mann entläßt, sollst du ihn nicht mit leeren Händen entlassen. Du sollst ihm von deinen Schafen und Ziegen, von deiner Tenne und von deiner Kelter soviel mitgeben, wie er tragen kann. Wie der Herr, dein Gott, dich gesegnet hat, so sollst du ihn bedenken (Dtn 15,13f.). Freiheit wird nicht abstrakt gewährt, sondern mit der Freilassung wird zugleich eine ökonomische Basis für die Freiheit sichergestellt. Unter den Bedingungen des Alten Israels bedeutete dies, daß ökonomische Voraussetzungen für die Führung eines eigenen Hauses (oìkos) gegeben wurden. Ein besonderes Wort für Sklave gibt es im Hebräischen überhaupt nicht. „Ebed ist ein Arbeiter, Knecht, Untergebener, aber der Begriff der 566 567 G. Robinson, Das Jobel-Jahr. Die Lösung einer sozial-ökonomischen Krise des Volkes Gottes, in: D.R. Daniels u.a. (Hg.), Ernten, was man sät, FS K. Koch, Neunkirchen 1991, 489 f. Ebd. 490. 203 568 Dauer und Leibeigenschaft liegt nicht in dem Wort. Sklavenarbeit wird in Israel anders als in der Antike nie eine ökonomisch wichtige Größe. Hebräische Sklaven von Geburt an gibt es in Israel nicht. Nur auf zwei Weisen kann ein Israelit zum Sklaven werden: Er verkauft sich selbst, weil er in Not geraten ist (Lev 25,35ff.), oder er wird verkauft, weil er etwas gestohlen hat (Ex 22,2). Erst in der Königszeit gewinnt die Sklaverei 569 an Umfang und Bedeutung. Ex 21,2 bestimmt, daß hebräische Sklaven nur sechs Jahre Arbeit tun dürfen und im siebenten Jahr freigelassen werden müssen. Benno Jacob versteht Ex 21,2 als Beleg dafür, daß es hebräische Sklaven nicht geben darf, denn ein Sklave auf Zeit sei ein juristischer Widersinn. “Das oberste Grundrecht des aus dem Sklavenhaus Ägypten geführten Israeliten, sein mispat, ist die persönliche Frei570 heit.” Welche zentrale Bedeutung diese Regelung für die Identität des Alten Israel hat, zeigt die Deutung der politischen Krise durch den Propheten Jeremia. Jeremia leitet den Sturz Judas, der zum Exil in Babylon führte, aus der Weigerung der herrschenden Kräfte ab, die Sklaven nach sechs Jahren in die Freiheit zu entlassen (Jer 34,14-18). Während das babylonische Recht eine Fangprämie für entlaufene Sklaven kennt, befiehlt die Tora, den Sklaven nicht auszuliefern, sondern ihm Schutz zu 571 gewähren (Dtn 23,16ff.). JHWH hatte Israel aus diesem Sklavenhaus Ägypten befreit und sich dadurch zum Eigentümer aller israelitischen Sklaven erklärt (Lev 25,38.42.55). Die Sklaven im eigentlichen Sinn wurden nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern hatten eine endgültige Integration in die Gesellschaft und ein Ende von Schuldknechtschaft vor Augen. Sklaven mußten nach sieben Jahren in die Freiheit entlassen werden (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18). Dtn 15,12ff. modifiziert die Bestimmungen von Ex 21,2ff., um eine faktische Dauersklaverei zu unterbinden, indem Dtn 15 bestimmte, die freigelassenen Sklaven mit Vieh und Saatgut auszustatten. Dadurch wurde ein “Startkapital” mitgegeben, das einer erneuten Verschuldung entgegenwirken sollte. Der Kreislauf Verschuldung Schuldknechtschaft wurde dadurch unterbrochen. Ex 21,2ff. hatte sich in der Realität wohl nicht als Schutzbestimmung ausgewirkt, sondern anscheinend in der Mehrzahl der Fälle zu einer erneuten Dauersklaverei 572 geführt. Das Jobeljahrgesetz erweiterte die Schuldknechtschaft zeitlich auf maximal 49 Jahre (Lev 25, 39-43). Diese Modifizierung ist zwiespäl- 568 569 570 571 572 B. Jacob, Das Buch Exodus, 625. F. Crüsemann, Die Tora, 180. B. Jacob, Das Buch Exodus, 624. Vgl. dazu die aufgeführten Rechtsbestimmungen aus dem Codex Esnunna in: E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 187f. F. Crüsemann, Die Tora, 179-188. 204 tig: zum einen stellt die Verlängerung der Schuldsklaverei von sechs Jahren (Ex 21,2ff; Dtn 15,12ff.) auf 49 Jahre eine “massive Verschlechte573 rung” dar, andererseits jedoch ist sie rechtsgeschichtlich ein erster bedeutender Schritt zur Aufhebung von Sklaverei überhaupt, da Schuldsklaverei faktisch in Lohnarbeit umgewandelt wird. Der Schuldsklave soll wie ein Lohnarbeiter und “nicht mit Gewalt und Härte” (V 43) behandelt werden. Er erhält seine persönliche Freiheit und steht in einem Arbeitsverhältnis. Diese Umwandlung der Schuldsklaverei zu abhängiger Lohnarbeit bedeutet die Garantie, ein geregeltes oder sicheres Auskommen zu finden. Rechtlich und sozial ist der so Verdingte jedenfalls in einer besseren Position als der Tagelöhner, der nur nach anfallendem Bedarf 574 gebraucht wird. Diese Umwandlung von Schuldknechtschaft in eine abhängige Lohnarbeitersituation lebt aus dem Impuls der Befreiung durch JHWH im Exodus und will zwischen dem “theologischen Bekennt575 nis und der sozialethischen Forderung” einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen. Lev 25,43 verbietet, die Verschuldeten, die in Schuldknechtschaft geraten sind, mit Härte zu behandeln. “Denn sie sind meine Knechte; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird. Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen” (Lev 25,42f.). Die Hebräer wurden in Ägypten zu harter Arbeit “ohne Erbarmen” gezwungen (Ex 1,13.14). Das hebräische Wort bepäräk = ohne Erbarmen kommt sonst nur dort in der Tora vor, wo angeordnet wird, die Schuldsklaven nicht “mit Härte/ohne Erbarmen” (Lev 25,43.46.53, sowie Ez 34,4) zu behandeln und ist zu einem Terminus des Gesetzes geworden. Gefordert ist eine brüderliche Gesinnung und humane Behandlung des Abhängigen. Das Gegenteil davon ist inhuman, 576 barbarisch, unmenschlich. Die Sozialgesetzgebung des Deuteronomium ist ein Gesetzessystem und Reformwerk, das mit seinen arbeitsund sozialrechtlichen Absichten zentral auf die Wirklichkeit bäuerlicher Arbeit zielt: Die Fehlentwicklung der Fronarbeit wird korrigiert und die Institution der Fron abgeschafft, die als eine für Ägypten typische Einrich577 tung angesehen wird (Dtn 6,12; 8,14) ; Lohnzahlungsmodalitäten werden geregelt (Dtn 15,18); für die, die nicht am Produktionsprozeß teilhaben, wird eine Sozialsteuer zur Unterstützung erhoben (Dtn 14,22-29); die Entschuldung verschuldeter Bauern wird regelmäßig durchgeführt 573 574 575 576 577 Ebd. 353. So R. Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Levitikus 25, 57. Ebd. 25, 60. B. Jacob, Das Buch Exodus, 13. So F. Crüsemann, “...damit er dich segne...”, 91f. Über Fronarbeit im Alten Israel: J. Kegler, Arbeitsorganisation und Arbeitskampfformen im Alten Testament, in: L. Schottroff u. W. Schottroff (Hg.), Mitarbeiter der Schöpfung. Bibel und Arbeitswelt, München 1983, 51-71. 205 (Dtn 15,1-11). Im Dtn werden Lohnarbeiter erstmals als eigene soziale Gruppe genannt (Dtn 15,18,; 24,14f.). Grund ist wohl, daß durch die fortschreitende Krise immer mehr Bauern ihr Land verloren und in abhängi578 ger Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. Die sozialgeschichtlich neue Form abhängiger Lohnarbeit wurde von der Tora arbeitsrechtlich reguliert. Der Lohnarbeiter gehörte zu den Armen (Dtn 24,14). Er war zwar frei, doch auf Beschäftigung angewiesen. Wie eng und sozial ungesichert dennoch die Lebenslage war, zeigt sich daran, daß der Lohnarbeiter als jemand beschrieben wird, der sein ganzes Leben auf die Lohnauszahlung ausgerichtet hat. Um seine Existenzgrundlage abzusichern, wird bestimmt, den Lohn noch am Abend des Arbeitstages auszuzahlen (Dtn 24,15). Die Radikalität dieses Ethos wird auf dem Hintergrund des altorientalischen und griechisch-römischen Rechts deutlich. Sklaverei zeitlich zu begrenzen oder durch ihre Umwandlung in Lohnarbeit faktisch abzuschaffen, wie es die Tora tut, ist für die griechisch-römische Antike, die Sklaven nach dem Sachenrecht behandelte, ebenso beispiellos wie für den babylonischen und ägyptischen Kontext. Das Erlaßjahr war keine reine Utopie. Indirekt belegt die Ausnahmere579 gelung des Prosbol des Hillel die Praxis des Sabbatjahres. Da nach der Tora im siebten Jahr alle ausstehenden Schulden erlassen werden, war es gegen Ende der Frist für Arme schwer, ein Darlehen zu erhalten (Dtn 15,1ff). Als Rabbi Hillel (1. Jh. n. Chr.) erkannte, daß die soziale Intention in der Praxis zu unsozialen Ergebnissen führte, ordnete er den Prosbol an, durch den der Gläubiger seine Forderungen vor Beginn des Sabbatjahres in einer Urkunde bei Gericht geltend machte, so daß er sie auch später noch einziehen konnte. Das Gericht, nicht aber der Gläubiger, drängte den Schuldner. Hillel hatte die halachische Möglichkeit geschaffen, eine Schuld über das Erlaßjahr hinaus aufrechtzuerhalten, indem die Schuldscheine einem Gerichtshof übergeben und dadurch entpersönlicht wurden. Das Sabbatjahr mit seiner Erlaßfunktion war durch diese Regelung faktisch abgeschafft. Diese Reform des Rabbi Hillel hob zwar ein biblisches Gebot auf, war aber eine wichtige und mutige Tat zur 578 579 So R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 342. Vgl. zum Prosbol: H.G. Kippenberg u. G.A. Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 75ff.; vgl. auch den Vertrag eines “Prosbol” in: H.G. Kippenberg u. G.A.Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 76; vgl. auch: J. Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin 1930, 247.Verweise auf die Praxis des Sabbatjahrs bei: R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, in: Ökumenische Rundschau 44 (1995 ) 307, Anm. 16; vgl. K. Füssel u. F. Segbers (Hg.) “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 345; vgl. nähere Ausführungen über eine Kombination von Brache und Schuldenerlaß in Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und 2. nachchristlichen Jahrhundert unten Abschnitt: 6.1.2.3. 206 580 Erhaltung der sozialen Ordnung. Mit einem juristischen Kniff wurde die Darlehensverpflichtung abgeschafft und ein am griechischen Recht orientiertes Eigentumsverständnis eingeführt. Hillels Änderung geschah durchaus im Interesse der bedrängten Armen, und nicht etwa im Interesse der reichen Darlehensgeber, denn er suchte nach einem Weg, Armen 581 Zugang zu einem Darlehen zu verschaffen. 6.1.2.2.3 Zinsverbot als Strategie gegen Verarmung und Verelendung In seinem Kommentar Die Bibel - eine Deutung sagt Leonhard Ragaz zum biblischen Zinsverbot: Es sei “nicht bloß eine einzelne wirtschaftlichsoziale Maßregel, sondern ein gewaltiges Prinzip: die Verhinderung der 582 Geldwirtschaft.” Frank Crüsemann nennt Zinsverbot und Schuldener583 laß “Kernstücke biblischen Wirtschaftsrechts” : Sie sind Teil einer Gegenstrategie gegen Verarmung und Verelendung. Das Zinsverbot versteht der Prophet Ezechiel in Ez 18,8ff. als eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber den schwachen Mitmenschen und auch gegenüber Gott. “Der hohe Stellenwert, den für Ezechiel das Zins- und Aufschlagsverbot einnimmt, zeigt, daß er es nicht nur unter dem sozialpolitischen Aspekt der Minimierung von Verelendung, sondern als theologisch zentrales Element der Verwirklichung von Gerechtigkeit sieht. In ihm realisiert sich die 584 Forderung Gottes nach Gerechtigkeit in der Welt.” Rainer Kessler hat in seiner Analyse der Begriffe deutlich herausgearbeitet, daß die hebräische Sprache eine Unterscheidung kennt, die im Deutschen sprachlich kaum nachvollzogen werden kann. Im Hebräischen wird unterschieden, ob der Zinsnehmer oder der Zinsverleiher im Blick ist: ausleihen aus der Sicht des Ausleihenden (Dtn 28,12; Jes 24,2; Ps 37,21 u.ö.), verleihen aus der Sicht des Verleihenden (Ex 22,24; Jes 24,2; Ps 37,26;1 Sam 22,2 u.ö.), Zinszahlen (Hab 2,7), Zins fordern (Am 2,8). Diese doppelte Terminologie spiegelt einen Widerspruch einer Wirtschaftsweise wieder. Einerseits ist es notwendig, dem in Not geratenen Mitglied der Gesellschaft zu leihen, damit es weiterwirtschaften kann; andererseits aber begründet das Leihen Abhängigkeit. Schulden können zu Sklaverei führen: “Nun kommt der Gläubiger, um sich meine 580 Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von R. Meyer, 7. Aufl. München 1963, 317f. Anm. 390. 581 So E.W. Stegemann, W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 108. 582 L. Ragaz, Die Bibel - eine Deutung. Die Urgeschichte / Moses (1947), Neuauflage in vier Bänden, Bd. 1 Fribourg / Brig 1990, 389. 583 F. Crüsemann, Der größere Sabbat, 55. 584 J .Kegler, Das Zinsverbot in der hebräischen Bibel, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden, 37. 207 beiden Söhne als Sklaven zu nehmen” (2 Kön 4,1). Der zah585 lungsunfähige Schuldner kann in Schuldsklaverei geraten. Rechtssystematisch gehört das Zinsverbot deshalb zu der Materie, die auch mit dem Schuldenerlaß des Sabbatjahres reguliert wird. Im Bundesbuch (Ex 22,24), Deuteronomium (Dtn 23,20-21) und Heiligkeitsgesetz des Leviticus (Lev 25,35-38) findet sich ein Zinsverbot. Dieses in drei unterschiedlichen Schriften der Tora formulierte Zinsverbot weicht sprachlich und sachlich voneinander ab. In der Differenz spiegeln sich verschiedene ökonomische, sozio-ökonomische und rechtliche Entwicklungsstufen. (1) Zinsverbot (Ex 22,24) Die nach übereinstimmender Ansicht vermutlich älteste Formulierung des Zinsverbotes im Bundesbuch nennt Frank Crüsemann “das älteste 586 biblische Wirtschaftsgesetz” . Mit dem Zinsverbot beginnt das Wirtschaftsrecht der Tora. Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern (Ex 22,24). Das biblische Wirtschaftsrecht greift durch diese Bestimmungen direkt in ökonomische Mechanismen ein. Das Zinsverbot setzt beim Kern sozialer Abhängigkeit an, nämlich dem Schuldenwesen. Ausdrücklich wird ein Zusammenhang zwischen der Armut, der Notwendigkeit sich etwas auszuleihen und der Zinsnahme hergestellt. Eine reiche Oberschicht existiert bereits. Sie kann gegen Geld (Silber = kesef) Darlehen geben und Zinsen einfordern. Ziel des Zinsverbots ist es deshalb, jemanden vor hohen Schulden zu bewahren, der aus purer Not leihen muß, um nicht hungern zu müssen oder um Saatgetreide bekommen zu können. Geschützt werden sollen verarmte und überschuldete Kleinbauern. Über das gegebene Darlehen hinaus darf nichts zurückgefordert werden, lautet die Bestimmung. Deutlich wird darin, daß der Zins als Ursache der Verarmung gewertet wird. Das Zinsverbot schützt gegen das harte antike Kreditrecht, das die zumeist kleinbäuerlichen Familienbetriebe verarmen ließ und zur Verdrängung der Kleinbauern von ihrem angestammten 587 Grund und Boden führte. Ex 22,24a mahnt, der Darlehensgeber solle nicht wie ein “Wucherer” auftreten. Gemeint ist mit dem “Wucherer” (hebr. noseh) jemand, der seine Forderung rücksichtslos eintreibt und bei Fälligkeit die verpfändete 585 R. Kessler, Das hebräische Schuldenwesen, 182f. F. Crüsemann, Die Tora, 217. 587 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 250. 586 208 588 Sicherheit verwertet. Benno Jacob deutet das Verhalten des Gläubigers ganz schlicht: “Es (das Darlehen, F.S.) ist kein Almosen, und das Geliehene soll zurückgegeben werden. Der Darleiher soll nichts verlie589 ren, aber auch nichts gewinnen.” Kreditinteressenten waren wohl verarmte Bauern, die nicht zuletzt Geld zum Erwerb von Saatgut benötigten. Da die landwirtschaftlichen Erträge nicht voraussehbar sind, sind, mit denen das geliehene Geld erstattet werden kann, besteht für den Darlehensgeber ein hohes Risiko. Dieses Risiko wälzt der Darlehensgeber auf den Schuldner ab, wenn er Zinsen erhebt. Sozialökonomischer Hintergrund ist eine Agrarökonomie, in der die kleinbäuerliche Existenz durch Zinsnahme bedroht ist. Der Mahnung, sich nicht wie ein “Wucherer” zu verhalten, folgen zwei Ausführungen: das Verbot der Zinsnahme (Ex 22,24b) und das Verbot der Pfandnahme (Ex 22,24-26). Zins wie Pfandnahme werden parallel gestellt, denn sie machen sozial und ökonomisch abhängig. Das biblische Wirtschaftsrecht will diese in Abhängigkeit führenden ökonomischen Mechanismen durchbrechen. Begründet wird dieser Eingriff in ökonomische Mechanismen theologisch: “Weil Gott gnädig ist, weil er die Schreie der Armen hört, deshalb ist das Recht der Armen auf Leihen oh590 ne Pfand- und Zinsnahme essentieller Bestandteil der Tora.” (2) Zinsverbot (Dtn 23, 20f.) Das Deuteronomium kennt ebenfalls ein Zinsverbot, allerdings präzisiert gegenüber dem Bundesbuch. Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen nehmen kann. Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen (Dtn 23, 20.21a). Einschränkend wird jetzt nicht nur das Zinsnehmen für Gelddarlehen verboten (wie in Ex 22,24), sondern auch für alle anderen Darlehensarten, mit denen man Zinsen erzielen kann (Dtn 23,20). Anders als in Ex 22,24 wird die Bedürftigkeit des armen Darlehensempfängers nicht er588 E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 27f. Er versteht die Formulierung deshalb auch pädagogisch-paränetisch: Juristisch sei die Bestimmung in Ex 22,24 keine Norm, aus der Pflichten und Rechte folgen, sondern eine Ermahnung, sich nicht wie ein noseh zu verhalten. Erst durch eine Spezialnorm werde der Grundsatz als Rechtsprinzip anwendbar. - Die Einheitsübersetzung verwendet das Wort “Wucherer/Wucherzins”. Diese Übersetzung gibt den Sachverhalt nicht wieder, denn vorausgesetzt ist ein Maßstab, der diese Wucherzinsen von - erlaubten - niedrigeren Zinsen abhebt. Crüsemann spricht zutreffender von “Pfandleiher”(F. Crüsemann, Die Tora, 217). 589 B. Jacob, Das Buch Exodus, 714. 590 F. Crüsemann, Die Tora, 219. 209 wähnt. Das Verbot des Leihens, das in Ex 22,24 auf die Armen beschränkt war, wird auf alle Israeliten ausgeweitet; zugelassen wird diese Form des Darlehensgeschäftes nur noch gegenüber Ausländern. Fremden konnte die Tora das Zinsnehmen nicht verbieten. Wenn fremde Darlehensgeber Zinsen eintreiben konnten, hätten zinslose Darlehen entsprechend der Tora zu einer einseitigen Benachteiligung und Ausbeutung geführt, denn der fremde Darlehensgeber hätte bei den Israeliten Zinsen eintreiben können, ihm gegenüber jedoch hätte man auf einen Zinsgewinn verzichten müssen. Das Zinsverbot gilt deswegen nur für 591 Volksangehörige und ist für Nichtjuden aufgehoben. Eine aus dem verwandtschaftlichen Bereich stammende Norm wird auf die Wirtschaftsbeziehung mit Ausländern übertragen. Dadurch soll keine Zweiklassenethik etabliert werden, vielmehr trägt die Bestimmung der Diffe592 renz von Innen- und Außenwirtschaft Rechnung. Das Verbot der Zinsnahme im Unterschied zur Praxis der Nachbarvölker begründet Eberhard Klingenberg mit der sozio-ökonomischen Sonderstellung Israels, aber auch mit der Tatsache, daß Israel politisch und ökonomisch gegenüber den unmittelbar angrenzenden Phöniziern, Kanaanäern und Philistern weniger entwickelt war. So hätten Darlehenszinsen in der vor- und 593 frühstaatlichen Zeit Israels keine ökonomische Bedeutung gehabt. Erstmals wird in Dtn 23,20f. der Fachbegriff nesek verwendet. Er leitet 594 sich von der Wurzel nasak = beißen, verletzen, schaden ab. 591 Der in Dtn 23,21 gemeinte Fremde (hebr. = nokri) ist der, der nicht dauerhaft im Lande lebt und sich beispielsweise zum Zwecke von Handelsgeschäften im Lande aufhält, während der mit dem hebräischen Wort ger bezeichnete Fremde einen freien jüdischen oder nichtjüdischen Landesbewohner ohne Bürgerrecht meint. Vgl. dazu: E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 36. 592 So F. Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: G. K. Schäfer, Th. Strohm, Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, 2. Aufl. Heidelberg 1994, 83f. Gegen M. Weber, der auf eine Logik dieser Ausnahmeregelung in Dtn 23,20f. hinweist: “Die Scheidung von ökonomischer Binnen- und Außenethik ist für die religiöse Wertung der Wirtschaftsgebarung dauernd bedeutsam geblieben.”(M. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie (1921), Bd. III.,7. Aufl. Tübingen 1983,357f) M. Weber bestreitet die Universalität der Tora-Ethik. Der Dualismus der Wirtschaftsethik der Tora konnte bestimmte, dem Glaubensbruder gegenüber verpönte Arten des Verhaltens dem Nichtbruder gegenüber zu Adiaphora stempeln (M. Weber, Ges. Aufsätze , Bd. III., 358). 593 E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 24f. 594 Neben nesek verwendet die Tora tarbit (so in Lev 25,36f.; Ez 18,8.13.17, 22,12) als weitere Bezeichnung für Zinsen. Vgl. die Ausführungen und Diskussion: Ebd. 43ff. tarbit ist nur bei Naturalabgaben denkbar, während nesek einen Vorwegabzug bezeichnet oder einen Betrag meint, der mit der Darlehenssumme akkumuliert geleistet werden kann (Ebd. 51). Klingenberg verweist auf eine erklärende Deutung bei Maimonides: “Warum heißt es nesek? Weil der, der Zins nimmt, seinen Nächsten beißt, ihm Schmerzen zufügt und sein Fleisch ißt.” (43, Anm. 185) 210 (3) Zinsverbot (Lev 25,35f.) Das Zinsverbot im Heiligkeitsgesetz weist eine ähnliche Struktur auf wie im Bundesbuch und im Deuteronomium. Wenn dein Bruder verarmt, (...). Nimm von ihm kein Zins und Wucher! Fürchte deinen Gott, und dein Bruder soll neben dir leben können. Du sollst ihm weder dein Geld noch deine Nahrung gegen Zins und Wucher geben (Lev 25,35a.36.37). Drei Textstufen in Lev 25,35-38 lassen sich herausarbeiten: V 37: ein alter, poetisch geformter Rechtsspruch; Vv 35.36: Einführung, die das Zinsverbot begründet; V 38: Verweis auf Exodus und Landnahme: “Um euer Gott zu sein” (Lev 25,38). Diese Begründung des Zinsverbotes zeigt die Aussonderung und Heiligung Israels durch Gott, der das Volk in sei595 nem Verhalten entsprechen soll. Das biblische Zinsverbot ist eine Gegenstrategie gegen Verarmungsund Verelendungsprozesse in der Gesellschaft. Die Tora ist das einzige antike Gesetz, das ein ausdrückliches Verbot von Zinsen enthält. Zwar mißbilligen Aristoteles und Platon das Zinsnehmen, doch ein positives Verbot des Zinses ist nicht überliefert. Dagegen kennen die altorientalischen Gesetzestexte wie der Kodex Hammurapi ausführliche Bestim596 mungen über Zinsen. Die Tora verbietet dagegen kategorisch und ohne Ausnahme jede Form des Zinses für alle Arten von Darlehen innerhalb des Volkes Israel. Zinsnehmen und Wucher erscheinen von Anfang 597 an als Parallelbegriffe (Ex 22,24). Die Praxis der Zinsnahme ist urkundlich belegt. Sie scheint dennoch wohl eher uneinheitlich gewesen zu sein. Vor allem unter den ökonomischen Bedingungen der jüdischen Diaspora wurde zunehmend das Zinsverbot übertreten. Auffallend ist, daß Amos bei aller Sozialkritik kein Wort über Zinsdarlehen verliert, so daß davon ausgegangen werden kann, daß es zu seiner Zeit nicht üblich war, 598 Zinsen zu nehmen. Das frühe Christentum hat sich die alte Forderung nach einem generellen Verbot des Zinsnehmens aus dem Bundesbuch (Ex 22,24) zu eigen gemacht und sie verschärft: Die Solidarität gilt nicht mehr nur dem Armen, sondern allen Nächsten schlechthin. Die Einschränkung des Zinsverbots bei Nichtjuden ist aufgehoben, die ursprünglich intendierte Solidarität des Zinsverbots wird universalisiert (Lk 6,34ff; Mt 5,42; Lk 6,30 595 F. Crüsemann, Die Tora, 352. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 237f. E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 14. 597 Die Tora macht keinen Unterschied zwischen einem erlaubten mäßigen Zins und einem verbotenen überhöhten Wucherzins. Eine Differenzierung dessen, was im Deutschen mit Zins und Wucher ausgedrückt wird, kennt die Tora nicht. Die Einheitsübersetzung ist deswegen auch irreführend, wenn sie von Wucher und Wucherzins spricht (Ex 22,24). 598 Vgl. E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 54-56. 596 211 auch Lk 19,23). Die Einschränkung, Zinsnahme bei Nichtjuden zu erlauben (Dtn 23,20f.), ist wieder aufgehoben. Die Solidarität gilt nunmehr uni599 versal gegenüber einem jedem, nicht nur gegenüber dem Bedürftigen. 6.1.2.3 Jobeljahr (Lev 25,8-55): Schuldenerlaß und Umverteilung Seinen Namen hat das Jobeljahr von einem “Jobel” genannten Widderhorn, das aus seinem Anlaß geblasen wurde. Jobel, wohl über das akkadische jabilu = Hammel ins Hebräische gelangt, bedeutet dort Widder 600 (Jos 6, ; Ex 19,13; vgl. Jos 6). Erwähnt wird es als Jobeljahr (senat hajjobel) in Lev 25; 27,16-25. Jedes siebente Sabbatjahr ist ein Brachjahr (Lev 25,1-8.1), das JHWH gehört (V 4) und allen Bewohnern des Landes Befreiung bringt. Jeder hat das Recht, alle 49 Jahre an seinen angestammten Besitz und zu seiner Großfamilie zurückzukehren. Erwähnt wird das Jobeljahr nur im Pentateuch. Das priesterliche Gesetz enthält zwei Teile: das Sabbatjahrgesetz (V 2-7.20-22) sowie das Jobeljahrgesetz (V 8-55). Es führt die Bestimmungen des Bundesbuches über die Ackerbrache in Ex 23,10f. und der Sklavenbefreiung in Dtn 15,12-18 weiter. Im sieben mal siebten Jahr, also im fünfzigsten Jahr, soll es eine allgemeine Wiederherstellung früherer Zustände geben, eine restitutio ad integrum. Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder zu seiner Sippe heimkehren. Dieses fünfzigste Jahr gelte euch als Jubeljahr. Ihr sollt nicht säen, den Nachwuchs nicht abernten, die unbeschnittenen Weinstöcke nicht lesen. Denn es ist ein Jubeljahr, es soll euch als heilig gelten. Vom Feld weg sollt ihr den Ertrag essen. In diesem Jubeljahr soll jeder von euch zu seinem Besitz zurückkehren (Lev 25,10-13). Das Erlaßjahr stellt eine zweifache Strategie gegen Verarmung dar: Nach fünfzig Jahren werden erstens die alten Besitzverhältnisse wieder hergestellt, indem eine Rückübertragung von Besitzrechten an Land erfolgt; zweitens wird die Schuldsklaverei beendet. Alle bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte Akkumulation von Grund und Boden wird rückgängig ge599 600 W. Bindemann, “... Gutes tun und leihen ...”(Lk 6,35). Feindesliebe im Wirtschaftsleben, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 259-265. A. Meinhold, Jubeljahr, I. Altes Testament, TRE Bd. 16, 280 (Lit.!); G. Robinson, Das JobelJahr.; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 249- 2256; R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 86f.; F. Crüsemann, Die Tora, 330-332; R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, 40-53; R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, 295 - 310. 212 macht. Über das Bundesbuch und Deuteronomium hinaus hat das Heiligkeitsgesetz eine Neuerung eingeführt: Der Erwerb von Grund und Boden ist zeitlich befristet. “Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir” (Lev 25,23). Der eigentliche und ausschließliche Besitzer des Landes ist Gott (Lev 25,23). Boden ist prinzipiell unveräußerlich. Nur die Ernte darf veräußert werden (Lev 25,16-19). Verpfändungen des Ackers sind nicht ausgeschlossen, auch nicht der Handel mit den Ernteerträgen. Die Regelung will den Handel mit Grund und Boden grundsätzlich ermöglichen, formuliert aber dort eine Grenze, wo die wirtschaftliche Existenz der Familien gefährdet werden kann. Im Jobeljahr werden die in Knechtschaft lebenden Menschen befreit und ihre alten Besitzrechte wiederhergestellt. Martin Buber betont diese Verbindung von Eigentumsverständnis und sozialer Gerechtigkeit: “In der Befreiung des Bodens von der Verfügungsgewalt der Besitzer, in der Hergabe seiner Früchte an alle tritt der Boden immer neu in die göttliche Weihe ein. In den im gleichen Abschnitt enthaltenen Vorschriften für das Jobeljahr wird das Verbot, Land „auf Abschluß‟, für immer, zu verkaufen, und das Gebot, für ein verkauftes Land Auslösung zu gewähren, mit dem Gottespruch begründet (V.23): „Denn mein ist das Erdland, denn Gäste und Beisassen seid ihr bei mir‟. Das Land ist nicht Einzelner, es ist aller, es ist des Volkes, denn es ist Gottes. Alle Besitzverschiebungen, alle aufgekommene Latifundienwirtschaft wird im „Heimholer‟-Jahr (denn das scheint jobel zu bedeuten) ausgeglichen, alles wird in das Lehen Gottes an das Volk „heimgeholt‟. Aber dieselbe Begründung darf auch für das Sabbatjahr gelten: dadurch, daß immer wieder der Ertrag des Bodens al601 ler wird, wird immer neu bekundet, daß das Land Gottes ist.” Das Jobeljahr ist nicht nur eine soziale Institution, es enthält auch ein praktikables Instrumentarium, das soziale Ungleichheiten verhindern und einen regelmäßigen Lastenausgleich durchführen kann (Lev 25,15f.). Es dient dem Schutz der Schwachen, der Schuldner (bzw. Verkäufer) gegenüber dem Gläubiger, setzt also Situationen voraus, in denen jemand verkaufen oder sich verschulden muß. Das Jobeljahr enthält eine handhabbare Regel eines arithmetischen Maßstabes zur Bestimmung des Wertes von Immobilien: Der Kaufpreis des Bodens (Äcker, Weinberge u.ä.) wird durch die Anzahl der Ernteerträge bestimmt und richtet sich deshalb nach dem Gebrauchswert und nicht dem marktwirtschaftlichen 602 Tauschwert. In der wissenschaftlichen Forschung ist umstritten, ob es 601 M. Buber, Israel und Palästina, 1950, 31, zit. nach: A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn und Eigentum, 121. 602 K. Füssel u. M. Ramminger, Armut und Reichtum - Biblische Erinnerung an einen Widerspruch, in: Demokratiefähigkeit. Jahrbuch Politische Theologie, hg. von Jürgen Manemann, Bd. 1, Münster 1995, 196ff. Dort auch die folgenden Ausführungen. 213 sich nur um eine ideale Konstruktion handelt, mit deren Hilfe Unrechtsverhältnisse als torawidrig bewertet werden. Die historische Tatsachenfrage entwertet jedoch nicht die Bedeutung dieser Einrichtung, denn sie drückt zum einen eine Wertentscheidung zugunsten des ökonomisch Schwachen aus und enthält zum anderen eine handhabbare Regel zur Bestimmung des Wertes von Immobilien. Die Jobeljahr-Formel lautet: C (50) = 50 N = 50 Ca D.h. der Kapitalwert eines Grundstücks (C) bezogen auf 50 Jahre entspricht 50 Jahresnettoerträgen (N), welche gleich 50 Abschreibungsraten (Ca) sind. Die Regel zur Bestimmung des Wertes einer Immobilie ist rechnerisch durchführbar und praktikabel. Daraus ergeben sich wichtige ökonomische Konsequenzen: - Die jährlichen Nettoerträge bestimmen den Bodenwert, d.h. der Wert des Kapitals sinkt von Jahr zu Jahr bis auf Null im fünfzigsten Jahr. Lediglich der Boden bleibt dem Besitzer erhalten; - Kapital kann prinzipiell nicht verzinst oder vermehrt werden, sondern nur (gesehen als Guthaben) erhalten oder (gesehen als Schuld) getilgt werden; - es besteht kein Anreiz zur Akkumulation von Grund und Boden, da im Jobeljahr jeder seinen ursprünglichen Besitz zurückerhält; - Spekulationen sind ausgeschlossen, da der Bodenpreis sich nicht nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage bildet, sondern nach dem Ertragswert; - die oberste Grenze für den Bodenpreis ist die Summe, die sich aus der Anzahl der Ernteerträge ergibt; - eingerahmt werden die Bestimmungen über die Anwendung der Verkaufsregel mit der Mahnung, einander nicht zu übervorteilen (Lev 25,14.17); - Grund und Boden können nicht endgültig verkauft werden, denn “Gott gehört das Land” (Lev 25,23). Die Menschen sind Nutznießer und Treuhänder des Bodens. Die Wertbestimmungsregel des Jobeljahres zielt auf jene Verfahrensfragen beim Handel und bei der Preisbildung, die in einer Marktwirtschaft eine dominierende Rolle spielen. “Es handelt sich nicht um eine markt(gesetz)liche Lösung, sondern um eine Lösung, durch die die Posi- 214 tion der sozial und ökonomisch Schwächeren geschützt werden soll: 603 Ausbeutung soll ausgeschlossen werden.” Daß es sich dabei um eine wirtschaftspraktische und nicht religiös-ideologische Maßnahme handelt, zeigt die Bestimmung, Häuserimmobilien in der Stadt, die nicht als Pro604 duktionsmittel dienten, frei konvertierbar zu lassen (Lev 25,29-31). Diese Regulierung zeigt, daß die Mechanismen, die Verarmungsprozesse in Gang setzten, bekannt waren und dort ausgeschaltet werden sollten, wo sie sozial schädlich waren. Die Neutralisierung der sozial destruktiven Marktkräfte geschah dadurch, daß mittels der Wertbestimmungsregel des Jobeljahres allein der Gebrauchswert, nicht aber der Tauschwert den Preis oder Wert des Bodens oder einer Immobilie festsetzen konnte. Keineswegs jedoch sollte die Ökonomie auf eine reine Subsistenzwirtschaft zurückgedrückt oder der Handel mit Ernteerträgen ausgeschlossen werden. Lediglich die sozialen und ökologischen Schäden aus einer freien Verfügung über Grund und Boden sollten zurückgedrängt werden. Eine andere, über Ex 23 und Dtn 15 hinausgehende Regelung im Heiligkeitsgesetz sieht die Einführung von Löserinstitutionen vor. Wie Grund und Boden nicht konvertibel sind, so auch nicht der Mensch. Die Verwandten werden in Pflicht genommen, mit einer Löserregelung bei Sach- und Personalhaftung einzustehen. Lev 25 stellt eine Liste auf, in welcher Reihenfolge ein Löser dafür einstehen muß, daß das verkaufte Grundstück eines Familienangehörigen oder auch eines in Schuldknechtschaft geratenen Verwandten ausgelöst werden muß (Lev 25,48f.). Lev 25 schafft zwar durch die Löserinstitution die Schuldknechtschaft praktisch ab. Beliehen werden kann nur noch eine zeitlich begrenzte Arbeit. Der Preis für die Aufhebung der Schuldknechtschaft ist allerdings, daß die Verpfändung der Arbeitskraft, die ursprünglich auf sieben Jahre begrenzt war (Ex 21,2; Dtn 15,12), nun auf 49 Jahre erhöht wird und wie eine abhängige Lohnarbeiterverpflichtung betrachtet wird. Lev 25 zählt verschiedene Grade von Verarmung auf: Notverkauf von Grund und Boden (V 25a); Überschuldung (V 35-38); Selbstverkauf in die Schuldknechtschaft (V 39-46); Verkauf in die Schuldknechtschaft an einen Nichtisraeliten (V 47-55). Jedes dieser vier Gesetze, die verschiedene Formen von Verarmung behandeln, werden mit der gleichen Formel eingeleitet: “Wenn dein Bruder verarmt (...)”(V 25.35.39.47). Immer, wenn diese Notfälle eintreten, soll sich der Clan oder die Großfamilie so605 lidarisch verhalten und einlösen, was der Bruder verkaufen mußte. 603 604 605 T. Veerkamp, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in der Schrift, Berlin, 1992, 96. E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 286. J. Kegler, Das Zinsverbot in der Bibel, 29; R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, 43ff. 215 In der Tora gibt es drei Institutionen, die in einem Siebenjahreszyklus greifen: Ackerbrache, Befreiung der Sklaven und Sklavinnen, Schuldenerlaß. Gnana Robinson versteht das Jobeljahr als Integration dieser drei 606 sozio-ökonomischen Maßnahmen. Diese Integration bedeutet aber zugleich, daß die Einrichtung des Jobeljahres nicht nötig gewesen wäre, wenn Ackerbrache und Befreiung aus der Schuldknechtschaft sowie Schuldenerlaß treu und regelmäßig praktiziert worden wären. Gnana Robinson geht deshalb von der These aus, daß das Jobeljahr neu erfunden werden mußte, weil eine sozio-ökonomische Krise eine “radikale Restitutio ad integrum, die Befreiung der Sklaven, die Erlassung der 607 Schulden und die Wiederverteilung des Landes verlangt” hatte. Dabei werden nach Jürgen Ebach “die alten Forderungen in einer neuen Situation der Geschichte Israels neu befragt, neu durchdacht und neu auf 608 Praxis hin formuliert” . Dadurch, daß “die alten Vorlagen aus dem Bundesbuch und aus dem Deuteronomium (...) aufgenommen sind”, läßt 609 sich Lev 25 als eine Form “innerbiblischer Schriftauslegung” lesen. Das wirtschaftsethische Ziel, das jeweils erreicht werden soll, ist das gleiche: Akkumulationsprozesse sollen unterbrochen und Reichtum zurückerstattet werden. Der Ursprung dieser Regelung des Jobeljahres ist ungewiß, zudem 610 fehlen alle Belege dafür, daß es in Israel überhaupt praktiziert wurde. Praktiziert wurde jedoch das siebenjährige Erlaßjahr des Deuteronomium. Es gibt in Alt-Babylonien Freilassungsakte, doch diese wurden weder in einem regelmäßigen Zyklus erlassen, noch gab es einen Rechtsanspruch. Sie belegen allenfalls, daß die Könige mit diesen Erlassen die schlimmsten Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen abwehren wollten. Das biblische Jobeljahrgesetz soll demgegenüber Zukunft in einer verläßlichen Weise gestaltbar machen. Arndt Meinhold schließt sich Karl Elliger an, der davon ausgeht, daß mit Lev 25 an einer älteren Regelung der Befreiung verschuldeter Menschen mit Rückkehr zum angestammten Besitz auch für die nachexilische, privatwirtschaftliche Zeit festgehalten werden sollte, und deshalb auch das Zugeständnis einer 611 Zeitspanne von 49 Jahren gemacht wurde. Das Jobeljahrprogramm hat sich aus Dtn 15 und Ex 23,10ff. unter Aufnahme einer vorexilischen 606 607 608 609 610 611 So die These von G. Robinson, Das Jobel-Jahr. Ebd. 476. J. Ebach, Über die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse, in: ders., Theologische Reden, mit denen man keinen Staat machen kann, Bochum 1986, 113. Ebd. 120. Erwähnung findet das Jobeljahr lediglich bei Josephus Ant. III 280ff. - so nach G. Robinson, Das Jobel-Jahr, 474. E. Otto geht davon aus, daß das Jobeljahrprogramm nicht praktiziert wurde (E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 288.). A. Meinhold, Jubeljahr I., 280f. 216 Praxis entwickelt, die Verwandten ein Vorkaufsrecht für Grundstücke ge612 währte (Jer 32,6-15; Rut 4). Jes 61,1 und Ez 40,40-48 lassen darauf schließen, daß das Jobeljahr Hoffnung für die Zeit des Neubeginns nach 613 der Exilzeit geben will (Jer 32,6-15; Rut 4). Schon bei seiner Erfindung sollte - so Gnana Robinson - das Jobeljahr 614 “die Israeliten religiös und moralisch herausfordern” . Offenbar jedoch hatte die Einhaltung der Sabbatruhe dem Land große Probleme bereitet, denn Lev 26,35.43 versteht das Exil als die Zeit, in der Gott dem Land die von den Menschen vorenthaltene Sabbatruhe gewährte. Rainer Albertz folgert aus den Ausnahmeregelungen (Lev 25,29-34) und den Zugeständnissen (Versklavung von Ausländern bleibt erlaubt, Lev 25,4446), daß das Gesetz für den Vollzug und nicht als utopischer Entwurf ge615 dacht war. Dennoch ist in der nachexilischen Zeit nicht das Jobeljahr, wohl aber das Sabbatjahr praktiziert worden. Rainer Albertz vermutet, daß die aus der Sabbatidee stammende Vorstellung einer Befreiung der Gesellschaft durch eine regelmäßige Wiederherstellung ursprünglicher Verhältnisse nur durchführbar gewesen wäre, wenn es zuvor eine gerechte Verteilung von Grund und Boden gegeben hätte. Sonst hätte eine Rückkehr aus Schuldknechtschaft immer nur die gleichen ungerechten Ausgangsbedingungen wiederhergestellt. Neh 5, 1-13 geht von dem Erlaßjahr-Gesetz des Dtn aus, nicht aber vom Jobeljahrgesetz. Das Jobeljahr ist wohl nur Programm geblieben, sein programmatisches Ethos war jedoch bis in die neutestamentliche Zeit hinein bedeut616 sam. In Juda setzte sich mit der Kanonisierung der Tora eine Lösung durch, die eher schärfer als die Jobeljahrgesetzgebung war: Eine Kombination der allgemeinen Brachregelung des Sabbatjahres (Lev 25,1-7) mit dem Schuldenerlaß (Dtn 15,1-2). Rainer Albertz verweist auf mehrere positive Belege für die Einhaltung dieser Kombination von Brache und Schuldenerlaß in der Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2. 617 nachchristlichen Jahrhundert. Mehrere Anhaltspunkte verweisen auf eine Rezeption des programmatischen Ethos von Lev 25 in den Schriften des Neuen Testaments. Die programmatische Antrittspredigt Jesu (Lk 612 613 614 615 616 617 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testamentes, 288. A. Meinhold, Jubeljahr I., 281. G. Robinson, Das Jobel-Jahr, 478. R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 307. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 255. R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 307. Genannt seien: für die Jahre 164/3 v. Chr.: 1 Makk 6,48.53; Josephus, Ant. XII, 378; Josephus, Bell. I, 46; für die Jahre 136/5 v. Chr.: 1 Makk 16,14; Josephus, Ant. XIII, 234.; Josephus, Bell. I, 60; für die Jahre 38/7 v. Chr.: Josephus, Ant. XIV, 475; XV, 7; für die Jahre 54/55 n. Chr.: Muraba‟at 18,7; für die Jahre 68/8 n. Chr.: rabbinische Quellen; 131/2 Murabaat 24; vgl. H.G. Kippenberg u. G.A. Wevers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 75ff. 217 4,18f.) läßt die Erinnerung an die Verheißung von Jes 61,1ff. anklingen. Das Bild von der “Freilassung” und der “Ausrufung des Gnadenjahres des Herrn” (Lk 4,18.19) bekommt im Kontext der jesuanischen Rede eine eindeutige soziale Ausrich-tung im Sinne des alttestamentlichen Sab618 bat- und Jobeljahres. Die Vater-unser-Bitte um Schuldentilgung und die radikale Besitzaufgabe in der Jesusnachfolge enthalten einen Hinweis auf jene Institutionalisierung des Teilens und des Umverteilens, die 619 mit dem Sabbat-/Jobeljahr gemeint war. Die urchristliche Gütergemeinschaft (Apg 4) kann als Praxis der Vision von Lev 25 verstanden werden. Private Eigentumsverhältnisse werden zurückgeführt. Besitz an Grund und Boden, der im Laufe der Jahre akkumuliert wurde, wird rückgängig gemacht, wie die Erzählung über Hananias und Saphira berichtet (Apg. 4,34ff.; 5,1-11). Die Folge: “Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt”(Apg. 4,34). Die urchristliche Gemeinde vollzog die Maxime der Wirtschaftsethik der Tora: “Doch eigent620 lich sollte es bei euch keine Armen geben”(Dtn 15,4). Aus der Tatsache, daß Grundforderungen der Tora in der neutestamentlichen Tradition nicht genannt werden, darf nicht gefolgert werden, daß sie keine Geltung gehabt hätten. Die Geltung der Tora stand nicht zur Disposition, gerungen wurde um die Gesetzespraxis. Rainer Kessler ist zuzustimmen, wenn er sagt, daß die Toraforderungen ganz selbstverständlich gelten und deswegen nicht wiederholt werden müssen, denn “nicht ein einziges 621 Jota” (Mt 5,18) vom Gesetz solle verändert werden. 6.2 Die Wirtschaftsethik der Tora und ihre Wirkungsgeschichte In sozialstaatlich geprägten Ökonomien mit ihren Mechanismen des sozialen Ausgleichs zeigt sich nach Eckart Otto wirkungsgeschichtlich ein Impuls der bib-lischen Tradition. “Wenden wir uns der Wirtschaftsethik im antiken Israel zu, so zeigt sich, daß wir es bei diesem Ausgleich nicht nur mit einer modernen Herausforderung zu tun haben, sondern mit einer 618 619 620 621 So R. Albertz, Die “Antrittsrede” Jesu im Lukasevangelium auf ihrem alttestamentlichen Hintergrund, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 74 (1983) 198. W. Bindemann, “Wir haben alles aufgegeben.” (Mk 10,29) Christusnachfolge zwischen Besitzverzicht und Hoffnung auf soziale Reintegration, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 266 - 274, hier: 269f.; so auch F. Crüsemann “... wie wir vergeben unseren Schuldigern.” Schulden und Schuld in der biblischen Tradition, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden, 90 - 103. G. Jankowski, “... und hatten alles gemeinsam.” (Apg 4,32) Ökonomische Fragen in der Apostelgeschichte, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 139 - 148. So auch R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 308. R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, 93. 218 wirtschaftspolitischen Universalie aller Ökonomien, die im Horizont der 622 jüdisch-christlichen Tradition stehen.” Sie bestehe in einem Ausgleich zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. In der Ackerbrache (Ex 23,11), in der Schuldenbefreiung (Dtn 15,1-11) oder im Jobeljahr (Lev 15) zeige sich, daß die Wirtschaftsethik des Alten Testamentes von der durchgängigen Linie geprägt ist, Eigennutz dadurch zu begrenzen, daß das Wohl des Anderen und der Zusammenhalt der Gesellschaft mitbedacht 623 werden. Wichtig ist, daß der soziale Ausgleich im Deuteronomium doppelt begründet wird: zum einen theologisch durch die Erinnerung an Ägypten, zum anderen ökonomisch durch die Vernunft. So wird beim Zinsverbot, dem Jobeljahr, der Beschränkung der Sachhaftung und den anderen Regulierungen des Wirtschaftssystems in der Tora nicht allein moralisch argumentiert, sondern es werden wirtschaftspraktische Überlegungen einbezogen: “Die Grenzen der Realisierung des Eigeninteresses werden so gezogen, daß eine komplexe Ökonomie einschließlich des Handelns mit Grund und Boden möglich ist, sofern dadurch nicht die wirtschaftliche Existenz der Familien als Basiseinheiten des Wirtschaftsprozesses gefährdet und die Ärmsten schutzlos der Personhaftung ausgeliefert 624 sind.” Darin zeigt sich eine Ethik, die das Leben schützen will und die auch ökonomisch sinnvoll ist. In der Vielzahl von Ethiken innerhalb der Hebräischen Bibel zeigt sich ein konsistentes Normensystem, das trotz aller Divergenzen in den Traditionen gleichwohl eine Einheit erkennen läßt, die sich in der Verschränkung von Ethos und Recht in Fragen der Wirtschaftsordnung als ethische Substanz der biblischen Überlieferung ausformuliert. “Recht und Ethos bleiben, der Ausdifferenzierung des Ethos aus dem Recht zum 625 Trotz, stets miteinander verbunden.” Das Ethos entfaltet sich als ein Ethos der Gerechtigkeit, das Eigeninteresse und Gemeinwohl ausbalancieren will. Eckart Otto nennt den sozialen Ausgleich durch eine Verschränkung von Eigennutz und Gemeinwohl eine Universalie aller Ökonomien, die in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang mit der christlichjüdischen Tradition stehen. Die Frage jedoch lautet: Ist diese Verschränkung von Eigennutz und Gemeinwohl bereits ein Motiv der Wirtschaftsethik der Tora gewesen? Was meint die Spannung von Eigennutz und Gemeinwohl? Adam Smith (1723-1790) hat als einer der ersten Ökonomen den Eigennutz zwar ethisch legitimiert, jedoch die Legitimati622 623 624 625 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 281f. Ebd. 289. Ebd. 288. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 265. 219 on an Bedingungen gebunden. Diese ethische Legitimation konnte er erst durch eine Argumentation erreichen, nach welcher der Eigennutz der Vielen sich zur Summe des Gemeinwohls aller addiere. Smith argumentierte gleichsam auf zwei Ebenen, hielt jedoch am gesellschaftlichen Ziel des Gemeinwohls fest. Erst dadurch konnte eine Wertung des Eigennutzes als Untugend aufgehoben werden. Zum Klassiker wurde sein Standardwerk Reichtum der Nationen (1776), nicht aber seine siebzehn Jahre zuvor veröffentlichte moraltheologische Abhandlung Theorie der 626 ethischen Gefühle (1759) . Die integrative Konzeption von Ethik und Ökonomie bei Adam Smith wurde in der ökonomischen Theoriebildung nicht rezipiert. Vielmehr wurde er entgegen den Anschauungen in seiner Abhandlung Theorie der ethischen Gefühle zum Gewährsmann eines ökonomischen Handelns, in dem der Eigennutz sich als kategorischer Imperativ einer auf Konkurrenz basierenden Markwirtschaft aufspielen konnte. Die Tora will Motivation und Ziele zusammenhalten, indem sie durch ein Ethos der Brüderlichkeit zur Solidarität motivieren will. Wirtschaftliches Handeln besteht nach Adam Smith darin, “lediglich nach ei627 genem Gewinn” zu streben. Wenn Eckart Otto den Ausgleich von Eigennutz und Gemeinwohl als wirtschaftshistorische Universalie ausmacht, projiziert er die ethische Voraussetzung der liberalen Marktökonomie der Moderne in die Zeiten des Alten Israel zurück. Eine Kategorie “Eigennutz”, die sich zu einem Gemeinwohl aller summiere, ist der Tora fremd. Was Eckart Otto eine Universalie der Ökonomien nennt, ist lediglich ein tragendes Motiv der liberalen Marktwirtschaft. Das liberale Verständnis von Markt und Ökonomie wird gleichsam verewigt, wenn es als ökonomische Universalie verstanden und zur Grundlage bereits der Ökonomie des Alten Israel erklärt wird. Die Tora ist in ihrer Wirtschaftsethik sehr konkret, wenn es darum geht, Gerechtigkeit aufzurichten. Das Wirtschaftsrecht der Tora kennt Institutionen und Maßnahmen, die regulierend in ökonomische Abläufe eingreifen. Deshalb ist Rainer Albertz zuzustimmen, der den wirtschaftsethischen Gehalt der Tora in der Unterbrechung wirtschaftlicher Sachzwänge ausmacht und die Regulierungen der Wirtschaft in der Tora als Institutionen der Gerechtigkeit “gegen die unterdrückenden Zwänge 628 wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit” versteht. Zu diesen Regulierungen der Wirtschaft gehören u.a. folgende Institutionen: das Zinsverbot (Ex 22,24; Dtn 23,20ff.; Lev 25,35ff.), der Schuldenerlaß (Dtn. 15,1f), das Jo626 627 628 Frankfurt 1949. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seine Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung herausgegeben von Horst Claus Recktenwald, 6. Aufl. München 1978, 371. R. Albertz, Die Tora Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 309. 220 beljahr (Lev 25,10ff). Der Sabbat unterbricht die Zeit und begrenzt den Zugriff der Ökonomie auf die Zeit. Nicht lediglich Ausgleichsmechanismen zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, sondern eine Regulierung des Marktes will die Wirtschaftsethik der Tora erreichen, indem sie in die Mechanismen des Marktes eingreift und die Marktgesetze selber reguliert. Nicht allein die Tatsache, daß es soziale Ausgleichsmechanismen gibt, sondern wie sie wirken, mit welchen Regeln, vor allem aber zu wessen Nutzen und Interesse, ist von Bedeutung. Auf diese Aspekte jedoch geht E. Otto nicht ein. Während Eckart Otto der bis in die Moderne reichenden Wirkungsgeschichte alttestamentlicher Motivik nachgeht, fragt Eilert Herms in seinem Beitrag zur bibeltheologischen Begründung theologischer Wirtschaftsethik nach einer gegenwartsbezogenen Relevanz biblischer Sozialtradition, die nicht in der Applikation der Wirtschaftsregeln der Tora bestehen kann. Welche Begründungen kann die biblische Überlieferung für ökonomisches Handeln bieten? Wie Eckart Otto fragt auch Eilert Herms, ob den biblischen Regeln wirtschaftlicher Interaktion eine universale Regel zugrunde liege, die über den Zeitkontext der Bibel hinausreiche. Eilert Herms eruiert zwei solcher universal gültigen Grundregeln in der Bibel, die allen möglichen wirtschaftlichen Tätigkeiten zugrunde liegen und zugleich auch inhaltlich bestimmte Vorzugskriterien zur Geltung bringen. 1. Regel: Die Regel der Gerechtigkeit “Diese Grundregel des gerechten Wirtschaftens zielt nicht auf Gleichheit des Besitzes, sondern auf etwas anderes: nämlich die Regeltreue in der Interaktion, den Verzicht auf Übervorteilung und die Wahrung einer 629 gleichberechtigten Reziprozität aller Beteiligten.” Eilert Herms will die Gerechtigkeitsregel verstanden wissen als eine Regel, die nicht nur für wirtschaftliche, sondern für jede Art von Interaktion gilt. Wirtschaftliche Gerechtigkeit ist deshalb gesellschaftlich eingebettet und Moment einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung, die insgesamt der Regel der Gerechtigkeit folgt. 2. Regel: Die Regel der bewußten Relativierung des Wirtschaftens auf die Bedingungen und Ziele der Gesamtexistenz hin Der Gottesbezug relativiert die Ansprüche der Ökonomie genauso wie al630 le anderen Loyalitäten und Verpflichtungen des Menschen. Die beiden zunächst abstrakt anmutenden Grundregeln sind von praktischer Bedeutung. Sie beziehen sich zwar nicht direkt auf wirtschaftliches Handeln, sorgen aber dafür, daß wirtschaftliches Handeln in gesell629 630 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 97. Ebd. 98f. 221 schaftlichen Zielen eingebettet bleibt. Von dieser Grundlage her wirken sie auf die Ordnungsgestalt der Wirtschaft und können diese letztlich durch Recht gestalten. Interessant an der Argumentation von Eilert Herms ist, daß er das Spezifikum christlicher Wirtschaftsethik in universal gültigen und materialen ethischen Gehalten ausmacht. Das aber bedeutet, daß zwischen biblischer Ethik und Fragestellungen der Wirtschaftsethik materialethische Verbindungen hergestellt werden können. In der Tora gibt es einen konstitutiven Zusammenhang zwischen 631 “Ethos und Recht” . Erst diese Verschränkung sichert, daß das Ethos nicht in die Beliebigkeit des einzelnen oder eines individuellen Bewußtseins gestellt bleibt, sondern zu einem Rechtsanspruch gerade auch der sozial und ökonomisch Schwachen wird. Der Arme ist ein Rechtsträger, der ein Recht darauf hat, daß ihm Barmherzigkeit eben in der Gestalt von Rechtsansprüchen zuteil wird. Er ist Subjekt und nicht bloßes Objekt der Barmherzigkeit der Starken. Darin entfaltet sich der spezifische Inhalt des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs, der Gerechtigkeit aus der Perspektive des Armen wahrnimmt. Auch wenn Eilert Herms materialethisch theologische Ethik qualifizieren will, so ist dennoch kritisch anzumerken, daß er den Rechtsaspekt biblischer Ethik übergeht. Letztlich lassen sich dann wirtschaftsethische Positionen legitimieren, die mit neoliberalen Forderung nach Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung kompatibel sind: Der Neoliberalismus hat zwar ein Interesse an Ethik; er braucht sie auch, denn er will den rechtlichen Rahmen des Wirtschaftens reduzieren. Rechtliche Regulierungen werden als Beschränkung der Freiheit des Marktes wahrgenommen. Diese Absicht gerät jedoch in ein Dilemma, denn der Markt braucht trotz aller Ablösung von rechtlichen Beschränkungen Sicherheiten für seine Funktionsfähigkeit. Eine Ethik, die nicht in Rechtsansprüche überführt wird, erscheint daher als Ausweg aus diesem Dilemma. Ethische Orientierungen dienen dann als Ersatz für die fehlende rechtliche Regulierung. 631 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 265. 222 7. BIBEL IN DER WIRTSCHAFTSETHIK: ZUR REZEPTION BIBLISCHER TRADITIONEN IN KIRCHLICHEN ERKLÄRUNGEN Immer mehr Kirchen sehen sich auch in den Industriegesellschaften mit sozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert, die längst überwunden schienen. Auf diese sozialen Verwerfungen und ökonomischen Krisen haben die Kirchen in den letzten Jahren mit zahlreichen Erklärungen, 632 Hirtenbriefen oder Sozialworten reagiert. Welche Rolle nehmen in diesen Äußerungen biblische Bezüge ein? Wie nehmen die Kirchen in ihren wirtschaftsethischen und sozialethischen Verlautbarungen die biblische Tradition auf? Aufsehen erregte 1985 der Hirtenbrief der US-Bischöfe mit dem Titel 633 Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle , der wie die wirtschaftsethische Erklärung der protestantischen Church of Christ aus dem Jahre 1989 634 Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit und die 1985 veröffentlichte Studie der anglikanischen Kirche unter dem Titel Faith in 632 633 634 Vgl. die Übersicht in: F. Segbers, Soziale Marktwirtschaft - Lösung oder Teil der Krise? In: Die Kehrseite der Medaille. Ein Glaubensbrief über die Wirtschaft von christlichen Gruppen und Organisationen aus den Niederlanden, Nachwort zur deutschen Ausgabe, Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Reihe B Nr. 23, Heidelberg 1995, 68ff. sowie den Überblick über kirchliche Äußerungen in: M. Huhn u. F. Segbers u. W. Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. - Anhang, 165-169. Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA “Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle”. Aus deutscher Sicht kommentiert von F. Hengsbach, Freiburg 1987. Ausführliche Analyse bei: H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993. Eine 1. Fassung veröffentlicht in: epd-Dokumentation Nr. 13 / 1989; Schlußfassung in einer Dokumentation der Ev. Akademie Iserlohn (1989). 223 635 the City im Kontext der neoliberalen Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher zu lesen ist. 1987 begann der Ökumenische Rat der Kirchen mit einem Studienprogramm, das 1992 in eine Erklärung zur Ökonomie unter dem Titel Leben und volle Genüge für alle. 636 Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft mündete. Die österreichischen Bischöfe veröffentlichten 1990 einen Sozialhirtenbrief, 637 dem ein fast zweijähriger Konsultationsprozeß vorausgegangen war. Nur wenige Jahre nach der Wende suchte die Evangelische Kirche in Deutschland 1991 mit der Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz. Wirt638 schaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft einen Beitrag zur Debatte um die Fragen der Wirtschaftsordnung zu leisten. Christliche Gruppen und Organisationen aus den Niederlanden haben 1992 einen Glaubensbrief über die Wirtschaft unter dem Titel Die Kehrseite der Me639 daille geschrieben. Die Sozialkommission der Französischen Bischofskonferenz legte 1993 eine Erklärung mit dem Titel Face au chomage 640 changer le travail(dt.“Angesichts der Arbeitslosigkeit - Arbeit ändern”) vor und lud die gesellschaftlichen Kräfte zu einer Debatte über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft ein. Im Herbst 1994 gaben die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Diskussionsgrundlage für einen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in die gesellschaftliche Öffentlichkeit und reihten sich mit diesem Text in die lange Reihe ähnlicher Projekte anderer europäischer Kirchen ein. Das Neue sind nicht die eingebrachten Vorschläge, sondern das Verfahren. Die Kirchen treten nämlich nicht mit einem fertigen Text einer Denkschrift oder eines Hirtenwortes an die Öffentlichkeit, sondern laden zu einem Konsultationsprozeß ein, der ein 641 endgültiges Wort der Kirchen in Deutschland vorbereiten soll. Vorbild 635 636 637 638 639 640 641 Faith in the City. A call for action by Church and Nation. The Report of the Archbishop of Canterbury´s Commission on Urban Priority Areas, London, published by the General Synod of the Church of England, 1985. Veröffentlicht in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992. Hrsg. vom Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 1990. Gütersloh 1991. Veröffentlicht mit einem Nachwort von Franz Segbers, FEST, Heidelberg 1995. Commission sociale de l´épiscopat, Face au chomage - changer le travail. Déclaration de la Commission sociale, Paris 1993. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage über ein gemeinsames Wort der Kirchen, hg. vom Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Vgl. dazu den Kommentarband: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit. Kirchliche und gewerkschaftliche Beiträge zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Mit dem gemeinsamen Sozialwort der Kirchen, Reinbek 1995; vgl. auch die Dokumentation der Stellungnahmen zum Konsultationsprozeß in: epdDokumentation Nr. 15/1995 (Presseübersicht) sowie epd-Dokumentation Nr. 16/1995 (Tagung in der Sozialakademie Friedewald und Stellungnahme des DGB-Bundesvorstandes) sowie die Dokumentationen, die vom Rat der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam 224 für das konsultative Verfahren waren die Konsultationsprojekte der Österreichischen Bischofskonferenz für das Sozialwort und der Wirtschaftshirtenbrief der US-amerikanischen Bischöfe, der nach drei Diskussionsentwürfen veröffentlicht wurde. Auch der Erklärung des ÖRK Leben und volle Genüge für alle. Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft (1992) ging ein mehrjähriger Konsultationsprozeß voraus. Wie wenig er jedoch in Deutschland wahrgenommen wurde, zeigt sich daran, daß er nicht einmal als Vorbild für den Konsultationsprozeß in Deutschland erwähnt wurde. 1997 wurde als Ergebnis des Konsultationsprozesses das Gemeinsame Wort der Kirchen in Deutschland unter dem Titel 642 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit veröffentlicht. 1998 haben auch die Schweizer Bischofskonferenz und der Schweizerische Evangelische Kirchenbund ein vergleichbares Konsultationsverfahren zur 643 sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz eröffnet. Interessant ist, daß die Kirchen in fast all diesen Erklärungen nicht allein sozialethisch argumentieren oder biblische Bezüge lediglich zur Illustration der Argumentation herstellen. Es zeichnet sich eine Wende in der Begründung des sozialethischen Argumentierens ab: Es gibt einen Aufbruch zu einer neuen Aufmerksamkeit für das biblische Argument bei der christlichen Urteilsbildung in wirtschafts- und sozialethischen Fragen. Wie aber nehmen diese Verlautbarungen der Kirchen Einsichten und Kategorien der biblischen Tradition auf? Anhand von drei Veröffentlichungen soll exemplarisch gezeigt werden, wie die Kirchen das biblische Argument zur wirtschaftsethischen Urteilsbildung nutzen. 642 643 herausgegeben wurden: Wissenschaftliches Forum zum Konsultationsprozeß (Gemeinsame Texte Nr. 7, Bonn, Hannover - 1996); Aufbruch in einer solidarische und gerechte Zukunft (Gemeinsame Texte Nr. 8, Bonn, Hannover - 1997). Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, Hannover 1997. Erste Kommentare: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, eingeleitet und kommentiert von M. Heimbach-Stein u. A. Lienkamp, München 1997; F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland. Das Sozialwort der Kirchen und das DGB-Grundsatzprogramm im Vergleich; F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring - Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel. Was kommt nach dem Sozialwort der Kirchen? Freiburg 1997; K. Gabriel u. W. Kremer (Hg.), Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt. Der Konsultationsprozeß und das Sozialwort “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”, Münster 1997; M. Huhn u. F. Segbers u. W. Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar; die Zeitschrift für evangelische Ethik 41 (1997) Heft 4 widmete ein ganzes Themenheft dem Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen. Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Welche Zukunft wollen wir? Diskussionsgrundlage für eine ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz, Bern, Freiburg 1998. 225 7.1 Studie der United Church of Christ: “Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit” Diese Erklärungen der Kirchen lassen sich nach einem analytischen, normativen oder perspektivischen Umgang mit biblischen Motiven und Traditionen differenzieren. Der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle und die Erklärung der US-amerikanischen protestantischen United Church of Christ (UCC) Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und 644 Gerechtigkeit können als Beispiele für eine sehr ausdrückliche analytische und perspektivische Orientierung an der biblischen Tradition gelten. Die UCC stellt das biblische Bild von Gott als einem Ökonomen, einem “Haushalter”, in den Mittelpunkt. Gott ist wie ein Ökonom, der für das Leben sorgt. Sehr elementare wirtschaftsrelevante Aussagen, die sich ausdrücklich auf die Tora als Hausordnung des Haushaltes Gottes beziehen, schließen sich dem biblischen Bild von Gott als einem Ökonomen an. “Wiederholt betont der Bund des Alten Testaments die Bedürfnisse und Rechte derer, die oft aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Die Regeln des göttlichen Haushaltes fordern, daß den Armen (2 Mos 23,6; 5 Mos 15,7-11), den Fremden (2 Mos 22,21-24), den Gästen (5 Mos 10,19) und den Witwen und Waisen (2 Mos 22,22) besonderer Schutz gewährt wird und Zugang zum Lebensraum des Haushaltes um der Gnade Gottes willen, die Israel gewährt wurde (“denn ihr wart Fremde im 645 Lande Ägypten”, 2 Mos 22,20).” Die UCC steht in einer ganz ausdrücklichen Tradition der Bundestheologie reformatorisch-reformierter Prägung und geht von einer verpflichtenden Ordnung des Bundes Gottes aus. Aus diesem biblischen Impuls heraus versucht die Erklärung, Grundregeln für wirtschaftliche Gerechtigkeit zu formulieren. “In der Ausübung von Gerechtigkeit im Rahmen des öffentlichen Wirtschaftssystems wird der Bund des menschlichen 646 Haushalts mit Gott erfüllt und Gott wird verehrt.” Ein biblisch begründeter Begriff von gerechter Wirtschaft wird so aus dem biblischen Kontext in den Kontext einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, wie sie in den USA praktiziert wird, übersetzt. Das biblische Bild einer Ökonomie als Haushalt kann dadurch zu einem kritischen Gegenbild einer Ökonomie werden, die dem Markt unbedingten Vorrang vor der Politik einräumt. “Verglichen mit der Vision des göttlichen Haushaltes zeigt das Leiden innerhalb unseres eigenen Haushaltes, daß wir schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen gegenüberstehen, die die Märkte nicht vermindert ha- 644 645 646 United Church of Christ (UCC), Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit (Erklärung), Hrsg. von der Ev. Akademie Iserlohn 1989. Ebd. 4. Ebd. 21. 226 647 ben.” Die Erklärung der UCC stellt einen Versuch dar, die wirtschaftsethische Relevanz der biblischen Tradition so auszulegen, daß aus dem biblischen Gerechtigkeitsbegriff Kriterien für wirtschaftliche Gerechtigkeit entwickelt werden, die einen Maßstab setzen, “an dem man gegenwärtige Wirtschaftssysteme messen kann, und geben eine Vision davon, wie größere wirtschaftliche Gerechtigkeit in der Welt von heute zu schaffen 648 ist.” Der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle macht ebenso wie die Erklärung der UCC Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit Gerechtigkeit zum Hauptkriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse. Im US-amerikanischen Kontext neoliberaler Wirtschaftspolitik, die jegliche Orientierung an Gerechtigkeitskriterien verdrängt, erkennen die Kirchen ihrerseits neu, daß die biblische Gerechtigkeit einen Schlüsselbegriff christlicher Orientierung darstellt. 7.2. Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland: “Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft” Ganz anders die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft (1991). Sie fragt zwar auch nach biblischen Motiven und Richtungsimpulsen für das, was Gottes Wille auch für den Bereich der Ökonomie ist (Ziff. 103-107). Haushalterschaft im Lebensraum der Erde, Feiertag und Arbeit, Armut und Reichtum, Eigentum, Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Gemeinwohl sollen die biblischen Richtungsimpulse für die ethische Verantwortung auslegen. Doch die biblischen Bezüge bleiben eher beliebig. Unklar ist, welche biblische Tradition aus welchen Gründen beerbt wird. So bleibt auch der Ertrag der biblischen Richtungsimpulse und Motive eher blaß und unbestimmt. Der Zugang zu biblischen Motiven ist normativ. Die analytische oder perspektivische Dimension biblischer Tradition wird kaum genutzt. Hier rächt es sich, daß die Denkschrift verschiedene biblische Impulse unvermittelt nebeneinanderstellt, ohne diese als Entfaltung eines Grundmotivs oder gemeinsamen Ethos zu verstehen. Die UCC hat ihr wirtschaftsethisches Urteil an den biblischen Zentralbegriff der Gerechtigkeit gebunden und diesen Gerechtigkeitsbegriff auf dem Hintergrund neoliberaler Politik entfaltet, die sich von einer Orientierung an Gerechtigkeit als Maßstab ethischen Handelns verabschiedet hat. 647 648 Ebd. 16. Ebd. 21. 227 Biblisch gut begründet, werden die Armen und Schwachen als Maßstab für die Korrektur und Weiterentwicklung der Marktwirtschaft bezeichnet (Ziff. 171). Doch wenn es darum geht, Perspektiven und Folgerungen aus den biblischen und ethischen Urteilen zu entwickeln, dann bleibt das biblische Urteil kaum mehr identifizierbar. Da ist zwar von der “Übermacht des Ökonomischen” (Ziff. 159 ff) die Rede. Die “Vergötzung der Wirtschaft” (Ziff. 162) trete überall und immer dort auf, wo von der Wirtschaft mehr verlangt werde, als sie geben könne. Die Bibel jedoch meint mit “Vergötzung” nicht ein Problem des Zuviel. Es geht um die Alternative Gott oder Mammon (Lk 17,10; Mt 6,24). Die Ökumene hat gelernt, die Verantwortung für die Wirtschaft zum Thema nicht allein der Ethik zu machen, sondern auch der Theologie, der Rede also von Gott oder den Götzen. Auf diese ökumenischen Einsichten läßt sich die Denkschrift der EKD erst gar nicht ein und bezieht dezidiert eine Gegenposition. “Fragen der Wirtschaftsordnung sollen damit nicht in den Rang von Bekenntnissen gestellt werden”(Ziff. 97). Die Denkschrift stellt ihren Teil III unter die Überschrift “Biblische Motive und Richtungsimpulse” und betont grundsätzlich: “Die Bibel ist jedoch kein Rezeptbuch, aus dem unmittelbar Anweisungen für bestimmte Maßnahmen in Wirtschaft und Politik entnommen werden können. In der Auslegung der Bibel geht es um die „Erneuerung unseres Sinnes‟, und um die Veränderung unserer Wahrnehmung dessen, was wir tun sollen”(Ziff. 106). Die Denkschrift deutet die biblischen Motive und Richtungsimpulse verhaltens- und individualethisch. Haltungen sollen verändert werden. Auch wenn die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung nicht in Abrede gestellt werden soll, so ist es dennoch eine Verkürzung der biblischen Tradition, wenn sie nur als Appell zur “Erneuerung unseres Sinnes” ausgelegt wird. Die Bibel beläßt es nicht allein bei einer individualethischen Veränderung, deshalb hat die Tora Institutionen der Gerechtigkeit (Sabbat, Sabbatjahr, Jobeljahr u.a.) geschaffen. Von dieser Einsicht her hätte die Denkschrift den institutionellen Rahmen als ethische Gestaltungsaufgabe ansprechen können. Faktisch jedoch verzichtet die Denkschrift auf eine Konkretion der biblischen Richtungsimpulse. Zur Thematik “Gerechtigkeit und Gemeinwohl” (Ziff. 151 - 164) formuliert die Denkschrift beispielsweise zunächst die Grundthese (Ziff. 151), nach der Gerechtigkeit dann herrsche, “wenn die öffentlichen Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens so bestellt sind, daß alle ihnen zustimmen können” (Ziff. 151). In der folgenden Ziff. 152 werden nach der dicta - probantia - Methode drei Bibelverse aufgezählt, die jedoch lediglich durch das gemeinsame Stichwort “Gerechtigkeit” miteinander verbunden sind (Spr 14,34; Am 5,24; Mt 5,45). Im erläuternden Text heißt es dann: “Der Einsatzpunkt der Suche nach Gerechtigkeit 228 ist nicht das Anprangern von Ungerechtigkeit, sondern - in der Orientierung am Wohl der Armen - die Bereitschaft, denen gerecht zu werden, die der Hilfe und der Unterstützung bedürfen” (Ziff. 155). Der von der Denkschrift als Beleg genannte Prophet Amos ist jedoch geradezu Repräsentant einer Prophetie, die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft anprangert und soziale Kritik übt. H.W. Wolff charakterisiert den Propheten Amos deshalb auch als einen Mann, der “Protest gegen das gesell649 schaftliche Leben seiner Zeit” ausspricht, die Recht und Gerechtigkeit mit Füßen tritt (vgl. Am 2,6ff.; 3,16; 5,11; 6,11). Die Denkschrift stellt also nur einen äußerlichen und zudem sinnentstellenden Zusammenhang zwischen dem Grundthema “Gerechtigkeit” und den Bibelzitaten her. Die biblischen Bezugstexte sind allenfalls als Motto zu lesen, finden aber argumentativ keine Aufnahme. Dadurch nimmt sich die Denkschrift selber die Möglichkeit, biblische Impulse wirklich zu rezipieren. 7.3 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland: “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit” Die Kirchen haben für ihre ökumenische Erklärung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland eine gemeinsame Basis in der Bibel gefunden. Sie äußern sich nicht bloß wirtschafts- und sozialpolitisch, sondern kommen aufgrund der gemeinsamen biblischen Basis für das ethische Urteil zu gesellschaftspolitisch bedeutsamen Aussagen. Wie nie zuvor haben sich die Kirchen in ihrem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit ausdrücklich der biblischen Grundlagen vergewissert (Ziff. 91 - 125). Darin zeigt sich, daß es trotz weiterhin bestehender dogmatischer Differenzen in sozialethischer Hinsicht eine gesellschaftspolitisch relevante Ökumene gibt. Der bibeltheologische Teil III. (Ziff. 91 - 125) ist eine kurzgefaßte ökumenische Wirtschafts- und Sozialethik. Das Wort der Kirchen kann als Beispiel für ein kontextuelles theologisches und sozialethisches Reden für Deutschland gelten. Es zeigt deutliche Einflüsse der Theologie der Befreiung, die in der Vergangenheit nur zu oft auf kirchlichen Widerstand gestoßen ist. Der Impuls der lateinamerikanischen Theologie prägt also 649 H.W. Wolff, Die Stunde des Amos, Prophetie und Protest, München 1969, 54; H.W. Wolff. Dodekapropheton 2 Joel und Amos, Biblischer Kommentar Altes Testament. Bd 14/2, Neukirchen 1969; W. Rudoph, Joel - Amos - Obadja - Jona. Kommentar zum Alten Testament, Bd. 13/2 Gütersloh 1971; K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, in: H.W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 242-257; M. Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München 1991. 229 auch europäische Theologie. Nur angemerkt werden soll, daß es reizvoll wäre, genau zu untersuchen, wo die amtskirchliche Rezeption der Theologie der Befreiung diese korrigiert und angepaßt hat. Diese Einflüsse aus der Theologie der Befreiung zeigen sich besonders in folgenden drei Aspekten: Zunächst im methodischen Dreischritt “Sehen-UrteilenHandeln” zur sozialethischen Urteilsbildung, bei dem das Kirchenwort die befreiungstheologische Hermeneutik beerbt (vgl. Ziff 107). Zweitens verdankt das Sozialwort der Kirchen der Theologie der Befreiung den hermeneutischen Ausgangspunkt in einer Option für die Armen (vgl. Ziff. 105ff.). Drittens wählt das Wort der Kirchen wie die Theologie der Befreiung das Exodusgeschehen als zentrale Orientierung sozialethischen und theologischen Denkens (vgl. 97). Die Kirchen regen an, das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausforderungen zusammenzulesen: Diese Vorgehensweise erlaubt erstens, “ethische Orientierungen für das eigene Handeln” (Ziff. 108) zu gewinnen und kann zweitens ethische Einsichten formulieren, “die sich auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft beziehen” (Ziff. 108). Bibellektüre soll also für das Individuum handlungsmotivierend sein und einen kritischen Maßstab zur Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen abgeben. Zwar sprechen die Kirchen in Deutschland erstmals in einem kirchenamtlichen Text von der Option für die Armen. Doch was das Wort der Kirchen die Option der Armen, Schwachen und Benachteiligten nennt, ist um die eigentliche Sinnspitze gebracht, wie sie in der Theologie der Befreiung entwickelt wurde. Fast durchgängig wird die Option für die Armen zu einer Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten erweitert. Die in Theologie und Sozialethik mit guten biblischen Gründen eingeführte Formulierung “Option für die Armen” soll durch die Zufügung 650 weitere Attribute wohl bewußt entschärft werden. Die Option für die Armen wie sie Theologie und Sozialethik der Theologie der Befreiung verstehen, hat immer die Ermächtigung oder das Subjektwerden der Armen gewollt. Die Option für die Armen versteht sich als eine partizipative Option, bei der die Armen Subjekt sind und für die 651 Einlösung ihrer Projekte selber einstehen können. Diese Sinnspitze ist politisch und gesellschaftlich relevant, denn erst dadurch wird die Option für die Armen einer patriarchalen Fürsorge enthoben. Dieses Verständ- 650 651 Vgl. meine Kritik an derselben Tendenz, die sich bereits in der Diskussionsgrundlage abgezeichnet hat: F. Segbers, Eine Welt. Hausordnung für den globalen Markt, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 289 - 292.; ders., Ökumene auf der Bremsspur? Zum Sozialwort der Kirchen, in: epd-Dokumentation Nr. 16 vom 10.4.1995, 31-36. vgl. G. Collet, “Den Bedürftigen solidarisch verpflichtet”. Implikationen einer authentischen Rede von der Option für die Armen, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften Bd. 33, Münster 1992, 67-84.; P. Rottländer, Option für die Armen; C. Boff u. J. Pixley, Die Option für die Armen, 235-240, 244-251; H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 151-166. 230 nis der Option für die Armen wird im Wort der Kirchen nicht rezipiert. Dieses Defizit hat zur Folge, daß auch die Akteure und Träger kaum genannt werden. Das Wort der Kirchen ist deswegen in einem eigentümlichen Sinne subjektlos. Die Option “hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstandes leben. (...) Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität” (Ziff. 107). Friedhelm Hengsbach und Mitautoren kritisieren, daß das, was die Kirchen “Option für die Armen” nennen, ein ethischer Appell an die Reichen, Starken und gesellschaftlich Integrierten 652 sei . Das Wort der Kirchen bleibt hinter den biblischen Einsichten zur Begründung einer Option für die Armen zurück. Es hat den Anschein, daß nunmehr, da der Einfluß der Theologie der Befreiung zurückgegangen ist, kirchenoffiziell zentrale theologische Begriffe der Theologie der Befreiung zwar aufgenommen werden, jedoch um den Preis der Abschwächung. In einem zweiten leitmotivischen Argumentationsstrang neben dem einer Option für die Armen bezieht sich das Kirchenwort auf ein Ethos der 653 Barmherzigkeit (Ziff. 13, 96, 97, 103, 248, 249). In ihrem Kommentar nennen Friedhelm Hengsbach und Mitautoren die “Ethik des Erbarmens” 654 eine theologische Meta-Ethik. Gottes Erbarmen drängt die Menschen dazu, selbst barmherzig zu sein. Sein Erbarmen hat Gott in der Befreiung aus Ägypten gezeigt. Die Exoduserfahrung wird zur grundlegenden Erfahrung des Gottesvolkes, das sich eine Lebensordnung gegeben hat, welche die im Exodus geschenkte Freiheit bewahren will (Ziff. 97). Diese biblische Linie reicht bis zu Jesus und seiner Einladung “zu einem Leben, das ganz auf Gott und seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit setzt und sie im mitmenschlichen Leben bewährt” (Ziff. 99). Aus der Meta-Ethik des Erbarmens werden zwei Handlungsorientierungen abgeleitet: Die “Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” (Pkt. 3.3.2, Ziff. 105 - 107) und die Gerechtigkeit als “Ordnungsprinzip der Gesellschaft” (Ziff. 109). Die Kirchen verweisen auf eine biblische und christliche Tradition, die “eine Kultur des Erbarmens” (Ziff. 13) entwickeln kann. “Den Blick für das fremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur. Erbarmen im Sinne der Bibel stellt dabei kein zufälliges, flüchtig-befristetes Gefühl dar. Die Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. Dieses Erbarmen 652 653 654 F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 83. F. Segbers, “... im Gottesdienst hat nicht nur der Choral, sondern auch der Schrei der Armen seinen Platz.” Zu einer Spiritualität der Gerechtigkeit von Mystik und Politik, in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 43-48. F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 81. 231 655 drängt auf Gerechtigkeit”(Ziff. 13). Friedhelm Hengsbach und Mitautoren nennen das Leitmotiv des Erbarmens einen Fehlgriff, denn das Leitmotiv der Barmherzigkeit habe den Nachteil, daß es “für eine Bewertung von Institutionen, Strukturen und Veränderungsprozessen nicht taugt und dazu verleitet, die christliche Ethik auf eine Individualethik zu verkür656 zen” . Diese Befürchtungen teile ich nicht. Der biblische Befund gibt nämlich keinen Anhalt für solche Einwände. Ein Ethos der Barmherzig657 keit ist Grundlage und Ausgangspunkt biblischer Ethik. In der prophetischen Tradition, in der Gesetzesliteratur und auch in den Psalmen zeigt sich, daß der Gott des Erbarmens sich in der Bibel als Beschützer der 658 Schwachen und Hilflosen erweist. “Gott als der Barmherzige begründet ein Ethos der Solidarität und der Barmherzigkeit mit den Schwachen 659 in der Gesellschaft.” Dieses Ethos der Barmherzigkeit entfaltet sich in den Schutzbestimmungen der Tora. Wie Gott das Recht der Schwachen schützt, so soll auch der Mensch das Recht des Schwachen schützen. Das sich zum Ethos entwickelnde Recht fordert die permanente Solidarität des wirtschaftlich Stärkeren mit dem Schwächeren. Das Ethos des Erbarmens steht deshalb auch biblisch nicht in einem Gegensatz zu strukturellen Aspekten der Gerechtigkeit. Das Erbarmen wird in der Bi655 656 657 658 659 In den Vorentwürfen und Vorarbeiten fehlt der Rekurs auf das Ethos des Erbarmens. Erst in der Schlußredaktion, die von der Katholischen Bischofskonferenz und dem Rat der EKD verantwortet wurde, wurde dieser Bezug auf die Kultur und das Ethos des Erbarmens eingefügt. Diese Ergänzung trägt wohl die Handschrift des damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Landesbischof K. Engelhardt. Auf der EKD-Synode 1996 hatte er in seinem Rechenschaftsbericht ausführlich Bezug genommen auf diese Ethik des Erbarmens als eines christlichen Propriums. Vgl. Bericht des Rates an die Synode der Ev. Kirche in Deutschland (Ratsbericht 1996), Borkum, 3.11.1996, Landesbischof Klaus Engelhardt, “Für eine Kultur des Erbarmens”, in: epdDokumentation Nr. 49/1996, 1-7. “Erbarmen” wird auch in der ökumenischen Sozialethik unter dem Einfluß orthodoxer Theologie zunehmend zu einem sozialethischen Zentralbegriff, der nicht in einem Gegensatz zur strukturellen Gerechtigkeit steht. Die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 hat im “Basistext” dem Kapitel zur Wirtschaftsethik das Motto vorangestellt: “Schutz der Schwachen - Wirtschaft im Zeichen von Barmherzigkeit” (A 27). “Im Spiegel der Barmherzigkeit Gottes erscheint unsere von engen Geldinteressen und forcierter Profitgier geprägte Wettbewerbsgesellschaft als zutiefst rücksichtslos und unbarmherzig. Wir treten in den Kirchen für die Entwicklung ökonomischer Systeme ein, die auf den Schutz der Schwachen in allen Teilen der Welt abzielen und auf die inhärenten Werte aller Menschen gerichtet sind.” (A 28). Abgedruckt in: epd-Dokumentation Nr.35/1997, 10. “Erbarmen/Barmherzigkeit” kann als ein Paradigma ökumenischer Sozialethik verstanden werden. Die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung 1997 in Graz nahm die Metapher einer “Schule des Erbarmens” auf. “Barmherzigkeit” wurde als Zentralbegriff für eine Wirtschaftsethik entfaltet, die Widerstand gegen die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern leisten will (vgl. Basistext A 27f., A 32 in: epd-Dokumentation Nr. 35/1997). F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 88. Vgl. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 84-86, 88f.; 156f. Vgl. C. Boff u. J. Pixley, Option für die Armen, 62. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85. 232 bel “nicht als irgendeine mildtätige Wohltat gegenüber den Schwachen 660 angesehen, sondern als ein Akt der Aufrichtung von Gerechtigkeit.” Die Kirchen stellen ganz in der Tradition der Befreiungstheologie die Exodustradition an den Anfang ihrer sozialethischen Überlegungen. “Das Volk Gottes lebt aus der Erinnerung an die Geschichte des Erbarmens Gottes” (Ziff. 96). Diese Erinnerung wird eine Motivation “zur barmherzigen und solidarischen Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteiligten” (Ziff. 96). Die Exoduserfahrung nennen die Kirchen eine “grundlegende geschichtliche Erfahrung” (Ziff. 97). Die Zehn Gebote werden als Lebensordnung verstanden, die Weisungen zu einem Leben in Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit darstellen. “Als solche sind sie kein biblisches Sonderethos; sie nehmen vielmehr allgemeinmenschliche Einsichten auf, bestätigen und bekräftigen sie aufgrund der Erfahrungen in der Geschichte Gottes mit seinem Volk” (Ziff. 97). Die einzelnen Elemente der Ethik der Hebräischen Bibel unterscheiden sich nicht substantiell von Ethiken ihrer altorientalischen Umwelt. In Ägypten und in Mesopotamien gibt es wie in Israel auch ein Ethos der 661 Hilfe für den Schwächeren. Es gibt zwar zahlreiche Parallelen, aber ein Unterschied fällt auf: Die biblische Ethik ist anders begründet. Die Elemente der biblischen Ethik sind anders zusammengesetzt und miteinan662 der verbunden. Recht und Gerechtigkeit werden im altorientalischen Recht nur dadurch vermittelt, daß Recht zeitweise außer Kraft gesetzt wird. In Juda jedoch werden Recht und Gerechtigkeit durch das barmherzige Handeln Gottes garantiert, zusammengehalten und begründet. “Damit war das Recht in Juda davor geschützt, in der staatlichen Organi663 sation aufzugehen und ihr dienstbar zu werden.” Soziale und gesellschaftliche Reformen, aber auch Kritik der bestehenden Verhältnisse konnten so zu einem permanenten und konsistenten Bestandteil israelitischen Rechts werden. Solidarität der Starken mit den Schwachen fand darin eine viel wirksamere Rechtsbegründung. “Die judäische Idee eines Ethos der Gerechtigkeit führt über die Aporie der altbabylonischen 664 Außerkraftsetzung von Recht zugunsten der Gerechtigkeit hinaus.” Nicht der König, Gott selber ist in der Tora Quelle des Rechts. Das Ethos der Bibel ist immer staats- und gesellschaftskritisch. “Nicht die Einordnung in einen von König und Staat gesetzten Ordnungsentwurf läßt das 660 661 662 663 664 M. Welker, Gottes Geist, 117. J. Assmann, Ma‟ at. Gerechtigkeit und Unterdrückung im Alten Ägypten, München 1990; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 86f.;143 - 152; 220-224. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88. Ebd. 89. Ebd. 89. 233 Ethos zu sich selbst kommen, sondern die im Anruf Gottes des Barm665 herzigen angesprochene Einsicht des je einzelnen Menschen.” Neben dieser Differenz des biblischen zum altorientalischen und ägyptischen Ethos zeigt sich im Begriff der Heiligkeit des Volkes Israel das Bemühen, ein unterscheidendes Ethos zu entwickeln. Israel ist durch den Exodus geheiligt und ausgesondert worden (Lev 22,33). “Die Grundlage aber, die das Gesellschaftsmodell erst funktionieren läßt, ist die innere Haltung der Nächstenliebe (Lev 19), die auf den vordergründigen wirtschaftlichen Vorteil (Lev 25) verzichtet. Eine solche Haltung gewinnt der Mensch nicht aus eigenem, ihm von Natur gegebenen Vermögen, sondern sie wird ihm erst durch Gott ermöglicht. Der heilige Gott heiligt sein Volk, damit es sich in seinem Ethos heiligt. (...) Israel soll sich im Halten 666 der Gebote Gottes heiligen.” Leider hat das Wirtschafts- und Sozialwort diese exegetisch unbestrittene Einsicht nicht rezipiert. Es hat sich dadurch selber um einen spezifischen Beitrag im wirtschaftsethischen Diskurs gebracht. Mit dem Verweis darauf, daß es kein biblisches Sonderethos gebe, verpaßt das Wort der Kirchen die Chance, die materialethischen Elemente des biblischen Ethos aufzunehmen und sie nach ihrer Tragweite für ökonomische und soziale Themenstellungen in der Moderne zu befragen. Das Wort der Kirchen bezieht sich auf die prophetischen Traditionen und auf die Gesetzestradition (Ziff. 98). Es fällt auf, daß das Kirchenwort lediglich auf Bibelverse verweist, nicht jedoch deutlich macht, welche Inhalte angesprochen werden. Auf folgende Bibelverse wird verwiesen: - Ex 22,20-26: Waisen - Ex 23,6-9: Ausbeutungsverbot der Fremden, Witwen und (V 20-22) Zins- und Pfandverbot (V 24-26); Verbot der Rechtsbeugung (V 6-8), Rechtsschutz für den Armen (V 9); - Lev 19,11-18.33f.: Ethos der Individualethik in der Nächstenliebe 667 (V 11-18), Verhalten gegenüber Fremden (V33f.); - Dtn 15,7-11: 665 666 667 Kredithilfe an verarmte Israeliten, Leihen gegen Ebd. 90. Ebd. 257. So ebd. 243f.; leider verweist das Wort der Kirchen in seiner Begründung des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe (Ziff. 103) nicht auf die Tora, sondern lediglich auf die ntl. Bezugsstelle bei Mk 12, 28-31 und verdrängt dadurch, daß atl. und ntl. Ethik verbunden sind, auch wenn in Ziff. 99 davon die Rede ist, daß Jesu Botschaft und Auftreten auf der Linie der Gottes- und Geschichtserfahrung seines Volkes liegt. 234 Pfand, Zuwendung zum verarmten Nächsten als Pflicht (V 7-11); - Dtn 24,17f.: Recht der Armen. Wie beerben die Kirchen die wirtschaftsethische Tradition der Tora? Wichtige Elemente der biblischen Tradition, die sozial- und wirtschaftsethisch relevant sind, werden ausgespart. Das israelitische Eigentumsrecht mit seinen Eingriffen in sozio-ökonomische Prozesse durch das Sabbat- und Jobeljahr fehlt. Das Wort der Kirchen erwähnt mit gutem Grund die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG in Ziff. 143) und fordert auch eine “gerechtere Vermögensverteilung” (Ziff. 215ff.). Ein Verweis auf eigene biblische Traditionen für diesen sozialausgleichenden Umgang mit Eigentum hätte die Argumentation stützen können. Die Sabbattradition wird ebenfalls nicht erwähnt, auch nicht in dem Absatz, der sich mit der Sicherung des Sonntags beschäftigt (Ziff. 223). Insofern das Wort der Kirchen in seiner Begründung für die ethischen Perspektiven “das biblische Ethos als Gemeinschaftsethos” (Ziff. 103) versteht, nimmt es den biblischen Begriff von Gerechtigkeit sachgemäß auf und nennt ihn einen “Schlüsselbegriff der biblischen Überlieferung” (Ziff. 108). Auffallend jedoch ist, daß jene biblischen Traditionen, die Instrumentarien des sozialen Ausgleichs kennen, ebensowenig rezipiert werden wie jene biblischen Traditionen, die eher utopischen Charakters sind. Der biblisch und theologisch so gehaltvolle Begriff der Haushalterschaft klingt leider nur an. Kern der “verantwortlichen Haushalter668 schaft” ist, daß der Mensch das, was er mit der Schöpfung macht, wie ein Hausverwalter verantworten muß. Daß er die Pflicht habe, als Sachwalter Gottes “haushälterisch und bewahrend” (Ziff. 123) mit der Schöpfung umzugehen, wird nur erwähnt. Insgesamt gerät der ökologische Aspekt zu kurz. Das Wort der Kirchen meint eingestehen zu müssen, daß die “biblischen Aussagen kein ökologisches Ethos im modernen Sinn” (Ziff. 124) enthalten. Allerdings entfaltet das Kirchenwort nicht, was unter einem “ökologischen Ethos im modernen Sinn” zu verstehen sei. An dieser Stelle fällt das Wort der Kirchen weit hinter die ökumenische sozialethische Diskussion zurück, die gerade durch die Lektüre der biblischen Tradition in älterem in der Bibel tradierten Wissen eine Aktualität erkennt, 668 Die “verantwortliche Haushalterschaft” wurde noch in der Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland erwähnt (Ziff. 15). Vgl.: R. Kessler, Keine Freiheit ohne materielle Grundlage, in: F.von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 107f. 235 die Perspektiven zu einer Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie 669 (Sabbattradition, Brachjahr, Jobeljahr u.a.) eröffnen können. 7.4 Zusammenfassung Es lassen sich insgesamt drei unterschiedliche Grundmuster biblischer Argumentation in den dargestellten wirtschaftsethischen Erklärungen der Kirchen ausmachen. Die UCC (wie der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle) nimmt die biblische Argumentation in einer Weise auf, die eher analytisch und perspektivisch denn normativ zu nennen ist. Auf der Folie der in der biblischen Tradition überlieferten Orientierungen werden die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse kritisch wahrgenommen und als Herausforderungen für Christen und Kirchen interpretiert, sich politisch zu engagieren. Die Realität des Neoliberalismus führt zu einer Neuentdeckung von Gerechtigkeit als einer zentralen Orientierung christlicher und biblischer Ethik. Durch eine biblische Perspektive auf die Wirtschaft wird die ökonomische Realität selber zu einem Anliegen des Glaubens. Diese Erklärungen dokumentieren einen kirchlichen Aufbruch, der Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff christlicher Orientierung in wirtschaftsethischen Fragen zu begreifen gelernt hat. Der biblische Gerechtigkeitsbegriff mit seinen deutlichen Konturen schärft umgekehrt auch die Wahrnehmung ökonomischer Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit in der Gegenwart. Die römischen Enzykliken geben eher das Gegenbild ab. Zwar kennt Laborem exercens einen ausdrücklichen biblischen Bezug, jedoch nur im Anhang. Spätere lehramtliche Verlautbarungen nutzen biblische Aussagen weiterhin eher wie einen Steinbruch für die eigene Argumentation. Die biblische Tradition wird dabei nicht als eine eigenständige Erkenntnisquelle für wirtschaftsethisches Urteilen wahrgenommen. Centesimus Annus (1991) verzichtet ganz auf einen biblischen Bezug. Die römischkatholische Kirche hat in der Enzyklika Laborem exercens (1981) erstmals eine ausdrücklich bibeltheologische Fundierung als Basis ihres 670 ethischen Urteilens gewählt. Laborem erxercens nennt es eine Grund669 670 Vgl. dazu M. Robra, Ökumenische Sozialethik, bes. 180ff. Vgl. dazu J. Ebach, “damit er ihn bebaue und bewahre”. Die Aufnahme biblischer Texte zur Arbeit in Laborem exercens, in: W. Klein u. W. Krämer (Hg.), Sinn und Zukunft der Arbeit, Mainz, 1982, 48-59. Das Schwergewicht der biblischen Begründung liegt hier in der Rede vom Menschen als dem Bild Gottes (Gen 1,26 f), im Herrschaftsauftrag an den Menschen (Gen 1,28), aber auch in den Fluchsprüchen über die aus dem Gottesgarten vertriebenen Menschen. Laborem exercens wurde bei Erscheinen als eine Enzyklika gewertet, in der die Abkehr von naturrechtlicher Argumentation und die Hinwendung zu biblischen Quellen für die sozialethische Urteilsbildung deutlich wurden. 236 linie der Soziallehre, daß die “menschliche Arbeit der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der gesamten sozialen Frage” (3, 2) ist. Daß Arbeit Bezugspunkt für die kritische Analyse ökonomischer Prozesse und Institutionen ist, wird biblisch-normativ begründet. Centesimus annus (1991) - erschienen zum 100. Jahrestag der ersten Sozialenzyklika - rezipiert nur noch die eigene Lehrtradition und weiß sich angesichts der Ereignisse von 1989 in ihrer doppelten Frontstellung gegen Sozialismus und Liberalismus bestätigt. Leider jedoch wird diese Linie von Laborem exercens in späteren lehramtlichen Texten nicht mehr weiter verfolgt. Auch im Text, mit dem die römisch-katholische Kirche in Deutschland 1993/94 zunächst noch ohne Beteiligung der evangelischen Kirchen einen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage eröffnete, sucht man nach einer biblischen Vergewisserung oder Argumenta671 tion vergebens. Die römisch-katholische Kirche meint wohl, ein wirtschaftsethisches Urteil wieder eher naturrechtlich und ohne biblische Grundlagen gewinnen zu können. Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz nimmt eine mittlere Position ein. Sie knüpft zwar an biblische Traditionen an, beerbt sie jedoch nur insoweit, wie sie dem Projekt einer Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft eine zusätzliche Begründung zu geben vermögen. Ihr Umgang mit biblischen Traditionen ist normativ zu nennen; ausdrücklich heißt es, daß die Denkschrift eine Brücke schlagen wolle “zu der Bedeutung von Motiven und Orientierungen der christlichen Tradition für die Soziale Marktwirtschaft” (Ziff. 100). Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen in Deutschland befragt die bib-lische Tradition ebenfalls hauptsächlich normativ. Die kritische perspektivische und die analytische Aussagekraft der biblischen Tradition bleibt dagegen auch hier deutlich ausgespart und ungenutzt. Normativ soll die Konzeption einer Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft begründet werden. Ergänzt wird die biblische Argumentation im Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen durch Denkfiguren wie jene der Subsidiarität, die der naturrechtlichen Lehrtradition der römisch-katholischen Kirche entstammen (Ziff. 3.3.3 zu Solidarität und Subsidiarität). Die Bibel wird als eine ethische Ressource gelesen; die ethische Urteilsbildung wird durch sozialethische Leitlinien ergänzt, die säkular vermittelbar und kompatibel sind. Perspektiven für die gesellschaftliche Entwicklung sollen nicht allein ethisch postuliert werden, sondern “als Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft” (Ziff. 126) ausgewiesen werden. Indem die Kirchen in Deutschland biblische Begriffe in auch säkular vermittelbare sozialethi- 671 Unsere Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft 1993, Arbeitshilfe Nr. 116, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994. 237 sche Leitlinien übersetzen, vermeiden sie eine nur innerkirchlich verstehbare Argumentation. Die Marktwirtschaften sind in die Krise gekommen. Deshalb habendie Kirchen nicht ein Konsultationsverfahren eröffnet, das zur Veröffentlichung eines gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland führte. Die Kirchen in Deutschland verstehen die Soziale Marktwirtschaft als eine Wirtschaftsordnung, der sie sich aus histori672 schen und auch ethischen Gründen verpflichtet fühlen. Im Wirtschaftsund Sozialwort sprechen sich die Kirchen für die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft aus und “sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft (...) den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschaftsund Sozialpolitik” (Ziff. 9). Für deren “strukturelle und moralische Erneuerung” und “ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft” (Ziff. 11) beziehen sie sich auf biblische und theologisch-sozialethische Traditionen, um das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft normativ zu begründen. Während das Wirtschafts- und Sozialwort auf die real existierende Marktwirtschaft verändernd einwirken und sie zu einer ökologischen und global verpflichteten Marktwirtschaft erweitern will, identifiziert die Denkschrift der EKD die real existierende Marktwirtschaft mit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Kirchen im Kontext neoliberaler Marktwirtschaften lesen die biblische Tradition anders als jene Kirchen, die es mit dem sog. Rheinischen Kapitalismus oder Sozialen Marktwirtschaften zu tun haben. Die Erklärung der UCC wie auch der US-Hirtenbrief lesen die biblische Tradition eher analytisch und können so aus der biblischen Tradition auch Perspektiven entwickeln, die zu einer Suche nach ökonomischen Alternativen inspirieren. Dadurch gewinnen sie einen kritischen Abstand zur vorgegebenen Wirtschaftspolitik. Zwischen dem Umgang mit der Bibel und der Wahrnehmung der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit gibt es einen dialektischen Zusammenhang. Abhängig vom jeweiligen Zugang zur Wirklichkeit, von der eigenen gesellschaftlichen Erfahrung und ihrer Verarbeitung, aber auch von den mit dem Erkennen verbundenen Interessen vollzieht sich ein je unterschiedlicher Umgang mit der biblischen Tradition oder mit dem biblischen Argument, der als analytisch, normativ oder perspektivisch charakterisiert werden kann. Der gesellschaftliche Kontext bedingt das Lesen des biblischen Textes. Aber umgekehrt gilt auch: Das Lesen des biblischen Textes führt dazu, den gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext kritisch zu lesen. 672 Vgl. die kritische Würdigung bei: E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 269-276. 238 239 DRITTER TEIL ÖKONOMIEN IM WIDERSTREIT 240 8. MARKTWIRTSCHAFT IM PLURAL Undifferenziert von der Marktwirtschaft zu sprechen verkürzt die Realität. Marktwirtschaft gibt es in Theorie und Praxis immer im Plural. Arthur Rich unterscheidet deshalb zu Recht in seiner zweibändigen Wirtschaftsethik sechs verschiedene Ordnungstypen der Marktwirtschaft, in denen der Markt die konstitutive Grundlage für ein wettbewerbliches Koordinati673 onssystem darstellt. Nicht alle marktwirtschaftlichen Konzeptionen sind realpolitisch von Bedeutung. Da die real existierenden Marktwirtschaften faktisch in zwei grundlegend verschiedenen Ordnungsgestalten auftreten, empfiehlt es sich, den Vorschlag des französischen Ökonomen Mi674 chel Albert in seinem Buch Kapitalismus contra Kapitalismus aufzugreifen und zwei Wirtschaftsstile innerhalb der Marktwirtschaft zu unterscheiden, hinter denen jeweils auch zwei sehr verschiedene Menschenund Gesellschaftsbilder, aber auch implizite Ethiken stehen: Auf der einen Seite ist die “bewußt sozial gesteuerte Soziale Markt675 wirtschaft” (Müller-Armack) oder auch der “Rheinische Kapitalismus” 673 674 675 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. II, 259- 344. A. Rich unterscheidet zwischen “Wirtschaftssystem” und “Wirtschaftsordnungen”. Wirtschaftssystem bezeichnet das Grundsystem, die prinzipielle Grundlage einer Wirtschaftsordnung, und Wirtschaftsordnung die jeweils konkretwirkliche und konkret-mögliche Ausprägung eines bestimmten Wirtschaftssystems (A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 176f.). M. Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt 1992. Üblich geworden ist es, die von A. Müller-Armack konzipierte Form der Sozialen Marktwirtschaft mit einem kleinen „s‟ zu schreiben, wohl um das „sozial‟ als Adjektiv zu verstehen. Müller-Armack hat jedoch bereits in seiner ersten Schrift, in der er “Umrisse einer Sozialen Marktwirtschaft” skizzierte, von einer “Sozialen Marktwirtschaft” gesprochen (mit großem „S‟), wohl um zu verdeutlichen, daß das Soziale kein Anhängsel oder Attribut, sondern ein integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ist: A. Müller-Armack,Die Wirtschaftssordnungen, sozial gesehen, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, o.O. 1948, 150-154. 241 zu nennen. Charakteristikum dieser Wirtschaftsordnung ist ihre Einbet676 tung in die Gesellschaft. Staat und Verbände greifen in den Markt ein, um unsoziale Entwicklungen im vorhinein zu verhindern, oder aber, um sie im nachhinein abzufedern. Die Soziale Marktwirtschaft als ein Wirtschaftsstil im Rahmen des Rheinischen Kapitalismus geht von der Grundentscheidung aus, daß der Markt von sich aus kein Gemeinwohl hervorbringen kann. Erst eine politische Rahmenordnung, die dem Markt vorgegeben ist, kann das Entstehen von Gemeinwohl in einer Wirtschaftsordnung garantieren, deren treibendes Motiv der individuelle Eigennutz ist. Der Eigennutz, der durch den Markt befördert wird, kann erst durch spezifische Rahmenbedingungen zum Gemeinwohl werden. Die ökonomische und soziale Effizienz des Marktes ist nicht Resultat des Marktes, sondern einer politischen Rahmenordnung. Das Gegenbild zum Rheinischen Kapitalismus und zur Sozialen Marktwirtschaft bildet der “neo-amerikanische Kapitalismus” des neoliberalen Marktes, der insbesondere in den anglo-amerikanischen Ländern eine geistig-moralische Wende bewirkt hat, die ihrerseits mit zu einem Umbruch der Sozialtraditionen und eines sozial orientierten Interventionismus beigetragen hat. Das ökonomische System des Marktes wird als ein sich selbst regulierendes System betrachtet. Die Aufgabe des Staates besteht einzig darin, die Funktionsmechanismen des Marktes ungehindert zu ermöglichen. Die Bezeichnung neoliberal ist sehr diffus und unscharf. Gemeinsam ist in den verschiedenen Begriffen das Anliegen: eine Revision des Liberalismus aufgrund der Erfahrung des Scheiterns freier Märkte in der Weltwirtschaftskrise. Alle Denkrichtungen, die aus dieser Erfahrung heraus nach einer neuen Begründung der Funktionsfähigkeit einer Marktökonomie gefragt haben, nannten sich seit den dreißiger Jahren neoliberal. Gesucht wurde nach einer neuen Basis für eine Marktökonomie, nachdem der Laisser-faire-Kapitalismus gescheitert war. Der Neoliberalismus ist ein revisionistischer Liberalismus, der das Scheitern des Liberalismus reflektierte, nach seiner Neubegründung suchte und eine Alternative zum Laissez-faire-Kapitalismus und zum Totalitarismus entwickeln wollte. Er umfaßt eine recht unterschiedlich zusammengesetzte Gruppierung, zu der anfangs u.a. Friedrich August Hayek, Karl Popper, Alexander Rüstow, Walter Eucken gehörten. Der Name Neoliberalismus tauchte zum ersten Mal 1938 in Paris bei einer Zusammenkunft von Ökonomen verschiedener liberaler Richtungen auf, die sich besonders durch den erstrebten Freiheitsgrad und in der Frage nach Intensität, nach Qua676 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Konzeptionsentwürfen der Sozialen Marktwirtschaft besonders unter sozialethischen Aspekten bei: E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. 242 lität und Quantität der staatlichen Interventionen unterschieden, und um677 faßte folgende drei Richtungen: 1. US-amerikanische oder Chicagoer Richtung: die Neoklassiker um Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, die sich gegen jegliche Intervention des Staates aussprechen; 2. englische Richtung: die Keynes- und Oxford-Liberalen, die konjunkturpolitische Maßnahmen zur Vollbeschäftigung fordern; 3. kontinentale Richtung: die Ordoliberalen, die marktkonforme Interventionen befürworten und sich von den beiden anderen Gruppen dadurch unterscheiden, daß sie mit dem Wettbewerb sozial- und gesellschaftspolitische Forderungen durchsetzen wol-len. Die Soziale Marktwirtschaft wurde bis in die sechziger Jahre als eine Richtung innerhalb des (neoliberalen) 678 Ordoliberalismus verstanden. Der Vortrag von Alexander Rüstow 1932 auf der Tagung des “Vereins für Socialpolitik” mit dem Thema “Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Liberalismus” gilt als ein Gründerdokument der Konzeption der Sozialen 679 Marktwirtschaft. 677 678 679 So Ph. Herder-Dorneich, Der Markt und seine Alternativen in der freien Gesellschaft, Freiburg Hannvover 1968, 123, Anm. 90. Herder-Dorneich gibt auch das folgende Schema einer Einteilung der neoliberalen Richtungen wieder. Er nennt jedoch keinen Hinweis, wann und durch wen der Begriff “Neoliberalismus” aufgebracht wurde. E.E. Nawroth betrachtet die “Mont Pélérin Society” als Zentrum der neoliberalen Bewegung, gibt jedoch keine Jahreszahl an, die in Verbindung mit dem Entstehen des Neoliberalismus gebracht werden könnte: E.E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 2. Aufl. Heidelberg 1962, 5. Zu den Vertretern dieser Richtung gehören u.a. Walter Eucken, Franz Böhm, Alexander Rüstow, Constantin von Dietze, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack. Vgl. dazu: E.E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 6-12. Neben Walter Eucken, Franz Böhm, Constantin von Dietze, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow gehörte auch Friedrich August Hayek anfangs zu den Mitherausgebern des Jahrbuchs ORDO. Dies zeigt die konzeptionelle Nähe und belegt, daß diese neoliberalen Konzeptionen eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise geben wollten. Abgedruckt in: A. Rüstow, Rede und Antwort, Luwigsburg, 1963, 249-258. Darin fordert Rüstow 1932 ein Bekenntnis zu einem “starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik” und zu “liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines starken Staates” (S. 258). Von “Neoliberalismus” ist an dieser Stelle noch nicht die Rede, wohl aber von einem Interventionismus nicht gegen, sondern in Richtung der Marktgesetze. - Rüstow bezeichnet diese Rede als Gründungsdokument und “Programm dieser theoretisch fundierten Sozialen Marktwirtschaft”, so in: A. Rüstow, Wirtschaftspolitik und Moral, in: ders., Rede und Antwort, 20. Rüstow spricht davon, daß er und Walter Eucken zeitgleich und unabhängig voneinander 1932 aus der Krise des Liberalismus, die durch marktwidrige Interventionen gegen Ende der Weimarer Republik verschärft wurde, die Grundidee eines dritten Weges in Gestalt des Neoliberalismus entwickelt hätten, die in marktkonformer Intervention des Staates bestehe. Mitgeteilt in: A. Rüstow, Paläoliberalis- 243 Daß zunächst alle wirtschaftstheoretischen Antworten auf die Weltwirtschaftskrise als Neoliberalismus bezeichnet wurden, trägt zur begrifflichen Verwirrung bei. Die Soziale Marktwirtschaft ist in der frühen wirtschaftstheoretischen Debatte von der Genese her also keineswegs als ein Gegenkonzept zum Neoliberalismus, sondern als Teil des Gesamtan680 liegens eines Neoliberalismus verstanden worden. Alexander Rüstow bekräftigt die Nähe von Sozialer Marktwirtschaft zum Neoliberalismus: “Unser Neoliberalismus unterscheidet sich vom Paläoliberalismus gerade dadurch, daß er nicht wie der Paläoliberalismus alles nur auf wirtschaftliche Größen bezieht. Wir sind vielmehr der Meinung, daß die wirtschaftlichen Dinge überwirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet werden müssen. Dieser Meinung sind wir nicht erst seit heute, sondern diese 681 Meinung herrschte schon seit den Anfängen des Neoliberalismus.” Und Alfred Müller-Armack wehrte sich Mitte der sechziger Jahre offensichtlich im Gegensatz zu seiner früheren Auffassung dagegen, die Soziale Marktwirtschaft “als bloße Abart des Neoliberalismus” einstufen zu lassen: “Man braucht die Nähe zum Neoliberalismus keineswegs zu leugnen, wir verdanken ihm zahlreiche entscheidende Anregungen, aber gegenüber einem den Wettbewerbsmechanismus als ausschließliches Gestaltungsprinzip betrachtenden Neoliberalismus ist der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft aus anderen Wurzeln entstanden. Sie liegen in der dynamischen Theorie und der philosophischen Anthropologie, die beide in den zwanziger Jahren entwickelt wurden, mithin in einer anderen Auffassung von Staat und in einer Weiterführung des vom Neoliberalismus meist abgelehnten Stilgedankens. Die koordinierenden Funktionen 680 681 mus, Kollektivismus und Neoliberalismus, 166.- Bereits 1933 mußte Rüstow wegen seiner demokratischen und liberalen Überzeugung aus Deutschland in die Schweiz und dann nach Istanbul emigrieren. Vgl. den Beitrag von O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 8198, sowie E.E. Nawroth, der sich in seiner Monographie zum Neoliberalismus aus Gründen begrifflicher Stringenz ausschließlich mit dem Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft auseinandersetzt: E.E.Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 12. A. Rüstow, Die staatspolitische Krise unserer Gesellschaft, in: ders., Rede und Antwort, 73. Rüstow eröffnete die Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft 1961 mit einer Klarstellung: “Da nun leider heutige Vertreter jenes Paläoliberalismus sich neoliberal nennen, obwohl unser Neoliberalismus ja gerade im Gegensatz und in Abgrenzung gegen jenen Altliberalismus, gegen jenen Paläoliberalismus entstanden ist, trägt das natürlich sehr dazu bei, eine Verwechslung zu begünstigen.” A. Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, in: ders., Rede und Antwort, 76. - O. von Nell-Breuning merkte bereits 1951 an: “Allerdings wird die Flagge des Neo-Liberalismus und Sozial-Liberalismus auch in erschreckenden Ausmaßen mißbraucht, um brutalen manchesterlichen Liberalismus damit zu bemänteln.” In: O. von Nell-Breuning, Art. Liberalismus, in: Wörterbuch der Politik, hg. von H. Sacher, O. von Nell-Breuning, Heft V. - Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg 1951, Sp. 220. 244 der Sozialen Marktwirtschaft entsprechen nicht ausschließlich den mechanischen Regeln des Wettbewerbs. Die Gestaltungsprinzipien beziehen sich auf Staat und Gesellschaft, die beide ihre Wertvorstellungen und Verantwortungen im Gesamtsystem der Sozialen Marktwirtschaft 682 ausprägen.” Wann und wo der Begriff “Neoliberalismus” zuerst entstanden und verwendet wurde, ist nicht genau auszumachen. In den wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Debatten nach 1945 jedenfalls wird häufig in der politischen Auseinandersetzung um sozialistische und antisozialistische Bestrebungen ein “Neoliberalismus” als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus und synonym für jene ökonomischen Neuordnungsvorstellungen des Liberalismus formuliert, die aus den Erfahrungen mit der Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre und dem Hitler-Faschismus ihre Folgerungen ziehen wollten. Erst Mitte der sechziger Jahre kam es zu einer deutlichen begrifflichen Scheidung der revisionistischen liberalen Positionen innerhalb des Neoliberalismus, indem zwischen der Richtung der Sozialen Marktwirtschaft / Rheinischer Kapitalismus auf der einen Seite und dem Neoliberalismus USamerikanischer Prägung auf der anderen Seite unterschieden wurde: Die Bezeichnung Neoliberalismus wurde nunmehr ausschließlich auf die Chicagoer Richtung eines radikal marktorientierten Kapitalismus ange683 wendet. F.A. Hayek und M. Friedman begründeten eine wirtschaftspolitische und wirtschaftstheoretische Richtung des Neoliberalismus, die den Wettbewerb und das Marktsystem als ein sich selbst regulierendes System betrachtete und deshalb von einer strikten Trennung von Ökonomie und Staat ausging. Dieser Neoliberalismus war jahrzehntelang eher bedeutungslos und fristete eine Nischenexistenz. Erst mit Beginn der siebziger Jahre wurde er von interessierter Seite bewußt gefördert und erlangte zunehmend Bedeutung, so daß er schließlich in den ökonomischen Wissenschaften hegemonial werden konnte. Aus einer ökonomischen Außenseitermeinung war in der ökonomischen Theoriebildung ein ökonomischer Mainstream und in den Reaganomics und im Thatcherismus eine herrschende Wirtschaftspolitik geworden. 682 683 A. Müller - Armack, Wirtschaftspolitische Chronik, Heft 3, Köln 1962, 10 zit. in: E. Nawroth, Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft, Köln 1965, 31f. Diese begriffliche Trennung zwischen einem Marktradikalismus und einem Neoliberalismus mit seinen verschiedenen Ausprägungen macht Otto Schlecht zur Rehabilitation des ursprünglichen Begriffs von Neoliberalismus wieder rückgängig, wenn er es als falsch bezeichnet, “Neoliberalismus als Synonym für Marktradikalismus oder ungezügelten Kapitalismus zu benutzen. (...) Soziale Marktwirtschaft fußt auf neoliberalen Vorstellungen, die ihrerseits auf den klassischen Liberalismus zurückgehen.” (Otto Schlecht, Begriffsverfälschung. Der Neoliberalismus ist besser als sein Ruf, in: Evangelische Kommentare 10/1998, 596f.) 245 Der Neoliberalismus steht in der Tradition der Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek. Er ist keine marginale Wirtschaftstheorie, sondern wurde gezielt gefördert und unterstützt. Seit Mitte der 70er Jahre erhielten vornehmlich Vertreter dieser wirtschaftstheoretischen Richtung die Nobelpreise für Ökonomie, so Friedrich August von Hayek (1976), Milton Friedman (1976), George J. Stigler (1982), James M. Buchanan (1986), Garry S. Becker (1992). Im Zentrum des neoliberalen Konzeptes steht die Annahme, daß der Markt als Institution und der Wettbewerb als Organisations- und Entwicklungsmethode der Politik einer bewußten Kooperation von wirtschaftlich handelnden Personen, die sich an normativen Zielen orientieren, überlegen sei. Damit der Markt diese Ziele erreichen könne, müsse er befreit werden. Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung sind deshalb auch die zentralen Anliegen. Die freie, neoliberale Marktwirtschaft anglo-amerikanischen Typs geht von einer anthropologischen Grundlage aus, die Eigennutz als Ausdruck der Natürlichkeit des Menschen versteht. Das Gemeinwohl wird deshalb gleichsam automatisch als Summe des individuellen Eigennutzes erwartet. Das Gemeinwohl resultiere aus der konsequenten und weder durch Politik noch Ethik beschränkten Verfolgung des Eigeninteresses. Das mechanistische Bild der Wirtschaftsabläufe, das sich aus der strikten Befolgung der Marktmechanismen ergibt, erübrigt wirtschaftsethische Orientierungen und kennt a priori auch nicht die Frage nach dem, was gerecht genannt werden könne. Diesen Wirtschaftsstil nennen die Kirchen in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort “Marktwirtschaft pur” (Ziff. 146). Trotz einer gemeinsamen Ursprungssituation muß der Neoliberalismus in seiner aktuellen Bedeutung gegenüber der Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft deutlich abgegrenzt werden. Der Grundkonzeption einer Sozialen Marktwirtschaft attestiert Trutz Rendtorff eine ethische Qualität: “Die Soziale Marktwirtschaft enthält (...) zureichende, wenn auch meist implizite ethisch beachtliche Strukturen und Kriterien, (...) auf die sie auch von der Ethik direkt angesprochen 684 werden kann.” Auch eine Marktwirtschaft ohne jegliches Adjektiv besitzt nach dem Urteil des Wirtschaftsethikers Karl Homann bereits eine 684 T. Rendtorff, Die soziale Marktwirtschaft in der Perspektive theologischer Ethik, in: LudwigErhard-Stiftung (Hg.), Die Ethik der sozialen Markwirtschaft. Thesen und Anfragen, Stuttgart 1988, 57f. Polemisch nennen A. Gutowski und R. Merklein es eine “orakelnde Verheißung”, daß die Väter der Sozialen Marktwirtschaft dieser Konzeption “eine besondere, jenseits der sonst praktizierten kapitalistischen Wirtschaftsmethode angesiedelte moralische Qualität” zumessen wollten. A. Gutowski u. R. Merklein, Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 30 (1985) 50, zit. nach: S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, in: W. Jacob u. J. Moneta u. F. Segbers (Hg.), Die Religion des Kapitalismus. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes, Luzern, 1996, 52. 246 moralische Qualität, denn belohnt werde in der Marktwirtschaft, wer das Wohl seiner Mitmenschen fördere. “Die moralische Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft liegt darin, daß sie das beste bisher bekannte Mittel 685 zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen darstellt.” Der normative Gehalt des Marktes liege in nichts anderem als in der güterschaffenden Effizienz von Wettbewerb und Markt. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans Olaf Henke, geht ebenfalls davon aus, “daß die Marktwirtschaft an sich moralisch ist und daß sie es nicht 686 dadurch wird, daß man sozialpolitische Argumente hereinbringt.” Beide Wirtschaftssysteme - die Soziale Marktwirtschaft ebenso wie der Neoliberalismus - sind also eine bereits ethisch geprägte Realität. Das zeigt, daß Ökonomie und Ethik nicht im Vakuum abstrakt vermittelt werden, sondern in der existierenden Wirklichkeit immer schon real vermittelt vorhanden sind. Die Realität muß nicht nachträglich mit ethischen Gehalten oder Normen versehen werden. Sie ist immer schon ethisch gehaltvoll. Auch der Markt folgt einer normativen Logik und wird nicht erst dadurch ethisch gehaltvoll, wenn er explizit in einen Zusammenhang mit Ethik gebracht wird. Es wird deshalb darauf ankommen, nach der tatsächlichen Ethik der Ökonomien zu fragen und sich darüber Rechenschaft abzulegen, welche ethischen Gehalte verstärkt oder gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Nur so kann Wirtschaftsethik der voluntaristisch-appellativen Attitüde entgehen, die sich immer schon außerhalb der realen Auseinandersetzungen und der mit Macht verbundenen Interessen glaubte. Eine an der Realität interessierte Wirtschaftsethik wird daher die Soziale Marktwirtschaft und ihr Gegenbild, den Neoliberalismus, als Referenzrahmen aufnehmen müssen. Dabei soll keineswegs die Soziale Marktwirtschaft als die Inkarnation einer menschengerechten und lebensdienlichen Ökonomie ausgemacht werden, während ihr Gegenbild als unethisch demaskiert wird. Die Gegenüberstellung beider Ökonomien und ihres jeweiligen Wirtschaftsstils soll lediglich als Folie für den Ansatz dienen, nach dem Ertrag eines wirtschaftsethischen Impulses zu fragen, der sich biblischen Inspirationen verdankt und keineswegs mit einer historisch vorfindlichen Wirtschaftsordnung identifiziert werden soll. Jenseits des Streits um Kapitalismus und Sozialismus, jenseits des Streits um Wirtschaftsordnungen geht es wirtschaftsethisch allein um den Streit um eine Ökonomie, die dem Leben dient. 8.1 Soziale Marktwirtschaft 685 686 K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 49 (im Original in kursiv); vgl. auch K. Homann, Wirtschaft - Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 98f. Zit. in: FAZ vom 13.1.1995. 247 8 .1.1 Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft Viel zu wenig ist bekannt, daß der Soziale Protestantismus entscheidend die Traditionen der sozialen Reform und institutionellen Transformation 687 des Kapitalismus inspiriert hat. Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen haben die ins 19. Jh. zurückreichenden protestantischen Wurzeln 688 einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft herausgearbeitet und belegt. An Aufbau und Ausbau des Sozialstaates hatten die christlichen Konfessionen und besonders der Protestantismus einen bedeutenden und nur zu oft übersehenen Anteil. Auf protestantischer Seite entsprach dem politische Bündnis von Thron und Altar ein ordnungs- und staatspolitisches Denken besonders im Luthertum, das den Staat nicht nur politisch, sondern auch sozial in Pflicht nehmen wollte. Nicht allein nationaler Machtstaat, auch Kultur- und Sozialstaat sollte der Staat sein. Beamte der preußischen Ministerialbürokratie erarbeiteten die gesetzlichen Grundla689 gen für den Aufbau des Sozialstaates. Ökonomen und Theologen kamen auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß zusammen, der 1891 ge690 gründet wurde. Er hatte sich in seiner Satzung das Ziel gesetzt: “die sozialen Zustände unseres Volkes vorurteilslos zu untersuchen, sie an dem Maßstab der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbarer 691 und wirksamer zu machen als bisher.” Diese Aufgabenbeschreibung versucht ausdrücklich, zwischen Ökonomie und biblischer Tradition eine Verbindung herzustellen. Die biblische Tradition bildet die ethische Grundlage. Dem Evangelium wird eine doppelte Rolle zugedacht: Es ist Norm und kritische Instanz. Dabei sollen 687 688 689 690 691 Vgl. u.a. : F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung; K. Heienbrok u. H. Przybylski u. F. Segbers (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethik und Reform des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß; Bochum 1991. G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1994, bes. die Einleitung: S. 13 - 37. U.a. haben Theodor Lohmann (1831-1905), H. von Berlepsch (1843-1926) und Graf Posadowsky (1845-1932) ihr sozialpolitisches Engagement immer als Konkretisierung christlicher Nächstenliebe oder praktisches Christentum verstanden. Vgl. dazu: G. Brakelmann, Theodor Lohmann - ein protestantischer Sozialpolitiker aus der Inneren Mission, in: ders., Zwischen Widerstand und Mitverantwortung. Vier Studien zum Protestantismus in sozialen Konflikten, Bochum 1994, 85 - 131; G. Brakelmann, Evangelische Sozialtheoretiker vor dem Problem der Gewerkschaften, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung, 17-38; vgl. J.- Chr. Kaiser u. W.Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart-Berlin-Köln 1997. K. Heienbrok u. H. Pryzbylski u. F. Segbers (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethik und Reform des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß; G. Kretschmar, Der Evangelisch-soziale Kongreß. Der Protestantismus und die soziale Frage, Stuttgart, 1972. Abgedruckt in: G. Kretschmar, Der Evangelisch - soziale Kongreß, 21. 248 das Evangelium oder allgemein die biblischen Kategorien einen kritischen Maßstab abgeben und zugleich beitragen, das “Wirtschaftsleben” gerechter zu gestalten. Der Komparativ, “die sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums (...) fruchtbarer und wirksamer zu machen als bisher”, verweist jedoch auf ein offensichtliches Manko in Theologie und Kirche, das behoben werden soll. Zwischen biblischen Orientierungen und gesellschaftlicher Gestaltung eine positive Beziehung herzustellen, wird zum zentralen Anliegen des Evangelisch-sozialen Kongresses. In der Satzung deutet sich bereits eine Methode sozialethischer Urteilsbildung an, die später kurzgefaßt als die Schritte “Sehen-UrteilenHandeln” bezeichnet werden. Wenn gesagt wird, daß es darauf ankomme, die sozialen Zustände “vorurteilslos zu untersuchen” (= Sehen), “am Evangelium zu messen” (= Urteilen) und das Evangelium “fruchtbarer und wirksamer zu machen” (= Handeln), dann wird das Verhältnis von biblisch-begründeter Sozialethik und politischer Gestaltung nicht als normativ-deduktiv, sondern empirisch-induktiv beschrieben. Vorausgesetzt ist, daß die biblische Tradition ökonomisch und gesellschaftlich relevant ist und auf diese Bedeutung hin auch ausgelegt werden soll. 8.1.2 Denkschrift: “Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit” (1943) Die sozialprotestantischen Traditionen stehen für den Versuch, ökonomische Rationalität und Effektivität auf der einen Seite und Gerechtigkeit und Achtung der personalen Würde auf der anderen Seite gemeinwohlorientiert zu kombinieren. In der Zeit des Nationalsozialismus waren es gerade evangelische Christen, die diese sozialprotestantischen Traditionen aufgenommen und “das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft pro692 grammatisch und interdisziplinär formuliert” haben. Es gibt eine direkte Verbindungslinie zwischen dem sozial engagierten Protestantismus und ökonomischen und politischen Neuordnungsvorstellungen, wie sie im Widerstand in der NS-Zeit entwickelt wurden. Hingewiesen sei besonders auf die Beiträge zweier Arbeitskreise, des “Kreisauer-Kreises” um 693 Helmuth Graf von Moltke und des “Freiburger Kreises” um die Ökonomen Wilhelm Eucken, Adolf Lampe, Constantin von Dietze und Ge692 693 G. Brakelmann, Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, in: ders., Für eine menschliche Gesellschaft. Reden und Gegenreden, Bochum, 1996, 194. K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, Tübingen 1996, 98 - 110; G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 309. 249 rhard Ritter, den Juristen Erik Wolf, Franz Böhm u.a. Vertreter des Freiburger Kreises traten an Bischof Theophil Wurm mit der Bitte heran, einen theologischen Mitarbeiter zu benennen. Auf Vermittlung von Bischof 694 Wurm stieß der Theologe Helmut Thielicke zu dem Kreis. Mit dem Rückgriff auf die zentralen Motive der protestantischen Tradition suchte der Freiburger Kreis evangelischer Christen im Widerstand nach einem Grundkonzept einer freiheitlichen und sozialen Wirtschafts695 und Sozialordnung. Angeregt wurde die Ausarbeitung einer Wirtschaftskonzeption im Anhang zu einer Denkschrift durch einen Vortrag über Nationalökonomie und Theologie, den Constantin von Dietze im Juni 1941 in Alpirsbach vor der “Gesellschaft für evangelische Theologie” 696 gehalten hatte. Constantin von Dietze übernahm auch die Federführung für die Ausarbeitung der Anlage 4 “Wirtschafts- und Sozialordnung” der Denkschrift mit dem Titel Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen 697 Nöten unserer Zeit (1943) . Die Denkschrift fordert eine sozial abgesicherte und vom Staat in ihrem Bestand geschützte Wettbewerbsordnung. Freiheit und soziale Gerechtigkeit sollen harmonisch miteinander verbunden sein. In protestantischer Tradition steht die starke Betonung eines handlungsfähigen und handlungswilligen Staates, der die Rahmenordnung für die Wirtschaft zu setzen hat und Zielkonflikte auflösen soll. Von einer solcher Wirtschaftsverfassung erwartet man, daß die Würde des Individuums und das Wohl der Gemeinschaft am besten geschützt werde. Ordnungspolitisch sucht man einen dritten Weg zwischen Wirtschaftsliberalismus und Planwirtschaft. 8.1.3 Biblische Fundierung der Denkschrift 694 695 696 697 H. Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg 1984, 189ff. Die Leitung der Bekennenden Kirche hatte über Bonhoeffer 1942 C. von Dietze gebeten, auf der Basis seines Vortrags den “Anhang Wirtschafts- und Sozialordnung” zu erarbeiten. So K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 106; F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder Neoliberalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit Abschied geben.” C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie. Mit Anhang: Grundsätze einer Wirtschaftsund Sozialordnung in evangelischer Sicht, Tübingen-Stuttgart 1947, 7. Während des Krieges konnte dieses Referat nicht veröffentlicht werden. Ausführlich wird die Vorgeschichte der Denkschrift dargestellt in: Ph. von Bismarck, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk der Stunde Null, Freiburg1992, 21-31. Nach dem mißglückten Attentat am 20. Juli 1944 gelangte die Gestapo in den Besitz von Teilen einer Denkschrift des Freiburger Kreises und konnte die Verbindung des Freiburger und Kreisauer Kreises zum Widerstand aufdecken. Veröffentlicht unter dem Titel “In der Stunde Null”, mit einem Vorwort von H.Thielicke und einem Nachwort von Philipp von Bismarck, Tübingen 1979. 250 Constantin von Dietze verwies in seinem Vortrag 1941 vor der Gesell698 schaft für Evangelische Theologie in Alpirsbach auf Werner Sombart, der 1934 in seinem Buch Deutscher Sozialismus den Kapitalismus eine 699 “Wirtschaftsordnung des Teufels” genannt hatte. Auch wenn sich Constantin von Dietze begrifflich distanziert, so teilt er doch das Anliegen Sombarts, eine Alternative zu einer freien Marktwirtschaft zu entwickeln, die in Theorie und Praxis gescheitert war. Constantin von Dietze entwickelte seine ökonomischen Neuordnungsvorstellungen für die Denkschrift anhand von Thesen, die 1937 in BerlinDahlem zum Thema “Kirche und Wirtschaftsordnung” formuliert wur700 den. An dieser “Ökumenischen Arbeitstagung der Bekennenden Kirche” zur Vorbereitung auf die Oxforder Weltkirchenkonferenz nahmen neben Bonhoeffer die Wirtschaftswissenschaftler von Dietze, Karrenberg und Eucken teil. Die dort verabschiedeten Thesen übertragen auf den Bereich der Wirtschaft, was die Barmer Theologische Erklärung über den Staat formuliert hat. Wie die Barmer Theologische Erklärung gegenüber dem Staat, so betonen auch die Dahlemer Thesen, daß die Kirche sich der Wirtschaftsordnung gegenüber nicht neutral verhalten könne. Dies bedeutet zugleich: Die Wirtschaft läuft nicht nach wertfreien und ethikneutralen Gesetzmäßigkeiten ab, sondern nach ethischen Kriterien. “Die Kirche kann keine Wirtschaftsordnung als heilbringend verherrlichen, aber auch keiner eine Unabhängigkeit von den Geboten des alleinigen Herren zugestehen. Keine menschliche Wirtschaftsordnung kann die Macht der Sünde überwinden, jede muß eine Bekämpfung dieser Macht 701 erstreben.” Abgelehnt wird die Auffassung der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie, nach welcher Wirtschaft sich zur religiösen Ethik neutral verhalte. Die Dahlemer Thesen betonen, daß “der Anspruch des Herrn sich nicht nur an den einzelnen Menschen richte, sondern auch für den Inhalt 702 der Wirtschaftsordnung gelte.” Diese Aussage richtet sich vor allem gegen die Lehre von der ökonomischen Eigengesetzlichkeit, die nicht nur 698 699 700 701 702 Alpirsbach war der Tagungsort der Theologen, die sich der Bekennenden Kirche zuzählten. Zit. in: C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 22. - Ohne Zitationsangaben. Constantin von Dietze kommentierte Sombart: “Die Menschen unserer Zeit haben dann, wie Sombart sagt, den Herrn der Unterwelt angebetet. (...) Sombart gelangt damit zu einer eigenen Theologie. Er sieht eine bestimmte Wirtschaftsordnung als Teufelswerk an und meint, man könne und müsse durch eine neue Wirtschaftsordnung, durch stationäre Wirtschaft und deutschen Sozialismus, dem Teufel sein Werk zurückschicken. (...) Das innere Anliegen Sombarts wird uns alle ergreifen. Es wird sicherlich nicht herabgesetzt, wenn wir feststellen: Sombarts Auffassung vom Teufel und seinen Wirkungsmöglichkeiten und die Theologie, auf welcher er diese Gedanken aufbaut, entsprechen nicht in allen Stücken dem, was wir als evangelische Christen zu sagen haben.” Ebd. 22. Die Arbeitsgruppe 3 “Kirche und Wirtschaft” leitete der Velberter Unternehmer Friedrich Karrenberg. Mitgeteilt von H. Prolingheuer mit Schreiben vom 27.9.1997. Zit. ohne Quellenangaben bei: C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 22f. Ebd. 23. 251 von ökonomischer, sondern auch von theologischer Seite als eine sachgemäße Scheidung der Bereiche und Zuständigkeiten formuliert worden war. In der Formulierung klingt jene Zweite These der Barmer Theologischen Erklärung von “Gottes kräftigem Anspruch auf unser ganzes Leben” an. Diese Aussage wendet sich gegen die von Bonhoeffer in seiner Ethik später charakterisierte Absicht, “die Sache Christi zu einer partiel703 len, providentiellen Angelegenheit innerhalb des Wirklichkeitsganzen” zu machen. Auf die Frage, wie die Einheit dieses Anspruchs zu begründen sei, sagt Bonhoeffer: “Hier muß die Bibel selbst um Rat gefragt wer704 den.” Wenn der biblischen Botschaft also ein Anspruch auf das ganze Leben zukommt, dann sind von der biblischen Ethik auch inhaltliche Aussagen zur Wirtschaftsordnung zu erwarten. Aus biblischen Normen sollen nach Dietze Leitlinien für die Wirtschaftsordnung entwickelt werden: “Die Kirche müsse von jeder Wirtschaftsordnung verlangen, daß sie dem göttlichen Gebote, also namentlich dem Dekalog zu entsprechen 705 suche.” Gegen Leitlinien, die sich aus der Eigendynamik und Eigenlogik der Ökonomie ergeben, wird eine normative Basis für eine Wirtschaftsordnung gesucht. Hier deutet sich bereits eine wirtschaftsethische Begründung an, die später in der Denkschrift 1943 ausführlicher zur Sprache kommt. Alfred Müller-Armack wird 1948 in einem Artikel, der wohl erstmals den Begriff “Soziale Marktwirtschaft” verwendet, von einer doppelten Zielsetzung sprechen: von der “Aufgabe sozialer Gerechtigkeit 706 und einer Versittlichung des Wirtschaftlichen” . Constantin von Dietze selber nannte die Dahlemer Thesen von 1937 einen “ernste(n) Versuch (...), aus einer sauberen evangelischen Theologie die Stellungnahme zur Wirtschaftsordnung abzuleiten, also nicht aus noch so verständlichen, auch achtungswerten Einschätzungen des irdischen Geschehens eine 707 eigene Theologie zu entwickeln” . Die Autoren der wirtschafts- und sozialpolitischen Anlage 4 zur Denkschrift über die Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit bedauern, daß insbesondere die evangelische Ethik sich bislang kaum Fragen der Wirtschaftsordnung zugewandt, und das, was existiere, keine allgemeine Zustimmung gefunden habe. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reicht zwar eine sozialprotestantische Tradition. 1927 war die erste Evangelische Wirtschaftsethik von Georg Wünsch erschienen. Es hat in der Weimarer Zeit im Umfeld des religiösen Sozialismus eine intensive Auseinandersetzung um den liberalen Kapitalismus 703 704 705 706 707 D. Bonhoeffer, Ethik, 12. Aufl. München 1988, 209. Ebd. 220. C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 23. A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 151. C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 23. Dem Sinn enstprechend muß es wohl heißen: “einen ersten (nicht: ernsten) Versuch...” 252 gegeben. Doch diese sozialprotestantischen Traditionen scheinen den Autoren entweder nicht bekannt gewesen zu sein, oder sie wollten bewußt an diese nicht anschließen. 1937 hatte in Oxford eine wichtige ökumenische Konferenz zu Fragen der Wirtschaftsordnung stattgefunden, an der jedoch leider kein Vertreter der Bekennenden Kirche teil708 nehmen konnte. Von den dort gewonnenen Einsichten der ökumeni709 schen Christenheit war deshalb die Bekennende Kirche abgeschnitten. Die Autoren der Freiburger Denkschrift fingen trotz schwacher, wenngleich vorhandener sozialprotestantischer Traditionen wirtschafts- und sozialethisch in einer “Stunde Null” an. Ausgangspunkt waren jene wirtschaftsethischen Überlegungen, die im Anschluß an Barmen 1937 im Rahmen einer Konferenz der Bekennenden Kirche in Dahlem formuliert wurden. Im Vorwort der Anlage 4 zur Wirtschafts- und Sozialordnung der Freiburger Denkschrift wird programmatisch die Aufgabe beschrieben: “Unsere Arbeit gilt in erster Linie der Gesamtordnung des Wirtschaftslebens, weniger den Pflichten und Geboten, die nach christlicher Lehre für das 710 Verhalten des einzelnen im Wirtschaftsleben gelten.” Die Denkschrift will also ordnungspolitisch und sozialethisch, nicht individualethisch argumentieren. Der Freiburger Kreis hat sich in seiner Denkschrift dabei von drei Leitlinien leiten lassen: 708 709 710 Bedauert wird, daß keine Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland teilnehmen konnte (Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat, hg. von der Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1938, 12); beschlossen wurde, eine Abordnung der Konferenz nach Deutschland zu entsenden (ebd. 268). C. von Dietze bedauert, daß er an der ökumenischen Tagung in Oxford nicht teilnehmen konnte (Hinweis in: C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 22). H. ten Doornkaat nennt die Rengsdorfer Konferenz zur Vorbereitung auf die Oxforder Konferenz einen “ersten Versuch, die Probleme (der Ökonomie, F.S.) grundsätzlicher zu erfassen” (H. ten Doornkaat, Die Oekumenischen Arbeiten zur sozialen Frage, Frankfurt 1954, 176). Sie sei “der definitive Uebergang von der nur-pragmatischen Fragestellung zur grundsätzlichen Besinnung” (ebd. 177f.). Unter dem Titel Kirche, Volk und Staat in ihrer Beziehung zur Wirtschaftsordnung wurde auf der Konferenz in Oxford 1937 ein Konferenzbericht gebilligt, der den Kirchen zu “ernster und wohlwollender Erwägung” anempfohlen wurde. Die Konferenz nennt den “Grundsatz der Gerechtigkeit” jenes “Richtmaß für alle sozialen Regelungen und Einrichtungen, alle wirtschaftliche Gestaltung und alle politischen Systeme, die dem Leben des Menschen eine Ordnung geben” ( Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat, hg. von Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1938, Bericht der II.Sektion, 159f.). Die Konferenz wertet die Entstehung des Sozialismus und des Kommunismus als Folge des Kapitalismus. Der Sektionsbericht betont eigens, daß in den verschiedenen Ländern der Kapitalismus nicht nur unterschiedlich ausgeprägt sei, sondern daß “das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien Wirtschaftssysteme entwickelt (hätten), die in wichtigen Punkten von denen anderer kapitalistischer Länder abweichen” (ebd. 164 ). - Nichts jedoch deutet darauf hin, daß der Freiburger Kreis die Ergebnisse der Konferenz von Oxford rezipieren konnte. In der Stunde Null, Vorwort, 128. 253 I. II. III. Richtschnuren und Verbote, die sich nach unserem Glauben aus Gottes Gebot für die Wirtschaft ergeben, die also die Kirche vertreten kann und muß; Grundsätze, die sich aus Sachnotwendigkeiten des Wirtschaftens ergeben und die für seine Ordnung dauernde Geltung besitzen; eine sachliche Würdigung der gegenwärtigen und der nach menschlicher Voraussicht bevorstehenden wirtschaftlichen 711 Lage. Gesucht wird nach einer ethischen Grundlage für die Neukonzeption der Wirtschaft. Die Gebote Gottes werden als eine solche Grundlage bezeichnet. Bezeichnend jedoch ist, daß der inhaltlich-materiale Aspekt der biblischen Tradition fehlt. Andererseits wird differenziert zwischen ethischer Grundlage und vernunftgemäßer Ausgestaltung der Ökonomie. Diese Unterscheidung zwischen der Zuständigkeit von Ethik und Ökonomie ist wichtig. Die Scheidung will nicht die Zuständigkeiten so aufteilen, daß einerseits in der Wirtschaft die ökonomische Eigenlogik gelten soll und ethische Normen in diesem Bereich sachfremd sind, andererseits Ethik allenfalls im Bereich personaler Beziehungen Geltungen besitzt. Die Differenzierung geht vielmehr von der Einsicht in die Einheit des ethischen Anspruchs auf alle Lebensbereiche aus. Das aber bedeutet, daß die Ökonomie auf die Ethik angewiesen ist. Der Mitverfasser der Freiburger Denkschrift, Constantin von Dietze, hatte sich bereits im Vorwort der Veröffentlichung seines Referates Nationalökonomie und Theologie für eine Konzeption ausgesprochen, die “eine auf christlichem Glauben gegründete, mit der Vernunft entwickelte Ausrichtung der Wirt712 schafts - und Sozialpolitik” ermöglicht. Die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ist also eine Sache der Vernunft, ihre Grundlagen jedoch eine der Ethik. Constantin von Dietze stellt angesichts des Scheiterns des freien Marktes fest: “Die sittlichen Grundlagen der Wirtschaftsordnung hatten - namentlich zwischen den Volkswirtschaften, aber auch im 713 Innern - sich nicht als stark genug erwiesen.” Die Denkschrift unterstreicht, daß nicht eine “besonders evangelische oder auch nur allge714 mein-christliche Wirtschaftsordnung” entworfen werden soll. “Denn wir können nicht aus den Grundlagen unseres Glaubens für die Wirtschaftsordnung genaue Regelungen mit dem Anspruch auf unverbrüchliche 715 Gültigkeit ableiten.” Deutlich trennt die Denkschrift zwischen einer 711 712 713 714 715 Ebd. 128. C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 7. Ebd. 21. In der Stunde Null,Vorwort, 128. Ebd. 128. 254 normativen Grundlegung und den “Sachnotwendigkeiten des Wirtschaftens”. Die normative Kompetenz kommt der Kirche zu, die sachliche den Fachleuten, die jedoch ihrerseits unter dem Anspruch der Ethik stehen. “Was die Kirche nicht selbst zur Wirtschaftsordnung zu sagen berufen 716 ist, hat sie den christlichen Laien zu überlassen.” Diese Unterscheidung kann sich auf Dietrich Bonhoeffer beziehen, der sich in seiner Ethik gegen das Denken in zwei Räumen wendet, denn “es gibt nicht zwei 717 Wirklichkeiten, sondern nur eine Wirklichkeit.” Die Denkschrift des Freiburger Kreises will sich ausdrücklich ihrer ethischen Grundlagen vergewissern und fordert, “die Grundlagen der Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen, gerade nach evangeli718 schem Verständnis” . Eine allgemein christliche Begründung reicht ihnen nicht aus. Was aber kann es bedeuten, eine Ökonomie “gerade nach evangelischem Verständnis” zu konzipieren? Erstens wird von der Wirtschaftsordnung gefordert, daß es den Akteuren in der Wirtschaft “nicht unmöglich gemacht oder systematisch er719 schwert wird, ein Leben evangelischer Christen zu führen” . Die Denkschrift wendet sich gegen einen Dualismus, der Ethik im Bereich des individuellen Verhaltens ansiedelt und wirtschaftliches Handeln ethikfrei versteht. Die Denkschrift steht in der Tradition der Zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung und der Thesen der “Ökumenischen Arbeitstagung der Bekennenden Kirche” von 1937 in Berlin-Dahlem zum Thema “Kirche und Wirtschaftsordnung”, wenn sie sagt: “Die Gebote des Herrn richten sich nicht nur an die einzelnen Menschen. (...) Sie gelten auch für die Gemeinschaften des Lebens und Schaffens, für den Inhalt 720 der sie bestimmenden Ordnungen.” Gesucht wird nach einer ethisch begründeten Wirtschaftsordnung. Ethik hat ihren Ort nicht allein in der Rahmenordnung. Diese muß vielmehr auch so beschaffen sein, daß sie moralisches Handeln der Akteure ermöglicht. Die Wirtschaftsordnung entscheidet also darüber, ob ein individualethisches Verhalten überhaupt möglich ist. Ein Ökonomieverständnis, nach dem Ethik allein in der Rahmenordnung ihren systematischen Ort hat, kann sich nicht auf die Inspiratoren der später Soziale Marktwirtschaft genannten Wirtschafts721 konzeption beziehen. Gesucht wird nach einer Gesamtordnung des Wirtschaftslebens, die den “ewigen Grundforderungen christlich begrün716 717 718 719 720 721 Ebd. 130. D. Bonhoeffer, Ethik, 210. In der Stunde Null,Vorwort, 128. Ebd. 128. Ebd. 129. Gegen K. Homann, der den systematischen Ort der Moral in der Rahmenordnung ansiedelt. So in: K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 20-53; ders., Wirtschaft - Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 97ff. 255 722 deter Individual-Wirtschaftsethik” Rechnung trägt. Gefordert wird deshalb eine sozialethisch begründete Ordnungspolitik, die nicht in einem Gegensatz zu einer Individualethik steht, sondern beides ermöglicht: ethisches Verhalten des wirtschaftlich Handelnden und eine ethisch grundgelegte Wirtschaftsordnung. Zweitens müsse der Wirtschaftsordnung eine Anthropologie zugrunde liegen. “Der Mensch kann an seiner sittlichen Person und an seiner Seele Schaden leiden, wenn er sich in freiem Wettbewerb hemmungslos dem Ringen um irdischen Besitz ergibt, nicht minder jedoch auch, wenn er im Dienst eines vergötzten Kollektivs ausgebeutet wird oder gar andere ausbeutet. Immer wird die Gesinnung entscheidend sein, welche die 723 Durchführung einer Wirtschaftsordnung beherrscht.” Eine Wirtschaftsordnung müsse sachlichen Zweckmäßigkeiten entsprechen und “den denkbar stärksten Widerstand gegen die Macht der Sünde ermögli724 chen” . In dem zwangs- und kommandowirtschaftlichen System des Nationalsozialismus hat die Denkschrift eine “Macht der Sünde” erblickt. Drittens müsse eine ethisch verantwortbare Wirtschaftsordnung biblisch fundiert sein. Von den Geboten des Dekalogs aus werden “Anforde725 rungen an die Wirtschaftsordnung” formuliert. Die Denkschrift sucht eine Wirtschaftsordnung in der Perspektive des Dekalogs zu konzipieren: “Der Dekalog ist keine Zusammenstellung von Gesetzesparagraphen, die juristisch zu interpretieren wären. Er ist für uns auch nur im Zusam726 menhang mit der ganzen Heiligen Schrift verbindlich.” An anderer Stelle hatte Constantin von Dietze einen Hinweis gegeben, der den Bezug auf die Bibel noch genauer erklärt. Während katholische Christen sich auf das Naturrecht beziehen könnten, sei dem evangelischen Christen “die Heilige Schrift die einzige Offenbarung, und aus ihr kann man ein vollständiges, für alle Zeiten gültiges Weltbild nicht unmittelbar ableiten, 727 noch weniger eine Wirtschaftspolitik” . Wie sehr die Wirtschaftskonzeption des Freiburger Kreises einer biblisch begründeten Ethik verpflichtet ist, betont Constantin von Dietze ausdrücklich: “Die eigentliche Aufgabe der Theologie besteht dabei in der Feststellung der unabänderlichen, aus Gottes Geboten zu entnehmenden Grundsätze für die wirtschaftliche und soziale Ordnung; dagegen wird ihr nicht zugemutet, die konkreten wirt728 schaftlichen und sozialen Fragen zu meistern.” Gleichsam als Ersatz 722 723 724 725 726 727 728 In der Stunde Null, Vorwort, 128. Ebd. Teil I. 5, 130. Ebd. 129. Ebd. Teil I. 3, 129. Ebd. Teil I. 3, 129. C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 31. Ebd. 41. 256 für ein fehlendes Naturrecht wurde von der biblischen Tradition eine unmittelbare ethische Maximenkompetenz erwartet. Gegen die Versuchung zur “Vergötzung irdischer Güter und Mächte” verweist die Denkschrift auf die ersten drei Gebote des Dekalogs. Das 5. Gebot des Dekalogs wird ausgedeutet als Schutz des Menschen vor Ausbeutung. “Aus dem 7., 9. und 10. Gebot folgt, daß eine Ordnung bestehen muß, in welcher ein Wirtschaftender der Nächste des andern sein 729 kann, also echte Gemeinschaft möglich ist.” Ausgehend von den Geboten des Dekalogs muß die Kirche: a) b) Grenzen abstecken, also Verbote verkündigen, welche von der Wirtschaftsordnung nicht überschritten werden dürfen; einige feste Richtschnuren für den Inhalt der Wirtschaftsordnung geben. Dabei muß sie aller Welt Verantwortung für die wirtschaftli730 chen Nöte der Mitmenschen zum Bewußtsein bringen. In seiner Schrift Aussagen evangelischer Christen in Deutschland zur Wirtschafts- und Sozialordnung (1946) erläutert Constantin von Dietze Grundlagen für die Konzipierung der ökonomischen Neuordnung. “Als Grundlegung für unsere Stellungnahme zur Wirtschafts- und Sozialordnung gibt uns die Heilige Schrift Richtschnuren und Verbote (Ziff. 4). (...) Da wir keine zwingenden Gesetze des Wirtschaftslebens anerkennen, haben wir in jeder Lage die rechte Ordnung zu suchen. Dabei müssen wir den göttlichen Geboten entsprechen, aber auch die jeweilige Lage und sachnotwendige Grundgesetze des Wirtschaftslebens beachten 731 (Ziff.5)”. Hier klingt an, was Arthur Rich später in seiner Wirtschaftsethik die Verschränkung von Sachgemäßem der Ökonomie und Men732 schengemäßem der Ethik bezeichnen wird. Was es bedeutet, Grundlagen einer Wirtschaftsordnung nach evangelischem Verständnis zu formulieren, hat Adolf Lampe, Mitglied des Freiburger Kreises, nach dem Krieg in einem Vortrag 1948 vor der Evangeli733 schen Akademie Echzell ausgeführt. Im Unterschied zur evangelischen Ethik argumentiere die Katholische Soziallehre naturrechtlich. Evangelische Theologie jedoch sei an das biblische Schriftprinzip gebun729 730 731 732 733 In der Stunde Null, Teil I. 3, 129. Ebd. Teil I. 5, 130. Zit. nach G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 366. Die Schrift Aussagen evangelischer Christen in Deutschland zur Wirtschafts- und Sozialordnung (1946) ist das deutsche Vorbereitungspapier zur Frage der Wirtschaftsordnung für die Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam und nimmt ausdrücklich die Ergebnisse der Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 auf. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1, 73. A. Lampe, Gefallene Wirtschaft, (Kirche und Welt. Schriftenreihe der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau) Heft 2, Frankfurt 1949. 257 den: “Entgegen der im Säkularisierungsprozeß (Smith, Mises) verblüffend schnell in Vergessenheit geratenen metaphysischen Bindung, ist christliche Weltanschauung nur von der Schrift her möglich. Wie ist aber biblische Wirtschaftssicht möglich, wenn das Wort Wirtschaft in der Bibel gar nicht vorkommt? (...) Aber die Bibel gibt doch völlig eindeutige Weisungen für das irdische Leben der Menschen. (...) Deshalb muß nach den ganz grundlegenden Entscheidungen der Bibel über das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen Ausschau gehalten werden in der Zuversicht, daß dann von dort her zwingende Anweisungen auch für die 734 konkrete Gestaltung des Wirtschaftslebens abzuleiten sein müssen.” Adolf Lampe hat in seinem Vortrag mit dem Thema Gefallene Wirtschaft darauf hingewiesen: “Statt Machtausgleich zur Sicherung der menschlichen Freiheit kam es zur Machtübersteigerung und damit zur 735 Verleugnung der Schöpfungsordnung.” Der wirtschaftliche Entmachtungsprozeß durch Wettbewerb wird hier als eine schöpfungsgemäße Ordnung verstanden. Adolf Lampe verwendet dabei Argumentationsfiguren, die eine deutliche Nähe zum neoliberalen Denken eines Friedrich August Hayek zeigen, wenn er sagt: “Die Schöpfungsordnung der Preis736 bildung ist eine Tatsache und muß mit Ehrfurcht behandelt werden.” Er 737 begreift die “Wirtschaftsordnung als Schöpfungsordnung” , die ordnungspolitisch durch Planwirtschaft und Gewerkschaften mißachtet werde, und begründet die Mechanismen einer Marktökonomie dort schöpfungstheologisch, wo Hayek auf den sich selbstregulierenden Markt verweist, den er evolutiv und damit naturgemäß versteht. Dieser Markt fordere nach Hayek eine Haltung der “Demut vor den unpersönlichen und 738 anonymen sozialen Prozessen” . Adolf Lampe formuliert diesen Gedanken theologisch: “Wir müssen der Vergötzung der Wirtschaft und der 734 735 736 737 738 Ebd. 14f. Ebd. 22f. Ebd. 23. Ebd. 23. F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus , in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, o.O. Bd. 1, 1948, 25. Hier zeigt sich die Nähe der Freiburger Ordoliberalen zum Gesamtanliegen einer neoliberalen Erneuerung der Wirtschaft, aber auch die ursprüngliche Nähe der Sozialen Marktwirtschaft zu neo- und ordoliberalen Vorstellungen. Hayek, Röpke, Eucken u. a. waren sich in der Ablehnung der kriegswirtschaftlichen Lenkung der Produktion einig. Der Staat solle sich aus der Wirtschaft zurückziehen. A. Müller-Armack schließt sich den Erkenntnissen von Eucken, Hayek, von Mises und Röpke ausdrücklich an, daß Wirtschaftslenkung wohlstandshemmend sei (A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 131ff.). Urbild der Wirtschaftslenkung sei die Kriegswirtschaft (Ebd., 141). Müller-Armack erwartet sich mehr soziale Gerechtigkeit nicht durch den “utopischen Ansatz” (Ebd. 141) direkter Verfolgung ergebnisorientierter ethischer Ziele. Sie ergeben sich indirekt, wenn der Staat sich auf “Maßnahmen zur Schaffung und Sicherung der Wettbewerbswirtschaft” beschränkt (Ebd. 152). 258 Wirtschaftsmacht absagen und nach einer schöpfungsgemäßen Wirt739 schaft Ausschau halten.” Adolf Lampe spricht von einer “schöpfungsgemäßen Wirtschaft”, in der sich eine “Unterordnung der eigengesetzli740 chen Wirtschaft unter die Gebote Gottes” vollziehe, wo Hayek von “Demut vor ... sozialen Prozessen” spricht. “Von dorther strahlt ein eigenes Licht auf den Gedankengang auch des Wirtschaftstheoretikers, der 741 nüchtern und unbefangen Wirklichkeit zu analysieren versucht.” Die Folgerungen des Denkens bei Lampe und Hayek sind beide Male gleich: wie gegenüber der Schöpfungsordnung so muß der Mensch sich auch gegenüber den Marktprozessen unterordnen. Wenn man also fragt, auf welche theologischen Traditionen sich die protestantischen Väter des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft bezogen haben, und was mit dem Anliegen gemeint war, “die Grundlagen der Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen, gerade nach evange742 lischem Verständnis” , so fällt auf, daß sie nicht bloß von einer christentumsgeschichtlichen Motivation geleitet waren, wie vielfach angenommen wird, sondern auf einer ausdrücklichen biblischen Begründung bestanden. Sie standen dabei vor dem Dilemma, eine ethisch fundierte Wirtschaftsordnung konzipieren zu wollen und erfahren zu müssen, von der Theologie keine Zuarbeit erwarten zu können. Es läßt sich als Ergebnis festhalten, daß in der Denkschrift des Freiburger Kreises wie auch in den Beiträgen von den Mitverfassern der Denkschrift Constantin von Dietze und Adolf Lampe die biblisch-ethische Begründung als das kennzeichnende protestantische Prinzip schlechthin verstanden wird. Günter Brakelmann hat Recht, wenn er bei den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft Wurzeln in philosophischen, theologischen und ethischkulturellen Traditionen, die sich der Reformation verdanken, aus743 macht. Doch dieser theologische Ansatz läßt sich genauer fassen: Der Freiburger Kreis hat nicht bloß aus einem unbestimmten Erbe der Reformation geschöpft, sondern vielmehr die Wirtschaftsordnung ausdrücklich mit solchen ethischen Begründungen ausstatten wollen, die sich an der biblischen Tradition und insbesondere am Dekalog orientierten. Das nannten sie eine Begründung der Wirtschaftsethik, “gerade 744 nach evangelischem Verständnis.” Die Verfasser der Denkschrift haben der Theologie und Sozialethik ein fundamentales Versagen in politischen und wirtschaftsethischen Fragen 739 740 741 742 743 744 A. Lampe, Gefallene Wirtschaft, 24. Ebd. 25, Anm. 1. Diese Aussage fiel in der Diskussion im Anschluß an ein Referat. Ebd. 24. In der Stunde Null,Vorwort, 128. G. Brakelmann, Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, 202. In der Stunde Null,Vorwort, 128. 259 vorgeworfen. Constantin von Dietze hat die Dialektische Theologie kritisiert, die meinte, “die Welt sei im Grunde verderbt und verloren; sie zu ordnen, sei entweder ganz unmöglich oder doch eine Angelegenheit, die 745 den Christen, vollends den Theologen nichts angehe.” Auch Alfred Müller-Armack schließt sich dieser Kritik in seinem Aufsatz Soziale Ire746 nik an und plädiert für eine friedvolle Zusammenarbeit der verschiedenen weltanschaulich geprägten Sozialbewegungen. Selbst evangelischer Christ, bemängelt er die damals vorherrschende Dialektische Theologie, die mit ihrem Ideal einer entmachteten Kirche eine Einstellung habe entstehen lassen, “die es als solche ablehnt, zur Frage der konkreten Welt747 gestaltung irgendeine bestimmte Position zu beziehen.” Den Verfassern der Denkschrift fehlten sachkompetente theologische Gesprächspartner. Constantin von Dietze hat keinen Zweifel daran gelassen, daß der Nationalökonom die Theologie braucht. “Es ist ein Hilferuf aus inne748 rer Bedrängnis,” klagt er beinahe verbittert den wirtschaftsethischen Beitrag der Theologie ein. Die Erfahrung mit dem Versagen von Theorie und Praxis des freien Marktes, aber auch die Katastrophe, in die Deutschland sich durch den Nationalsozialismus manövriert hatte, ließen Constantin von Dietze nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Theologie fragen. Christentum und Theologie schuldeten der Gesell749 schaft “moralische Grundlagen und Ziele des öffentlichen Lebens.” In seinen Augen ist “für einen dauernd gültigen Gehalt der Gerechtigkeit 750 das Christentum die einzige Quelle.” Der Rückgriff auf biblische Normen spricht dem Begriff der Eigengesetzlichkeit die theologische und ethische Legitimität ab und stellt zugleich eine Theologie infrage, die sich getrennt und abseits von Ökonomie eingerichtet hatte. Die Autoren haben direkt auf die Bibel und den Dekalog zurückgegriffen. Dieser unmittelbar erfolgte Rückgriff mag theologisch bedenklich sein. Doch dieser Vorwurf fällt auf eine Theologie und Sozialethik zurück, die das Gespräch mit der Ökonomie nicht nur nicht gesucht, sondern aus ihrem theologischen Selbstverständnis heraus erst gar nicht für nötig erachtet hatte. 745 746 747 748 749 750 C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 31. Emil Brunner nennt es unverständlich, daß Wirtschaftsprobleme von der Ethik nicht beachtet werden, zumal diese in der Bibel Alten und Neuen Testaments im Mittelpunkt des Blickfeldes stünden. “Eine Ethik, die sich der wirtschaftlichen Problematik entzieht, hat jedenfalls auf den Namen einer christlichen oder biblischen keinen Anspruch.” So E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, Nachdruck o.O., o.J., 380. Münster 1949, als Manuskript gedruckt; später veröffentlicht in: A. Müller-Armack, Soziale Irenik, in: ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, 559-578. Ebd. 569. C. von Dietze, Nationalökonomie und Theologie, 40. Ebd. 40. Ebd. 40. 260 Resümierend läßt sich sagen: Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz verweist zur ethischen Begründung der Sozialen Marktwirtschaft auf die kulturell “bestimmende Weltsicht” (Ziff. 99) und auf jene rationale Lebensführung, die ihre “Wurzeln im Christentum” (Ziff. 99) haben. Traugott Jähnichen spricht von einer “Affinität des christlichen Ethos 751 zu diesem wirtschaftspolitischen Ordnungsmodell” , das Alfred MüllerArmack später als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen wird. Eckart Otto stellt eine Verbindung zwischen biblischen Motiven und den Ursprüngen des westlichen Wirtschaftsmodells her: “Diese ethischen Grundorientie752 rungen speisen sich aus den Wurzeln ihres religiösen Ursprungs.” In der Sozialen Marktwirtschaft zeigen sich nach Otto eine “biblische Moti753 754 vik” oder nach Rendtorff “Gemeinwohltraditionen des Christentums” . Diese Aussagen weisen auf einen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen christlicher Ethik und Sozialer Marktwirtschaft hin. Eckart Müller differenziert die Aussage von Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen, die in den Konzeptionsentwürfen der Sozialen Marktwirtschaft explizite sozialprotestantische Traditionslinien ausmachen. “Der christliche Glaube und die protestantische Tradition standen vielmehr oftmals unausgesprochen im Hintergrund und wirkten von 755 dort.” Ob diese Einschätzung Müllers auf die zutrifft, die nach 1945 die Soziale Marktwirtschaft entwickelt haben, steht hier nicht zur Debatte; doch diese Einschätzung trifft keineswegs auf die Verfasser des wirtschafts- und sozialpolitischen Anhangs zur Freiburger Denkschrift zu, die ganz wesentlich die Konzeptionsentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft inspiriert und geprägt haben. Christlicher Glaube und protestantische Traditionen standen dort keineswegs bloß unausgesprochen im Hintergrund, sondern bildeten zusammen mit einer ausdrücklichen biblischen Bezugnahme die ethische Grundlage für eine Wirtschaftskonzeption, die die Theoriebildung der Sozialen Marktwirtschaft ganz wesentlich beeinflussen sollte. 8.1.4 Die konzeptionelle Entfaltung der Sozialen Marktwirtschaft 751 752 753 754 755 T. Jähnichen, Protestantische Impulse für das Konzept “Soziale Marktwirtschaft”, in: G. Brakelmann, T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 312. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 115. Ebd. 115. T. Rendtorff, Die Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland, 31-38. E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 10, vgl. auch 23f. 261 Die Wirtschaftskonzeption, die nach 1945 zur Sozialen Marktwirtschaft führen sollte, ist nicht theoretisch konzipiert worden. “Ihre ethischen Fundamente und konkreten Strukturen wurden von christlich geprägten Wissenschaftlern in den Jahren 1938 - 43 im Widerstand gegen den Natio756 nalsozialismus offengelegt.” Sie formulierten auf diesem Hintergrund ein ordnungspolitisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sozialethisch inspiriert war. Die Denkschrift des Freiburger Kreises hat Philipp von Bismarck “Fundament und Maßstab der unter dem Namen Sozi757 ale Marktwirtschaft zusammengefaßten Gesamtkonzeption” genannt. Deren ethische Fundamente und die ordnungspolitischen Prinzipien prägten die Soziale Marktwirtschaft nachhaltig. “Die auf ihnen basierenden, zahlreichen, die verschiedenen wirtschafts- und sozialpolitischen Bereiche betreffenden Anregungen (...) haben sowohl die rechtliche Absicherung der Wirkungsbedingungen als auch die politische Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in den Jahren von 1948 bis 1960 wesentlich 758 mit beeinflußt.” Die Soziale Marktwirtschaft kann deshalb durchaus als eine sozialethisch inspirierte Antwort auf das Scheitern von Theorie und Praxis einer freien Marktwirtschaft angesehen werden. Ein zweimaliges katastrophales Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Theorie und Praxis wurde 1945 offenkundig. Die Wirtschaftspolitik des schwachen Staates der Weimarer Zeit mit ihrer Inflation und Massenarbeitslosigkeit hatte den Kapitalismus diskreditiert. Auch die staatlich gelenkte Zwangswirtschaft während der NS-Diktatur war untragbar. Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft zogen aus den bitteren Erfahrungen mit dem Scheitern des schwachen Staates in der Weimarer Republik und dem Scheitern autoritärer Konzepte in der NS-Zeit die Lehre und formulierten einen dritten Weg zur Bändigung der Marktkräfte. Sie hatten einerseits in der Weimarer Republik die Erfahrung gemacht, daß die Marktökonomie so mächtig ist, daß nur ein handlungsfähiger und handlungswilliger Staat ihr Grenzen setzen kann. Angesichts der Erfahrungen mit der NS-Diktatur andererseits sollte Freiheit gegen autoritäre und totalitäre Lösungen gesichert bleiben. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist deshalb auch eine “konsequente wirtschaftspolitische und sozialphilosophische Lehre aus den Erfahrungen der Weimarer Re759 publik und des Dritten Reiches” . Die Soziale Marktwirtschaft wurde von Männern konzipiert, die vom Nationalsozialismus in die äußere Emigrati756 757 758 759 Ph. von Bismarck, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk der Stunde Null, Freiburg 1992, 7. Ebd. 31. Ebd. 31. K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 98.- Erst später im Zuge des kalten Krieges wurde er als ein Dritter Weg zwischen totalitärem Staatssozialismus und Liberalismus bezeichnet. 262 on gezwungen wurden, so u.a. Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, und von Wissenschaftlern wie Wilhelm Eucken und Alfred MüllerArmack, die in der inneren Emigration die NS-Zeit zu überleben suchten. Nie wieder autoritärer Faschismus und nie wieder ungebändigter Kapitalismus ist der Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg. Alexander von Rüstow will mit dem Projekt einer Revision des Liberalismus einen dritten Weg zwischen dem zusammengebrochenen historischen Liberalismus und dem drohenden Kollektivismus finden, in dem “Gerechtigkeit und Freiheit einerseits und höchste wirtschaftliche Ergiebigkeit ander760 seits” vereinigt sind. Die Soziale Marktwirtschaft ist also das weitreichende Reformprojekt einer Revision des Liberalismus, das sich mit einem dreifachen Anti gegen Theorie und Praxis eines freien Marktes 761 abgrenzt: antikapitalistisch, antifaschistisch, antisozialistisch. Protestantische Laien haben in einer bestimmten historischen Konstellation unter Rückgriff auf zentrale Motive protestantischer und biblischer Tradition das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt. Daß die Soziale Marktwirtschaft zur Traditionslinie des sozial engagierten Protestantismus gehört, ist weithin unbekannt. Die katholische Sozialethik hatte an der Konzipierung der Sozialen Marktwirtschaft nur geringe762 ren Anteil. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil fand die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft auch keineswegs ungeteilte Zustimmung innerhalb der katholischen Sozialethik. Die Skala reichte nach Josef Stegmann von einem “vorsichtigen „Ja, aber‟ bis zu einem „beinahe 763 Nein‟” . Im Umfeld der evangelischen Ethik und Theologie hat es allerdings keine vergleichbar kontroverse Auseinandersetzung um die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft gegeben, wie sie im Katholizismus geführt wurde. Die Debatte im Protestantismus begnügte sich mit einer pauschalen Befürwortung oder Ablehnung des Konzeptes des Sozialen 760 761 762 763 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 100. F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder Neoliberalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit Abschied geben.” 13. So auch K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 106. J. Stegmann, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: ders., Die Katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Die Gegenwart, München - Wien, 1983, 2. Die kontroverse innerkatholische Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft, die als Spielart des Neoliberalismus verstanden wird, ist nachgezeichnet in: J. Stegmann, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: ders., Die Katholische Kirche in der Sozialgeschichte; E. E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Nawroth kommt zu dem Resümee, daß, entgegen einem Diktum von Müller-Armack, das neoliberale System (i.e. die Soziale Marktwirtschaft) keineswegs eine “neue dritte Form” sei, sondern wie Röpke zu Recht sage, eine “ungestüme Renaissance” altliberalen Gedankenguts (so die Einschätzung und Bewertung von E. E. Nawroth, Die Sozialund Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 242f.). - Im Umfeld evangelischer Ethik wurde und wird nicht vergleichbar um das Ökonomiekonzept einer Sozialen Marktwirtschaft, sondern eher um die Fundamentalalternative Marktwirtschaft versus Sozialismus gerungen. 263 Markwirtschaft. Erst im Gemeinsamen Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit haben sich die beiden Kirchen einmütig zur Unterstützung der Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft zusammengefunden und dieser Wirtschaftsweise eine besondere Nähe zur christlichen Sozialethik zuerkannt. Die Ordnungsidee der Sozialen Marktwirtschaft stellt Alfred MüllerArmack in einen Zusammenhang von Anthropologie und Gerechtigkeit, wenn er sie eine “zwischen Individualismus und Kollektivismus hindurch764 gehende Wirtschaftspolitik” nennt. “Einzig die christliche Haltung ist geeignet, die Zerrissenheit in die Formen individualistischer und kollektivistischer Haltungen aus der Tiefe ihres überlegenen, beide Antagonismen umschließenden Personalismus zu überwinden und schon aus ihrer Distanz zur Welt der gefährlichen Verstrickung in jene formalen 765 Grundsätze zu steuern.” Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft bettet die Ökonomie in eine soziale, ökonomische und politische Rahmenordnung ein. Ökonomie wird zu einem kulturellen Projekt. Unstrittig war den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft, daß an die Wirtschaftspolitik moralische Forderungen zu stellen sind. Alexander Rüstow streicht deutlich die ethische Bindung der Ökonomie heraus: “Die Wirtschaftspolitik untersteht der Forderung der Moral, und alle wirtschaftspolitischen Fehler, die gemacht werden, und leider in großem Maße gemacht wer766 den, lassen sich gleichzeitig als Verstöße gegen die Moral auffassen.” Nicht anders Müller-Armack, der das Anliegen so beschreibt: “Aufgabe 767 sozialer Gerechtigkeit und einer Versittlichung des Wirtschaftlichen”. Die Soziale Marktwirtschaft versteht sich deshalb auch als eine Ökonomie, die ihr Selbstverständnis nicht gegen oder ohne Ethik, sondern nur mit ihr definiert. In ihr schlägt sich eine bewußte und nicht nur implizite Vermittlung von Ethik und Ökonomie nieder. 764 765 766 767 A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, in: ders., Religion und Wirtschaft, Stuttgart 1959, 508. Ebd. 507. A. Rüstow, Rede und Antwort, 13f. A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 151. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen sieht die Soziale Marktwirtschaft als Teil einer Gesellschaft, deren Grundkonsens durch Menschenrechte und freiheitlich-soziale Demokratie geprägt ist (vgl. Kap. 4, bes. Ziff. 129). Strukturen und Rahmenbedingungen reichen allerdings nicht aus. Deshalb heißt es im Kirchenwort: “Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im allgemeinen bewußt ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur” (Ziff. 12). In deutlicher Abgrenzung von neoliberalen Ökonomie-Konzeptionen bekräftigen die Kirchen, daß nicht der Markt allein schon durch einen funktionierenden Wettbewerb sozial erträglich werde. “Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben” (Ziff. 12). 264 Ungeachtet zahlreicher Unklarheiten und auch Widersprüche in der Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nennt Alfred Müller-Armack als Voraussetzungen für das Funktionieren einer Marktwirtschaft u.a. folgende soziale Interventionen oder Lenkungsmaßnahmen in den Markt: - die konjunkturpolitische Stabilisierung des Arbeitsmarktes; die Korrektur der durch den Markt herbeigeführten Einkom769 mensverteilung; 770 die Schaffung eines sozialen Rechts. 768 Alfred Müller-Armack will also die sozialen Rechte, den Arbeitsmarkt und die Einkommensverteilung nicht dem Markt überlassen. In einer Metapher nennt er den Markt einen “Halbautomaten, der seiner vollen Be771 dienung bedarf.” Für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist ein programmatischer Interventionismus zentral, der Marktversagen überwinden und gesellschaftspolitische soziale Ziele erreichen will. Weder der neoklassisch theoretisch begründete Wettbewerbsmarkt noch ein Staat, der jenseits gesellschaftlicher Interessenkonflikte steht, können das Gemeinwohl begründen. Deshalb kann auch der Wettbewerb nicht ein normatives Ordnungsprinzip der Wirtschaft sein. Alfred MüllerArmack hat die negativen Effekte des wettbewerblichen Marktsystems sehr wohl erkannt: “Die Wettbewerbsordnung (...) vermag nicht, die Gesellschaft als Ganzes zu integrieren, gemeinsame Haltungen und Gesinnungen (...) zu setzen, ohne die eine Gesellschaft nicht zu existieren 772 vermag. Sie zehrt an der Substanz geschichtlicher Bindungskräfte.” Was unter Sozialer Marktwirtschaft zu verstehen ist, ist keineswegs eindeutig. Selbst bei Alfred Müller-Armack finden sich sehr verschiedene Konzeptionen und Vorstellungen einer Sozialen Marktwirtschaft. Er versteht die Soziale Marktwirtschaft bereits in der frühesten Darstellung als “Synthese der marktwirtschaftlichen Kräfte und einer sozialen Ord773 nung” . Die Ordoliberalen der Freiburger Schule wissen um die Defizite der Marktwirtschaft und erwarten deshalb von einem starken Staat, daß er Wettbewerb und Geldwert sichert. Die Funktionsfähigkeit des Marktes jedoch soll allemal gesichert werden und darf durch die vom Staat erwar768 769 770 771 772 773 Ebd. 153; auch in: ders., Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. 2. erw. Aufl. Bern - Stuttgart 1976,107; ders., Das Jahrhundert ohne Gott, 507. A. Müller-Armack, Die Soziale Marktwirtschaft und ihre Widersacher, in: ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, 2. erw. Aufl. Bern 1981, 150. A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 152. A. Müller-Armack, Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. Bern-Stuttgart 1976, 234f. Ebd. 235. A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 153. 265 tete Funktion des sozialen Ausgleichs nicht beeinträchtigt werden. Für die extremen Neoliberalen ist eine Marktwirtschaft dagegen schon dann sozial, wenn ein funktionsfähiger Wettbewerb existiert und eine Anbietermacht bricht. Der Wettbewerb bringt aus sich heraus das Soziale hervor. Deshalb sind lenkende Interventionen durch die Politik nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR definiert die Soziale Marktwirtschaft “durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen” (Art. 1, Abs. 3). Der Vertrag benennt die “Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft mit der freien Entscheidung der Unternehmer über Produkte, Mengen, Produktionsverfahren, Investitionen, Arbeitsverhältnisse, Preise und Gewinnverwendung” (Art. 11 Abs. 2). Worin das “Soziale” der Sozialen Marktwirtschaft bestehen könnte, erklärt diese Definition von Sozialer Marktwirtschaft nicht. Für den Osten Deutschlands wurde die Soziale Marktwirtschaft von vornherein im Sinne der extremen Neoliberalen definiert. Mit diesem Selbstverständnis ist sie auch dort angekommen. Der Ökonom Siegfried Katterle bemängelt denn auch, daß “Wirtschaftspolitiker wesentliche Traditionen der Sozialen Marktwirtschaft aufgegeben und sich im Vollzug ihrer neoklassisch-angebotspolitischen 774 Orientierung dem Typ einer „freien‟ Marktwirtschaft angenähert” haben. Konstitutiv für das von den Kirchen im Wirtschafts- und Sozialwort verteidigte Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft ist ein Sozialstaat, der “nicht als ein nachgeordnetes und je nach Zweckmäßigkeit beliebig zu „verschlankendes‟ Anhängsel der Marktwirtschaft” zu verstehen ist, sondern einen “eigenständigen moralischen Wert” (Ziff. 133) darstellt. Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht bloß eine effiziente Wirtschaftsform. Sie gründet vielmehr “auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht herstellen und auch nicht garantieren kann” (Ziff. 91), nämlich in ethischen und anthropologischen Vorentscheidungen. In Abwandlung einer Begründung von Demokratie durch Ernst-Wolfgang Böckenförde, nach der “der freiheitliche, säkularisierte Staat (...) von Voraussetzungen (lebt), die er 775 selbst nicht garantieren kann” , verweist das Wort der Kirchen darauf, daß der freiheitliche Rechtsstaat wie die Soziale Marktwirtschaft sich sel774 775 S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 63. E.W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt 1976, 60. W. Röpke hat ebenfalls auf die ethischen Voraussetzungen der Sozialen Marktwirtschaft hingewiesen: “Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen jene sittlichen Reserven nicht. Sie setzen sie voraus und verbrauchen sie.” (W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach - Zürich, 1966, 186.) 266 ber weder begründen noch hervorbringen oder in ihrem Bestand garantieren können. Die Marktwirtschaft kann ihre eigenen Bestandsvoraussetzungen nicht sichern. Die Ökonomie zehrt demnach von einer normativen Substanz, die sie nicht aus sich selbst produzieren kann. “Die Rolle von handlungsleitenden Prinzipien, von normativ geprägten Selbstverständnissen des modernen Sozialstaates werden leicht unterschätzt, doch lassen sich Verteilungskonflikte und sozialpolitische Auseinandersetzungen, aber auch freiwilliges Engagement nur dann erfolgreich politisieren und kollektivieren, wenn sie kulturell eingebunden sind, also mit 776 normativer Bedeutung versehen sind.” Die Soziale Marktwirtschaft wird als Teil eines Ensembles von Werten aus Menschenrechten, freiheitlich-sozialer Demokratie und einer Sozialkultur verstanden. Der Markt trägt seine Rechtfertigung nicht in sich. Erst dieses Wechselspiel von materieller Sicherheit, politischen und sozialen Rechten legitimiert eine Marktökonomie westlichen Zuschnitts. Die Kirchen warnen davor, nur auf den Markt setzen zu wollen, weil dadurch auch die Funktionsvoraussetzungen der Marktwirtschaft selber zerstört werden. “Mit der Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel der sozialen Gerechtigkeit gefährdet” (Ziff. 146). Die ökonomische Effizienz der Marktökonomie führen die Kirchen nicht auf den Markt allein zurück, sondern binden die Effizienz der Marktwirtschaft an “wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Ausgleich als gleichrangige Ziele”, wobei “jeweils der eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen begriffen” (Ziff. 143) wird. Die Kirchen haben sich mit diesem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft in den Definitionsstreit um die Soziale Marktwirtschaft eingeschaltet. Ausdrücklich machen sie sich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu eigen. “Die Kirchen sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin (...) den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik” (Ziff. 9). Die Kirchen beziehen sich einmal auf eine Soziale Marktwirtschaft als einer “bewußt sozial gesteuerten Marktwirtschaft” (Müller-Armack, zit. in: Ziff. 143) und zum anderen auf ein Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft, das durch Freiheit des Marktes und einen sozialen Ausgleich als den beiden Säulen sich kennzeichnen läßt (Ziff.9). “Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke” (Ziff. 9, auch 142, 143, 145, 156). “Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft stellt einen produktiven Kompromiß zwischen wirtschaftlicher 776 J. Schmid, Wohlfahrtstaaten im Vergleich. Soziale Sicherungssysteme in Europa. Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen 1996, 292. 267 Freiheit und sozialem Ausgleich dar” (Ziff. 143, auch Ziff. 9). Zwischen beiden Definitionen jedoch besteht ein deutlicher Widerspruch. Das Bild für die Soziale Marktwirtschaft mit ihren beiden Pfeilern macht nicht mehr deutlich, daß das Soziale integrativer Bestandteil des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft ist. In dieser letzten Definition bekommt die “wirtschaftliche Freiheit” daher eine eigenständige Bedeutung. Der Marktapparat soll nicht beeinträchtigt werden. Nur im nachhinein soll es nunmehr bei den Ergebnissen des Marktes zu einem “sozialen Ausgleich” kommen. Der Marktprozeß jedoch soll sich selber überlassen bleiben. Die andere Definition, die von einer “bewußt sozial gesteuerten Marktwirtschaft” ausgeht, betrachtet den Marktprozeß nicht als selbsttätiges System, sondern erwartet von einer Steuerung des Marktprozesses die gewünschten sozialen Wirkungen. Zwischen beiden Definitionen von Sozia777 ler Marktwirtschaft besteht eine Spannung. Über ein bloß ordoliberales Konzept von Sozialer Marktwirtschaft geht das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen aber hinaus, wenn es jene fünf Komponenten erläutert, mit denen sich die Marktwirtschaft in Deutschland das Adjektiv “sozial” verdient: - eine gerechte Verteilung und Beteiligung der Menschen am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben; Verantwortung von Arbeitgeber und Gewerkschaften für die Aushandlung fairer und gerechter Arbeitsbedingungen; marktwirtschaftliche Effizienz und der soziale Ausgleich durch den Sozialstaat als sich wechselseitig bedingende Momente; gerechte Verteilungsprozesse; ein Wirtschaftsbürgerrecht, das die Objektstellung der Arbeitnehmer überwindet und sie zu Subjekten des Sozialprozesses der 778 Güterherstellung macht (Ziff. 143, auch Ziff. 172). Diese Klarheit in der Begriffsbestimmung ist zu begrüßen, denn nur zu viele sprechen von Sozialer Marktwirtschaft, ohne zu klären, was sie mit dem Begriff bezeichnen. Die verschiedenen Inhalte, die mit dem Begriff “Soziale Marktwirtschaft” in Verbindung gebracht werden, zeigen, daß die Soziale Marktwirtschaft ein offenes System ist, das immer wieder eine “strukturelle und moralische Erneuerung” (Ziff. 9) braucht. Oswald von Nell-Breuning urteilt über das Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft des späteren Müller-Armack: “Sein sozialer Gehalt hat 777 778 Vgl. F. Segbers, Rheinischer Kapitalismus oder Neoliberalismus? “... der regulativen Idee der Gerechtigkeit Abschied geben.”, in: Martin Huhn u. Franz Segbers u. Walter Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen, Bochum 1997, 11-16. So F. Hengsbach, B. Emunds, M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 216f. 268 779 sich als reichlich mager herausgestellt.” An der Wirtschafts- und Sozialpolitik der frühen Bundesrepublik kritisiert Oswald von Nell-Breuning, daß tatsächlich noch keine Ausrichtung auf eine bewußte soziale Gestaltung der Wirtschaft erfolgt sei. Deshalb führe die Soziale Marktwirtschaft 780 “den Beinamen „sozial‟ vorerst noch auf Kredit.” Wann aber verdient die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft das Attribut “sozial” zu Recht? Oswald von Nell-Breuning nennt folgendes zentrale Kriterium: “Als „sozial befriedigend‟ können wir eine Wirtschaft erst anerkennen, wenn sie so geordnet ist, daß jeder Mensch Subjekt des Sozialprozesses 781 der Wirtschaft ist und keiner bloßes Objekt.” Sozial befriedigend sei eine Wirtschaft darüber hinaus nur, wenn sie jedem Arbeitswilligen und Arbeitsfähigen Arbeit und Verdienst verschaffe, humane Arbeitsbedingungen existieren, die Wirtschaftspolitik die Wirtschaft bewußt lenke und der Ertrag der Wirtschaft sozial gerecht verteilt werde. Er bedauert später zurückblickend, daß die scharfen Konturen der ursprünglichen Konzeption einer sozial befriedigenden Marktökonomie in der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik dann gänzlich zerflossen seien. Übriggeblieben 782 sei nun nicht mehr als ein “sozial temperierter Kapitalismus” . NellBreuning hat zum großen Verdruß von Müller-Armack die praktizierte 783 Soziale Marktwirtschaft eine “theoretische Begleitmusik” der Wirtschaftspolitik genannt. Nicht grundsätzlich anders urteilt der katholische Sozialethiker Franz Klüber, wenn er sagt, daß die Soziale Marktwirtschaft ihren Namen nur verdiene, wenn sie sich als Antwort auf die soziale Frage verstehe. “Diese umschließt in ihrem Kern auch heute noch trotz aller „Temperierung‟ des Kapitalismus das gleiche Problem wie im Hochkapitalismus: Konzentration des Produktionsvermögens in den Händen weniger, Ausschluß der Lohnarbeiterschaft vom Kapitaleigentum und ihre 784 Degradierung zum Objekt des Produktionsprozesses.” Nicht nur diese Skepsis der Ethiker ist nunmehr dahin, auch die Kriterien für das Soziale einer Sozialen Marktwirtschaft werden nicht mehr formuliert. Früher als die katholische hatte die evangelische Kirche sich die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft bereits in der Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz (1991) offiziell zu eigen gemacht. Im Wirtschafts- und Sozialwort haben sich die Kirchen positiv zur Programmatik 779 780 781 782 783 784 O. von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1990, 233. O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und Katholische Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 88. O. von Nell-Breuning, Die soziale Marktwirtschaft im Urteil der katholischen Soziallehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 101. So Götz Briefs, zit. ohne Angaben bei: O. von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen, 237. Ebd. 236. F. Klüber, Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Bonn 1976, 57. 269 einer Sozialen Marktwirtschaft ausgesprochen. Kirchen hätten zu einem 785 “zustimmend-konstruktiven Verhältnis” zum Ordnungsrahmen und Handlungskonzept der Sozialen Marktwirtschaft gefunden, urteilt Trutz Rendtorff. In einem umgangssprachlichen Sinn könne man durchaus von einem Bekenntnis der Kirche zur Sozialen Marktwirtschaft in der Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz sprechen, resümiert Trutz 786 Rendtorff. Arthur Rich hingegen ist vorsichtiger, wenn er sagt: “Trotzdem weist die praktizierte Soziale Marktwirtschaft (...) strukturelle Defizite 787 auf, so daß man nicht schlechthin bei ihr stehen bleiben kann.” Worin bestehen diese strukturellen Defizite? Eine maßvolle ökonomische Makroplanung sei umstritten, marktmachtverhindernde Vorkehrungen würden kaum greifen und die ökologischen Folgen des Wirtschaftswachstums seien nicht zu rechtfertigen. Die Soziale Marktwirtschaft müsse deshalb weiterentwickelt werden, denn sie “deckt sich zwar nicht einfach mit den Ansprüchen, die sich aus den Kriterien der Humanität an Glauben, Hoffnung, Liebe ergeben, doch gibt es eine Konvergenz zu ihnen. (...) Darum ist sie für uns grundsätzlich rezipierbar. Das gilt freilich nicht ohne Vorbehalt . (...) Sie ist zumindest in der real existierenden Form kein ordnungs788 politisches Optimum.” Arthur Rich kritisiert die Wirtschaftspraxis, die nur mit Abstrichen dem originalen Konzept entspreche. Rich und von Nell-Breuning geben sich mit jenem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft besonders des späteren Müller-Armack nicht zufrieden. NellBreuning meldet sozialethische Bedenken an und sucht deshalb nach Wegen, “einen Schritt über das, was wir heute sozial temperierten Kapi789 talismus nennen, hinaus zu tun.” Auch Siegfried Katterle plädiert für 790 eine Position “jenseits der Sozialen Marktwirtschaft.” Skeptisch ist ebenfalls der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich. Der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armacks wirft er vor, “in entscheidenden Punkten ver785 786 787 788 789 790 T. Rendtorff, Die Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, 33. So T. Rendtorff, Gemeinwohl und Eigennutz - Perspektiven für den Dialog zwischen Kirche und Wirtschaft, in: P. Bocklet u. G. Fels u. H. Löwe (Hg.), Der Gesellschaft verpflichtet. Kirche und Wirtschaft im Dialog, Köln 1994, 164. Günter Brakelmann hält es dagegen für unangemessen, sich zur Sozialen Marktwirtschaft bekennen zu können. Jede pseudoreligiöse Sprache sei hier fehl am Platz. G. Brakelmann, Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, 201. A. Rich, Wirtschaftsethik , Bd. 2, 343. Zur kritischen Auseinandersetzung mit A. Richs Rezeption der Sozialen Marktiwrtschaft vgl. : E. Müller, Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 263f. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 329. O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung. Wer mit Wem? Freiburg 1969, 50 (mit Bezug auf das Ahlener Programm der CDU), 65. S. Katterle, Jenseits der Sozialen Marktwirtschaft. Zurück in die Vergangenheit oder ordnungspolitische Innovation? In: ders., Alternativen zur neoliberalen Wende. Wirtschaftspolitik in der sozialstaatlichen Demokratie, Bochum 1989, 32-42. 270 791 schwommen und ambivalent bis widersprüchlich” zu sein. Auch die Kirchen sprechen im Wirtschafts- und Sozialwort davon, daß die Soziale Marktwirtschaft eine strukturelle und moralische Erneuerung brauche (Ziff 9-13; 142-150). Letztlich - so Ulrich - unterscheide Müller-Armacks Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft von einer neoliberalen Position weniger eine dogmatische denn eine pragmatische Grundhaltung. Diese Nähe zum Neoliberalismus zeige sich an einem ökonomistischen Legitimationszirkel, wenn Müller-Armack behaupte, “dass wirtschaftspolitische Entscheidungen ... in erster Linie Fragen wirtschaftlicher Vernunft 792 sind.” Daß die Zweckdienlichkeit der Marktwirtschaft sich an außerökonomischen, ethischen Kriterien zu legitimieren hat, sieht MüllerArmack zumindest hier nicht, denn er argumentiert ökonomistisch, wenn er davon ausgeht, daß wirtschaftliche Entscheidungen in erster Linie wirtschaftlicher Natur seien. Darin zeigt sich, daß Müller-Armacks Theorie nicht eindeutig ist und auch vor einem Rückfall in neoliberale Positionen keineswegs völlig gefeit ist. 8. 2 “Marktwirtschaft pur”: Vom Mythos, daß der Markt sich selber regelt Ein Alternativkonzept zu einer Sozialen Marktwirtschaft, die kulturell und gesellschaftlich eingebettet ist, bildet das neoliberale Konzept des freien Marktes, das vom Vertrauen eines sich selbst regelnden Marktes getragen wird, der für Effizienz sorgt. Ein von Eingriffen befreiter Markt sorge von sich aus für ein Gleichgewicht. Probleme des Arbeitsmarktes und der Ökologie regulierten sich aus dem freien Spiel der Kräfte selbsttätig. Erst ein freier Markt könne jene Wohlstandsgewinne erzielen, die ökonomisch möglich seien. Politisch motivierte Eingriffe in den Markt, die soziale oder ökologische Korrekturen erzielen wollten, seien ökonomisch kontraproduktiv. Zentrale Instrumente, die eine Dynamisierung des freien Marktes fördern, sind daher in der neoliberalen Theorie Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung. Der Wettbewerb befördere die Effizienz, denn im Wettbewerb setzten sich die effektiver wirtschaftenden Anbieter durch. Ein wesentlicher Teil der freigesetzten Konkurrenz drücke auf die Kosten. Niedrigere Kosten bei Arbeitsentgelt, Umweltschutz oder Infrastruktur setzten sich durch. Der Wettbewerb belohne niedrige Preise und bestrafe die, die im Wettbewerb nicht mithalten könnten. Kostenvorteile und eine daraus resultierende Wettbewerbsstärke seien ein strategischer Vorteil. 791 792 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 356. A. Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern / Stuttgart 1974, 204, zit. nach P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 357. 271 8.2.1 Der Markt als Garant des Gemeinwohls In der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft kommt dem Staat eine zentrale Rolle als Ordnungsinstanz zu. Diese Ordnungsfunktion des Staates wird in der neoliberalen Wirtschaftskonzeption modifiziert. Er ist nicht mehr die Ordnungsinstanz, die die Rahmenordnung erstellt und den Markt reguliert. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft rechnet mit Marktversagen und will deswegen in den Marktprozeß eingreifen. Doch in der neoliberalen Doktrin gibt es kein Marktversagen, sondern umgekehrt nur ein Staats- oder Politikversagen. Ökonomische, soziale oder ökologische Krisen werden systematisch dem Staat zugerechnet, der freie Markt dagegen ist in der Lage, eine Ordnungsfunktion zu erfüllen. Die Zuordnung der Ordnungsfunktion an das System Markt stellt die Frage nach dem ethisch verantwortlichen Handlungssubjekt. Kann man in einem Regelsystem überhaupt von der Kategorie Verantwortung sprechen? Wo der Markt und seine Prozesse selber als Garanten des Gemeinwohls gelten, gibt es keine ethischen Gestaltungsräume, denn ökonomisch richtiges Handeln folgt zwingend den Erfordernissen der Märkte und reagiert auf Wettbewerb und Konkurrenz. Sachzwänge bestimmen 793 das ökonomische Handeln. Sachzwänge gibt es nur dort, wo Naturgesetze herrschen, die zwischen Ursachen und Wirkungen unumstößliche und immer geltende Beziehungen herstellen. Ein derartiges Verständnis von Ökonomie ist naturalistisch, funktional deterministisch und kennt nicht nur keine ethisch relevanten Gestaltungsmöglichkeiten; es geht vielmehr sogar davon aus, daß jeder - auch der ethisch motivierte Eingriff in die Marktprozesse ökonomisch schädlich sei. Das System ersetzt das handelnde Subjekt. Deutlich wird dies in einer zugespitzten Aussage Milton Friedmans, eines der einflußreichsten Schüler Hayeks: “Die wirtschaftenden Personen sind letztlich nichts an794 deres als Marionetten der Gesetze des Marktes.” Der Markt wird von Naturgesetzen bestimmt, nicht vom Menschen als einem handelnden Subjekt. Milton Friedman überträgt die Verantwortung des wirtschaftlich tätigen Menschen auf den Markt. Der Markt hat die Stelle des handelnden Menschen als Verantwortungssubjekt übernommen. Die wirtschaftlich Handelnden sind somit ethisch entlastet als “Marionetten der 793 794 Vgl. dazu: F. Segbers, “... eine gewissermaßen adjektivlose Marktwirtschaft ist ein Irrglaube.” Das Evangelium des Neoliberalismus, in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 21-31. Zit. bei: F. Blohm, Unterm Strich nicht genug. Die Gesetze des Marktes verlieren als ökonomische Leitidee an Faszination, in: Die Zeit Nr. 15 vom 7. April 1989. 272 Gesetze des Marktes”. Man handelt nicht eigenständig, sondern vollzieht die Gesetze des Marktes. Der Markt ist im Gegenzug zu einem agierenden Subjekt avanciert. Für wirtschaftliche Nöte oder soziale Ungerechtigkeiten gibt es von diesem ökonomischen Denkansatz her keine Verursacher. Das handelnde Subjekt wird zum bloßen Vollstrecker dessen, was sich ohnehin vollzieht. Ökonomische Entscheidungen werden zu Sachzwängen stilisiert, die keiner ethischen oder politischen Legitimation bedürfen. Das Wort von den “Marionetten” oder den Sachzwängen entmoralisiert und entläßt aus der Verantwortung. Es gibt keine Täter, jeder ist nur willenloser Exekutor oder Rädchen in einem großen Getriebe, in dem alle Opfer bringen müssen. Alle müssen mitmachen, da es keine Alternativen gibt. Emil Brunner nennt eine solche Ordnung der Wirtschaft 795 “System gewordene Verantwortungslosigkeit.” Peter Ulrich bestätigt diese Diagnose, die aus der Erfahrung der dreißiger Jahre stammt, auch für das Denken des Neoliberalismus: “In der idealen Marktgesellschaft ist daher die Moralität der Personen nicht mehr erforderlich; es reicht hin, wenn sie ihre ökonomische Rationalität in Form des strikt erfolgsorientierten, eigennutzmaximierenden Handelns voll zur Geltung bringen. Das “Marktprinzip” selbst ist die Gewährsinstanz für das ethisch-normativ 796 richtige Handeln!” Sich dem Gang einer gleichsam biologischevolutiven und ökonomischen Auslese anzuvertrauen, allein darin besteht für die Neoliberalen wirtschaftlich verantwortliches Handeln. Stört man die natürliche Ordnung nicht durch Eingriffe, sind Freiheit und Wohlstandsgewinn Lohn für die Unterwerfung unter die Regeln von Markt und Wettbewerb. Friedrich August von Hayek illustriert die ethische Entsorgung des ökonomischen Subjekts mit einer Verantwortung für den Ausbruch eines Vulkans. So wenig man einen Vulkan für seine Zerstörung verantwortlich machen könne, so auch nicht den Markt. Ob Arbeitslosigkeit, Hunger, Obdachlosigkeit oder ein Vulkanausbruch - es existiert “kein Subjekt, von 797 dem eine solche Ungerechtigkeit begangen werden kann” . Für von Hayek ist es folgerichtig auch ein Kategoriefehler, vom Markt die Erfüllung moralischer Forderungen zu erwarten, weil die Marktwirtschaft ein autonomes, sich selbst steuerndes System darstellt. Markt und Wettbewerb dienen dabei ausschließlich der Lenkung der Wirtschaft, nicht aber der Erfüllung von Gerechtigkeitsnormen. Gerechtigkeit wird als eine Leerformel verstanden, die verzichtbar ist. Deshalb sagt von Hayek lapidar: “Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit‟ gehört nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck „ein morali795 796 797 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen (1932), 408. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 115. F.A. von Hayek, Illusion der Gerechtigkeit, Landsberg am Lech 1981, 111. 273 798 scher Stein‟.” Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek wendet sich gegen jeden Versuch, Marktwirtschaft mit dem Adjektiv “sozial” zu verbinden. Jede Anwendung des ethischen Maßstabs der Gerechtigkeit auf eine marktwirtschaftliche Ordnung lehnt er ab. Er warnt sogar vor den “zerstörerischen Folgen, die die Propagierung der sogenannten so799 zialen Gerechtigkeit für unser Moralgefühl mit sich gebracht hat.” Statt dessen gilt eine andere ethische Perspektive: “Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig.” Wenn Friedrich August von Hayek Gerechtigkeit einer Schmähkritik unterzieht und als ethisches Kriterium verwirft, dann steht dahinter die Überzeugung, daß der Markt quasi automatisch “Gerechtigkeit” schafft. Gerechtigkeit als ethische Orientierung wirtschaftlichen Handelns wird abgelehnt. Über Gerechtigkeit läßt sich nicht mehr sagen als das, was der Markt nun einmal hervorbringt. Der wirtschaftlich handelnde Mensch als verantwortliches Subjekt hat in einem solchen Ökonomiekonzept längst abgedankt. Die Rede vom Sachzwang ist die neoliberale Version der ehedem im Osten beheimateten kommunistischen Parteidisziplin. Stefan Baron belegt diese Parallelität, wenn er sagt: “Die Globalisierung in ihrem Lauf hält, anders als den Sozialismus, niemand und nichts 800 auf.” Sozialethisch bedeutet dies, daß implizit in einem solch rigiden System ein Vorrang des Marktes vor dem Menschen besteht - im Umkehrschluß eine Unterordnung des Menschen unter den Markt. Die Rede von der Selbsttätigkeit des Marktes will die Marktökonomie als eine alternativlose Ökonomie, die naturgemäß sei, begründen. Sie folge lediglich unumstößlichen Sachnotwendigkeiten. Sachzwänge verstanden wie Naturgesetze des Marktes können nicht außer Kraft gesetzt werden. Auch Aristoteles legt Wert auf eine Ökonomie, die natürlich oder im Einklang mit der Natur sei. “Natürlich” nennt Aristoteles das, was für 801 eine Gesellschaft “nötig und nützlich” sei. “Und es scheint sich der 802 wahre Reichtum aus diesen Dingen zusammenzusetzen.” Der Neoliberalismus dagegen versteht die Naturgemäßheit der Ökonomie nicht aus ihrer Funktion heraus, die Menschen mit Gütern des Bedarfs zu versorgen, sondern nennt Ökonomie natürlich, da sie Naturgesetzmäßigkeiten unterworfen sei. Da ist die Rede von einem “natürlichen Arbeitslohn” (Johann Heinrich von Thünen), einem “natürlichen Zins” (Knut Wicksell), 798 799 800 801 802 F.A. von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ordnung, Bd. 2, Landsberg am Lech 1980, 112. F.A. von Hayek, Interview, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 11 vom 6.3.1981, 38. St. Baron, Traurige Gestalten, in: Wirtschaftswoche Nr. 50 vom 3.12.1998, 3. Aristoteles, Politik, A 8 p 1256 b 29. Aristoteles, Politik, A 8 p 1256 b 30. 274 803 einer “natürlichen Arbeitslosenrate” (Milton Friedman). Was aber meint die Bezeichnung “natürlich”? Der Neoliberalismus nennt eine Ökonomie dann natürlich, wenn die Gesetze des Marktes zur Geltung kommen. Was Aristoteles als “naturgemäß” bezeichnet, ist deshalb geradezu das Gegenteil von dem, was neoliberale Ökonomen “natürlich” nennen. Soweit die Gesetze des Marktes nur befolgt werden, ist das, was der Markt dann hervorbringt, rational, optimal und “gerecht”. Jedes inhaltliche Kriterium wird ausgeschlossen. Ob ein Lohn so niedrig ist, daß man lediglich ein menschenunwürdiges Leben damit fristen kann, hat mit der Frage, ob ein Lohn gerecht ist oder nicht, gar nichts zu tun. Hayek betont dies ausdrücklich: “Selbstverständlich ist die Gerechtigkeit nicht die Frage des Objekts einer Handlung, sondern ihres Gehorsams gegenüber den Re804 geln, denen sie unterworfen ist.” Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat überzeugend dargestellt, wie sich seit dem 17. Jahrhundert nicht gleichsam naturwüchsig, sondern vielmehr durch planmäßiges Vorgehen des Staates eine freie Marktökonomie entwickelte, die von den Neoliberalen aber wie eine natürlich805 biologische Evolution gedeutet wird. Der politisch zweckbewußt durchgesetzte Entstehungsprozeß des modernen Marktes wie auch die Vorgänge auf dem Markt werden auf die naturgeschichtliche Stufe nicht willentlich gestaltbarer, weil natürlicher Ereignisse gestellt. Der Wettbewerb am Markt ist dann nichts weiter als der gesellschaftliche Ausdruck naturwissenschaftlicher Abläufe. Eine Ökonomie mit solchem Selbstverständnis immunisiert sich gegen jede kritische Infragestellung und macht sich unveränderbar, politisch nicht gestaltbar und erlaubt bereits denkerisch keine Alternativen. Die real existierende freie Marktwirtschaft wird als die einzig denkbare Möglichkeit immunisiert. Wo Alternativen aber nicht zugelassen werden, bildet sich ein wirtschaftlicher Fundamentalismus, der keine strategischen Unsicherheiten kennt und sich vom Ansatz her als nichtreformierbar versteht. Die aristotelische Trias von Ökonomie, Politik und Ethik ist aufgelöst. Mit Rekurs auf Adam Smith wird von dem Chefökonomen der Deutschen Bank, Norbert Walter, die “Eigenliebe, also letztlich ein natürlicher 803 804 805 Belege bei: P. Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, 189. Ähnlich der HarvardÖkonom Jeffrey Sachs: “Die Gesetze der Schwerkraft gelten in der Wirtschaft genauso wie in der Physik.” (Zit. in: Die Zeit Nr. 45 vom 31.10.1997, 26) F.A. von Hayek, El ideal democrático y la contención del poder. Estudios Públicos 1 (1980) 56, zit. in: F. J. Hinkelammert, Diskursethik und Verantwortung: eine kritische Stellungnahme, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, 136. K. Polanyi, The Great Transformation, 99f. 275 806 Affekt” , als Triebfeder oder Motiv des individuellen und auch des ökonomischen Handelns gedeutet. Durch soziale und politische Interventionen in den Marktprozeß würden Freiheiten eingeschränkt und Wohlstand gemindert, da “aufgrund der Abweichungen von einer natürlichen Ordnung, das heißt einer solchen, die dem Wesen des Menschen gerecht wird, die allgemein akzeptierten Ziele jeder Gesellschaft (...) nur in gerin807 gerem Maße erreichbar sind” . Mit anderen Worten: “Die Behinderung der Marktkräfte steht im Widerspruch zur Natur unserer Welt und ihren 808 evolutiven Wesenszügen” . Adam Smith hatte sich in seiner Theorie der ethischen Gefühle (1759), die siebzehn Jahre vor dem Standardwerk Reichtum der Nationen (1776) erschien, kritisch mit anthropologischen Aussagen auseinandergesetzt, die Eigenliebe als zentrale Triebkraft menschlichen Handelns verstanden. Zu Beginn seiner Ausführungen in der Theorie der ethischen Gefühle setzt er sich mit eben jener Denkhaltung auseinander: “Wie selbstsüchtig auch immer der Mensch eingeschätzt werden mag, so liegen doch offensichtlich Grundveranlassungen in seiner Natur, die ihn am Schicksal anderer Anteil nehmen und ihm die Anteilnahme an deren Glück notwendig werden lassen, obwohl er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu 809 sein.” Die Sozialphilosophie des Adam Smith wäre also mißverstanden, wenn man ihm - wie neoliberale Theoretiker es tun - unterstellte, er sähe den einzigen Beweggrund des Handelns in der Eigenliebe. Den Menschen so zu sehen, wie er ist, bedeutet für Adam Smith, ihn als Doppelnatur anzunehmen, das zu altruistischem Verhalten fähig ist und ein egoistisches Wesen sein kann. Adam Smith kennt sehr wohl Sympathie und Anteilnahme als eine in der menschlichen Natur begründete Haltung. “Was immer jedoch die Ursache der Sympathie sein und auf welche Weise sie auch erregt werden mag, so bereitet uns nichts mehr Wohlgefallen, als bei anderen Menschen Mitgefühl mit allen unseren eigenen Gemütsbewegungen zu sehen; und durch nichts werden wir so er810 schreckt, als wenn das Gegenteil der Fall ist.” Smith setzt sich explizit mit Bernard Mandeville (1670-1733) auseinander, der sich in seiner be811 rühmten Bienenfabel ausdrücklich gegen die Sozialität der Menschen ausgesprochen hatte. Von Natur aus sei der Mensch selbstsüchtig und 806 807 808 809 810 811 N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, in: R. Baader (Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing 1995, 79. Ebd. 82. Ebd. 81. A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, bearbeitet nach der letzten Ausgabe von H. G. Schachtschnabel, Frankfurt 1949, 25. Ebd. 31. B. Mandeville, Die Bienenfabel. Mit einer Einleitung von W. Euchner, Frankfurt 1980. 276 werde nur durch die Gesetze daran gehindert, diese Selbstliebe auf Kosten der Gesellschaft auszuleben. Ohne Gesetz, so Mandeville, “gibt es kein Geschöpf auf Erden, das ungeeigneter für die Gesellschaft wäre als 812 der Mensch” . Der Mensch kenne keine Veranlassung zu altruistischen Handlungen. Der Selbsterhaltungstrieb und die unmittelbar damit verbundene Eigenliebe sei der mächtigste Grundtrieb des Menschen. Adam Smith kritisiert diese Anschauung und besteht auf der in der Aufklärung gewonnenen - aber von den neoliberalen Theoretikern nicht rezipierten Unterscheidung zwischen Selbstliebe (amour de soi-meme) und Eigenliebe (amour propre). Bei Jean Jacques Rousseau heißt es: “Man darf die Eigenliebe und die Selbstliebe nicht durcheinanderbringen - zwei Eigenschaften, die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr verschieden sind. Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu ver813 anlaßt, über den natürlichen Selbsterhaltungstrieb zu wachen.” Sie ist also identisch mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb. Die Eigenliebe jedoch setzt gesellschaftliche Beziehungen voraus, angesichts derer sich die Bedürfnisse nicht nur am eigenen Ich orientieren, sondern auch die Bedürfnisse des Anderen berücksichtigen. Der Morallehrer und Ökonom Adam Smith wird verkürzt, wenn seine sozialphilosophischen und sozialethischen Äußerungen zur Selbstbegrenzung des Eigennutzes nicht rezipiert werden. Horst Claus Recktenwald, Herausgeber des Werkes Wohlstand der Nationen, spricht deshalb von einem “geläuterten, einem aufgeklärten und einem sozialen und rechtlichen Regeln unterworfenen 814 Egoismus” . Der Eigennutz wird durch Mitgefühl und Sympathie in Schranken gehalten, wobei jedoch die Konkurrenz nur ein Motiv unter anderen sei. Recktenwald betont: “Ohne diesen Sinn für Gerechtigkeit ist 815 keine Gemeinschaft lebensfähig.” Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz rezipiert diesen aufgeklärten Begriff von Eigennutz, wenn sie fordert, “Eigennutz in eine Ordnung der Gegenseitigkeit einzubinden” (Ziff. 139). Die Unterscheidung zwischen Selbstliebe und Eigenliebe will einen naturalistischen Kehrschluß verhindern, der nicht zwischen Geschichte und Natur zu unterscheiden weiß. Diese seit der Aufklärung und auch bei Adam Smith vollzogene Unterscheidung ist dem Neoliberalismus fremd. Zu Unrecht 816 bezieht er sich auf Adam Smith. Neoliberale Theoretiker sind viel nä812 813 814 815 816 Ebd. 378. J. J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, 2. Aufl. Paderborn-München-Zürich 1990, Anm. XV, 369, zit. in: M. Ramminger, Die neoliberale Umwertung der Werte, in: Orientierung 61 (1997) 201-205. - Diesem Aufsatz verdanke ich Anregungen zur anthropologischen Kritik des Neoliberalismus. H. C. Recktenwald, Würdigung des Werkes, in: A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, XLI. Ebd. XLI. So auch: E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive, 220f. 277 her bei Mandeville, von dem sich bereits Smith kritisch absetzte, und wollen diesen Erkenntnisfortschritt bei Adam Smith rückgängig machen. Sie knüpfen sozialphilosphisch wieder bei Bernard Mandeville und der frühen englischen Aufklärungsphilosophie von Thomas Hobbes, John Locke oder Francis Bacon u.a. an, die mit dem traditionellen Aristotelismus und Thomismus gebrochen hatten. Sozialphilosophisch gehen neoliberale Denker von anthropologischen Voraussetzungen aus. Das gesellschaftliche Leben kann nicht einzig auf Konkurrenz als einer angeblich der Natur des Menschen entsprechenden Grundstruktur aufgebaut werden. Christliche Sozialethik begreift den Menschen als ein Wesen aus Personalität und Sozialität, das deshalb auch nicht den Anderen nur als Bedrohung des eigenen Ichs wahrnimmt. Eine allein auf Siegen hin angelegte Konkurrenz des Menschen ist keine anthropologische Konstante, wie neoliberales Denken über die Natur des Menschen unterstellt. Neoliberales Denken gründet auf einer vermeintlich naturwüchsigen Anthropologie, die jedoch bereits Adam Smith wegen ihres reduktionistischen Menschenbildes abgelehnt hatte. Der Neoliberalismus legitimiert somit seinen Anspruch nicht allein ökonomisch, sondern auch anthropologisch und sozialphilosophisch, und - wie im folgenden aufgezeigt werden soll - auch theologisch. 8.2.2 Metaphysik des Marktes 8.2.2.1 KULT-Marketing Seit einigen Jahren mehren sich Argumentationen zur Begründung neoliberaler Konzepte, die sprachlich Anleihen bei Begriffen nehmen, die der Religion und Theologie entlehnt sind. So haben Norbert Bolz, Professor für Kommunikationstheorie an der Universität Essen, und David Bosshart, Trendforscher am renommierten Schweizer Duttweiler-Institut für Management, ein Buch mit dem Titel KULT-Marketing. Die neuen 817 Götter des Marktes vorgelegt. Selten zuvor ist die Symbolwelt der Reli- 817 2. Aufl. Düsseldorf , 1996. Daß binnen Jahresfrist eine zweite Auflage erschien, beweist die Aktualität dieses Marketing-Konzeptes. - Die Ziffern in den Klammern beziehen sich auf die Seitenzahl. - Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Marketingkonzept, das sich religiöser Symbole bedient, in: F. Segbers, Kult der Ware. Die Religion des Marktes unter theologischer Kritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214; sowie: ders., Eine Ewigkeit für ein Parfüm. Die Götter des Himmels tauchen als Idole des Marktes wieder auf, in: Junge Kirche (58) 1997, 200 - 208; ders., Der Götze Markt und die Religion der Ware, in: Reformierte Kirchenzeitung 138(1997)115 - 221. Vgl. dazu nähere Ausführungen in: ders., Gott gegen Gott. Zur Religion des Alltags im Kapitalismus (im Erscheinen); eine kritische Auseinandersetzung 278 gion für die Zwecke des Vermarktens in einer solchen Offenheit und Klarheit propagiert worden. Wie lassen sich Produkte auf übersättigten Märkten absetzen? Eine Antwort auf diese Grundfrage wollen die Autoren mit der Strategie des “KULT-Marketing” geben. Norbert Bolz und David Bosshart entwickeln darin eine Konzeption, dank derer banale Produkte auf gesättigten Konsumgütermärkten in etwas heiß “Begehrtes” verzaubert werden können, wenn die Werbung sich an die vakant gewordene Funktionsstelle der Religion plaziert. Ihre zentrale These lautet: “Die postmoderne Werbung übernimmt die Funktion der Religion. Sie entfaltet die Spiritualität des Konsums.” (206, auch: 355) Versprochen wird, die spirituelle Sehnsucht mit Waren befriedigen und gerade dadurch religiöse Bedürfnisse erfüllen zu können. “Die Schöpfergötter der kapitalistischen Konsummärkte produzieren endlos und bringen ihre neuesten Kreationen auf die Umlaufbahn der Sehnsüchte von Konsumentenseelen. (...) Der Kapitalismus im Stadium gesättigter Märkte hat die Kraft, Waren ins Zentrum des menschlichen Begehrens zu stellen. Er verbürgt die integrale Übernahme der religiösen Funktionen.” (22f.) Deshalb folgern die Marketing-Fachleute: “Der Kapitalismus selbst ist zur stärksten aller Religionen geworden. Die Waren selbst werden zur stärksten aller Religionen.” (248) “Gerade in unserer so coolen Zeit ist der Götterbedarf enorm groß,” (76) diagnostizieren Bolz und Bosshart die religiöse Gegenwartslage. “ Deshalb haben auch gottlose Zeiten wie die unsere eine Religion - man darf sie nur nicht in den offiziellen Kirchen suchen. Nicht die Kirchen, sondern die Konsumtempel sind heute der Ort moderner Religiosität.” (217f.) Theologie und Kirche sollten Bolz und Bosshart für die Deutlichkeit ihres Konzeptes des KULT-Marketing dankbar sein. Sie sprechen aus, was bislang nur von einer interpretierenden theologischen Kritik gesagt wurde. Marx spricht in seinem Hauptwerk Das Kapital von einem Doppelcha818 rakter der Ware. Sie hat einen Gebrauchs- und einen Tauschwert. Die Waren sind nicht einfach nur Güter für den Konsum, sie verkörpern Sehnsüchte. Das sei “eine grandiose Einsicht” (199) von Marx, attestieren die Werbestrategen. Aus der marxschen Fetischismuskritik des Kapitalismus ziehen die Werbeleute die Folgerung: “Das Geheimnis der Ware und das Geheimnis der Religion sind dasselbe.” (199) Deshalb fordern sie eine “Entübelung des Warenfetischismus” (210). Es ist geradezu eine Ironie, daß der zentrale Begriff der Kapitalismuskritik bei Karl Marx ausgerechnet von Werbestrategen dazu genutzt wird, einem in die Sackgasse überfüllter Märkte geratenen Kapitalismus einen Ausweg zu zeigen. 818 mit meinen Thesen: O. Meyer, Die reale Volkskirche des Marktes, in: Junge Kirche 58 (1997) 684-690 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 49ff. 279 Den Religions- und Kapitalismuskritiker Karl Marx machen die Marketingfachleute zum Gewährsmann einer Absatzsteigerung der Waren mittels Religion. Sie teilen zwar die Analyse von Marx; doch sie haben ein anderes Interesse. Marx will den Menschen vom Fetischkult, vom Kult der Ware befreien. Die Fetischismuskritik ist deshalb emanzipatorisch. Bolz und Bosshart jedoch wollen genau das Gegenteil: eine “ästhetische Wiederverzauberung” (11) und einen “Kult der Ware” (223). Wie können die Kunden angesichts der verwirrenden Vielzahl der Produkte sich orientieren und den Marken treu bleiben? Komplexe Sachverhalte zu reduzieren, ist nach Niklas Luhmann eine wichtige Funktion von Religion. Religion kann eine Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Welt vermitteln. Unübersichtlich ist auch der Warenmarkt. Denn Nike ist nicht Reebok und nicht Adidas und nicht Puma. Nicht Turnschuhe sollen gekauft werden. “Der Kunde soll nicht einfach nur kaufen und verbrauchen, sondern eine rituelle Handlung vollziehen.” (207) Die Auswahl ist dann keine Frage der Ergonomie, sondern wird zur Glaubensfrage. Der Turnschuh-Kauf wird zum Bekenntnis: Neben Adidas sollst du keine anderen Turnschuhe haben, so spricht der Herr, dein Gott - lautet das Credo des KULT-Marketings. Turnschuhe sind ein banales Produkt, nützlich für den Sport. Sie werden nun zum Erkennungsmerkmal einer Glaubensgemeinschaft. Ein Markenfetischismus greift um sich: der Vierzehnjährige trägt nur noch Nike-Turnschuhe und nichts Billigeres; die Dreizehnjährige will das T-Shirt von Diesel und kein anderes. Nach Bolz und Bosshart zeigt sich hier Religion: “Nun tauchen die Götter, die aus dem Himmel der Religionen verschwunden sind, als Idole des Marktes wieder auf.” (12) Der Verbraucher alten Zuschnitts suchte nach Gütern, weil er sie brauchte. Jetzt verführen die Marken den Käufer zu Waren, die er nicht braucht. Da die Märkte längst übersättigt seien, müsse zum Kaufen verführt werden. Die Grundthese der Werbeleute lautet daher:“In gesättigten Märkten ist Marketing nicht primär damit beschäftigt, (kalkulierbare) Bedürfnisse zu befriedigen, sondern ein endloses Begehren zu ködern.” (245) Die Sehnsucht nach Spiritualität soll in einer Sehnsucht nach Waren aufgehen. Bolz und Bosshart wissen, daß Wohlstand und Armut in einer Überflußgesellschaft nahe beieinander liegen. Deshalb plädieren sie für einen Konsum ohne schlechtes Gewissen im Angesicht der Armut. Erst Güter, die zu Kultmarken oder Kultprodukten hochstilisiert sind, können den Konsum entschulden. “Der Konsum kann eine transzendente Erfahrung transportieren, das heißt, das Konsumentenverhalten trägt gewisse Aspekte des Heiligen zur Schau. So entfaltet sich der Konsumismus als Religionssystem.” (207) Kaufen allein genügt nicht. Erst wenn es gelinge, “den Akt des Einkaufens als eine Form des Gebets zu stilisieren” (206f.), 280 verliere der Konsum sein schlechtes Gewissen. Bolz und Bosshart wissen, daß ihr Kult der Ware Millionen Opfer hervorbringt. “Was unser Gewissen quält ist ja nicht nur das Wissen vom Elend der Welt, sondern das Bewußtsein, daß unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends ist. ... Werbung verführt nicht nur zum Genuß, sondern erspart auch die Reue.” (207) Der Götze vergibt selber die Sünden, zu denen er verführt. KULTMarketing narkotisiert das Bewußtsein und fördert eine unbekümmerte Kultur des Hedonismus mit dem Rücken zu den Opfern. Während Max Weber in seiner berühmten These über Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von einer Einbettung des Kapitalismus in der religiös bestimmten Lebenshaltung des Calvinismus sprach, befürchtete Walter Benjamin, daß der Kapitalismus selber zur Religion werde. Walter Benjamin war 1921 einer der ersten, der im Totalanspruch des freien Kapitalismus eine Funktion ausmachte, die traditionellerweise der Religion zugeschriebenen war: “Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so 819 genannten Religionen Antwort gaben.” Diese Sorge Benjamins verstehen nun aber Bolz und Bosshart geradezu als Ermutigung, einen Kapitalismus zu begründen, der eben jene Funktionen der Religion erfüllen will. “Marketing bearbeitet die “religiösen” Fragen und schafft Weltvertrauen.” (226) Überleben könne der Kapitalismus gesättigter Märkte nur, wenn er sich eben als Religion darstelle und einen Kult der Ware inszeniere. Benjamin frei zitierend fordern sie deshalb: “Der Kult der kapitalistischen Religion dauert permanent an; jeder Tag ist ein Festtag des Warenfetischismus. ... Der Kult der kapitalistischen Religion ist natürlich ein Kult der Ware. Das heißt konkret, daß der Tauschwert zum Gegenstand religiöser Verklärung und zum Medium eines religiösen Rausches wird.” (223f.) Menschen werden hier beschrieben als Konsumenten, die nur diejenigen Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen, die sich in Warenform präsentieren lassen. Glück wird zur käuflichen Ware. Bedürfnisse werden ökonomisiert. Der Streit um den Umgang mit der gesellschaftlichen Zeit kann die herrschende Religiosität illustrieren. Mehr Wachstum, mehr Umsatz, größere Kundennähe sind die sachlichen Argumente. Diese ökonomischen Gründe jedoch, die vorgetragen werden, verdecken den religiösen Kern: Kein Sonntag, keine Zeit, die für Produktion und Konsum zur Verfügung stehen könnte, darf ungenutzt bleiben. Die Ladenöffnungszeiten müssen verlängert, Sonntage abgeschafft, der Buß- und Bettag geopfert werden. Denn diese Zeiten des Konsums sind heilige 819 W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100. 281 Zeiten; sie sind Zeiten, in denen der Götze in einem Kult der Waren verehrt sein will. Das Weihnachtsfest kann auf dem Hintergrund dieser Marketingstrategie als ein zutiefst synkretistisches Fest betrachtet werden. Die Religion der Ware hat sich mit der Religion des Christentums verschmolzen. Das Römische Imperium liefert ein anschauliches Beispiel für den in der Moderne praktizierten Religionspluralismus: Die verschiedenen Kulte durften nebeneinander praktiziert werden und wurden auch ins Pantheon aufgenommen, jedoch lediglich solange wie sie den zentralen Kaiserkult nicht in Frage stellten. Heute gilt derselbe religiöse Pluralismus und dieselbe postmoderne Toleranz, wenn denn nur die zentrale und faktisch verehrte Religion der Ware nicht angerührt wird. Die beiden Autoren Bolz und Bosshart treten ausdrücklich für eine Wiederbelebung des Fetischismuskultes ein. Wir haben es hier mit dem Phänomen einer interessengeleiteten Inszenierung von Religion zu tun, die sich nicht einmal als Religion zu erkennen gibt, aber alle Funktionsmerkmale der Religion erfüllt. “Gott” in einem Kult der Ware zu verehren, ist ein Vorhaben, das ernsthafter als je zuvor in der Geistesgeschichte Europas zur Debatte stellt, was mit Religion, ja mit dem Namen Gott gemeint ist. Das KULT-Marketing verführt zu einer Religion, die eine ganz andere Religion ist als jene, die in den Kirchen ihren Ort hat. “Das vagabundierende, nie stillbare Begehren nach immer neuen Göttern bedeutet die Rückkehr des heidnischen Polytheismus. Der Tick mit den Labels, das ganze „Name-Game‟ der Kids, von Nike über Fucts bis Levi‟s, gibt ein gutes Beispiel ab. Vielgötterei ersetzt den monotheistischen Mythos des einen Erlösergottes.” (23) Hier zeigt sich eine kapitalistische Religion, die bereits Karl Marx als Kern des Kapitalismus identifiziert hat. Der wichtigste Begriff der marxschen Kapitalismuskritik ist eine theologische Metapher: der Fetischismus. In seinem Hauptwerk Das Kapital nennt Marx die Ware “ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitz820 findigkeiten und theologischer Mucken.” Er kritisiert jene mythen- und religionsproduktive Funktion des Kapitalismus und bedient sich dabei mit der Kategorie “Fetischismus” ausdrücklich eines religionswissenschaftlichen Begriffes zur Kritik eines Kapitalismus, dem alle Lebensäußerungen der Gesellschaft untergeordnet werden. Seine Kapitalismuskritik ist deshalb im Kern auch eine Religionskritik. Er sieht im Kapitalismus eine 821 “Religion des Alltagslebens” . Norbert Bolz rezipiert ausdrücklich Karl Marx, wenn er forsch konstatiert: “Die Marktreligion hat den Eingott gestrichen. Das ist aber kein Verlust, sondern ein Gewinn an religiöser Flexibilität. Man könnte sagen, der eine und einzige Gott ist eliminiert wor820 821 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 85. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 838. 282 den, um die religiösen Gefühle leichter handhaben zu können. Um einen berühmten Satz abzuwandeln: Die postmodernen Waren sind das Opium fürs Volk. Wir Konsumenten sind umfangen von einem Polytheismus der Marken und Trends; das sind die neuen Götter des Marktes. (...) So verwandelt sich der Konsumismus in ein Religionssystem. (...) Wir können von primitiven Religionsgemeinschaften lernen, wie triviale Güter mit spi822 rituellem Mehrwert aufgeladen werden.” Seit den Tagen der biblischen Propheten gibt es im Namen des biblischen Gottes einen jahrtausendelangen Kampf gegen eine polytheistische Welt. Im Stadium gesättigter Märkte soll erneut ein Fetisch “Ware” verehrt und dem Volk zum Opium verabreicht werden. KULT-Marketing ist gegen die mythenkritische Tradition der Bibel, gegen den jüdischchristlichen Monotheismus und die Aufklärung gerichtet. Es will deren Freiheitsimpuls durch die Inszenierung eines neuen Polytheismus überwinden und letztlich beseitigen. Bolz will “religiöse Gefühle handhaben” können. KULT-Marketing entpuppt sich demnach als eine gezielte Manipulation des Menschen. Die biblische Grundfrage, die mit der Götzenkritik formuliert wird, stellt sich ausdrücklich: Götze als Synonym für Unfreiheit und Gott als Synonym für Freiheit. Dem Kapitalismus der gesättigten Märkte empfehlen Bolz und Bosshart im Interesse der Mystifizierung den Weg von der Ökonomie zur Religion, um die wahren ökonomischen Absichten zu verschleiern. Marx geht ebenfalls einen Weg von der Ökonomie zur Religion, doch im Interesse der Aufklärung über eine mystifizierende Ökonomie. Das Ausklärungsprojekt der Moderne wird abgebrochen. Im Interesse der Freiheit des Menschen kritisierte Marx die “Religion des Alltagslebens”; Bolz und Bosshart dagegen wollen diese “Religion des Alltagslebens” im Interesse des Warenabsatzes fördern. Der in Legitimationszwänge geratene Kapitalismus ist erneut in einen Zustand geraten, in dem er eine religiöse Hülle braucht. Eine Theologie in der mythenkritischen Tradition der Bibel sollte dem Marxschen Hinweis Beachtung schenken, wenn Marketing sich daran macht, eine Wiederverzauberung der Welt durch einen “Kult der Ware” zu inszenieren. In dem Buch KULT-Marketing. Die neuen Götter des Marktes wird nicht von außen in einer gleichsam delegitimatorischen Absicht das Götzenkriterium eingeführt, sondern aus dem ökonomischen Denksystem selber wird ein Kult der Ware im Rahmen einer Religion des Marktes inszeniert. Religion wird zur Legitimation herangezogen. Bemerkenswert ist, daß die beiden Marketingfachleute Bolz und Bosshart sich der Sprache und Begrifflichkeit von Theologie wie auch des funktionalen Religi822 Norbert Bolz, Die magische Welt von Nike Town. Über die Wiederkehr der Rituale und die Marktreligion, in: Geborgenheit im Chaos, Publik-Forum - extra, o.O. 1997, 8. 283 onsbegriffs von Niklas Luhmann im Rahmen einer Marketingstrategie bedienen. Wenn aber schon die Promotoren des Marktes in theologischen Begriffen von den “Göttern des Marktes” (248) reden, dann reichen für eine Auseinandersetzung sozialethische Kategorien allein nicht aus. Eine Auseinandersetzung mit diesen Thesen muß deshalb gerade auch von der Theologie begrifflich auf dem gleichen Feld, nämlich dem der Religion und Theologie, geführt werden. Wer sonst, wenn nicht gerade die Theologie hat die fachliche Kompetenz, dort mitzureden, wo von Gott und den Göttern die Rede ist? Das Buch will nach eigener Einschätzung ein “Sachbuch” (12) sein. Es liest sich in der Tat auch wie ein theologisches Sachbuch über die Religion des Kapitalismus. Es beerbt theologische Fachbegriffe und spricht von “Gott” und “Göttern”, von “Spiritualität” (206), “Devotion” (207), “Rechtfertigung” (155), “Bekenntnis” (253), “Kult” (356), “Heiligkeit” (17ff., 266), von “Theodizee” (154). Diese Sprache und Begrifflichkeit sind eine Herausforderung, die sich nicht allein auf die Ökonomie beschränkt, sondern die Theologie direkt betrifft. Mit der Konzeption und Begrifflichkeit des KULT-Marketings liegt erstmals eine affirmative Bezugnahme auf Religion und Theologie innerhalb der Ökonomie vor, die gerade von einer theologischen Wirtschaftsethik nicht ignoriert werden sollte. Zur Aufgabe der Theologie wird es deshalb, mitten in der Komplexität heutiger Ökonomie über jene Wirklichkeit nachzudenken, die neoliberale Theoretiker selber mit theologischen Begriffen bezeichnen. Werden mit dem Gebrauch der Begriffe auch deren Inhalte verändert? Welche Bedeutung kommt dem Phänomen zu, daß religiöse und theologische Begriffe für den Umgang mit ökonomischen Sachverhalten verwendet werden? Mitten in einer sich so säkular und aufgeklärt gerierenden Gesellschaft feiert ein religiöser Fetischismus seine Wiedergeburt. Es zeigt sich, daß die Unterschätzung der Religion in der Moderne ein folgenschwerer Trugschluß war, denn sie verstellte den Blick auf die tatsächliche Anwesenheit von Religion. Religion ist im Prozeß der Aufklärung nicht einfach verschwunden, sondern hat sich andere Ausdrucksformen gesucht. Deshalb lautet das Gegensatzpaar auch in der sich so säkular gebenden Moderne nicht Gottesglaube versus Atheismus, sondern Gottesglaube versus Götzenglaube. Nicht der Atheismus ist deshalb das Problem, mit dem sich die Kirche auseinandersetzen muß, sondern eine götzendienerische Religiosität, die sich als Teil der modernen kapitalistischen Welt entwickelt hat. Der herrschenden Religiosität ihre Säkularität nicht zu glauben, wird zu einer theologischen Aufgabe. Die Moderne und mit ihr die Theologie ist Opfer einer gewaltigen Täuschung, wenn sie meint, den Götzendienst zu einer Sache zu machen, die der Vergangenheit zuzuordnen sei und mit exotischen Kulten unterentwickelter Völker zu tun ha- 284 be. Nur weil die Götter der Moderne nicht die Gestalt von Baal oder Astarte haben, ist die Frage nach Gott und den Göttern noch nicht erledigt. Die Moderne hat den Götzenkult irrigerweise als überwunden geglaubt und den Theologen schien die biblische Götterkritik ohne wirkliche Bedeutung für die Gegenwart zu sein. Die durch die Aufklärung verdrängten Götzen tauchen nunmehr wieder auf. Weil der Kapitalismus sich selber als Religion geriert, ist Theologie auf der Höhe der Zeit, wenn sie die biblische Tradition der Götzenkritik erinnert. Die Fassade der Säkularität verbirgt eine religiöse Grundstruktur. Nicht nur materielle Güter, auch Götzen produziert der Kapitalismus, wie er hier gepriesen wird. Diese Götzenreligion ist eine Form der Machterweiterung. Eine Gesellschaft, die sich der Religion hingibt, ist dann nicht nur ökonomisch, sondern auch spirituell beherrscht. Deshalb ist die kultische Verehrung der Ware im Kapitalismus gesättigter Märkte nicht nur eine theologische Verirrung oder eine Pervertierung des Bewußtseins, sondern eine Form der Machterweiterung. Diese Macht ist höchst real, auch wenn der Kult der Ware falsch ist. Das Marketingkonzept, das einen Kult der Ware inszenieren will, muß deshalb theologisch kritisiert werden. Denn die Moderne ist keineswegs gottlos, sie dient Götzen. Diese Aussage ist analytisch und theologisch zugleich. Bolz und Bosshart stehen mit ihrem Projekt der religiösen Aufladung von Marktprozessen nicht isoliert. Auffallend häufig spricht Friedrich August von Hayek von “Demut” und “Wunder”, wenn es um die Haltung gegenüber den Marktprozessen geht. Die dem Menschen entsprechende Haltung gegenüber den Marktgesetzen nennt Hayek eine “Demut ge823 genüber den Vorgängen” des Marktes. “Demut vor den unpersönlichen 824 und anonymen sozialen Prozessen” soll der Mensch nach Hayek üben. Ausdrücklich nimmt Hayek die religiöse Haltung des Vertrauens zum Vorbild für die Einstellung zu den Prozessen des Marktes: “Dabei spielt es keine Rolle, ob die Menschen sich früher infolge von Anschauungen unterworfen haben, die heute vielfach als Aberglaube angesehen 825 werden: aus einem religiösen Gefühl der Demut.” Jene Haltung “de826 mütiger Ehrfurcht, die die Religion (...) einflößte” , empfiehlt Hayek als Vorbild für eine Haltung gegenüber den Vorgängen des Marktes. Der Begriff “Demut” gehört seinem ursprünglichen Sinn nach in die Dialektik des Verhältnisses von Herr und Knecht. Sprachgeschichtlich abgeleitet 823 824 825 826 F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, 47. F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus , in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, o.O., Bd. 1, 1948, 25. F.A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich, o.J., 254. Ebd. 254. 285 aus dem Althochdeutschen bezeichnet Demut eine Haltung tiefer Erge827 benheit und der Bereitschaft, sich zu unterwerfen. Aber nicht nur diese Haltung der Demut ist gefordert. Friedrich August von Hayek bestaunt den sich selbst regulierenden Markt als ein “Wun828 der” : “Ich habe absichtlich das Wort „Wunder‟ gebraucht, um den Leser aus der Gleichgültigkeit herauszureißen, mit der wir oft das Wirken dieses Mechanismus als etwas Selbstverständliches hinnehmen.” In seiner Dankesrede bei der Verleihung des Nobelpreises hat Friedrich August von Hayek unter dem Titel Anmaßung des Wissens gesagt: “In dem Glauben, daß wir die Kenntnis und die Macht besitzen, die Vorgänge in unserer Gesellschaft nach unserem Gutdünken zu gestalten, eine Kenntnis, die wir in Wirklichkeit nicht besitzen, werden wir nur Schaden 829 anrichten.” Religöse Begriffe sollen offenkundig ein Legitimationsdefizit verdecken. 827 828 829 Demut, in: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd.2, Mannheim 1977, 508. F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 116. F.A von Hayek, Die Anmaßung des Wissens, in: ORDO 26 (1975) 12-21, zit. in: Jung Mo Sung, Das Böse in der Ideologie des freien Marktes, in: Conc 33 (D) 1997, 609. 286 8.2.2.2 Umdeutung christlicher Ethik Ganz anders geht Roland Baader in einem Sammelband über einen stringenten (Neo-) Liberalismus Wider die Wohlfahrtsdiktatur mit Begriffen der Religion um. Während Norbert Bolz und David Bosshart religiöse Begriffe direkt mit dem Kapitalismus in einen Zusammenhang bringen und mittels Religion einen Kult der Ware inszenieren wollen, verwendet Roland Baader Begriffe der Religion, um das Konzept einer neoliberalen Wirtschaftstheorie gegen sozialstaatliche Konzepte zu legitimieren. Dadurch werden die Begriffe der Religion gleichsam zu Kampfbegriffen. 830 Den Sozialstaat nennt er einen “wohlfahrtsstaatlichen Aberglauben” und einen der “leersten aller mystischen Worthülsen des Wohlfahrtsstaa831 tes” . Es sei ein “Irrglaube(n)”, daß der Sozialstaat die “humane”, “aufgeklärte”, “moralische” und “menschenwürdige” Variante der eigentlich 832 “kalten” und “erbarmungslosen” kapitalistischen Marktwirtschaft sei. “In Wahrheit handelt es sich beim einen (dem „hard-core‟-Sozialismus) wie beim anderen (dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat) um einen quasi833 religiösen Götzenkult, um eine Ersatz-Religion.” Der Sozialstaat zerstöre “das Gefühl der Nächstenliebe und des menschlichen Erbar834 mens” und verschütte die Fähigkeit zur Hilfe, mit der Folge: “Der Götze des Kollektiv-Sozialen hat das göttliche Feuer des wahrhaft Menschli835 chen ausgelöscht.” Baader nennt “soziale Gerechtigkeit” eine “Inthronisierung der Götzen”, die sich “in letzter Konsequenz als Gottesläste836 rung” erweise. In jeder über eine solide Ordnungspolitik hinausreichenden politischen Intervention zeige sich ein “sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitische(r) Machbarkeitswahn”; man könne auch sagen: “Als Frevel an dem auf Kreativität und Erneuerung, auf Wandel und Verbesserung gerichteten Schöpferauftrag an den Menschen, im Schweiße seines Angesichts das Gesicht und die Fruchtbarkeit der Erde mitzugestalten. (...) Hinter der ökonomischen Effizienz- und Wertminderung des Faktors Arbeit wird dem metaphysisch sensibilisierten Auge der tiefere 830 831 832 833 834 835 836 Anmerkung des Herausgebers R. Baader zu einem Beitrag in: ders. (Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995, 147. R. Baader, Die Angst des Lohnes und der Lohn der Angst, in: ders.(Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995, 232. R. Baader, Vorwort, in: ders. (Hg.), Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing 1995, 9. Ebd. 9. Ebd. 10. Ebd. 12. R. Baader, Die Angst des Lohnes und der Lohn der Angst, 242. 287 Kern des Geschehens sichtbar: ein ersatzreligiöser blasphemischer 837 Kult.” Wenn nur der Markt Freiheit bekäme, dann könnte er seine Wohltaten erweisen. Jeder wirtschafts- oder sozialpolitische Eingriff in den Markt aber sei nicht nur ökonomisch schädlich, sondern “gleichzeitig Sinnbetrug an den arbeitenden Menschen und Verhöhnung des göttlichen Auftrags zur schöpferischen Mitgestaltung der Erde und ihrer Fruchtbar838 keit” . Und ökonomische Subventionen, die den freien Markt korrigierten, liefen zudem auch “dem biblischen Gebot von der verantwortlichen 839 Umsicht des „guten Verwalters‟” zuwider. Solche staatlich verursachten Interventionen in den Marktprozeß, die das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage störten, raubten den einen die “göttlichen Geschenke namens Erde, Leben und Fortschritt”. In “der Unfreiheit staatlich strangulierter Märkte” erhielten die anderen “dank der Erpressungsgewalt der Kartellfunktionäre, mehr als ihre Arbeit wert ist (auch im Sinne des 840 gestalterischen Schöpfungsauftrags).” Man mag diese Redeweise als reichlich abstrus bewerten, doch immerhin findet sie sich in einem Sammelband, in dem bedeutende Autoren wie Václav Klaus, Ministerpräsident a.D. der Tschechischen Republik, Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, oder der ungarisch-amerikanische Philosoph Anthony de Jasay mitgearbeitet haben. Mit einer theologisch aufgeladenen Sprache und Begrifflichkeit versucht Roland Baader in dieser Streitschrift, den Neoliberalismus als eine schöpfungsgemäße Wirtschaftsordnung zu legitimieren und dadurch prinzipiell unangreifbar zu machen. Er inszeniert dabei den Streit um die richtige Wirtschaftspolitik als einen Religions- oder Glaubenskrieg. Seinen Widersachern in der Gestalt der Befürworter eines Sozialstaates wirft er “Gotteslästerung” vor. Die freie, neoliberale Marktwirtschaft wird in den Rang einer Glaubenssache und gottgewollten Ordnung erhoben. Die Botschaft lautet: Wer zu anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten als den neoliberalen greift, vergreift sich an der Schöpfungsordnung. Der Neoliberalismus macht sich sakrosankt: Seine Unantastbarkeit wird mit religiösen Begriffen untermauert. Sachargumente aber werden in diesem Glaubenskrieg nicht genannt; sie werden vielmehr durch Begriffe aus der Sphäre des Religiösen ersetzt. Ökonomische Überzeugungen erhalten den Status dogmatischer Gewißheiten. Ganz in der Tradition von Bernard Mandeville deutet Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, den Sozialstaat und mit ihm die ethi837 838 839 840 Ebd. 242. Ebd. 240. Ebd. 240. Ebd. 241. 288 sche Grundhaltung der Barmherzigkeit und Sympathie als gemeinschaftsschädigend, da sie möglichen Wohlstand verhindere und Eigeninitiative blockiere. Er spricht von einem “Samariter-Dilemma”, das darin bestehe, daß der Sozialstaat wie der Samariter intentional das Gute zwar tun wolle, mit seinem Einsatz für soziale Gerechtigkeit jedoch das Gegenteil bewirke. Der Wohlfahrtsstaat befinde sich in einem Dilemma, denn “er kann nicht mehr moralisch rechtfertigen, einen Menschen fortgesetzt zu unterstützen, der aufgrund der Unterstützung potentielle Ei841 genanstrengungen unterläßt.” Eine Unterstützung sozial Schwacher sei zwar gut gemeint, aber schädlich. Sie sei eine “Paradiesillusion einer Geschenkewirtschaft”, die “letztlich wenig mit Ethik, wenig mit Nächsten842 liebe, wenig mit Christenliebe zu tun” habe. Deshalb gibt es ein Paradox: Der gesinnungsethische Samariter verfehlt sein Ziel; doch verantwortungsethisch handelt, wer sozialstaatliche Hilfe zurückweist, auch wenn solche Entscheidungen auf den ersten Blick hartherzig aussehen mögen. Deshalb nennt es Walter “im Einzelfall unsozial, ein Gemeinwe843 sen ausschließlich auf Altruismus und Gemeinsinn gründen zu wollen.” Eine Aufgabenteilung soll herrschen: Der Markt sichert die Wirtschaftlichkeit, für Menschlichkeit sorgt im Einzelfall der Einzelne. Gleichwohl wird eine ethische Basis gesucht. “Kein Wirtschaftssystem kann 844 daher auf Dauer ohne ethische Grundlagen auskommen.” Dabei vollzieht sich aber eine eigentümliche Umwertung der traditionellen Werte: “Egoismus kann so tugendhafter sein als Altruismus”, kommentiert der 845 Chefredakteur der WirtschaftsWoche, Stefan Baron. Ethische Traditionen des Erbarmens und der Gerechtigkeit werden im Interesse einer ethischen Fundierung des freien Marktes umgedeutet. “Denn eine Marktwirtschaft bereitet wesentlich erfolgreichere Methoden der Nächstenliebe als das bloße Teilen. Anstatt nach dem Vorbild Martins den Mantel mit dem frierenden Bettler nur solidarisch zu zerschneiden, kann man sich die Massenproduktion von Mänteln zur Aufgabe machen, so daß sie für alle erschwinglich werden und viele Dünnbekleidete in Brot und Arbeit kommen. Nach aller historischen Erfahrung hat die Maxime des unternehmerischen Handelns mehr für die jeweils Bedürftigen er846 reicht als alle Ethik der Aufteiler.” Diese Ethik des Teilens in der Symbolfigur des Sankt Martin steht für eine europäische Sozialtradition, die wegmodernisiert werden soll, da sie heute unter den Bedingungen des 841 842 843 844 845 846 N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 72. Ebd. 74. Ebd. 79. S. Baron, Herz und Verstand, in: WirtschaftsWoche Nr. 6 vom 30.1.1997, 3. Ebd. W. Weimer, Das Teilen und die Moral der Märkte, in: FAZ vom 24.12.1993, 9. 289 Marktes als gesellschaftliche Ethik überholt gilt. “Diese „Ethik des Teilens‟ bringt kein einziges zusätzliches Brot auf den Markt. Der unternehmerische Imperativ lautet: vermehre die Güter, nicht aber: teile sie! (...) Es ist wohl sicher, daß die Ethik des Produzierens weit mehr zur Überwindung der Armut getan hat als alle caritativen Armenpflegesätze 847 oder Sozialhilfe.” 8.2.2.3 Neoliberales Credo: Vertrauen auf den Markt Da aber ein empirischer Beweis für die Verwandlung des Eigennutzes des einzelnen in ein Gemeinwohl aller nicht erbracht werden kann, gilt es, diese Behauptung zu glauben. Aus sich heraus kann der Neoliberalismus keine Legitimation finden. Dieses Defizit sollen die religiösen Begriffe beheben. So muß Norbert Walter auch konzedieren, daß die soziale und ökonomische Überlegenheit eines freien Marktsystems, das auf der Koordination privater Wünsche aufbaut, “kaum irgendwo als „Beleg‟ 848 verfügbar” sei, denn historisch gebe es - leider - nur Gesellschaften mit einer Vielzahl staatlicher Eingriffe. Angesichts der historischen Unzulänglichkeit , daß ideale Bedingungen für marktwirtschaftliche Konzepte real nicht umgesetzt, sondern allenfalls approximiert werden, “tut moralische Aufrüstung not”, die dazu beitrage, “die angemessene Bescheiden849 heit im Anspruchsniveau zu finden.” Gefordert wird also ein dogmatisches Vertrauen, das die Lücke der fehlenden Empirie ausfüllen soll. Die neoliberale Ökonomie wird zu einer Orthodoxie oder unfehlbaren Glaubensangelegenheit, die sich auch nicht durch Massenarbeitslosigkeit, Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich oder ökologische Schäden erschüttern läßt, da diese a priori nicht durch das Marktsystem, sondern durch den Fehler des Menschen verursacht würden, der meint, wirtschaftspolitisch in den Markt intervenieren und eingreifen zu dürfen. Auch Milton Friedman diagnostiziert mangelnden Glauben, wenn er zu den Kritikern des freien, neoliberalen Marktes sagt: “Hinter den meisten Argumenten gegen den freien Markt steckt der mangelnde Glaube in die 850 Freiheit selbst.” Marktkritisches Denken ist demnach ein Glaubens847 848 849 850 G. Habermann, Teilen oder produzieren. Bemerkungen zum Ethos des Unternehmers, in: Neue Zürcher Zeitung, (Fernausgabe) Nr. 211 vom 12./13. September 1993, 13f. N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 68. Ebd. 85. M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt-Berlin, 1984, 36. - Zur Erinnerung: Bereits Ludwig Erhard grenzte die Soziale Marktwirtschaft von einer freien Marktwirtschaft ab. Für ihn gehören Freiheit, Verantwortung und Ordnung untrennbar zusammen. Deshalb sagte er 290 zweifel. Freiheit avanciert zu einem Wert an sich, der sich auch nicht vor solchen Argumenten wie dem der Gerechtigkeit zu legitimieren braucht. Letztlich erfüllen also die theologischen und religiösen Begriffe die Funktion, über eben jene Tatsache hinwegzuhelfen, daß die freien Märkte nicht halten können, was sie verheißen. Der Bezug auf die Begriffe der Religion dient dann aber nicht der Rationalität oder Aufklärung über die Sachlage, sondern will diese undurchschaubar machen und dadurch ihre Akzeptanz erhöhen. In einer solchen Situation ist das Vertrauen auf den Markt eine Tugend, die zur Konformität mit den Erfordernissen des freien Marktes anhalten soll. Das neoliberale Verständnis von Markt kennt keine Alternativen. “Außerhalb des Marktes kein Heil?” fragt die Internationale Zeitschrift für Theologie Concilium leitmotivisch im Themenheft 4/1997 . Einige Zitate können belegen, wie Begriffe der Religion in der neoliberalen ökonomischen Debatte verwendet werden. Stefan Baron zitiert den USÖkonomen Paul Romer, der die ökonomische Spitzenstellung der USA gegenüber Europa darin begründet sieht, daß “das größere Vertrauen in die Marktmechanismen in Amerika” bestehe. Stefan Baron diagnostiziert als Grund für den Niedergang der deutschen Wirtschaft fehlenden Glauben: “(...) weil wir den Glauben an unsere eigene Wirtschafts- und Ge851 sellschaftsordnung, die Soziale Marktschaft, verloren haben.” Der Milliardär George Soros sprach in einem viel beachteten Beitrag in der ZEIT ebenfalls von einem Glauben an den Markt: “Insoweit heute in unserer Gesellschaft überhaupt von einer vorherrschenden Überzeugung die Rede sein kann, dann ist es der Glaube an die Zauberkraft des Marktes. (...) Die Doktrin des Laissez-Faire-Kapitalismus verkündet, dem Gemeinwohl werde am besten durch die unbeschränkte Verfolgung der Ei852 geninteressen gedient.” Das Manifest Grenzen des Wettbewerbs der Gruppe von Lissabon kritisiert, daß die Globalisierung der Wirtschaft eine fatale Marktgläubigkeit habe entstehen lassen. Das Manifest kritisiert, 853 daß “der Glaube an die freie Marktwirtschaft” vorherrsche. Der Mitver- 851 852 853 1961: “Freiheit darf nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne Wurzel. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf vielmehr der Ordnung.” (Zit. ohne Quellenangabe in: O. Schlecht, Begriffsverfälschung, in: Evangelische Kommentare 10/1998, 597.) S. Baron, Marktwirtschaft ist menschlich, in: WirtschaftsWoche Nr. 10 vom 26.2.1998, 34. G. Soros, Die kapitalistische Bedrohung, in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 17. Januar 1997, 25. Die Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit, München 1997, 63. In einer religiöse Begriffe paraphrasierenden Ausdrucksweise heißt es dort: “Das Glaubensbekenntnis der Wettbewerbsfähigkeit hat seine Evangelisten, Theologen, Priester und, natürlich, Gläubige. Letztere sind jene Millionen Menschen der entwickelten Regionen und Schichten der Welt ... Die Evangelisten sind jene Tausende von Wirtschaftswissenschaftlern und Experten aus den USA, Westeuropa ... , die den quasi naturgesetzlichen Charakter der Prinzipien und Mechanismen der modernen kapitalisti- 291 fasser dieses Manifestes, Ricardo Petrella, zitiert den BangemannBericht der Europäischen Kommission vom 26. Mai 1994, der fordert, 854 man müsse “auf die Mechanismen des Marktes vertrauen.” In einer Bildersprache will Petrella das Vertrauen auf den Markt als religiöse Observanz deuten und bezeichnet den Neoliberalismus in Anlehnung an biblische Metaphorik als “die neuen Gesetzestafeln”. “Die neuen Gesetzestafeln feiern die Idee eines Wettbewerbs zwischen allen Menschen, allen Gesellschaftsgruppen und allen territorialen Gemeinschaften (Städten, Regionen, Staaten), denn, so verkünden sie, es gibt kein individuelles oder kollektives Heil ohne die Eroberung von Markt- und vor allem 855 Weltmarktanteilen.” Daß eine Ökonomie mit diesem Selbstverständnis die Stelle der Religion einnehmen kann, befürchtet der Schweizer Ökonom Hans Chr. Binswanger: “Die Wirtschaft gewinnt damit den transzendenten, d.h. grenzüberschreitenden Charakter, den die Menschen früher 856 in der Religion gesucht haben.” Auch der Wirtschaftswissenschaftler Siegfried Katterle kritisiert, daß dem Markt und seinem Funktionieren humane Gehalte einer sozial verpflichteten Ökonomie geopfert werden. “Diese sinngebende Dimension einer dem Menschenbild des homo culturalis gemäßen Wohlstandsentwicklung, die durch eine bewußt soziale und ökologische Steuerung des Marktes hergestellt werden müßte, werden heute weithin dem zur totalen Institution vergötzten Markt geop857 fert.” In diesem Zusammenhang an Alfred Müller-Armack zu erinnern, kann hilfreich sein. Denn er sah allein in einer Rückbindung an eine christliche Ethik die Chance zu einer “Ausschaltung aller Idolbildung im 858 Wirtschaftlichen” . Auch der bekannte französische Soziologe Pierre 854 855 856 857 858 schen Marktwirtschaft kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität kodifiziert und etabliert haben. ... Die Theologen schossen in den 70er und 80er Jahren wie Pilze aus dem Boden. ... Priester des Wettbewerbskultes gibt es zu Tausenden in aller Welt. An den Universitäten wie in den Parlamenten, in London wie in Sao Paulo ... wie in den deutschen Gewerkschaften. Die Unternehmens- und Managementberater sind die gläubigsten Priester und die am besten ausgestatteten. Die Lehre und die Verbreitung des Credos beschert ihnen eine äußerst profitable Einkommensquelle.” Die Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs, 134-136. Zit. in: R. Petrella, Die neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt. Ausgabe) vom 2. Oktober 1995, 2. R. Petrella, Die neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt. Ausgabe) vom 2. Oktober 1995, 2. H.Ch. Binswanger, Geld und Magie, Stuttgart 1985, 61. S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 63. Auch Peter Ulrich nimmt im Neoliberalismus eine “gedankliche Entgrenzung der Idee einer effizienten Marktwirtschaft zur Ideologie einer totalen Marktgesellschaft” wahr. In: P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 129. A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 507. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Politischen Religionen des Stalinismus und des Nationalsozialismus sagte Müller-Armack: “Nachdem die Geschichte eines Jahrhunderts klargemacht hat, daß man nur zwischen Glauben und Pseudoglauben und nicht zwischen Glauben und Nichtglauben zu wählen hat, sollte man 292 Bourdieu deutet Theorie und Konzept des Neoliberalismus als ein Glaubenssystem. Es schaffe sich selber Zwänge, um dann behaupten zu können, sich diesen Zwängen nicht entziehen zu können. “Diese Utopie bringt (...) eine außergewöhnliche Gläubigkeit hervor, den free trade faith (...) Sie vertrauen auf Modelle, die sie praktisch nie wissenschaftlich überprüfen können, und sie verachten die Erkenntnisse anderer histori859 scher Wissenschaften.” In der französischen Debatte wird der Begriff “la pensée unique” für dieses Denken in selbstgeschaffenen Sachzwängen, das keine Alternativen zuläßt, verwendet. “Der Neoliberalismus 860 zeigt sich uns schließlich im Schein der Unausweichlichkeit.” Man hat keine Wahl. Es gibt einen Sachzwang, der sich aus den Erfordernissen des Marktes ergibt. Doch legitimiert wird dieser Sachwang durch ein Gemeinwohl, das in Aussicht gestellt wird. Für Pierre Bourdieu ist der neoliberale Diskurs das, was Emile Durkheim über Religion gesagt hat, 861 nämlich ein “wohldurchdachtes Delirium” . Mit einem Gewand ökonomischer Feststellungen würden normative Anschauungen verschleiert und Tatsachen in der ökonomischen Diskussion überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Bourdieu sieht in der neoliberalen Argumentation deshalb “einen neuen Glauben an die historische Unvermeidlichkeit” und kommt zu dem Resümee: “Wir haben es hier mit Religion zu tun”. Die Rede von Glauben, Wunder oder Vertrauen im Zusammenhang mit ökonomischen Sachverhalten ist nicht neu. Bereits Alfred Marshall (1842-1924), der wohl bedeutendste Vertreter der Neoklassik, rückt die Haltung des Vertrauens in das Zentrum: “Der Hauptgrund allen Übels (in der Wirtschaft) ist fehlendes Vertrauen. Der größte Teil der Mißstände ließe sich beinahe im Nu beseitigen, wäre es nur möglich, das Vertrauen wiederherzustellen, alle Initiativen mit seinem magischen Zauber in Gang zu setzen und sie mit ihrer Produktion und ihrer Nachfrage nach den Wa862 ren anderer fortfahren zu lassen.” In den ökonomischen Theorien der Neoklassik gibt es eine mit dem Attribut “theologisch” zu qualifizierende Traditionslinie, die über Adam Smith bis zu Bernard Mandeville zurückreicht und von den Neoliberalen unserer Tage aufgenommen wurde. 859 860 861 862 heute vorsichtiger in der Anwendung dieses Argumentes (nämlich, daß die Zeit des Glaubens vorüber sei, F.S.) sein.” (A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 494) P. Bourdieu, Die Sachzwänge des Neoliberalismus, in: Le Monde diplomatique (dt. Ausgabe), März 1998, 3. P. Bourdieu, Der Mythos “Globalisierung” und der europäische Sozialstaat, in: ders., Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, 40. zit. in: P. Bourdieu, Krise des Wohlfahrtsstaates. Eine Polemik des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 1. November 1996, 2. Zit. in: H. Assmann u. F. J. Hinkelammert, Götze Markt, Düsseldorf 1992, 89. 293 8.2.2.4 Neoliberale Glaubensgemeinschaft Bereits 1945 hatte Alexander Rüstow mit seiner Schrift Das Versagen 863 des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem die ethische und theologische Dimension der Begründung des sich selbst regulierenden Markt-mechanismus, wie sie Adam Smith formuliert hatte, in einer detaillierten Studie nachgewiesen. Von der Kosmostheologie Heraklits über das philosophische Denken der Stoa, insbesondere ihrer Anthropologie, Ethik und Politik führe eine Entwicklungslinie zu Adam Smith. Smith habe die “unsichtbare Hand” als Teil eines deistischen Weltbildes verstanden. Damit habe er zwar eine ethische Begründung der Marktwirtschaft ausgearbeitet, die jedoch nicht auf der Grundlage christlich-theologischer Prinzipien beruhe, sondern auf einem deistischen 864 Weltbild. Der zu Beginn der Aufklärung im 17. Jahrhunderts geprägte Begriff “Deismus” bezeichnet eine Weltanschauung, die die “christlichen Glaubensaussagen auf eine universale „natürliche‟, aller geschichtlichen 865 Elemente, vor allem der Heilsbedeutung Jesu entschränkte Religion” reduziert. Die zeitgenössische anglikanische Theologie war sich der stoischen und epikureischen Grundlagen des Deismus bewußt gewesen und setzte sich deshalb mit dieser vorchristlichen Weltanschauung der Antike 866 kritisch auseinander. Nach Binswanger zeige sich die Distanz zur christlichen Ethik darin, daß Smith in der sechsten - der ersten überarbeiteten - Auflage seiner Theorie der ethischen Gefühle alle früheren Hin867 weise auf das Christentum gestrichen hat. Smith sah in der Welt ein göttliches Wesen wirksam, “dessen Wohlwollen und Weisheit seit aller Ewigkeit die ungeheure Maschine des Weltalls so ersonnen und gelenkt hat, daß sie zu allen Zeiten das größt868 mögliche Maß von Glückseligkeit hervorbringe.” Dieses göttliche We863 864 865 866 867 868 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, (Istanbuler Schriften Nr. 12) Istanbul - Zürich - New York 1945; vgl. auch: ders., Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus in der Wirtschafts- und Sozialordnung, in: Christentum und Liberalismus. Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, Heft 13, München 1960, 149-178. So neben Rüstow auch: N. Monzel, Die weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus, in: ders., Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München - Wien, 1980, 218-231; H. Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa. Essays zur Kultur der Wirtschaft, München 1998, 47-64; M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 123-144. W. Michaelis, Deismus, III. Englischer Deismus, in: RGG 3. Aufl. 1958, Bd. 2, Sp. 60. Ebd. Sp. 64. Hinweis bei: H. Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 55f. A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 299. 294 sen ist nicht der christliche Gott, sondern die Weltvernunft der Stoa. Eine 869 “Vorsehung” leite in Güte das Weltgeschehen. Ihr sei es deshalb zu verdanken, daß egoistisches Verhalten in Gemeinwohl umgewandelt werde. Die Welt wird als ein mit mechanischer Gesetzmäßigkeit ablaufendes System verstanden, das durch Gottes Güte in seinem ungehinderten Ablauf garantiert wird. Die Koinzidenz von Gemeinwohl und Eigennutz ist keineswegs eine Erfahrungstatsache, sondern wird bei Smith mit dem Hinweis auf das stoische Vertrauen auf die Vorsehung theologisch erklärt und begründet. Smith konnte bei dem Philosophen Epiktet (50- ca.140 n. Chr.), einem Hauptvertreter der Stoa, lesen: “Daher ist es auch keine Sünde wider das Gemeinwohl, wenn man alles um seiner selbst willen (aus Eigenliebe) 870 tut.” Das marktwirtschaftliche Vertrauen in die Umwandlung des Eigennutzes in das Gemeinwohl ist also keineswegs Ausdruck eines wertfreien ökonomischen Gesetzes, sondern Teil einer von stoischen und epikuräischen Elementen inspirierten deistischen Weltanschauung. Alexander Rüstow hat in überzeugende Weise eine Traditionslinie belegt, die seit der Stoa bis in den Liberalismus immer wieder ökonomische Abläufe wie beispielsweise einen freien Außenhandel als gottgewollt gedeutet werde: Um die Völker auf die Notwendigkeit gegenseitigen Austausches und Handels hinzuweisen, habe Gott in seiner Weisheit die Güter 871 absichtlich auf die verschiedenen Völker verteilt. Auch wenn Smith lediglich an zwei Stellen die für das ökonomische Denken so bedeutungsvolle Metapher “unsichtbare Hand” verwendet, so ist der Überzeugungsstandpunkt dennoch häufiger anzutreffen. So heißt es in seinem Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen: Wer seinen eigenen Gewinn vergrößern wolle, werde “von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beab872 sichtigt hat.” Und in der Theorie der ethischen Gefühle spricht Smith den verteilungsgerechten Aspekt so an: “Sie (die Reichen, F.S.) werden von einer unsichtbaren Hand dazu geführt, nahezu die gleiche Verteilung lebensnotwendiger Güter vorzunehmen, die gemacht worden wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter all ihre Bewohner aufgeteilt worden wä869 870 871 872 Ebd. 231. Diese Vorsehung ist jedoch nicht mit jenem Begriff von Vorsehung identisch, den die christliche Theologie kennt. Das christliche Verständnis von Vorsehung hat sich seit der Auseinandersetzung mit der Stoa in der Patristik immer gegen einen Fatalismus abgegrenzt und sich nicht auf die Weltordnung als ganze oder auf die Wirksamkeit allgemeiner Gesetze bezogen, sondern immer auf den einzelnen. Vgl. die näheren Ausführungen bei: N. Monzel, Die weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus, 227f. Epiktet, Teles und Musonius, Zürich 1948, 123f, zit. nach: H.Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 55. A.Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 114ff. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 371. 295 re, und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und bringen die Mittel zur Vermehrung der 873 Gattung auf.” Weil eine unsichtbare Hand allemal für das Gemeinwohl sorge, kann sich Smith dem Rat der Stoiker anschließen: “Jeder Mensch ist, wie die Stoiker zu sagen pflegen, in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenen Fürsorge empfohlen, und jeder Mensch ist gewiß in jeder Hinsicht 874 geeigneter und fähiger, für sich zu sorgen als irgend jemand anders.” Das Vertrauen auf die “unsichtbare Hand” nennt Smith theologisch eine “großherzige Ergebenheit in den Willen des großen Lenkers des Welt875 alls.” Die Ethik des Marktes ist theologisch begründet: “Die Verwaltung des großen Systems des Weltalls indessen, die Sorge für die allumfassende Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist die 876 Aufgabe Gottes und nicht des Menschen.” Das Vertrauen auf den universalen Schöpfergott, der in seiner Güte die Welt mit “unsichtbarer Hand” erhält und lenkt, ist demnach der ökonomische Ausdruck des weltanschaulich begründeten Optimismus der Stoa. Ebensowenig wie Gott in die Welt eingreift, soll der Staat in den Markt eingreifen. Die “Vorsehung” lenkt und garantiert nach dem deistischen Weltbild und Glauben des Adam Smith den Marktmechanismus so, daß die subjektiven Absichten eines eigennützigen Vorteilskalküls aufgehen und zugleich das Gemeinwohl gefördert wird. Das der Marktwirtschaft zugrunde liegende Gesetz war demnach zugleich göttliches Gesetz und natürliche Ordnung. Der in der Tradition christlicher Sozialethik beargwöhnte Eigennutz kann nunmehr eine für die Gemeinschaft positive Funktion erhalten und ist ethisch legitimiert, da er eine Bedingung für den wirtschaftlichen Wohlstand darstellt. Die Doktrin der Umwandlung eigennütziger Interessen in ein Gemeinwohl vertrat bereits fast ein halbes Jahrhundert zuvor Bernard Mandeville, wie die Verse in der berühmten Bienenfabel verdeutlichen: Der Allerschlechteste sogar Fürs Allgemeinwohl tätig war. So herrscht im ganzen Einigkeit, 877 Wenn auch im einzelnen oft Streit. Mandeville will die Menschen nehmen, “wie sie in Wirklichkeit sind ( ...), den Menschen schlechthin, im Naturzustand und ohne Kenntnis des 873 874 875 876 877 A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 231. Ebd. 272. Ebd. 298. Ebd. 299. B. Mandeville, Die Bienenfabel. Mit einer Einleitung von Walter Euchner, Frankfurt 1980, 84f. 296 878 wahren Gottes.” Der konkret vorfindliche Mensch sei egoistisch und allein auf seinen Vorteil bedacht, lautet die anthropologische Grundaussage. Deshalb spöttelt Mandeville auch über “eine unvernünftige Neigung zu einer Art Verehrung für die Armen (...), die einer Mischung aus Mitleid, 879 Albernheit und Aberglauben entspringt.” In diesen hier zynisch abgewehrten Anschauungen klingt eine vorkapitalistische Wertüberzeugung nach, die Barmherzigkeit und Sorge für die Armen als oberste ethische Zielsetzung und nicht als Verstoß gegen die individuellen Bereicherungsinteressen ansah. Was Mandeville hier als Unvernunft abtut, ist die Vernunft der christlich-jüdischen Gerechtigkeitstradition. Diese ethische Vernunft ist für die liberal-kapitalistische Ökonomie unvernünftig geworden. Sie wird deshalb delegitimiert, um die Vernunft des eigennützigen Interesses zu legitimieren. Erst eine Anthropologie, die Eigennutz zu einer dem Menschen eigentümlichen Eigenschaft erklärte und zuließ, konnte den Boden freimachen, auf dem sich eine am Konkurrenzparadigma orientierte Ökonomie entwickeln konnte. Die Renaissance stoischen Gedankenguts hat eine christliche Wirtschaftsethik verdrängt, die seit der Scholastik ethische Einschränkungen und korrigierende Eingriffe des Staates kannte, die gerechte Verteilung des Sozialproduktes oder den gerechten Preis nicht den Marktkräften überließ, sondern an der Idee der Gerechtigkeit orien880 tierte. Adam Smith hat einen ausdrücklichen Gegenentwurf zu einer christlichen Wirtschaftsethik entwickelt, der die ethischen Fesseln spren881 gen sollte, welche die freie Entfaltung der Marktkräfte hemmten. Der lutherische Theologe Georg Wünsch kennzeichnete zu Recht den Optimismus, wie er sich in der ökonomischen Harmonieerwartung der “unsichtbaren Hand” niederschlägt, als “einen recht kräftigen Glauben”: “Dieser Anschauung liegt der religiöse Glaube zugrunde, daß die Vorsehung alle Dinge so geordnet habe, daß, indem jedes seinen Vorteil sucht, es gleichzeitig die Wohlfahrt des Ganzen fördert. Damit rückt der philosophische und ökonomische Liberalismus wieder näher an die Religion, ohne sich freilich immer bewußt zu sein, daß diese Art Optimismus nur durch Glauben, und zwar einen recht kräftigen Glauben, möglich 878 879 880 881 Ebd. 93. Ebd. 343. Bereits im römischen Imperium hatte die Stoa die politischen und wirtschaftlichen Expansionsbestrebungen einer Marktwirtschaft gestützt. Zur Rehabilitation eines freien Marktes konnte demnach Smith auf eine vorchristliche Weltanschauung zurückgreifen, die bereits in der Antike einen freien Markt legitimiert hatte. Vgl. die Hinweise von H. Chr. Binswanger auf: M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer Bewegung, Göttingen 1947 sowie C. ten Brink, Die Begründung der Marktwirtschaft in der Römischen Republik, Diss. St. Gallen 1994; T. Kopp, Die Entdeckung der Nationalökonomie in der schottischen Aufklärung, Diss. St. Gallen 1995. H.Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 50ff. 297 882 ist.” Auch der große englische Ökonom John Maynard Keynes merkte an, daß die heutigen Nationalökonomen “keine Beziehung mehr zu den theologischen und politischen Philosophien hätten, aus denen das Dog883 ma der Gesellschaftsharmonie entstanden ist.” Und Alexander Rüstow, bedeutender Inspirator der Sozialen Marktwirtschaft, prägte den 884 Begriff “Wirtschaftstheologie” , mit dem er eben diese metaphysischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften ansprechen wollte. Er kritisierte, daß seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr in Vergessenheit geraten sei, daß die liberale Theorie, in deistischer Theologie befangen, die positive Herausarbeitung der staatlichen Randbedingungen der 885 Marktwirtschaft vernachlässigt habe. Rüstow spricht von dem Glauben an die prästabilisierte Ordnung als einer “heidnischen, deistischen Theologie” und von einem Deismus, “der in Wirklichkeit die antike stoische 886 Moraltheologie, die stoische Religion” war. Das Christentum stehe mit seinen diesseitsverneinden, pessimistischen und asketischen Strömungen seit Jahrhunderten - so Rüstow - in einem “schärfsten Gegensatz” zur optimistischen, diesseitsbejahenden Erlösungslehre der Stoa und 887 des Liberalismus. Über die Ordnungsvorstellungen des klassischen Liberalismus schreibt Walter Eucken: “Man war von dem Glauben beherrscht, endlich die allein richtige, natürliche, göttliche Ordnung entdeckt 888 zu haben und zu verwirklichen.” Der Begründer des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, kritisierte an der liberalen Marktbegründung: “Man sah nicht, daß das Zentrale hier ein Glaube war, ein handfester, weit über seine rationale Begründung hinausge889 hender Glaube an die wirtschaftliche Vernunft.” Der christliche Glaube habe seine Form gewechselt. Auch wenn dieser Glaube sich säkularisiert habe, so habe es einen Zwang gegeben, sich “einem neuen partiellen irdischen Wert anzuvertrauen und ihn mit den Qualitäten des höchsten 890 Wertes auszustatten.” “Eine weltlich gewendete Glaubensposition schon von ihrem Ursprung her” nennt Müller-Armack die liberale Theorie 882 883 884 885 886 887 888 889 890 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 454. J.M. Keynes, Das Ende des Laisser-faire, München 1926, 20, zit. nach: M. Büscher, Gott und Markt, 123. A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 11ff. A. Rüstow, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 2, Godesberg 1949, 102f. A. Rüstow, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus in der Wirtschafts- und Sozialordnung, in: Christentum und Liberalismus. Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, Heft 13, München 1960, 155. A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 40. W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern - Tübingen 1952, 27. A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, in: ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, 440. Ebd. 445. 298 und kommt zu der Folgerung: “Ihr Harmonieglaube ist nicht wissen891 schaftliche Einsicht, sondern Gestein aus religiösen Schichten.” In der Sozialen Markwirtschaft dagegen will Müller-Armack einen Wirtschaftsstil begründen, dessen Kennzeichen gerade darin bestehe, daß er nicht auf einem Glaubensmotiv beruhe. Für den katholischen Sozialethiker Egon Edgar Nawroth ist der Glauben an die Wirksamkeit der unsichtbaren Hand nichts weiter als eine “„Personifizierung‟ jenes „erstaunlichen‟ Me892 chanismus” eines automatischen Ausgleichs von Eigennutz und Gemeinwohl. Rüstow nennt diese Ökonomen, die sich auf das Paradigma der unsichtbaren Hand beziehen, “Gläubige einer falschen deistischen Theolo893 gie” und Binswanger spricht von Mitgliedern einer “stoischen Glau894 bensgemeinschaft” . Der Liberalismus verfolge zwar das Ziel der religiösen Säkularisation und politischen Befreiung, doch zugleich zeigt sich eine Mystifizierung: Das rationale Argument wird durch ein weltanschauliches ersetzt, und an die Stelle einer rationalen Begründung tritt ein Glaubensmotiv. Die Metapher “unsichtbare Hand” begründet also ein geradezu religiöses Vertrauen auf die Funktionsfähigkeit des Marktes. Die Folgen sind weitreichend. Die Soziale Marktwirtschaft versteht sich als eine ökonomische Theorie, die aus der Erfahrung mit dem Scheitern der freien Marktwirtschaft die alte Lehre des Laisser-faire-Kapitalismus mit ihrem Glauben an die natürliche Harmonie der Märkte überwinden will und die Wettbewerbstheorie auf eine neue Basis stellt. Wettbewerb werde nicht durch eine prästabilisierte Ordnung von außen vorgegeben und auch nicht von außen garantiert, sondern sei eine gesellschaftliche Einrichtung, die immer wieder von neuem nicht zuletzt durch eine ethische Einbettung hergestellt werden müsse. Diese Erkenntnis wird im USamerikanisch geprägten Neoliberalismus wieder rückgängig gemacht. Martin Büscher kommt in seiner Analyse der religionsgeschichtlichen Ursprünge dieser Haltung zu dem Ergebnis, daß Hayek von den naturtheologischen Grundlagen des Deismus her denke: “Der Markt hat den 895 wohlwollenden Schöpfergott ersetzt.” In der neoliberalen Doktrin begegnet man im Argument der “unsichtbaren Hand” erneut diesem längst überwunden geglaubten theologischen Argument des Paläoliberalismus. Ein Kommentar des Herausgebers der WirtschaftsWoche, Stefan Baron, illustriert anschaulich, wie das deistische Weltbild des Adam Smith in sä- 891 892 893 894 895 Ebd. 503. E.E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalimus, 125. A. Rüstow, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus, 157. H. Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Stoa, 56. M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 128. 299 kularer Gestalt weiterhin ungebrochen lebendig ist, ja, verbunden mit der Absicht einer Legitimierung neoliberaler Wirtschaftspolitik, derzeit eine mächtige Renaissance erlebt: “So bewirkt die unsichtbare Hand des Marktes, daß Topmanager, die scheinbar unsozial und egoistisch die Maximierung des Gewinns und damit ihrer Bezüge verfolgen, gleichzeitig 896 auch das Gemeinwohl mehren.” Lohn- und Einkommensdifferenzen werden nicht nur mit Verweis auf eine Ausgleich schaffende “unsichtbare Hand” wegdefiniert, sondern ungewöhnlich hohe Einkommen werden auch noch zu einer sozialen Wohltat umgedeutet. Die Bereicherungssucht geht nicht zu Lasten der Armen, sondern verwandelt sich auf wundersame Weise zu einem Gemeinwohl. Jürgen Jeske von der Wirtschaftsredaktion der FAZ verweist auf das “schonungslose Walten der 897 unsichtbaren Hand” , das alle Versuche, marktwidrig in den Markt einzugreifen, abstrafen und zunichte machen würde. Sozial- oder wirtschaftsethisch verantwortliches Handeln besteht in der Exekution von Sachzwängen, die keiner ethischen Rechtfertigung unterliegen. Nach Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, hat die “unsichtbare Hand” sogar eine zivilisatorische Funktion: “Letztlich ist die „List der Natur‟ oder die „unsichtbare Hand‟ monopolistischem und interventionistischem Taktieren überlegen (...) Diese Prinzipien sind so machtvoll, daß sie den Menschen teils wider seinen eigenen Willen in die 898 Zivilisation führen.” Die “unsichtbare Hand” wird hier gleichgesetzt mit einer “List der Natur”, also einem natürlichem Prinzip. Diese Beispiele belegen, daß neoliberale Ökonomievertreter in ein Wirtschaftsverständnis zurückgefallen sind, das gerade nach der Weltwirtschaftskrise 1929 revidiert werden sollte. Der Harmonieglaube, den die “unsichtbare “Hand” garantiert, macht das eigentliche ideologische Zentrum des Neoliberalismus aus. Auch wenn neoliberale Ökonomen immer wieder zur ethischen Begründung der Marktökonomie auf die “unsichtbare Hand” des Marktes verweisen und sich in der Tradition des Adam Smith glauben, so eignen sie sich diese Tradition zu Unrecht an. Martin Büscher nennt folgende Motive, durch die ein geradezu antagonistisches Bild entsteht: Neoliberale Ökonomen erwarten eine gesellschaftliche und ökonomische Harmonie als Folge des frei funktionierenden Marktes, während Smith den Glauben an eine prästabilisierte Harmonie als Bedingung für einen funk- 896 897 898 St. Baron, Unsichtbare Hand, in: WirtschaftsWoche Nr. 21 vom 16.5.1996, 3. J. Jeske, Die unsichtbare Hand, in: FAZ vom 26.1.1995, 1. N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 81. 300 899 tionierenden Markt ansah. Adam Smith verstand das Vertrauen auf die “unsichtbare Hand” als einen Akt, dem Weltenschöpfer Gott die Ehre zu geben. Ohne diesen religiösen Bezug allerdings wird im Denkmodell des freien Marktes aus dem Akt, Gott die Ehre zu geben, ein Akt, bei welchem dem Markt und seinen Funktionsbedingungen die Ehre gegeben wird. Es hat also eine diametrale Motivverschiebung in der Begründung der Marktökonomie stattgefunden. Da Smith die Metapher der “unsichtbaren Hand” einem göttlichen Weltplan zuordnet, ist das Marktgeschehen auch ein Mittel innerhalb einer umfassenden Ordnung. Diese Mittel jedoch mutiert ohne diese Einbettung zu einem Selbstzweck und wird selber zu einem höchsten Ziel, dem alles andere unterzuordnen sei. Der normative Gehalt der Rede von einer “unsichtbaren Hand” zur Begründung der Systemlogik eines Marktes, der sich selbst reguliert, steckt in einer Fiktion eines Marktgeschehens, das subjektlos und gänzlich von ethischer Verantwortung losgelöst abläuft. Die weltanschauliche und philosophische Fundierung des Marktgeschehens bei Smith wird hier nicht mehr erkannt, sondern naturalistisch oder mechanistisch verkürzt. Der weltanschaulich begründete Glaube an die “unsichtbare Hand” gibt sich in der neoliberalen Doktrin säkular als selbstheilende Marktkräfte aus. Auf diese zu vertrauen, bildet die neoliberale ökonomische Grundüberzeugung, die sich von einer “unsichtbaren Hand” getragen weiß. Das un900 bedingte Vertrauen in die Selbsttätigkeit des Marktes, jene “Demut” 901 gegenüber dem “Wunder” der Marktes, die Hayek lobt, zeichnet die ökonomische Frömmigkeit des religiösen Menschen in der Marktreligion aus. Peter Ulrich spricht deshalb auch von einer “Metaphysik des markt902 wirtschaftlichen Systems” . Die Metapher “unsichtbare Hand”, wie sie der Neoliberalismus nutzt, ist eine Ideologie der organisierten Alternativlosigkeit. Sie fordert, Sachzwänge als unausweichlich zu akzeptieren. Diese Metapher will eine organisierte Alternativlosigkeit legitimieren, die zwei Folgen zeigt: erstens handelnde Subjekte werden durch das Reden von der “unsichtbaren Hand” unsichtbar gemacht; zweitens - enthebt das Wort von der “unsichtbaren Hand” die Subjekte ihrer Verantwortung und macht alle zu hilflosen Opfern ungestaltbarer Prozessen. Markt und das, was sich auf dem Markt und durch den Markt durchsetzt, erscheint legitim, so daß sich jede verantwortete Rechenschaft erübrigt. Die Rede von der “un- 899 900 901 902 M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 135; so auch: E.E. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 308. F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, 47. Ebd. 116. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 144, auch 167. 301 sichtbaren Hand” entschuldet. Tatsächliche soziale Unrechtsverhältnisse können deshalb guten Gewissens hingenommen werden. In ihrem Kern bricht die Rede von der “unsichtbaren Hand” die Aufklärung als einem permanenten Prozeß der Moderne vorzeitig ab. Der Glaube an die “unsichtbare Hand” ist ein Grunddogma der neoliberalen Wirtschaftstheorie und begründet den neoliberalen Freiheitsbegriff wirtschaftstheoretisch. Da die Begründungsfigur der “unsichtbaren Hand” Relikt einer deistischen Theologie ist, kann sie keine Grundlage für eine wertfreie ökonomische Gesetzmäßigkeit hergeben. Deshalb ist den vermeintlichen Gesetzes des Marktes auch nicht sachzwanghaft wie Gesetzen der Natur Beachtung zu schenken. Religionsgeschichtlichen, philosophischen oder weltanschaulichen Ursprungs sind sie, wie die im Markt vermutete “unsichtbare Hand”, Teil eines stoischen Glaubenssystems. Nach dem Wirtschaftsethiker Peter Ulrich zeigt sich in den neoliberalen Argumentationsmustern “die kryptoreligiöse Tiefenstruktur der neoliberalen Markt903 vergötterung” . Wenn diese theologisch-philosophischen Vorgaben und religionsgeschichtlichen Grundlagen nicht beachtet werden, avanciert der Markt von einem Zweck im Sinne des Adam Smith zu einem Selbstzweck innerhalb neoliberalen Denkens und von einem Teil einer metaphysischen Ordnung zu einem Sachzwang, der alternativlos respektiert werden will. Den neoliberalen Fachökonomen sind die philosophischen Grundlagen des Denkens von Smith kaum mehr bekannt. Noch weniger aber wird das philosophisch-theologische Gedankengebäude als ethische Rechtfertigung für die ökonomischen Annahmen, die nach wie vor zu den Grunddogmen der Marktwirtschaft gehören, beachtet. Diese weltanschauliche Vorgabe mit den normativen Implikationen bei Smith wird verkannt und in scheinbar naturgesetzliche Abläufe marktwirtschaftlicher Prozesse umgedeutet. Die philosophisch-theologisch fundierte Theorie interpretiert man nun als ganz und gar säkular. Normative und allein religionsgeschichtlich zu erklärende Begründungen für eine Marktwirtschaft begegnen also gerade dort, wo neoliberale Theoretiker auf naturgegebene Abläufe verweisen. Markt und Wettbewerb sind keine Mechanismen, die sich selber regeln, sondern Gegenstand ethischer Verantwortung. Es kommt also auf ein wirtschaftsethisches Verhalten an, bei dem es um eine “Ausschaltung 904 aller Idolbildung im Wirtschaftlichen” geht, wie Müller-Armack sich ausdrückte. Die Idole oder Götzen, vor denen Müller-Armack ausdrücklich warnte, sind zurückgekehrt. Peter Ulrich nennt es die Aufgabe einer 903 904 P. Ulrich, Arbeitspolitik jenseits des neoliberalen Ökonomismus - das Kernstück einer lebensdienlichen Sozialpolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 38 (1997) 139. A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 506. 302 Wirtschaftsethik, welche die Lektion der Geschichte dieses Jahrhunderts mit dem Scheitern des freien Marktes gelernt hat, “Aufklärung gegen den wieder auflebenden Marktfundamentalismus, der buchstäblich auf der al905 ten Marktvergötterung beruht,” zu erbringen. Theologie und Ethik bekommen angesichts dieser Wiedergeburt der Idole und Götzen eine ideologiekritische Aufgabe. Wenn sie die religiösen Vorgaben zur Begründung der Funktionsfähigkeit des Marktes zum Thema machen, können sie einen Beitrag zu einem rationalen und analytisch-aufklärenden Diskurs leisten, indem sie einerseits die religionsgeschichtlichen Begründungen des Marktgeschehens freilegen und andererseits auf eine rationale Begründung dringen. Ein ökonomischer Fatalismus, zu dem die Argumentation mit der “unsichtbaren Hand” verleitet will, wird ideologiekritisch ausgeräumt und zugleich dort handlungsfähig gemacht, wo die Rede von der “unsichtbaren Hand” demütige Unterwerfung unter Sachzwänge einfordern will. Von seinen Ursprungsimpulsen her war der Liberalismus eine Bewegung, die von religiöser und politischer Bevormundung befreien wollte. Dieser Emanzipationsimpuls ist jedoch auf halber Strecke steckengeblieben, denn für Adam Smith sind die ökonomischen Prozesse keineswegs autonom, sondern vielmehr weltanschaulich begründet. Das Sachzwangargument, dem sich nach neoliberaler Anschauung Politik und Gesellschaft zu unterwerfen haben, baut erneut einen Zwang auf, der den ursprünglichen Freiheitsimpuls des Liberalismus konterkariert. Eine theologische Wirtschaftsethik, die den verdeckten religionsgeschichtlichen Grund des neoliberalen Verständnisses des Marktes freilegt, wird mit dem Gott- und Götzenkriterium ihren ideologiekritischen Beitrag zu einer rational begründeten und aufgeklärten Wirtschaftstheorie leisten können, die religiöser Begründungen zur Mystifikation ihrer Markthandlungen nicht bedarf. Die Funktionsfähigkeit des Marktes ethisch zu begründen, ist durchaus im Sinne von Adam Smith. Anachronistisch ist es allerdings, weiterhin vertrauensvoll auf eine gütige “unsichtbare Hand”, die im Markt waltet, zu rekurrieren. Das Wiederaufleben der Rede von einer “unsichtbaren Hand” zeigt, daß der Neoliberalismus auf den Stand des religiös begründeten Liberalismus zurückgefallen ist. Das Glaubensmotiv der “unsichtbaren Hand” oder - wie Alexander Rüstow sagt - “der theologisch906 metaphysische Ursprungscharakter der liberalen Wirtschaftslehre” ist in säkularisierter Form zurückgekehrt. Der Neoliberalismus ist also keineswegs neu. Er ist sehr alt und knüpft heute lediglich in säkularer Sprache an der weltanschaulich-metaphysischen Begründung des längst überwunden geglaubten Manchesterliberalismus an. 905 906 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 176. A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 48. 303 Das Sozial- und Wirtschaftswort der Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit kritisiert einen solchen Ökonomismus: “Das ökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf die ökonomische Dimension einzuengen und so die kulturellen und sozialen Zusammenhänge menschlichen Lebens zu vernachlässigen” (Ziff.129). Das Marktprinzip bekommt eine über ökonomische Wirkungszusammenhänge oder Funktionen hinausreichende Geltung und droht alle privaten und gesellschaftlichen Lebensbereiche zu vereinnahmen, indem es allem die Regeln und Rationalitäten des Marktes aufzwingt. Der marktradikale Neoliberalismus unterscheidet sich von anderen marktwirtschaftlichen Konzeptionen durch einen Anspruch, der einen gleichsam totalitären Charakter hat: Das Marktprinzip soll über seinen originären Geltungsbereich hinaus in allen Lebens-, Kultur- und Gesellschaftsbereichen durchgesetzt werden. 8.2.2.5 Totaler Markt Das neoliberale Ökonomieverständnis, das sich dem Sachzwangdenken unterwirft und keine Alternativen zuläßt, trägt Aspekte des Totalitären in sich. Totalitarismus besteht nach Hannah Arendt dort, wo keine Alterna907 tiven zugelassen sind. Seit Eric Voegelin und Raymond Aron wird der Totalitarismus aber auch als Ausdruck einer Religion gedeutet, die politi908 schen Zwecken dient und deshalb Politische Religion genannt wird. In aufklärerischer und religionskritischer Absicht versteht Raymond Aron totalitäre Systeme insofern als religiös, als sie die moderne und auch christliche Scheidung der beiden Gewalten Religion und Politik rückgän909 gig zu machen bestrebt sind. Ergebnis der Aufklärung ist die Trennung von Ordnungen der Wertsetzungssysteme. Das Modell “Gottesstaat” kennt nur ein Wertesystem, dem sich alle gesellschaftlichen Subsysteme unterzuordnen haben. Wenn der Markt mit seinem Wertsetzungssystem sich als ein alle anderen Wertsysteme überwölbendes Wertsetzungssystem etabliert, zeichnet sich eine Entwicklung ab, die diese neuzeitliche Errungenschaft der Trennung der Ordnungen auflöst. Es kommt zu einer Re-Installierung des Modells “Gottesstaat” unter veränderten Vorzeichen: Das allgemeinverbindliche Wertsetzungssystem wird nicht von der Politik auferlegt und definiert, sondern selber einem Subsystem, 907 908 909 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 593ff. H. Maier, Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995, 937. Ebd. 29f. 304 910 nämlich dem Markt, untertan. Aus einem Gottesstaat, in dem Religion das Gemeinwesen definierte, wird ein “Gottesstaat”, in dem die Ökonomie das Gemeinwesen definiert. Eine zivil-politische Religion wechselt das Kleid. Sie wird zu einer zivil-ökonomischen Religion. Der Wirtschaftswissenschaftler Siegfried Katterle kritisiert diese Enwicklung zu einem totalen Markt, indem er auf eine religiöse Dimension hinweist. Die sinngebende Dimension einer Wohlstandsentwicklung, die durch eine bewußte soziale und ökologische Steuerung des Marktes hergestellt werden müßte, habe man “heute weithin dem zur totalen Institution 911 vergötzten Markt geopfert.” 8.2.3 Götzenkritik der Hebräischen Bibel im theologischen Erbe 8.2.3.1 Biblische Kritik an den Götzen Auch wenn von einem Monotheismus Israels zumindest in vorexilischer Zeit nicht gesprochen werden kann, stellt sich die Frage, wie sich die Alleinverehrung JHWHs gerade in Israel entwickeln konnte. Rainer Albertz sieht einen Anhalt zu dieser Entwicklung in Strukturen der Jahwereligion, die beim Propheten Hosea als religiöses Schlüsselerlebnis so formuliert wird: “Aber ich, ich bin der Herr, dein Gott, seit der Zeit in Ägypten; du sollst keinen anderen Gott kennen als mich. Es gibt keinen Retter außer 912 mir” (Hos 13,4). Diese sozial- und religionsgeschichtliche Ausgangskonstellation beförderte die Alleinverehrung JHWHs. Das Gebot der Alleinverehrung JHWHs und das Bilderverbot müssen vom Exodus her gelesen werden, auf den sich der Dekalog in seinem Prolog bezieht: “Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus” (Dtn 5,6). Als erstes Gebot wird das Verbot des Götzendienstes genannt:. “Du sollst neben mir keine anderen Götter haben” (Dtn 5,7). Die Formulierung des Ersten Gebotes des Dekalogs setzt die Existenz fremder, anderer Götter geradezu voraus. Erst seit der Exilszeit gibt es nach einer übereinstimmenden Meinung der alttesta913 mentlichen Wissenschaft einen wirklichen Monotheismus. Nicht ein allgemeiner religionstheologischer oder kultischer Monotheismus ist für die biblische Tradition bedeutsam. Der biblische Monotheismus ist vor al910 911 912 913 F. Müller u. M. Müller, Macht Markt Sinn? In: dies., Markt und Sinn. Dominiert der Markt unsere Werte? Frankfurt 1996, 7-15. S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 63. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 98f. Vgl. F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 43. 305 lem ein sozialer Monotheismus. Psalm 82 zeigt, daß JHWH in einer Götterrunde auftritt und die anderen Götter nicht kultisch, sondern wegen ihrer sozialen Ignoranz verstößt. Der biblische Gottesglaube ist darin monotheistisch, daß er ein sozialer Monotheismus ist, der sich an das Recht der Armen bindet. In der Religion Israels kann die Lage einer sozi914 al unterdrückten Gruppe zum Zentrum des Gottesbildes werden. Deshalb wird eine Versöhnung JHWHs mit dem Unrecht abgelehnt, das mit “Ägypten”, “Kanaan”, “Mammon” und “fremden Göttern” bezeichnet wird, da diese im Polytheismus soziales Unrecht nicht richteten. Israels Monotheismus ist durch eine Leidensfähigkeit am sozialen Unrecht gekennzeichnet. In Auseinandersetzung mit Fremdreligionen, die Unrecht und Ungerechtigkeit stützen, entwickelte Israel eine polemische und pejorative Position zu den fremden Göttern. Diesen Göttern wird eine wirkende und wirkliche Kraft abgesprochen, hier einzuschreiten. Besonders Deuterojesaja predigt einen exklusiven Monotheismus, der nicht nur die Verehrung fremder Götter ablehnt, sondern deren Existenz leugnet. Das Gebot der Alleinverehrung JHWHs ist begründet im Befreiungshandeln und dem Auszug aus Ägypten. Gebotsgehorsam ist Dankbarkeit gegen915 über dem Retter. Wenn Israel “keine anderen Götter kennt” (Dtn 11,28; 13,3.7.14; 29,25), dann will das Deuteronomium mit dieser Formulierung ausdrücken, daß Israel neben dem als freiheitsstiftende Beziehung gedachten Gottesverhältnis keine anderen Beziehungen hat. Die eigene Freiheit, die JHWH zu verdanken ist, würde riskiert durch die Be916 ziehung zu anderen Göttern. Die biblische Kritik an den Götzen und am Götzendienst formuliert das zweite Gebot des Dekalogs mit dem Bilderverbot: “Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgend etwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde” (Dtn 5,8). Das Kultbildverbot von Ex 20,23 geht in das Bilderverbot des Dekalogs ein (Dtn 5,8). Für die alttestamentliche Rede von den Göttern/Götzen ist typisch, daß nicht zwischen ihrer Präsenz im Kultbild und ihrer Existenz unterschieden wird. Die biblische Götzenkritik unterstellt eine Identität zwischen Kultbild und Gottheit, die dem Selbstverständnis der fremden Religion nicht gerecht wird. Vielmehr zeigt sich wie beim Verbot der Verehrung fremder Götter, daß mit dem Bilderverbot das alleinige Befreiungshandeln JHWHs zum Ausdruck kommen soll. “Gehört Israels Freiheit zu Gottes Selbstdefinition und zwar eine in der Beziehung zum Gott des Exodus liegende und erfahrene Freiheit, dann kann nichts anderes zum Offenbarungsmedium werden. Bei diesem Gott bleiben heißt auch, die in dieser Beziehung er914 915 916 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 11, 569-576. Ebd. 336. F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 46f. 306 917 fahrene Freiheit nicht in einem Bild verdichten.” Erst in nachexilischer Zeit kann sich das Bilderverbot wie auch der Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs durchsetzen. Für den Deuteronomiker sind Fremdgötter- und 918 Bilderverbot nahezu identisch. Israels Umgang mit den fremden Göttern läßt sich als eine Entwicklung beschreiben: Die ursprüngliche Verwendung des Götzenbegriffs als eines Moments der eigenen Identitäts919 wahrung wird zu einem Instrument einer theologischen Ideologiekritik. Der biblische Gott ist im Dekalog und ihm verwandten Texten inhaltlich festgelegt: Es ist ein Gott, der sich selbst durch die Befreiung der Hebräer aus ägyptischen Verhältnissen definiert, wie der Prolog des Dekalogs begründet (Ex 20,2; Dtn 5,6). Er ist die einzige Freiheitsmacht, und nur durch die Beziehung zu ihm kann Israel seine Freiheit bewahren. Biblische Götzenkritik ist deshalb immer von einem mythenkritischen Pathos begleitet. Die geradezu ironische, beißende Götzenkritik bei Jes 44,9-20 wirft den Götzenverehrern einen Mangel an “Aufklärung” vor: “Unwissend sind sie und ohne Verstand; denn ihre Augen sind verklebt (...) sie überlegen nichts, sie haben keine Erkenntnis und Einsicht” (Jes 44,18a.b.,19a). Drastischer läßt sich Götzendienst nicht beschreiben. Mit dem begrifflichen Gegensatz “Gott/Götze” bewahrt die biblische Tradition ein Wissen davon, daß Menschen durch das Werk ihrer Hände sich selber entfremden oder zu Sklaven ihrer eigenen Werke werden, sich vor ihnen beugen oder in die Knie gehen können. Erich Fromm verbindet in der Tradition der Theologia negativa die Anerkennung Gottes mit der Ablehnung von Götzen: “die Anerkennung Got920 tes ist grundsätzlich die Negation von Idolen” . In seinen eindrucksvollen Ausführungen zur “Götzenproduktion” in Jes 44,9-20; 46,4-7 stellt er einen Zusammenhang her zwischen Freiheit und Verantwortung einerseits und Unterwerfung und Demut andererseits. “Wenn das Idol die entfremdete Äußerung der eigenen Kräfte des Menschen ist und wenn die Verbindung mit diesen Mächten ein unterwürfiges Verhältnis zum Idol ist, so folgt daraus, daß der Götzendienst notwendigerweise mit Freiheit und 921 Unabhängigkeit unvereinbar ist.” Die Wahrnehmung von Entfremdung und der Widerstand gegen sie reicht weit in die biblische Tradition zurück. Karl Elliger bestätigt in seinem Kommentar zu Jes 44,9-20 diesen aufklärerischen und mythenkritischen Charakter biblischer Götzenkritik: “Bilderdienst ist Verehrung eines Geschöpfes anstatt des Schöpfers, 917 918 919 920 921 Ebd. 50f. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 337. Dem gleichen Anliegen - wenn auch mit anderen methodischen und philosophischen Ansätzen - ist Peter Ulrich in seinem Buch “Integrative Wirtschaftsethik” verpflichtet. E. Fromm, Die Herausforderung Gottes und des Menschen, Zürich 1970, 47. Ebd. 51. 307 noch dazu eines Geschöpfes, das selbst erst durch ein Geschöpf, den Menschen, zustande kommt. (...) Denn Götter gibt es auch in der modernen Gesellschaft, Götter in anderer Gestalt als damals, aber auch von 922 Menschenhand gemacht.” Für die biblische Tradition ist die Unterscheidung zwischen der Verehrung des wahren Gottes und einer Verehrung von falschen Götzen leitend. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die biblische Tradition dasselbe meint, was Gegenstand neuzeitlicher Ideologiekritik ist. Das säkulare Selbstverständnis von Moderne und Aufklärung schloß mit der Absage an die Existenz Gottes auch die Existenz des Gegenbildes, nämlich die Existenz von Götzen, aus. Was in der biblischen Tradition mit der Antinomie Gott / Götze benannt wird, glaubte man im Zuge der Aufklärung als vormodern überwunden zu haben. Doch dadurch wurde zugleich auch jener Referenzrahmen beseitigt, der die Existenz von Götzen überhaupt wahrnehmen konnte. Religion galt als unaufgeklärter Rest der Menschheitsgeschichte. Mit der Aufklärung sollte im Interesse der Freiheit ein Aufbruch aus einer mythisch verzauberten Welt angestoßen werden. Die biblischen Traditionen kennen eine Tradition der Mythenkritik, die den Rationalitätstypus der Aufklärung an Radikalität übertrifft. Erich Fromm nimmt diese mythenkritische Kraft der biblischen Traditionen auf, wenn er es eine ideologiekritische Aufgabe nennt, “das Wesen der Götzen und des Götzendienstes aufzuzeigen und die verschiedenen Götzen zu identifizieren, die bis zum heutigen Tag in der Geschichte der 923 Menschheit verehrt wurden und weiter verehrt werden” . Produktion oder Konsum können zu solchen Götzen werden. “Aber weil der offizielle Gegenstand der Verehrung Gott ist, erkennt man die Götzen von heute nicht mehr als das, was sie sind - als reale Objekte menschlicher Vereh924 rung.” Der vermeintlichen Säkularität der Moderne ihre Säkularität nicht zu glauben wird deshalb zu einer ideologiekritischen und theologi925 schen Aufgabe. Wenn Erich Fromm den Gottesgedanken mit Ideologiekritik in einen Zusammenhang bringt, dann steht er in der Tradition des biblischen Gottesgedankens, der immer auch sein Gegenteil, den Götzen, mitdachte. Religion bezeichnet keineswegs ein System, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder einem System verbunden ist, das sich selber als Religion anerkennt oder bezeichnet. Von zentraler Bedeutung ist, daß in der Religion der Mensch sich einer frem922 923 924 925 K. Elliger, Deuterojesaja, 1. Teilband Jes 40,1-45,7, Neukirchen-Vluyn 1978, 440f. E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition, in: ders., Gesamtausgabe Bd. VI., Stuttgart 1989, 112. Ebd. 112. Vgl. dazu: F. Segbers, Wider den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe. 308 den Macht anvertraut. Fromm definiert deshalb Religion als “jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bie926 tet.” Diese Definition von Religion ist weit genug, alle Phänomene einzubeziehen, bei denen es ein “Objekt der Hingabe” gibt. Der Inhalt der Hingabe ist keineswegs spezifisch. Objekt können Tiere, Bäume, ein unsichtbarer Gott, eine Klasse oder eine Partei, Geld, Erfolg, der Markt oder ein Fußballverein sein. Wichtig ist ein Unterscheidungskriterium von Religion: Religion kann den Hang zur Destruktivität oder die Fähigkeit und Bereitschaft zu Liebe und Solidarität fördern. Von diesem “Objekt der Hingabe” empfängt der Verehrer Orientierung. Religion ist deshalb mehr als nur eine Überzeugung von Glaubenssätzen. Sie orientiert Denken und Handeln. Zu Recht betont Fromm, daß die entscheidende Frage nicht lautet: Religion oder nicht? Sondern vielmehr: Welche Religion? “Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch 927 menschlicher Kräfte, oder lähmt sie das menschliche Wachstum?” Fromm entwickelt also ein Kriterium, das klären soll, ob der Mensch sich Gott oder Götzen anvertraut. Die Folgerung lautet: Religion, die dem Leben dient, verehrt Gott; Religion jedoch, die destruktiven Mächten oder 928 Todesmächten nutzt, ist Götzendienst. Gott und Götze unterscheiden sich wesentlich darin, welchen Anspruch sie an den Menschen erheben. Bei den Götzen bestehe der Anspruch nicht in “Liebe und Gerechtigkeit”, 929 sondern in “Macht über Menschen” . “Götzendienst verlangt seinem Wesen nach Unterwerfung - die Verehrung Gottes dagegen verlangt Un930 abhängigkeit.” Der Gegensatz Gott / Götze steht deshalb biblisch in der Dialektik Exodus / Ägypten. Götzenkritik kann zu einer Verführung werden, wenn sie meint, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Auch Götzenkritik selber bedarf einer Götzenkritik und muß sich einem Prozeß permanenter Reflexion aussetzen. Die Rede von den Götzen muß deshalb vor einem Verbalradikalismus geschützt werden, der nur sich selbst im Besitz der Wahrheit dünkt und andere Anschauungen theologisch abqualifiziert. Auch die Götzenkritik kann also zum Götzen werden. Unterschieden wird mithin nicht nur zwischen Gott und den Götzen wie zwischen gut und böse, sondern die theologische Rede von Gott und den Götzen setzt in theologischer Sprache eine permanente Götzenkritik in Gang. Dadurch bezieht 926 927 928 929 930 E. Fromm, Haben oder Sein, 135. Ebd. 135. E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. VI - Religion, Stuttgart 1989, 248f.; auch: ders., Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. VI - Religion, Stuttgart 1989, 298f. E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, 248. E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, 111. 309 sie sich in diesen kritischen Prozeß der Kritik auch selber mit ein und baut einem Fundamentalismus vor. Deshalb ist die Götzenkritik einer Götzenkritik im Interesse der Freiheit des Menschen allemal immanent. 8.2.3.2 Götzenkritik in der theologischen Tradition Die mythenkritische Götzenkritik der biblischen Tradition ist von der Theologie der Befreiung wiederentdeckt, rezipiert und auf die sozioökonomischen Verhältnisse in Lateinamerika hin neu zur Sprache ge931 bracht worden. Es gibt in der europäischen Theologiegeschichte allerdings eine theologische Traditionslinie des Redens von Gott und den Götzen, die einer aufklärerischen und ideologiekritischen Absicht verpflichtet ist. In Martin Luthers theologischem Denken ist der Zusammenhang von Vertrauen, Gott und Mammon von zentraler Bedeutung. Mammon ist eine entscheidende Konkurrenzgröße zu Gott. Es fällt jedoch auf, daß diese theologische Argumentation Luthers kaum rezipiert wird, obwohl sie ein ideologiekritisches Potential enthält, das auf Fragen der Ge932 genwart hin ausgelegt werden kann. Nicht zuletzt den lutherischen Kirchen des Südens ist es zu verdanken, die Kirchen des Nordens an die933 sen Luther und seine Götzenkritik erinnert zu haben. Einige Hinweise können hier genügen, denn Friedrich-Wilhelm Marquardt hat in einer überwältigenden Fülle von Belegen nachgewiesen, daß Martin Luther die biblische Redeweise von den Götzen nicht allein auf ein individuelles Verhalten von Personen bezieht, sondern auch auf das ökonomische System des Frühkapitalismus angewendet und dieses als götzendienerisch qualifiziert hat. Ökonomische Fragen sind in theologischer Hinsicht ethisch bedeutsam, gehören aber zunächst in den Zusammenhang der 934 Rede von Gott. 931 932 933 934 Bes. sei erwähnt: H. Assmann u. F.J. Hinkelammert, Götze Markt; H. Assmann u.a. (Hg.), Die Götzen der Unterdrückung und der befreiende Gott; M. Löwy, Der Götze Markt. Die Kapitalismuskritik der Befreiungstheologie aus marxistischer Sicht, in: J. Moneta u. W. Jacob u. F. Segbers (Hg.), Die Religion des Kapitalismus. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes, Luzern 1996, 106-119. Vgl. dazu u.a. H. Barge, Luther und der Frühkapitalismus, Gütersloh 1953, 33-40; H. J. Prien, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen, 1992; U. Duchrow, Weltwirtschaft heute. Ein Feld für Bekennende Kirche? München 1986, 79ff.; K. P. Lehmann, Der Mammon ist aller Welt Gott. Rechtfertigungslehre und Kapitalismuskritik bei Martin Luther, in: Lutherische Monatshefte 1/1996, 14-16; F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon. Aber: Theologie und Ökonomie bei Martin Luther, Einwürfe, Bd. 1, München 1983, 176-216; vgl. auch: F. Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984. Vgl. Die Rede des Präsidenten des Lutherishen Weltbundes Gottfried Brakemeier: unten Anm. 946. F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon., 183. 310 Ausgehend vom ersten Gebot bestimmt die Anithese Gott oder Mammon Luthers wirtschaftsethisches Denken. Im Großen Katechismus heißt es in der bekannten Auslegung zum ersten Gebot: “Ein Gott heißt das, von dem man alles Gute erwarten und bei dem man Zuflucht in allen Nöten haben soll, so daß „einen Gott haben‟ nichts anderes ist, als ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Vertrauen und Glauben des Herzens beide macht: Gott und Abgott. Sind Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht; und umgekehrt: wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran Du nun (sage ich) Dein Herz hängst und Dich darauf verläßt, das ist eigent935 lich dein Gott.” Der Mensch kann seinen Glauben und sein Vertrauen auf den “rechten Gott” oder auf einen “falschen Gott, den Abgott”, setzen. Ob der Mensch an Gott oder einen Abgott glaubt, zeigt sich daran, auf wen er faktisch vertraut. In seiner zweiten Katechismuspredigt am 14.9.1528 sagt Martin Luther, daß es Götter gibt, die beanspruchen, Gott zu sein. Doch sie sind falsche Götter:“Das heißt den einigen Gott haben, daß du von Herzen ihm traust und glaubst, denn Trauen und Glauben macht Gott. (...) Jemand traut auf Gott - solange er es (das Geld, F.S.) hat, ist er befriedigt: 936 durch sein Vertrauen macht er sich Mammon zum Gott.” Auf den der Mensch vertraut, den hat er auch durch diesen Akt des Vertrauens zu seinem Gott gemacht.“Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat; er verläßt und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er niemand etwas gibt. Siehe: dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz 937 setzt, was auch der allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist.” Mammon und Gott sind als funktionales Äquivalent nur insofern austauschbar, als Mammon sich eine Funktion aneignet und der Mensch auf diesen Mammon sein Vertrauen in einer Weise setzt, die der “rechte Glaube” Gott vorbehält und eben nicht dem Mammon zukommen läßt. Ob das Geld zum Gott gemacht wird, hängt nach Luther also von dem vertrauenden Verhalten des einzelnen ab. Falk Wagner kommt deshalb zu dem Schluß: “Die Konkurrenz von Gott und Geld, die Luther beschreibt, bewegt sich also in der Perspektive des personalen Vertrauens und Glaubens und liegt insofern auf der Linie der überlieferten Einsicht: „Ihr könnt 938 nicht Gott dienen und dem Mammon‟ (Matthäus 6,24).” 935 936 937 938 M. Luther, Der Große und der Kleine Katechismus, 9. Zit. nach F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon, 182. M. Luther, Der Große Katechismus, 10. F. Wagner, Geld oder Gott? 102. 311 Gott und Mammon als konkurrierende Gottesverständnisse werden von Luther als Folie genommen, die klären kann, was und wer Gott oder Götze ist. Damit aber wird bei Martin Luther die “Ökonomie (...) zu einem Problem im Bereich der Rede von Gott, aus einer ethischen zu einer 939 dogmatischen Frage” . Marquardt hat aus der ökonomischen Debatte bei Martin Luther die Folgerung gezogen, daß “Luther die Wirtschaftsfrage zur Mammonfrage gemacht hat und umgekehrt die Gottesfrage an die 940 Wirklichkeit des Abgotts, des realen Anti-Gottes gebunden hat.” Eine theologische Argumentation, die die Gottesfrage mit der Mammonfrage verbindet, reicht von Luther über die religiösen Sozialisten 941 und den russisch-orthodoxen Religionsphilosophen Nikolaj Berdijaev 942 bis zur Theologie der Befreiung und Enzykliken von Papst Johannes Paul II. Einige Zitate sollen diese Traditionslinie belegen: Georg Wünsch hat in seiner evangelischen Wirtschaftsethik von einer “Wirtschaftsdä943 monie” gesprochen. Immer dann, wenn Wirtschaft sich verabsolutiere, obgleich sie lediglich ein gesellschaftliches Teilsystem sei, “ist Wirtschaft an die Stelle Gottes getreten”. Der “liberale Kapitalismus ist die geschichtliche Verkörperung dieser Dämonie. (...) Der Kapitalismus ist von der christlichen Ethik her zu beurteilen als ein gewaltiges System der Versuchung zur Abgötterei, was man - da er stets seine „ethischen Seiten‟ herausstellt - nicht einmal merkt.” In der Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1988) warnt Papst Johannes Paul II. vor einer “Versuchung zum Götzendienst” (Ziff. 30) und prangert Entscheidungen in Wirtschaft und Politik an, die in ihrer Gier nach Profit “wahrhafte Formen von Götzendienst verbergen” (Ziff. 37). In der Enzyklika Centesimus annus (1991) spricht er von der “Gefahr einer „Vergötzung‟ des Marktes” (Ziff. 40) und registriert, “daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die (...) ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt” (Ziff. 42). Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz nennt die Überbewertung rein ökonomischer Ziele eine “Vergötzung der Wirtschaft” (Ziff. 162). Der Glaubensbrief über die Wirtschaft, den christliche Organisationen in den Niederlanden geschrieben haben, mündet in einem Bekenntnis: “Wir glauben, daß unsere Wirtschaftsordnung sich an der menschlichen Habsucht orientiert und darum 939 940 941 942 943 F.-W. Marquardt, Gott oder Mammon, 183. Ebd. 209. N. Berdijaev, Mensch und Technik (Wien 1937), Talheim 1989, 216-218. H. Assmann u. F. J. Hinkelammert, Götze Markt, 132ff.; H. Assmann, u.a. (Hg.), Die Götzen der Unterdrückung und der befreiende Gott, Münster, 1984. G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 475. Emil Brunner verweist darauf, daß wohl Paul Tillich den Begriff des Dämonischen , auf die Wirtschaft angewandt, eingeführt habe. Verwendet wurde er auch von Brunners Lehrer L. Ragaz: E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 634, Anm 17. 312 944 abgöttische Züge trägt.” Der Reformierte Bund in Deutschland hat auf seiner Hauptversammlung 1996 zu einem Anti-Mammon-Programm aufgerufen. Der Reformierte Weltbund hat auf seiner 23. Generalversammlung vom 8.-20. August 1997 in Debrecen, Ungarn, bekräftigt, daß “unsere Ökonomien wieder unserem Herrn unterzuordnen” seien: “Wenn wir sagen, daß wir gegen den Mammon sind, dann lehnen wir nicht nur die Götzen ab, sondern wir bekräftigen unser Vertrauen, daß Gott uns zum 945 Leben führen wird.” Aus dieser Einsicht heraus hat der Reformierte Weltbund erklärt: “Heute rufen wir zu einem verbindlichen Prozeß der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) auf allen Ebenen der Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbundes bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung auf.” Letztlich wollen diese Argumentationen mit dem Gegensatzpaar “Gott oder Götzen”, “Leben oder Tod”, die Rede von dem Gott des Lebens gegen die Götzen des Todes in konkreten ökonomischen und sozialen Verhältnissen plausibel machen. Immer geht es dabei um die destruktive Beherrschung von Menschen mittels Götzen. Zusätzlich zur sozialen, politischen und ökonomischen Beherrschung wird der Götze als ein weiterer Mechanismus zur Beherrschung des Menschen. Götzenkritik will über diese ideologischen Mechanismen aufklären. Das biblische Götzenkriterium, das auch in der Theologiegeschichte rezipiert wurde, fungiert deshalb einerseits als Religionskritik, die theologisch argumentiert, und dient andererseits ideologiekritisch der Dechiffrierung und Delegitimierung von destruktiver Herrschaft. Jähnichen stellt sich in einen deutlichen Gegensatz zu theologische Positionen, die mit dem Götzenkriterium eine grundlegende Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsweise verbinden wollen. Allenfalls im Kontext politischer Diktaturen in Lateinamerika sei eine Götzenkritik berechtigt. Hier rächt es sich, daß Jähnichen auf eine ideologiekritische Analyse der verschiedenen Ordnungsgestalten von Marktwirtschaften und besonders des Neoliberalismus verzichtet. Denn die befreiungstheologische Rede von der Götzenkritik bezieht sich keineswegs vorrangig auf totalitäre politische Regime Lateinamerikas, sondern ist eine analytische und ideologiekritische Kategorie, die Theorie und Praxis eines totalitäre Züge tragenden Neoliberalismus mit dem Begriff Götze theologisch zur Sprache 946 zu bringt. Ihren Ursprung hat die befreiungstheologische Rede von den 944 945 946 Die Kehrseite der Medaille. Ein Glaubensbrief von christlichen Gruppen und Organisationen aus den Niederlanden, mit einem Nachwort von F. Segbers, Heidelberg, Reihe B Nr. 23 Texte und Materialien der FEST, 1995, 58. Beschluß Sektion 2, Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach ungedruckten Unterlagen des Reformierten Weltbundes. T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 35, 46, 163ff., 268f. 313 Götzen in der Auseinandersetzung mit dem ökonomischen System des Neoliberalismus und richtet sich keineswegs gegen eine marktwirtschaftliche Koordination an sich, sondern ausdrücklich gegen eine freie, neoliberale und insofern kapitalistische Marktwirtschaft. Jähnichen ignoriert jenen sozialethisch entscheidenden Unterschied, der gerade der Bezugspunkt der theologischen Debatte ist, die befreiungstheologische Impulse aufnimmt. Deshalb fällt er hinter den theologischen Stand des De947 batte zurück. Angesichts einer globalen Ökonomie kann es sich eine theologische Sozialethik nicht leisten, national-ökonomisch beschränkt zu denken. Eine Theologie, die von der Option für die Armen her denkt, wird vielmehr Einsichten von der ökonomischen Peripherie aus theologischen und politischen Gründen aufnehmen müssen. Dieser Standort ist politisch, ökonomisch und theologisch bedeutsam, denn an den Rändern werden die Auswirkungen einer globalen Ökonomie, die vom Zentrum aus gelenkt wird, überdeutlich. Die Rede vom Götzencharakter einer neoliberalen Ökonomie ist nicht nur für die Länder der Peripherie bedeutsam und insofern kontextbedingt. Sie verweist auf die Auswirkungen einer Globalisierung, die sich im Zentrum in dieser Weise nicht zeigt, sondern eher verhüllt gibt. Gerade deshalb können Theologien des Südens auch Wesentliches über die globale Ökonomie im Zentrum aussagen, das Theologie und Sozialethik im Zentrum hören und wahrnehmen sollten. Jähnichens zentraler Einwand ist sozialethischer Natur. Sozialethik müsse sich auf die Suche nach einem Komparativ und nach graduell verbesserten Lösungen begeben, die durchaus auch Kompromisse einschließe. Doch dies sei auf der Folie des Gegensatzpaares Gott und Götze nicht möglich, das nur ein bekenntnishaftes “Entweder - Oder” 948 kenne. Doch eine Ethik des Komparativs ist nicht einfachhin eine Ethik der Alternativlosigkeit, sondern vielmehr eine Ethik, die zu der Differenzierung anleitet, wie mehr Humanität gefördert werden kann und wo Alternativen aus Gründen der Humanität gefordert sind. Der Götzengedanke ist keine Theologisierung ökonomischer oder gesellschaftlicher Sachverhalte und verhindert deshalb nicht einen rationalen Umgang mit ihnen, sondern ist eine der Theologie zugängliche analytische Kategorie. Die Rede vom Götzendienst erfüllt eine kritisch-aufklärerische Funktion, die nicht konstruktive Verantwortung verbauen, sondern diese vielmehr theologisch formulieren, ermöglichen und inspirieren will. Der biblische Gottesgedanke kann als Kritik eines das ganze Wertesystem überwölben- 947 948 Ebd. 274. - Jähnichen registriert zwar die befreiungstheologische Differenzierung, nutzt diese jedoch nicht für sein Gesamturteil. Vgl. ebd. 35. Ebd. 37. 314 949 den Ökonomismus sowie gegen eine “Kolonisierung der Lebenswelt” durch die Ökonomie zur Sprache gebracht werden und wird dadurch zu einer theologischen Götzenkritik. Er ist ein Beitrag zur Entkolonisierung der Lebenswelt von ökonomischer Dominanz und verweist auf den Sachverhalt, daß ökonomische Rationalität im Sinne der Neoliberalen sich über den Bereich der Wirtschaft hinaus auf andere Lebenswelten ausdehnt und eine universale, ja totalitäre Geltung beansprucht. Diese neoliberale Universalisierung des Marktparadigmas illustriert die Aussage des Wirtschaftswissenschaftlers Wolfram Engels: “Dem Wettbewerbsprinzip unterliegen nicht nur Unternehmen, sondern auch Parteien, Kirchen oder Forschungsinstitute. Der Markt wird ebenso wie die Macht, der Glaube oder die Wahrheit im Wettbewerb gewonnen. Das ist 950 das kulturtragende Prinzip unserer Gesellschaft.” Ein wirtschaftliches Instrument avanciert hier zu einem kulturtragenden Prinzip, dem alle gesellschaftlichen Institutionen sich unterwerfen müssen. Die Marktwirtschaft erweitert sich zu einer Marktgesellschaft, in der nur ökonomische Kriterien Geltung haben. Wahrheit, Gerechtigkeit, Forschungsergebnisse, Wettbewerb oder ökonomische Effizienz werden auf einer Ebene angesiedelt. Die 3. EKD-Studie über Kirchenmitgliedschaft hat auf solche Aspekte hingewiesen. Wenn beispielsweise das ganze Leben einzig um den wirtschaftlichen Erfolg kreise, liege ein religiöses Phänomen vor. Immer wenn dies geschehe, dann gelte Luthers Satz: “Woran du dein 951 Herz hängst, das ist dein Gott.” 952 An die Stelle der alles bestimmenden Wirklichkeit Gott tritt ein neoliberales Verständnis von Ökonomie und Gesellschaft, das einen Totalanspruch auf das Gesamt des Lebens, Religion inbegriffen, erhebt und Vertrauen, Glauben und Demut gegenüber den universal gültigen Gesetzen des (freien) Marktes einfordert. Der christlich-jüdische Monotheismus gesteht dagegen nur dem einen Gott das Prädikat der Universalität zu und entläßt so die Menschen in eine Relativität. Im Interesse der Freiheit wird ein Protest erhoben, der sich mit dem Gottesgedanken verbindet. Der unbedingte Herrschaftsanspruch des biblischen Gottes ist darin befreiend, daß er die Ansprüche anderer Herrscher unter einen letzten Vorbehalt stellt. Im Januar 1998 haben die Schweizer Kirchen ein dem deutschen Vorgang vergleichbares ökumenisches Konsultationsverfahren zur wirtschaftlichen und sozialen Zukunft ihres Landes eröffnet. Die Diskussi949 950 951 952 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, 522. W. Engels, Moral als politische Waffe, in: WirtschaftsWoche Nr. 52 vom 18.12.1992, 126. K. Engelhardt u. H. von Loewenich u. P. Steinacker, Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997, zit. nach einem Vorabdruck in: FR Nr. 290 vom 13.12.1997, 10. F. Wagner, Geld oder Gott? 134. 315 onsgrundlage spricht von den “gängigen Mythen” der Gesellschaft und dem “Mythos vom reinen Markt”: “Lange haben die westlichen Gesellschaften geglaubt, sie hätten sich der Mythen entledigt. Doch jede Ge953 sellschaft, jeder Gesellschaftsentwurf bringt eigene Mythen hervor.” Die Kirchen prüfen die Legitimation der neoliberalen Wirtschaftspolitik und Wirtschaftstheorie ideologiekritisch und kommen zu dem Schluß: “Der „reine Markt‟ als gültiges Modell für die wirtschaftliche Wirklichkeit, die Erwartung, dass Wachstum schlechthin die Probleme der Zukunft überwinden werde, sind Mythen - für wahr gehaltene Behauptungen, in die Selbstverständlichkeiten eingepflanzt und so leicht der kritischen Prüfung entzogen werden. Sie dienen der Rechtfertigung gewisser Verhaltensregeln und weisen bestimmte Massnahmen für Politik und Wirtschaft als scheinbar verbindlich aus - etwa bedingungslose Anpassung an die 954 Globalisierung, Deregulierung und Privatisierung schlechthin.” Mit dieser offiziellen Diskussionsgrundlage der Schweizer Bischofskonferenz und des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes liegt erstmals eine ökumenische Erklärung vor, in der Kirchen Europas den Mythenbegriff auf die neoliberale Doktrin anwenden und diese dadurch ideologiekritisch in einen Zusammenhang mit Religion bringen. 8.2.4 Religion des Marktes Nach Gottfried Brakemeier, dem früheren Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, sei die moderne Gesellschaft keineswegs säkular, sondern in ihr werde ein “erbitterter Glaubenskampf” geführt: “Auch in einer nichtreligiösen Gesellschaft weiß man sehr wohl, daß Glaube Berge versetzt. Denn was der Mensch glaubt, das bestimmt sein Verhalten. Niemand hat die Menschen fester im Griff wie jemand, der ihren Glauben hat. Deshalb konnte der Sozialismus auf Glaubenserziehung nicht verzichten. Die ideologische Propaganda war eine Säule des Systems. Im Kapitalismus ist es nicht anders. Die Wirtschaft wird von Dogmen gesteuert, das heißt von Bekenntnissätzen. Daß der freie Markt die sozialen Probleme wie etwa die Arbeitslosigkeit von allein lösen wird, ist dafür ein Beispiel. (...) Jedenfalls bleibt wahr: Glaube trägt die Welt. Die Abwertung des Glaubens ist fiktiv. (...) Die säkulare Welt ist keineswegs bekenntnislos. Nur hat sie den Hang, ihre Bekenntnisse zu verschleiern.” Daraus zieht Brakemeier für die Kirche die Folgerung: “Der Kampf gilt nicht dem Un953 954 Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Welche Zukunft wollen wir? 12. Ebd. 14. 316 glauben. Unglauben gibt es nicht. Es gibt nur das Nebeneinander von 955 Glaube und Glaube und die Auseinandersetzung zwischen ihnen.” Von der Religion des Marktes zu sprechen, hat nicht nur eine ideologiekritische Dimension. Es geht auch um eine hegemoniale Auseinandersetzung. Zwischen Glaube und Glaube herrscht ein Konflikt um die Geltung des Glaubens. Der Glaube an den biblischen Gott gerät in einen Konflikt mit dem Glauben an andere Göttern - auch mit denen des Marktes. Welcher Glaube soll das Sagen haben? Kategorien der biblischen Götzenkritik in der theologischen Ethik zu beerben bedeutet keineswegs, säkulare Prozesse wie die der Ökonomie so zu theologisieren, daß die Sache der Ökonomie dadurch undeutlich würde. Umgekehrt - das biblische Götzenkriterium will einen Beitrag zu einer sachlichen Klärung leisten, denn der Götzenbegriff ist ein analytischer Begriff. Die Sachfrage lautet: Auf wen oder was wird das unbedingte Vertrauen in eine gute Zukunft gesetzt? Wer oder was ist Objekt der Hingabe? Der Götzenbegriff ist demnach die Antwort auf eine Sachfrage. Die biblische Götzenkritik erfüllt eine aufklärende Funktion, indem sie klärt, wo der Name Gottes für etwas, was nicht Gott ist, benutzt wird. Aufklärung im Erbe des biblischen Götzenkriteriums kann einen objektiven Blick auf die Alltagsreligion geben. Sie demaskiert, wo in einer Gesellschaft Götzen als Gott verehrt werden. In der Sprache der Religion ist das Götzenkriterium der Hebräischen Bibel eine analytische Kategorie. Wenn eine theologische Wirtschaftsethik sich also diese Kategorien und Einsichten zu eigen macht, die der biblischen Götzenkritik entstammen, dann erfüllt sie eine ideologiekritische Funktion oder die “Funktion einer 956 Warnerin”, von der Arthur Rich gesprochen hat. Nach Rich ist die theologische Wirtschaftsethik auf diese Funktion angewiesen, die Menschen davor bewahrt, die “in der Wirtschaft unterschwellig ins Spiel gebrachten und als sachgemäß getarnten Wertorientierungen unbesehen, um nicht zu sagen dogmatisch, zu akzeptieren”. Der religiöse Akt des Vertrauens kann sich auch auf anderes als auf Gott beziehen. “In unserer eigenen Kultur bilden die monotheistischen Religionen und ebenso atheistische und agnostische Philosophien einen dünnen Firnis über die Religionen, die in mancher Beziehung weit „primitiver‟ sind als die indianischen, und die als reiner Götzendienst mit den wesentlichen monotheistischen Lehren sogar noch weniger vereinbar sind. Als kollektive und mächtige Form modernen Götzendienstes finden wir die Anbetung der Macht, des Erfolgs und der Autorität des Mark- 955 956 G. Brakemeier, Lutherisches Bekenntis in ökumenischer Verantwortung. Vortrag vor der 8. Generalsynode der VELKD, Lüneburg 1996, 2. - Unveröffentlichtes Manuskript. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 76. 317 957 tes.” Ausdrücklich kritisiert Erich Fromm hier ein Verhalten, das sich der Autorität des Marktes unterwirft oder anvertraut. Die Götzen der Moderne heißen nicht mehr Baal und Astarte, und - das ist gerade in einer sich säkular verstehenden Kultur von entscheidender Bedeutung - sie gehören nicht zu einer bestimmten fremden “Religion”; ganz im Ge958 genteil, sie tragen respektable Namen und geben sich rational. Diese vermeintliche Rationalität oder Säkularität erschwert es, diese Mächte als “Götter” im biblischen Verständnis zu durchschauen und in den Alltagsmythen zu erkennen. Ökonomen verwenden theologische Begriffe wie “Demut”, “Wunder des Marktes”, “Glaube an den Markt”, “Vertrauen”, “Götzendienst” zur Legitimierung der neoliberalen Theorie. Diese massierte Verwendung theologischer Begriffe ist aber nicht nur in einem analogen Sinn zu verstehen, vielmehr handelt es sich um das Phänomen einer Religion, nämlich einer Religion des Marktes. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff des Vertrauens, von dem bereits Martin Luther sagte, daß es beides begründe: den Glauben an Gott und den an den Abgott. Der besonders von Friedrich August von Hayek immer wieder eingeforderten Haltung der Demut korrespondiert eine Haltung des Vertrauens. Das LThK sieht “Vertrauen” im Anschluß an Aristoteles und Nikolai Hartmann in “engem Verhältnis zum Wahrheitsethos, dessen Voraussetzung und Wirkung es ist. Vertrauen heißt: sich auf den andern verlassen, sich ihm überlassen, weil man an seine Wohlgesinntheit und Zuverlässigkeit 959 glaubt.” Wie sich das religiöse Bewußtsein von Gott getragen weiß und auf Gott vertraut, so soll auch das marktbestimmte Denken auf die Güte der “unsichtbaren Hand” (Adam Smith) des Marktes vertrauen. Vom Vertrauen auf den Markt wird also “Wohlgesinntheit” und “Zuverlässigkeit” erwartet. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von einem “fast grenzenlosen (Ur-) Vertrauen der klassisch-liberalen Ökonomen in 960 die Selbstregulierungskräfte des „freien Marktes‟” . Die “unsichtbare Hand” des Marktmechanismus wird zu einer steuernden und optimal ordnenden Zuverlässigkeit, auf die Verlaß ist. Ihr kann vertraut werden. Wie in der Religion Gott dem Einfluß des Menschen entzogen ist, so ist auch der Markt dem Einfluß des Menschen entzogen. Wenn Menschen also nur in einer Haltung der Demut den Vorgängen des Marktes Vertrauen schenken, dann werden sie gewißlich von dem effizienten Markt mit Wohlfahrtsgewinn belohnt - eben wie von einem guten Gott. “Das 957 958 959 960 E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, 245. E. Fromm, Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität, 299; ders., Psychoanalyse und Religion, 292. G. Müller, Art. Vertrauen, in: LThK Bd. 10, 2. Aufl. Freiburg 1986, Sp.751. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 174. 318 Laisser-faire-Prinzip des Adam Smith als „Gott die Ehre geben‟ ist ersetzt durch das Prinzip, dem Markt und seinen Funktionsbedingungen 961 (scheinbar) die Ehre geben zu müssen.” Der Wirtschaftsethiker Martin Büscher nennt es einen Anachronismus, daß eine säkularisierte Marktwirtschaft sich auf Adam Smith bezieht. Der Anachronismus bestehe darin, daß “ der Markt vom zweckgebundenen Teil einer höheren Ordnung zum Selbstzweck und selbst zur höheren Ordnung geworden ist. Der Markt hat den wohlwollenden Schöpfergott ersetzt. Die religiös fundierte Theorie ist durch und durch säkular interpretiert. (...) Der Markt ist zur allmächtigen Tiefenstruktur geworden. Der Markt ist die heilende und im 962 Hintergrund stehende Instanz der sozialen Entwicklung.” Enrique Dussel nennt die Verwandlung des Eigeninteresses des einzelnen in eine öffentliche Wohltat einen Vorgang, bei dem es sich “letzten Endes um eine Theologie” handelt, “die die Gegensätze vereint: Es ist die „Hand Gottes‟ in seiner Vorsehung, die aus dem Chaos, der irrationalen Unordnung (des privaten, egoistischen Eigeninteresses) zwangsläufig und nicht-intentional eine rationalisierte Ordnung (den Markt, den 963 „Raum‟ der Universalität) hervorbringt.” Auf jeder Dollar-Note steht das Bekenntnis “In God we trust” . Für den brasilianischen Theologen koreanischer Herkunft Jung Mo Sung hat dieser Aufdruck eine theologische Bedeutung: “Das macht deutlich, daß das Vertrauen in das Geld und den Markt genauso grundlegend ist wie das Gottvertrauen, denn letztlich wurde der Markt in die Sphäre der Götter erhoben. Das nennen die Be964 freiungs-theologen den Götzendienst des Marktes.” Eine Religion tritt dort wieder auf die Tagesordnung, wo sie gar nicht zu erwarten war: in der Theorie der neoliberalen Wirtschaftswissenschaften und im Handeln 965 der neoliberalen Wirtschaftspraktiker. Walter Benjamin war 1921 einer der ersten, der im freien Kapitalismus mit seinem Totalanspruch bereits eine Funktion erkannte, die traditionellerweise eben der Religion zugeschrieben wurde. “Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort ga966 ben.” Seine Ahnung oder Befürchtung unterstreicht diesen funktiona- 961 962 963 964 965 966 M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible Hand” in der säkularisierten Industriegesellschaft, 138f. Ebd. 135f. E. Dussel, Der Markt aus der ethischen Perspektive der Theologie der Befreiung, 219. Jung Mo Sung, Das Böse in der Ideologie des freien Marktes, 611. Vgl. dazu meine Ausführungen in: F. Segbers, Gott gegen Gott. Zur Religion des Alltags im Kapitalismus (im Erscheinen) sowie ders., Kult der Ware. Die Religion des Marktes unter theologischer Kritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214. W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100. 319 len Aspekt von Religion, der sich auf ein Grundvertrauen und eine Bewältigung der existentiellen Krisen bezieht. Als Schlußfolgerung über die Verwendung religiöser und theologischer Begriffe zur Begründung des Neoliberalismus ergibt sich: Im Akt des demütigen Vertrauens als einem genuin religiösen Akt zeigt sich eine Strukturanalogie zwischen dem Vertrauen auf Gott in der Religion und dem Vertrauen auf den Markt, eine Strukturanalogie, die von neoliberalen Theoretikern durch die Verwendung religiöser und theologischer Begriffe belegt wird. Diese Strukturanalogie erschöpft sich nicht in religionssoziologischen oder religionsphänomenologischen Aspekten, sondern ist in strengem Sinne theologisch zu verstehen. Das Vertrauen auf die Ökonomie des neoliberalen Marktes ist religiös und real, nicht metaphorisch oder in einem analogen Sinn als Vertrauen auf einen Götzen und als Götzendienst zu qualifizieren. Dieses geforderte unbedingte Vertrauen will real und konkret Herrschaft über Menschen absichern. Es ist Aufgabe der Theologie und einer theologischen Wirtschaftsethik, diese Strukturanalogie aufzudecken. Die Theologie sollte sich deshalb mit der Verwendung religiöser Begriffe bei neoliberalen Theoretikern auseinandersetzen. Denn diese füllen die Begriffe der Religion mit neoliberalen Inhalten, um denselben Anspruch an den Menschen legitimieren zu können, den auch die Religion auf den Menschen erhebt. Die biblische Götzenkategorie ist eine analytische Kategorie. Sie kann einen Beitrag zur Entmythologisierung ideologischer Rede über den Markt leisten, der weder dämonisiert noch verteufelt werden soll. Der Markt soll das sein können, was er wirtschaftlich ist: ein effektives Instrument, das auf seine Brauchbarkeit für ein jenseits des Marktes liegendes Ziel kritisch analysiert werden muß. Wo er jedoch mit religiösen Begriffen überhöht wird, dort muß Theologie ideologiekritisch Einspruch erheben. Der US-amerikanische nobelpreisgeehrte Ökonom Paul A. Samuelson zog aus dem Scheitern der freien Märkte in Theorie und Praxis 1981 das Resümee: “Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, ein Zurück 967 zum Laissez-faire-Kapitalismus gibt es wohl oder übel nicht mehr.” Das Urteil stammt aus der Zeit vor der Wende durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die Siegfried Katterle eine “Konterrevolution” und ei968 nen “Wettlauf in die Vergangenheit” nennt. Es war offensichtlich verfrüht. Ein marktradikaler Neoliberalismus, der jede Abweichung vom institutionellen Arrangement freier Märkte bekämpft, konnte sich seit Beginn der 80er Jahre zunächst in den USA und Großbritannien durchsetzen, hatte aber auch Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft auf dem 967 968 P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 335. S. Katterle, Die neoliberale Wende zum totalen Markt aus der Sicht des Nordens, 47, 63. 320 europäischen Festland, das bislang vom Wirtschaftsstil des “Rheinischen Kapitalismus” geprägt war. 321 322 VIERTER TEIL WIRTSCHAFTSETHIK UND WIRTSCHAFTSPRAXIS 323 9. WIRTSCHAFTSETHISCHE IMPULSE Wirtschaft gibt es nur, weil es Menschen gibt; sie ist vom Menschen und für den Menschen geschaffen. Nach Georg Wünsch ist es Aufgabe der Wirtschaftsethik, “der Wirtschaft als Mittel ein ethisches Ziel zu set969 zen” . Die Wirtschaft ist ein Mittel; Zweck der Wirtschaft ist es, dafür zu sorgen, daß die Güter bereitgestellt werden, die zu einem guten Leben und gerechten Zusammenleben dienlich sind. Wohl erstmals wird Lebensdienlichkeit als entscheidendes Maß von Wirtschaft von Emil Brunner in seiner Ethik Das Gebot und die Ordnungen genannt: “Die Dienlichkeit, die Lebensdienlichkeit, ist der primäre gottgewollte Zweck der Wirtschaft. Damit ist gesagt, daß die Wirtschaft Mittel ist und nicht 970 Zweck.” Nicht anders Alexander Rüstow, der 1945 solche Zeiten bedauerte, in denen an Selbstverständliches erneut erinnert werden muß: “Da die Wirtschaft um des Menschen willen da ist, und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen - was ist das für eine Zeit, in der eine solche Selbstverständlichkeit ausgesprochen werden muß! -, so ist die Vitalsituation des wirtschaftenden Menschen ein überwirtschaftlicher Wert innerhalb der Wirtschaft. Die Wirtschaft ist Mittel, die Vitalsituation aber 971 Zweck.” Die Sozialethiker Arthur Rich und Peter Ulrich haben im Anschluß an Emil Brunner die Lebensdienlichkeit der Wirtschaft das aus972 schlaggebende wirtschaftsethische Kriterium genannt. Das entscheidende Kriterium der Ökonomie ist also nicht die Effizienz und nicht die 969 970 971 972 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 427, auch: 363f. E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 387. A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 91. Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Perspektive, Bd. 2, Gütersloh 1990, 23; P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 11, 204, 225, 334, 369, 430, 432 324 Produktivität, sondern die Lebensdienlichkeit: Ökonomie soll dem Leben dienlich sein. Deshalb hat sie sich an den Bedürfnissen des Menschen auszurichten und nicht umgekehrt. Wirtschaft ist somit nicht eine Ordnung, die in sich selbst ruht und ihren eigenen, vielleicht sogar quasi natürlichen Gesetzen folgen würde. Sie ist funktional zu verstehen, denn sie ist ein Mittel zur Erfüllung eines gesellschaftlichen Zweckes. Der Maßstab Lebensdienlichkeit dringt darauf, daß die Kriterien, an denen sich wirtschaftliches Handeln auszurichten hat, nicht aus der Wirtschaft selber abgeleitet werden können. Wann immer dies geschieht, besteht ein ökonomistischer Begründungszirkel. Die Kategorie der Lebensdienlichkeit verweist auf Bilder, Vorstellungen und normative Aspekte des guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens, die sich auch in der Bibel finden. Der Rückgriff auf diese biblische Tradition ist der spezifische Beitrag einer theologischen Wirtschaftsethik. Eine an biblischen Impulsen orientierte Wirtschaftsethik wird dabei ihre normativethische Logik des guten Lebens und der Gerechtigkeit, die an den Armen orientiert ist, in einen kritischen Dialog mit der normativen Logik des Marktes bringen müssen. Die Frage für eine an biblischen Kategorien orientierte theologische Wirtschaftsethik lautet deshalb: Kann die wirtschaftsethische Aufgabe, nämlich der Ökonomie ein ethisches Ziel zu setzen, sich von den ethischen Zielen inspirieren lassen, welche die Tora in ihrem Umgang mit der Ökonomie ihrer Zeit gesetzt hat? Die Politische Ökonomie der Tora hatte mit einer Frage zu tun, mit der auch heutige Wirtschaftsethik zu tun hat: Wie ist das Verhältnis zwischen der Logik der Ökonomie und der Logik des Humanums zu bestimmen? In ihrem Umgang mit der Ökonomie verfolgt die Bibel eine Orientierung an “ethi973 schen Zielen” , die zu ihrer Zeit durchaus wirtschaftspraktisch waren. Die Politische Ökonomie der Bibel muß als eine Ökonomie verstanden werden, in der Solidarität, Recht und Gerechtigkeit die entscheidenden Orientierungen bilden, die jede Letztgültigkeit von ökonomischen Zielen zugunsten einer Logik der Humanität außer Kraft setzen. Diese Logik der Humanität ist eine Vorzugsregel, die den Gesichtspunkten der Lebensdienlichkeit einen unbedingten Vorrang einräumt. Das Ethos der Tora steht dabei in einer direkten Auseinandersetzung mit der ökonomischen Rationalität. “Das Ethos der Solidarität wird gegen diese öko974 nomische Logik aufgerufen.” Die biblische Rationalität der Solidarität und Gerechtigkeit soll also gegen die ökonomische Rationalität ihr Recht behalten und Geltung bekommen. Die Frage lautet demnach für eine theologische Wirtschaftsethik: Welche Bedeutung kann diese biblische 973 974 O. Weinberger, Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, 74. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 103. 325 Rationalität unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft haben? Ethik und Wirtschaft sind nicht voneinander getrennt, sondern zwei Aspekte des gleichen Sachverhaltes. Wenn die Wirtschaft verschiedenen Zwecken folgt, dann verfolgt sie dabei verschiedene ethische Zielsetzungen, denn in den Zwecken sind jeweils unterschiedliche ethische Werte implizit oder explizit enthalten. Darin zeigt sich, daß “alles Ethische 975 eine sachliche und alles Sachliche eine ethische Komponente” hat, wie Arthur Rich das Ineinander von Ethik und den Sachnotwendigkeiten be976 schreibt. Welche Zwecke verwirklichen nun welche Werte? Arthur Rich hat ein wirtschaftsethisches Viereck mit den fundamentalen, humanen, sozialen und ökologischen Zwecken der Ökonomie formuliert. Von entscheidender Bedeutung jedoch ist die Tatsache, daß die Beziehungen innerhalb dieses Vierecks von Spannungen gekennzeichnet sind. Zunächst gibt es den fundamentalen Zweck der Wirtschaft, der in der materiellen Existenzsicherung besteht. Der implizite Wert dieses fundamentalen Zwecks der Wirtschaft besteht darin, Leben zu sichern. Wirtschaft hat aber darüber hinaus auch einen humanen Zweck, der in der Sorge besteht, daß im Bereich der Wirtschaft und der Produktion auch Ansprüche der Humanität zum Tragen kommen. Humanität der Arbeitsverhältnisse ist der Wert, der dem humanen Zweck der Wirtschaft entspricht. Wo produziert wird, geht es auch um die ethische Frage der Verteilung. Der soziale Zweck der Wirtschaft führt zu den Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Solidarität und Gerechtigkeit sind die impliziten Werte des sozialen Zwecks der Wirtschaft. Wirtschaften hat es immer mit der Nutzung der Schöpfung zu tun. Die ethische Dimension legt die Art und Weise dieser Nutzung offen. Der ökologische Zweck der Wirtschaft dringt darauf, das ökonomische Ziel der Wohlfahrt des Menschen so zu verfolgen, daß das Wohl der außermenschlichen Welt möglichst ungefährdet bleibt. Ethisch bedeutet dies die Preisgabe eines anthropozentrisch verengten Verständnisses des menschlichen Verantwortungsbereichs zugunsten einer ganzheitlichen, die ökologische Dimension der Wirklichkeit einbeziehenden Perspektive. Ökologische Zwecke, die ausschließlich auf den ökologischen Wert achten, können so zum Beispiel in Konflikt mit dem fundamentalen Zweck der Wirtschaft geraten, nämlich materielle Lebensgrundlagen zu sichern oder zu maximieren. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein: Dem fundamentalen Zweck der Wirtschaft wird alles andere untergeordnet. Wann immer dies geschieht, herrscht Ökonomismus. Die verschiedenen Zwecke müssen in einer 975 976 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 82. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 21-43. Wohl im Anschluß an: E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 386-400. 326 ausgewogenen Relation zueinander stehen. Der eine Zweck darf sich nicht auf Kosten eines anderen durchsetzen. Hinter den Zwecken stehen nicht einfachhin bloß abstrakte Absichten. Sie sind zumeist an Absichten von Interessengruppen und sozialen Bewegungen gebunden. Die Relationalität der Zwecke bedingt deswegen auch eine Machtbalance derjenigen Interessengruppen, die für die unterschiedlichen Zwecke eintreten. Zielkonflikte zwischen den verschiedenen Zwecken sind nicht zu vermeiden, sondern der Normalfall. In der Suche nach einer Balance der Zwecke entfaltet sich eine produktive Dynamik, die den Charakter einer machtförmigen Auseinandersetzung annehmen kann. Das ökonomische Sachargument kann daher nicht nur eine interessengeleitete Seite wie die Wirtschaft für sich beanspruchen und erwarten, daß das von der Theologie vorgetragene ethische Argument gegenüber dem ökonomischen zurücktreten muß, indem auf die ökonomische Inkompetenz der Theologie verwiesen wird. Die Relationalität der Zwecke will ein solches Gefälle verhindern, denn das Sachliche und das Ethische sind ineinander verschränkt. Diese vier Zwecke der Wirtschaft stehen in einem solchen Beziehungsverhältnis zueinander, daß die Relationalität der Werte ein 977 unabdingbares Kriterium für das Menschengerechte ist und bleibt. Das Humanum läßt sich folglich nicht auf einen einzigen Grundwert zurückführen, sondern ergibt sich aus einer ausgeglichenen Konvergenz aller Zwecke. Kommt es zu einer Vorherrschaft eines einziges Zweckes zu Lasten anderer Zwecke, ist nicht nur das Sachgerechte der Wirtschaft, sondern auch das Humanum gefährdet. Das Humanum und das Sachgerechte in der Ökonomie sind nämlich ineinander verschränkt. In Anlehnung an das wirtschaftsethische Viereck von Arthur Rich will ich im folgenden in einem wirtschaftsethischen Sechsecks darstellen, wie biblisch begründete Anliegen und Entscheidungen für das Humanum und das Sachgerechte in der Wirtschaft zur Geltung gebracht werden können. Das biblische Argument mit seinen Einsichten, Werten und Kategorien und das ökonomische Sachargument sollen kritisch integriert werden. Nur so läßt sich ein Fundamentalismus nach zwei Seiten hin verhindern: ein biblischer und ein ökonomischer Fundamentalismus, der jeweils nur seine eigene Rationalität akzeptiert. Die Formel von der kritischen Integration des biblisch-ethischen und des ökonomischsachgerechten Arguments beschreibt eine doppelte Aufgabe. Das biblische Argument muß die Einsichten des Sachgerechten der Ökonomie und das Sachgerechte der Ökonomie muß die ethischen Einsichten des biblischen Arguments jeweils kritisch integrieren können. Das vorgelegte 977 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 39. 327 Konzept eines Sechsecks der Wirtschaftszwecke und wirtschaftsethischen Werte kann den Ort beschreiben, wo die Impulse des Menschengerechten der Ethik und des Sachgerechten der Ökonomie aufeinandertreffen. Eine “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” deutet diese widerstrebenden Kräfte ethisch und sucht über Konflikt und Auseinandersetzung einen ethischen Lernprozeß anzustoßen, der politisch ein höheres Maß an Gerechtigkeit und Humanität zu verwirklichen hilft. Diese Impulse können keine umfassende Wirtschaftsethik darlegen. Sie weisen jedoch eine Richtung für eine solche politisch wirksame und ethisch gehaltvolle Inspiration der Ökonomie, die spezifische Impulse der christlichjüdischen Tradition aufnimmt und wirtschaftsethisch übersetzen kann. Eine “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” nimmt theologisch das Exodus-Motiv auf. Theologisch und wirtschaftsethisch bedeutsam ist, daß der Exodus ein Aufbruch der Arbeitssklaven aus unwürdigen Arbeitsverhältnissen ist. In Erinnerung gehalten, begründet diese Erfahrung mit unwürdigen Arbeitsverhältnissen eine biblische Würdetradition, die geschichtlich wirksam war und innovativ in je neue sozio-ökonomische Situationen wirtschaftsethische Impulse geben konnte. Nach der Befreiung aus dem “Haus der Knechtschaft” (Ex 13,3) ging es darum, Leben und Wirtschaften so zu organisieren, daß die errungene Freiheit auch 978 unter neuen Bedingungen bewahrt wurde. Durch seine Geschichte hindurch blieb das Volk Israel dieser Grundlinie verpflichtet, “gerade angesichts der Herausforderung inhumaner wirtschaftlicher und politischer Zwänge solche Regeln einzupflanzen, die der befreienden Solidarität Gottes und seinem sich daraus ergebenden Anspruch nach mitmensch979 licher solidarischer Gerechtigkeit mehr entsprachen” . Eine theologische Wirtschaftsethik wird biblisch begründet jene Themen auswählen, die an der Seite der Schwächeren die Konsequenzen aller Maßnahmen und ökonomischen Entscheidungen beurteilen hel980 fen. Wenn sie von den Benachteiligten her argumentiert, dann tut sie es mit jenem hermeneutischen Ansatz, den Enrique Dussel “das rationa981 le kritische Kriterium schlechthin” nennt und als kategorischen Impera982 tiv formuliert: “Befreie den Armen!” . Wie in Abschnitt 5. dargelegt , befinden sich in der real existierenden Marktwirtschaft Arbeitnehmer strukturell in einer abhängigen und gegenüber den Kapitaleignern nicht gleichberechtigten Position. Die abhängig Beschäftigten sind strukturell 978 979 980 981 982 F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit. R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 22. So F. Hengsbach, Wirtschaftsethik, 72; vgl. dazu den Ansatz von E. Dussel, wie er oben in Abschnitt 2.3 diskutiert wurde. E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts der geschichtlichen “Vielheit” der Moralen legitimieren? 811; vgl. dazu oben Abschnitt 3.2. E. Dussel, Ethik der Gemeinschaft, 64, 83. 328 die schwächere Arbeitsmarktpartei. Das Kriterium von Enrique Dussel, wirtschaftsethisch übersetzt, bedeutet, daß der Mensch und seine Arbeit als verbindlicher Maßstab einer wertenden Analyse anzusehen sind. In den “Wirtschaftsethischen Impulsen”, wie sie in den folgenden Abschnitten dargestellt werden, wird dieser verbindliche Maßstab auf verschiedene Problemfelder entfaltet. Die hier vorgelegten wirtschaftsethischen Impulse stellen den Versuch dar, ausdrücklich biblisch-exegetische Einsichten zu rezipieren und für die wirtschaftsethische Reflexion wirksam zu machen. Sie nehmen die individualethischen Leitlinien der Würde der Person (Würde der menschlichen Arbeit), der Würde der Person in solidarischen Bezügen (Solidarisch arbeiten) sowie des Lebens der Menschen in ihrer Mitwelt (Mit der Schöpfung versöhnt arbeiten) auf. Diese arbeitsethischen Impulse reichen jedoch nicht aus, die Felder, auf denen die Würde der Person und die solidarische Verbundenheit der Menschen beschädigt werden, zum Thema der Gestaltung der Wirtschaft zu machen. Deshalb müssen sie auch durch institutionenethische Impulse (Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen, Sorgsam haushalten, Bereicherung begrenzen) erweitert werden, die die Wirtschaft strukturell gestalten. Individualund institutionenethische Motive sollen so verzahnt und integriert werden, daß eine Verkürzung der Wirtschaftsethik allein auf individualethische Aspekte oder auf die Rahmenordnung als dem alleinigen Ort der Ethik vermieden wird. Die Ausführungen in Abschnitt 8.1 haben gezeigt, daß die Väter der Sozialen Marktwirtschaft aus einer biblischen Fundierung heraus eine Neuordnung der Ökonomie nach dem Desaster des freien Marktes in der Weltwirtschaftskrise und dem Hitler-Faschismus haben inspirieren wollen. Das hier vorgelegte Konzept einer theologischen Wirtschaftsethik, die sich an biblischen Kategorien und Einsichten orientiert, geht über Theorie, Geltungsanspruch und Anliegen der real existierenden Sozialen Marktwirtschaft hinaus. Kann der Umgang der Bibel mit der Ökonomie ihrer Zeit einen Beitrag zur Lösung der derzeitigen globalen Krise der Ökonomie leisten? Oder anders gefragt: Können vom Umgang der Bibel mit der Ökonomie ihrer Zeit Impulse zu mehr Gerechtigkeit und Humanität im globalen Markt ausgehen? 9.1 Erster wirtschaftsethischer Impuls: Würde der menschlichen Arbeit achten Arbeit ist zwar grundlegend für das Menschsein; Arbeit und Menschsein sind aber nicht identisch. Wie geht die biblische Tradition mit dieser Ein- 329 sicht um? Was immer biblisch und theologisch über Arbeit zu sagen ist, muß von dem theologischen, sozial- und wirtschaftsethisch bedeutsamen Grunddatum ausgehen: der Erfahrung der Knechtschaft in Ägypten und der Befreiung durch JHWH aus dieser Lage. Israel schuf sich in der Tora ein Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht, das mit seinen zahlreichen sozialen Bestimmungen vor einem Rückfall in ägyptische Verhältnisse bewahren will. Der Exodus ist ein Ausgang aus ungerechten Arbeitsverhältnissen in Ägypten und ein Weg in eine Freiheit, die auch am Ort der Arbeit real erlebbar werden soll. Diese Freiheit ist jedoch nicht ein für allemal gegeben, sondern muß immer wieder neu in veränderten geschichtlichen und ökonomischen Konstellationen realisiert werden. Deshalb ist die Erinnerung an die Arbeit in Verhältnissen der Ungerechtigkeit im Sklavenhaus Ägypten wichtig. Aus der Erinnerung wird ein Ethos lebendig gehalten, das die Verhältnisse der Arbeit normativ beurteilen und gestalten kann. “Gott als der Barmherzige begründet ein Ethos der Solidarität und 983 der Barmherzigkeit mit dem Schwachen in der Gesellschaft.” Die biblische Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen will den Menschen als Statthalter oder Repräsentanten Gottes auf Erden 984 auszeichnen und seine besondere Nähe zu Gott ausdrücken. Wie der altorientalische Götterhimmel, so kannten auch die griechischen Götter eine Zweiteilung - wie im Himmel, so auf Erden. Oben ist Muße, unten Plackerei. Anders die Bibel: Sie reißt Arbeit und Ruhe nicht auseinander und teilt Arbeit und Ruhe nicht auf Klassen auf. Der Gott der Bibel arbeitet und ruht, nachdem er sein Werk vollendet hat (Gen 2,1f.). Die Schöpfungswerke sind in eine Ganzheit der Zeit eingeordnet. “Die Tage des 985 Wirkens haben ihr Ziel in einem Tag, der anders ist als sie.” Der Sabbat wird mit der Schöpfung gestiftet und als ein Tag verstanden, der eine Ordnung widerspiegelt, die mit der Schöpfung gegeben ist (Ex 20,11). Die Schöpfungserzählung sieht wie das ganze Alte Testament, daß die Arbeit zum Menschsein gehört. Ein Leben ohne Arbeit kann kein volles, erfülltes Leben sein; es wäre kein menschenwürdiges Dasein. Gerade weil Menschen zur Sicherung ihrer Existenz arbeiten müssen, ist die Frage außerordentlich wichtig, unter welchen Verhältnissen und zu welchem Ziel gearbeitet wird. Trotz dieser dem Menschen aufgetragenen Arbeiten ist die Arbeit nicht sein Lebens- oder Existenzziel. Sein Ziel ist, wie das der Schöpfungswerke, hingeordnet auf die Ruhe des siebten Tages. Darin zeigt sich eine Wertentscheidung, die den arbeitenden Menschen schützt. Er ist nicht für die Arbeit da. 983 984 985 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85. Vgl. C. Westermann, Genesis 1, 203-218. C. Westermann, Schöpfung, Stuttgart 1971, 94. 330 9.1.1 Arbeit ist keine Ware Ägypten ist eine Hochkultur und nach dem Urteil der Bibel sehr wohl ein Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Num 16,13); doch dieses Ägypten ist nach Ex 1,14 ebenso ein Land, in dem die Hebräer durch harte Zwangsarbeit unterdrückt werden. Erlittene Zwangsarbeit, nicht die politische Unterdrückung oder die beachtliche ökonomische und kulturelle Leistung des Landes sind die zentrale biblische Deutungskategorie für Ägypten. Die Erfahrungen mit unwürdiger Arbeit in Ägypten werden für Israel zu einem Impuls, Bedingungen und Regelungen für eine menschenwürdige Arbeit zu schaffen. Ägyptische Verhältnisse sollen also in Israel nicht herrschen (Dtn 6,12; 8,14; 17,16). Die Tora enthält deshalb auch Regulierungen für die sozial- und arbeitsrechtlichen Verhältnisse. Walther Bienert mißt der Tora gar eine solche Gestaltungskraft zu, daß er schreibt: “Selbst wenn manche Einzelheit unter veränderten Verhältnissen nicht kopierbar ist, bleibt das AT doch die größte Sozialord986 nungskraft der vorchristlichen Antike.” Detaillierte Untersuchungen 987 müßten im einzelnen erst zeigen, ob dieses Urteil zutrifft. Einige Hinweise sollen diese Tendenz verdeutlichen. Sklaverei war zur Zeit des Zweiten Tempels (515 v. Chr bis 70 n .Chr.) als Institution zwar keineswegs abgeschafft, sondern immer noch verbreitet. Zwischen jüdischen und nicht jüdischen Sklaven wurde jedoch streng unter988 schieden. In Galiläa gab es zur Zeit Jesu keine jüdischen Leibeigenen 989 und auch keine Latifundien mit Sklavenarbeit. Jüdische Sklaven hat es in talmudischer Zeit nur im Sinne zeitlich befristeter Schuldknechtschaft gegeben, während die Sklaven immer nichtjüdischer Herkunft waren. Angesichts dieser Tatsache meint Ben-David, daß es richtiger sei, einzig und allein von Schuldknechten statt von Sklaven zu sprechen. Sklave im 990 Vollsinn des Wortes ist allein der nicht-jüdische Sklave. Durch vier 986 W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 112. Die rabbinische Theologie hat diesen Exodus-Impuls weiterverfolgt und in der Halacha “ein systematisches Arbeits- und Arbeiterrecht entwickelt, dem bis in die Moderne kein vergleichbar arbeitnehmerfreundliches zur Seite zu stellen war (wie Vertragsrücktritts- und Streikrecht, Arbeitszeitbegrenzung, Ruhetag, Überstundenverbot bei gleichzeitigem Verbot des Lohnniveaudrucks, Gewerkschaftsbildung.” So M. Brocke, Art. Arbeit II. Judentum, in: TRE Bd. 3, 618. 988 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 69. 989 J. Habbe, Palästina zur Zeit Jesu. Die Landwirtschaft in Galiläa als Hintergrund der synoptischen Evangelien, Neukirchen-Vlyun 1994, 56.66; J. Klausner geht von einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Latifundien aus. J. Klausner, Jesus von Nazareth, 242; auch: J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 125ff. 990 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 70f. 987 331 Umstände konnten nach Arye Ben-David Juden um die Zeitenwende zu Sklaven werden: Diebstahl, Schuldsklaverei aus Verschuldung in wirtschaftlicher Not, Verkauf eines Schuldners durch den Gläubiger, Kriegsgefangenschaft. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Lage der jüdischen Arbeiter zur Zeit Jesu besser als die der römischen, ägyptischen oder 991 babylonischen Arbeiter gewesen ist. Der Terminus “Sklave” ist in der griechisch-römischen und auch altorientalischen Antike ein juristischer Begriff, der jemanden benennt, der als Person Eigentum eines anderen ist. Grundsätzlich anders war die Rechtsstellung des jüdischen Sklaven, denn er war kein Leibeigener. Den rechtlichen Schutz für die jüdischen und nicht-jüdischen Sklaven beschreibt Ben-David folgendermaßen: “Sie (die Sklaven, F.S) galten als Menschen und durften von ihrem Herrn nicht beleidigt, mißhandelt oder 992 verletzt werden.” Die Rechtsentwicklung in der Tora und später auch im Talmud führte dazu, den jüdischen Sklaven als gleichwertigen und freien Menschen anzusehen und mit Rechten auszustatten. Der Talmud bestimmte: “Der Leib des hebräischen Sklaven wird beim Kauf nicht er993 worben.” Deshalb kommentiert P. Billerbeck die Belegstellen zum Umgang mit Sklaven im Judentum folgendermaßen: “Was sein Herr erwarb, 994 war ausschließlich seine Arbeitskraft.” Der jüdische Sklave war im Grunde genommen ein für sechs Jahre verdingter Tagelöhner. Joseph Klausner weist aber auf eine Tatsache hin, die das Bewußtsein des Sklaven in Israel im Unterschied zu dem des Sklaven in anderen antiken Gesellschaften nachhaltig prägte. Der jüdische Sklave wußte, daß er 995 nach sechs Jahren frei wurde. Die Position des jüdischen Sklaven war rechtlich so geregelt, daß seine personale Würde nicht beschädigt wurde. So regulierte der Talmud die Arbeitsbedingungen sehr ausführlich. Er verbot beispielsweise, daß der jüdische Sklave Nachtarbeit verrichten mußte oder zu erniedrigenden Arbeiten (wie Badedienste etc.) herangezogen werden konnte. Darüber hinaus wurde er mit Rechtspositionen ausgestattet: Er hatte in Nahrung, Kleidung und Ruhelager Anspruch auf 996 Gleichstellung mit seinem Herrn. Der jüdische Sklave war also Träger 991 992 993 994 995 996 J. Klausner, Jesus von Nazareth, 241. A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 71. BM 99a (Schemuel um 254) und BM 8,3, zit.nach: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 110. Dort weitere Belege und Ausführungen zur Rechtsstellung der jüdischen Sklaven. H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. IV, 2, München 1922-1928, 709, zit. In: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 110. J. Klausner, Jesus von Nazareth, 243. Dort auch weitere Ausführungen zur Behandlung nichtjüdischer Sklaven und Sklavinnen, die wie “Wertgegenstände oder Vieh” gekauft wurden (J. Klausner, Jesus von Nazareth, 244ff.). so bei: H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. IV, 2, München 1922-1928, 709, zit. in: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre 332 von eigenen Rechten, seine Würde als menschliche Person blieb von den arbeitsrechtlichen Umständen, dem Status als Sklave, unberührt. Die Rechtsstellung der jüdischen Sklaven unterschied sich wesentlich 997 von dem Sklavenrecht der Antike. Während die Rechtstexte des Alten Orients beispielsweise bei Personenschäden unterschieden, ob der Geschädigte Sklave oder ein freier Mensch war, kannte die Tora eine sol998 che Unterscheidung nicht. Nach griechischer Vorstellung führen Sklaven ein Leben, das nicht die Bezeichnung menschlich verdient. Deshalb und nicht aus einem gattungsmäßigen Grund wurde den Sklaven das Menschsein abgesprochen. Im römischen Recht besaß der Sklavenhalter die “vitae necisque potestas” (die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden). Nach der Tora wurde, anders als im antiken Recht, der Sklave nicht nach dem Sachenrecht behandelt. Die Rechtsentwicklung führte dazu, daß der jüdische “Sklave” kein Leibeigener war, sondern in einem Arbeitsverhältnis stand, das faktisch dem eines abhängigen Lohnarbeiters gleichkam. Rechtlich blieb der hebräische “Sklave” als Person frei. Arye Ben-David spricht angesichts der Bestimmungen und Regulierungen der Arbeitsverhältnisse davon, daß es ein ausgeprägtes Arbeitsrecht gegeben habe, das ausdrücklich die schwächere Partei am Arbeitsmarkt schützte. Anders als die benachbarten Ökonomien der Antike, die menschliche Arbeit geringschätzten, ihre Ökonomien auf Sklavenarbeit aufbauten und Sklaven die vollen Bürger- oder Menschenrechte, ja sogar das volle Menschsein nicht zubilligen wollten, hat die Tora und der sie weiterentwickelnde Talmud die Würde des Menschen und seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft niemals gänzlich suspendiert oder in Frage ge999 stellt. Sozialethisch ist mit der Sklavenfrage die Stellung des Menschen als Subjekt und seine personale Würde im Arbeitsprozeß angesprochen. Der Hannoveraner Theologe Gerhard Uhlhorn hat schon vor über hundert Jahren ähnlich wie die ersten Sozialenzykliken der katholischen Kirche gegen die Behandlung der menschlichen Arbeit als einer Ware Stellung genommen. In einer Zeit, die sich ihrer Humanität so brüste, sei das Bewußtsein von Menschenwürde gering, so Gerhard Uhlhorn. “Es ist die Aufgabe der Kirche, das Bewußtsein wieder zu wecken, daß der Mensch, auch der geringste, mehr ist als bloße Arbeitskraft, daß er Got- 997 998 999 der Bibel, 110. Dort auch weitere Nachweise und Ausführungen. Vgl. auch A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 69ff. Vgl. P. Arzt, “... einst unbrauchbar, jetzt aber gut brauchbar.” (Phlm 11) Das Problem der Sklaverei bei Paulus, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”, 132. Vgl. die Rechtssammlung in: E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 75-78. A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 67. 333 1000 tes Ebenbild ist.” Die Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 erklärte im gleichen Sinne: “Im Wirtschaftsprozeß darf darum die Arbeit niemals 1001 als bloße Ware angesehen werden.” Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach spricht diese sozialethische Grundüberzeugung so aus, daß 1002 er von einem “Grundwert Arbeit” ausgeht. Wenn eine theologische Sozialethik sich weigert, die Arbeit der Menschen im Produktionsprozeß als Ware oder nach dem Sachenrecht zu verstehen, steht sie in der Traditionslinie eines biblischen Ethos, das an die Erfahrungen mit Sklavenarbeit unter ägyptischen Verhältnissen erinnert. Christliche Sozialethik kann auf eine lange Tradition verweisen, die sich gegen die liberale Gleichbewertung der Arbeit des Menschen mit anderen instrumentellen Produktionsfaktoren wendet. Über die Arbeit des Menschen kann aus sozialethischer Perspektive nicht als Ware oder Produktionsfaktor gesprochen werden. Sozialethik wird daher wegen der Mißachtung der anthropologischen Qualität der Arbeit Einspruch gegen die ökonomische Redeweise vom Produktionsfaktor Arbeit erheben. Die anthropologische Qualität der Arbeit hat für die neoklassische Ökonomie keine Bedeutung. Sehr deutlich wird dies in der neoliberalen Doktrin. Sie stellt Arbeit ordnungspolitisch den anderen Produktionsfaktoren gleich. Der Kommentar von Wolfram Engels in der Wirtschaftswoche illustriert in populär-journalistischer Sprache den Stellenwert von Arbeit im neoliberalen Wirtschaftsverständnis: “In einer Marktwirtschaft gelten für Arbeit dieselben Gesetzmäßigkeiten wie für Waren. Arbeit wird nur gekauft, wenn ihr Wert für den Unternehmer höher ist als ihr Preis. Ideologen wie Gewerkschafter sehen darin ein Entwürdigung des Menschen. Der Mensch, so sagen sie, sei keine Ware; für Menschen dürfe nicht gelten, was für Blumentöpfe, Apfelsinen oder Aluminiumschrott gilt. Gegen Naturgesetze gibt es solchen Widerspruch nicht. Wenn ein Mensch aus dem Fenster springt, dann fällt er mit einer Beschleunigung von 9,81 m/sec2 und damit genauso schnell wie ein Blumentopf - ohne daß die evangelische Soziallehre das je als entwürdigend angeprangert hätte.” 1003 Vom Standpunkt der ökonomischen Rationalität interessiert an Arbeit nur der Marktpreis. Die Arbeit wird den Gesetzen des Marktes unterworfen und dadurch zur Ware. Die Bewertung der Arbeit als Ware argumen1000 1001 1002 1003 334 G. Uhlhorn, Katholizismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage (1887), in: G. Uhlhorn, Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990, 238. Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat, hg. von der Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1938, Teil V. A.(iv), 182. F. Hengsbach, Die Arbeit hat Vorrang. Eine Option katholischer Soziallehre, Mainz 1982, 946. W. Engels, Stoppsignal, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 18 vom 25.4.1986, 144. tiert in einer volks- oder betriebswirtschaftlichen Logik, die nicht registriert, daß ethisch die Würde der menschlichen Arbeit in Frage gestellt wird. Oswald von Nell-Breuning nennt dies den Punkt, in dem am allerschärfsten die Unvereinbarkeit von Neoliberalismus und christlicher So1004 zialethik zum Vorschein kommt. Unter Neoliberalismus versteht Oswald von Nell-Breuning hier jene wirtschaftspolitische Richtung, zu der auch die Soziale Marktwirtschaft zählt. Eine Wirtschaftsordnung, die Arbeit ordnungspolitisch den anderen instrumentellen Produktionsfaktoren gleichstellt, ist nicht wirklich sozial befriedigend. Dies gilt auch für die Soziale Marktwirtschaft. Erst dann kann von einer sozial befriedigenden Wirtschaftsordnung die Rede sein, wenn ordnungspolitisch die Arbeit in einer Weise gewertet wird, die dem Subjektcharakter und der anthropologischen Qualität der Arbeit des Menschen gerecht wird. Von einem anthropologisch-personalen Aspekt aus betrachtet, ist die Arbeit des Menschen etwas anderes als eine Ware. Sie ist mit der menschlichen Person als ihrem Träger untrennbar verbunden. Deshalb tut eine christliche Wirtschaftsethik gut daran, eine Gleichwertigkeit oder Gleichrangigkeit unterstellende Redeweise von den Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit nicht nur als unsachgemäß abzulehnen. Einer solchen Begrifflichkeit liegen verfälschende Kriterien zugrunde, die elementare Aspekte der Wirklichkeit verdrängen. Kapital und Arbeit können nicht auf einer Ebene als gleichwertige Produktionsfaktoren bezeichnet werden. Die volkswirtschaftliche Terminologie unterstellt hingegen eine Gleichrangigkeit, gibt aber nur jene dehumanisierende Wertung der lebendigen Arbeit des Menschen wieder, die das tote Kapital mit der lebendigen Arbeit gleichsetzt. Arthur Rich sieht deshalb zu Recht die Subjekthaftigkeit des Menschen angesprochen. Ein Vorrang des Kapitals vor der Arbeit würde die Arbeit unter das Kapital subsumieren und den Menschen als 1005 Subjekt preisgeben. Für die klassische Ökonomie bei Adam Smith und David Ricardo war Arbeit prioritär und wurde als Quelle aller wirtschaftlichen Güter verstanden. Das neoklassische ökonomische Denken hat Arbeit vom Zentrum 1006 der Wertschöpfung an den Rand gedrückt. Der Bericht an den Club of Rome Wie wir arbeiten werden sieht in der Abkehr von einer Werttheorie der Arbeit und der Hinwendung zu den Begriffen des Nutzens und der 1004 1005 1006 O. von Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg 1960, 80. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 86. Das verkehrswirtschaftliche Funktionieren des Marktes mit den Produktionsfaktoren wurde zum erkenntnistheoretischen Ansatz. Für David Ricardo (1772-1823) war die Verteilung noch das wichtigste Problem. Er suchte alle Produktionsfaktoren auf Arbeit zurückzuführen und sie so zum Verteilungsmaßstab zu machen. Erst seit A. Smith wird Arbeit unter dem Aspekt des Mittels interpretiert. Vgl. dazu die Ausführungen bei: F. Segbers, Streik und Aussperrung sind nicht gleichzusetzen. Eine sozialethische Bewertung, Köln 1986, 290ff. 335 Präferenzen eine Entwicklung, welche dazu geführt habe, daß die Bedeutung der Arbeit aus der ökonomischen Theorie verdrängt wurde. “Dementsprechend war der Bezugspunkt innerhalb des Wirtschaftssys1007 tems nun nicht mehr der Produzent, sondern der Konsument.” Ökonomietheoretisch verschwand die spezifische Bedeutung von Arbeit für den Prozeß der Güterherstellung mit der Folge, daß die Neoklassik die Produktionsfaktoren ordnungspolitisch gleichstellte und den Wert der Arbeit des Menschen ignorierte. Die Neukonzipierung der Arbeitsorganisation in neuen Managementkonzepten rückt den Menschen wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Seine kreativen und kommunikativen Fähigkeiten seien im Fordismus ungenutzt und ignoriert worden. Wissen und Können, das Potential der Mitarbeiter sei besser auszuschöpfen. Hans-J. Bullinger, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation auf dem Forum “Mensch - Arbeit - Technik”: “Die Mitarbeiter des neuen Unternehmens werden weder als wegzurationalisierende „Störfaktoren‟ einer perfekten Organisation noch als bloßes Rädchen einer Maschinerie gesehen, sondern als wertgeschätztes, wesentliches Element des sozio1008 technischen Systems Unternehmen.” Der Bericht an den Club of Rome mit dem Titel Wie wir arbeiten werden rückt die Bedeutung des 1009 Humankapitals ebenfalls in den Mittelpunkt. Es sei ein zentraler Produktionsfaktor. “Von diesem Humankapital hängt vor allem unser Wohl1010 stand und der von künftigen Generationen ab.” Mit der Stärkung der Humanressourcen wird die Achtung der Arbeit des Menschen zu einem Zentralwert. Verschüttete humane Ansprüche an Arbeit können durch die Reorganisation industrieller Arbeit im Zuge der neuen ManagementStrukturen erreicht werden. Die Neubewertung des bedeutenden Stellenwerts der Arbeit und des Menschen darf allerdings die Zwiespältigkeit dieser Konzepte der Stärkung des sog. Humankapitals nicht übersehen lassen. Bereits die Bezeichnung “Humankapital” ist allerdings keines1011 wegs so wertfrei, wie sie sich gibt. Die Rede vom Humankapital meint, daß zusätzlich zu den fachlichen Qualifikationen auch die kommunikativen und kreativen Fähigkeiten der Beschäftigten genutzt werden sollen, und drückt eine Wertentscheidung aus, nach der die Wertschätzung des Wissens und der kreativen Fähigkeiten der Beschäftigten sich 1007 1008 1009 1010 1011 336 O. Giarni u. P.M. Liedke, Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome, Hamburg 1998, 46. Zit: in G. Heller, Mensch - Arbeit - Technik. Forum von Gesamtmetall, Handelsblatt Nr. 215 vom 4.11.1992, 24. O. Giarni u. P.M. Liedke, Wie wir arbeiten werden, 27. Ebd. 27. M. Honecker, Art. Wert, Werte, Werturteilsfreiheit, in: G. Enderle u.a. (Hg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 1263. aus der ökonomischen Verwertung im Rahmen betrieblicher Organisationstrukturen ableitet. Der Mensch als ein wertgeschätztes und wesentliches Element des Produktionssystems erhält diese Achtung aus der instrumentellen Absicht, die wertvolle und teure Ressource Mensch mit eben jenen Eigenschaften, die technologisch nicht subsumierbar sind, effektiver nutzen zu wollen. Die Absicht, Mitarbeiter mit ihren einzigarten Fähigkeiten zur Geltung zu bringen, liegt sicherlich im Interesse der Beschäftigten, und doch ist zu beachten, daß soziale und humane Aspekte einerseits und Gesichtspunkte der praktischen und ökonomischen Vernunft andererseits sich nicht gänzlich decken, sondern sich nur partiell überschneiden. Die Würde der menschlichen Person besitzt stets einen Wert, der nicht auf eine instrumentelle Funktion verengt werden darf. Nachdem die technische Rationalisierung in nicht wenigen Bereichen an ein vorläufiges Ende gekommen ist, ergänzen die neuen Managementmethoden die technische Rationalisierung um eine weitere, nämlich arbeitsorganisatorische Rationalisierung. Diese arbeitsorganisatorische Rationalisierung ist in sich zwiespältig: die Arbeit des Menschen wird als zusätzliche Ressource für die Rationalisierungsmaßnahmen wertgeschätzt und gleichzeitig wird die Reorganisation von Arbeit nicht selten 1012 als tatsächlicher Humanitätsgewinn erlebt. Theologisches Reden in der Traditionslinie des Exodus denkt vom Menschen und seiner Arbeit her und sucht der Mittelpunktstellung des Menschen eine reale ökonomische, soziale und rechtliche Gestalt zu geben, die der Würde des arbeitenden Menschen gerecht wird. Eine am realen Menschen und seiner Arbeit orientierte Ethik wird alle Formen der bloßen Instrumentalisierung menschlicher Arbeit zum Thema ma1013 chen. Wenn theologische Ethik an mehr Humanität in realen Arbeitsprozessen interessiert ist, dann wird sie sehr wohl den erlebbaren Zuwachs von Humanität in der Arbeit bejahen, aber auf den zwiespältigen Charakter des Humanitätsfortschrittes aufmerksam machen müssen. 9.1.2 Arbeit begründet Rechte 1012 1013 Vgl. dazu: E. Senghaas-Knobloch u. B. Nagler u.a. (Hg.), Zukunft der industriellen Arbeitskultur. Persönliche Sinnansprüche und Gruppenarbeit, Münster 1996. G. Brakelmann, Das Recht auf Arbeit, in: J. Moltmann, Recht auf Arbeit. Sinn der Arbeit, München 1979, 9 - 39; ders., Arbeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 8, Enzyklopädische Bibliothek, hg. von F. Böckle u. F.X. Kaufmann, Freiburg 1980, 102 - 135; ders., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988; M. Volf, Zukunft der Arbeit. Arbeit der Zukunft. Der Arbeitsbegriff bei Karl Marx und seine theologische Wertung, München , Mainz 1988; Chr. Gremmels u. F. Segbers, Am Ort der Arbeit. 337 Die Rechte der abhängig Beschäftigten auf Mitbestimmung und Mitberatung werden juristisch aus eingeschränkten Eigentumsrechten abgeleitet. Günter Brakelmann hat auf diese einseitig auf Eigentumsgarantie aufgebaute Grundrechtslegitimierung demokratischer Rechte der Mitsprache und Mitbestimmung im Unternehmen hingewiesen: Nach der Rechtsordnung ist allein das Eigentum eine Institution, die mit Rechten 1014 ausstattet. Gegen diese auf Verfügung am Eigentum und an Eigentümerrechten gebundene Argumentation wird Sozialethik auf Arbeit als einem eigenen Rechtsinstitut dringen müssen, das erst der hohen anthropologischen Bedeutung der Arbeit gerecht wird. Es ist der enge personale Bezug, der die Arbeit zu einer Quelle von Rechten macht, die eben nicht das Ergebnis eingeschränkter Eigentumsrechte sind. In diese Argumentation geht ein Menschenbild ein, das sich dem hohen Stellenwert der Person und seiner Tätigkeit bewußt ist. Arbeit begründet Recht auf Arbeit und Rechte aus Arbeit. 9.1.3 Recht auf Arbeit Daß der menschliche Vollzug der Arbeit ein wirtschaftsethisch relevantes Anliegen ist, findet im wichtigsten Wirtschaftsrecht der Bibel, dem Sabbat, seinen Niederschlag (Dtn 5,12-15; Ex 20,8-11). Der Sabbat meint die Würde der menschlichen Arbeit. Er ist eine Einrichtung, die den Arbeitenden schützen will. “Die geforderte Ruhe ist das praktizierte Gegen1015 teil von Sklavenarbeit.” Die durch den Exodus errungene Freiheit soll nicht nur bewahrt werden. Der Sabbat ist der Ort, wo diese Freiheit auch praktiziert wird. Benno Jacob deutet den Sabbat in rabbinischer Tradition: “Laß deine Arbeitstage bereits durch den Gedanken an den Sabbat beherrscht sein und bereite dich auf ihn vor. Ibn Esra: Der Mensch soll stets daran denken, welcher Tag der Woche ist, damit er den siebenten Tag 1016 beobachte, keine Arbeit zu tun.” Der Sabbat ist also mehr als nur eine Zeit des Ausruhens. Er will die Verhältnisse der Arbeit verändern. Adolph Stoecker (1835-1909) hat deshalb auch den Sabbat die “magna charta 1017 aller Arbeitenden und Geplagten” genannt. Der Sabbat ist aus der Sicht der Arbeitenden eine arbeits- und sozialrechtliche Regulierung, die sich gegen Interessen an einer permanenten Nutzung der Arbeitskraft wendet. 1014 1015 1016 1017 338 G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? 318. F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 58. B. Jacob, Das Buch Exodus, 572. A. Stöcker, Christlich-Sozial, Bielefeld, Leipzig 1885, 311, zit. nach: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 91. Der Sabbat steht auch für die Einsicht, daß die Arbeitszeit des Menschen keine Ware darstellt, die an der Börse des Marktes gehandelt werden kann. Deshalb darf sie auch nicht einem wirtschaftlichen Kostenkalkül unterworfen werden. Der Sabbat geht von der Grundeinsicht aus, die Ansprüche der Ökonomie zu begrenzen. Ökonomie hat nicht das Recht auf die ganze Zeit des Lebens. Der kollektive Rhythmus von Arbeit und Ruhe drückt diese Einsicht aus. Vom Sabbat ist in der Bibel das erste Mal die Rede, als es um das rechte Maß der Vorsorge für das Leben geht (Ex 16,6 ff). Der Sabbat steht im Zusammenhang der Frage, ob denn die sechs Tage Arbeit genügen oder ob nicht auch dieser freie siebente Tag für die Sicherung des Lebens zur Verfügung stehen müsse. Diese Frage klärt die Bibel mit dem Sabbat: Die Dinge sollen dem Leben dienen, aber das Leben dient nicht allein dem Besorgen der Dinge. Deshalb reicht zum Leben, was in den Tagen zwischen den Sabbaten erwirtschaftet wird. Der Sabbat ist eine sozialethische Wertentscheidung zugunsten der Arbeitenden gegen eine Flexibilisierung der Arbeit über die ganze Zeit. Der Dekalog sagt im Sabbatgebot ausdrücklich, daß die Arbeitsruhe sich auf Herrn, Magd und Knecht bezieht (Dtn 5,14; Ex 20,10). Jegliche Differenz zwischen Herrn und Knecht wird abgeschafft. Die real erfahrene Herrschaft an den Werktagen wird am Sabbat außer Kraft gesetzt und in einem wöchentlichen Zyklus nivelliert. “Der Sabbat macht also alle 1018 gleich, es gibt an ihm keinen Knecht, alle sind frei.” Während die Antike eine Verteilung von Arbeit und Ruhe entlang gesellschaftlicher Trennungslinien zwischen oben und unten vornahm, orientierte sich die Bibel an einer Gleichverteilung von Arbeit und Ruhe. Alle sieben Tage hat für Herrn und Knecht, Magd, Haus und Vieh die Arbeit ein Ende. Der Sabbat praktiziert eine Umverteilung von Arbeit und Ruhe nach dem Kriterium der Gerechtigkeit und nicht nach der Positionsstärke auf dem Arbeitsmarkt. Wie sehr den Kirchen selber das Wissen um den humanen, sozialen und auch religiösen Wert des Sonntags verlorengegangen ist, belegt die EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen, in der empfohlen wird, “besondere Arbeitsplätze für das Wochenende bei vollkontinuierlichem Betrieb anzubieten, also die 1019 Zwei-Tage-Woche.” Dieser Vorschlag hat in Kauf genommen, daß eine ganze Belegschaft oder Schicht aus dem sozialen und gesellschaftlichen Leben (und auch vom sonntäglichen Gottesdienst!) ausgeschlossen worden wäre. Faktisch würde dies nicht allein auf einen Verlust des Sonntags für eine kleine Gruppe von Betroffenen hinauslaufen. Der 1018 1019 B. Jacob, Das Buch Exodus, 592. Gütersloh 1982, 53. 339 Sonntag als ein erwerbsarbeitsfreier Tag wäre tendenziell für die ganze Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Der Sonntag lebt nämlich von dem Grundgedanken, daß der Griff der Ökonomie nach der ganzen Zeit begrenzt werden soll und die Gesellschaft in einem gemeinsamen Rhythmus von Arbeit und Ruhe lebt. Im Konflikt zwischen Ansprüchen der Ökonomie und den Ansprüchen des Menschen trifft der Sabbat eine Entscheidung zugunsten des Menschen. Die Schaffung von reinen Wochenendschichten gibt den Ansprüchen der Ökonomie nach. Wenn dieser Kern des Sabbatgedankens auch nur punktuell suspendiert wird, verliert der Sabbat insgesamt seine Bedeutung. Die jahrhundertlange Geschichte des Sabbat war immer begleitet von einem Ringen um ein Transformation der Geltung des Sabbatgedankens unter veränderten ökonomischen Verhältnissen. Ausnahmen von dem Grundgedanken der Unterbrechung von Arbeit und der Einschränkung der Ansprüche der Ökonomie hat es immer gegeben. Gerungen werden muß deshalb um die Geltung des sozialethischen Kerns des Sabbat und um eine konkrete Ausgestaltung, die Ausnahmen begründet und ermöglicht. Die Kirchen haben seit der EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit von 1982 den Wert des Sonntags geradezu wieder neuentdeckt. Seither haben sich die Kirchen in zahlreichen Erklärungen in die Debatte um den Schutz des Sonntags eingeschaltet. Im Wirtschafts- und Sozialwort bekräftigen sie den Sonntag als “unersetzliches Gut der Sozialkultur (...), das nicht zur Disposition gestellt werden darf” (Ziff. 223). Bereits die Hebräische Bibel berichtet von Widerständen gegen den Sabbat. Schon die älteste Fassung des Gebots der Arbeitsruhe betont eigens, auch während der Aussaat und der Ernte die Arbeit ruhen zu lassen. Dieser ausdrückliche Hinweis läßt darauf schließen, daß die Beachtung der Arbeitsruhe immer schon umstritten war und keineswegs als selbstverständlich angesehen werden konnte (Ex 34,21, vgl. auch Jes 58,13f.; Am 8,4). Der Druck auf einen von Erwerbsarbeit freien Tag reicht bis in die Anfänge der Industrialisierung zurück und dauert auch heute noch an. Ab 1820, mit dem Übergang von der handarbeitsorientierten zur maschinenbestimmen Produktionsweise, expandierte die tägliche und wöchentliche Dauer der Arbeitszeit. Bis zur Mitte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Sonntag als arbeitsfreier Tag verschwunden. Der erste Kongreß für die Innere Mission 1848 in Wittenberg forderte bereits, die Sonntagsarbeit abzuschaffen. 1850 erstellte der preußische Oberkirchenrat ein Gutachten zur Sonntagsarbeit. Erst die Gewerbeordnung von 1891 erließ ein Arbeiterschutzgesetz, das die Sonntagsruhe 340 1020 schützte. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen nennt den Sonntag “ein unersetzliches Gut der Sozialkultur” (Ziff. 223): “Der Schutz des Sonntags ist immer mehr dadurch bedroht, daß ihm ökonomische Interessen vorgeordnet werden.” Als gemeinsame Zeit der Familie und für soziale Kontakte und als Tag des Herrn mit zentralem religiösen Inhalt ist der Sonntag “ein wichtiges kulturelles Gut, das nicht zur Disposition gestellt werden darf” (Ziff. 223). Der Rhythmus von Arbeit und Ruhe gerät von zwei Seiten unter Druck: aus einem produktionstechnischen und einem arbeitsorganisatorischen Grund. Für eine Bewertung des produktionstechnischen Drucks auf erwerbs- und produktionsfreie Zeit ist die prinzipielle Unterscheidung zwischen einer Arbeit am Sonntag und einer Arbeit für den Sonntag wichtig. Diese Unterscheidung führt ein Kriterium ein, das klären kann, welche Arbeiten aus ökonomischen, biologischen oder physikalischen Gründen am Sonntag durchgeführt werden müssen und welche Arbeiten für den Sonntag unabdingbar sind. Beim technologischen Zwang zu einem vollkontinuierlichen Betrieb ist nach den Gründen zu fragen. Soweit nicht physikalische oder biologische Prozesse einen vollkontinuierlichen Betrieb erfordern, liegt kein technischer Sachzwang vor, sondern ein technologischer Grund, der sich als technischer Sachzwang ausgibt. Dieser ist das Ergebnis von der Vorentscheidungen, die in eine Technologieentwicklung eingehen, von der Voraussetzung ausgeht, daß die ganze Zeit für die Maschinenlaufzeit zur Verfügung stehe. Ein dem Menschen gemäßer Arbeitsrhythmus müßte Arbeit am Sonntag und auch Nachtschichtarbeit auf das erforderliche Mindestmaß reduzieren und gemeinsame Zeit ermöglichen. Das Sabbatkriterium gemeinsamer freier Zeit und der Begrenzung der Zeit für die Ökonomie könnte eine technologiepolitische Innovation auslösen, die sich am Maß des Menschengerechten ausrichtet. Eine Arbeitszeitpolitik, die jene Vorentscheidung der Technologieentwicklung akzeptiert, vollzieht dagegen letztlich nur diese Prämisse und nimmt sich selber die Chance, über Arbeitszeitpolitik auch die Technologieentwicklung mitzugestalten. Die Arbeitszeit wird als eine Rationalisierungsressource zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen genutzt. Wenn rund um die Uhr und ohne Unterbrechung (an Sonntagen oder Feiertagen) gearbeitet wird, werden die letzten Zeitporen zur Produktions- und Maschinenlaufzeit. Die arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen zielen darauf, die ganze mögliche Zeit auszunutzen und zu intensivieren. Die Zeit des Menschen wird ökonomisiert und in einer betriebswirtschaftli1020 Vgl. dazu die Ausführungen: F. Heckmann, Der Kampf um den freien Sonntag im 19. Jahrhundert, in: H. Przybylski u. J. Rinderspacher (Hg.), Das Ende gemeinsamer Zeit. Risiken neuer Arbeitszeitgestaltung und Öffnungszeiten, Bochum 1988, 99-115. 341 chen Rechnung lediglich als Konkurrenzfaktor gewertet und einem ökonomischen Kalkül unterworfen. Gesellschaftliche Zeit, der soziorhythmische Wechsel von Arbeit und Ruhe, kommen in den Griff ökonomischer Ansprüche. Einer Ethik des Ökonomischen, wie sie sich im Griff auf die letzten freien Zeiträume des menschlichen Lebens ausdrückt, erscheint freie Zeit nur als entgangene Produktionszeit, letztlich deshalb als ungenutzte Zeit. Biblisch steht nicht die Befreiung von der Arbeit im Zentrum, sondern eine Arbeit, die Teil eines erfüllten und gelungenen Lebens ist. Deshalb stehen sich nicht Mühsal und Notwendigkeit der Arbeit auf der einen Seite und Freiheit von der Arbeit auf der anderen Seite gegenüber. Der Gegensatz lautet biblisch: erfülltes Leben in der Arbeit versus unwürdige Arbeit. Auf diesem Hintergrund kann die alte Forderung des “Rechts auf Arbeit” als ein Recht auf ein erfülltes Leben ethisch gedeutet werden. Recht auf Arbeit, in diesem Sinne verstanden, geht über Erwerbsarbeit hinaus, ersetzt sie aber nicht. Das Recht auf Arbeit umgreift dann alle Tätigkeiten, die in einer Gesellschaft nötig sind und zu der ein jedes Gesellschaftsmitglied seinen Beitrag einbringen muß. Recht auf Arbeit meint in diesem Sinne mehr als das Recht auf Einkommen, will aber den Zusammenhang zwischen Einkommen und Arbeit als Beitrag zur Gesellschaft nicht auflösen und gesellschaftlich asymmetrisch verteilen. Das Recht auf Arbeit gehört in den Zusammenhang eines Rechts auf eine menschenwürdige Existenz, zu der auch eine Arbeit gehört, durch die ein Mitglied der Gesellschaft seinen Beitrag für die Gesellschaft einbringt. Das Recht auf Arbeit darf jedoch nicht auf ein Recht verkürzt werden, am 1021 Markt seine Arbeitskraft zu verkaufen. Die seit Jahrzehnten beobachtbare Verlagerung der Beschäftigung von Produktions- in Dienstleistungstätigkeiten verschränkt (industrielle) Produktionsprozesse und (industrie-bezogene) Dienstleistungsprozesse immer enger. Die Würde der menschlichen Arbeit ist nicht zu trennen von dem Problem des humanen Vollzugs der Arbeit selbst. Nicht nur monetäre Entgelte machen eine Arbeit menschlich, sondern vorrangig “Arbeitsbedingungen, die ihr die Chancen geben, durch eigene Initiativen und Verantwortung den Produktions- wie den Sozialprozeß selbst zu be1022 stimmen.” Konzepte wie jene der Arbeiterselbstverwaltung sind ethisch bedeutsam. Wenn Günter Brakelmann es eine Frage der Humanität der Arbeit und in der Arbeit nennt, daß “das perspektivische Ziel einer Selbstorganisation der Produzenten” zur Humanität gehört, dann 1021 1022 342 T. Meireis, ”Arbeit macht das Leben süß...”, in: J. Becker (Hg.), Ethik in der Wirtschaft, Stuttgart, Berlin 1996, 170. G. Brakelmann, Zur anthropologischen und sozialphilosophischen Struktur der Gestaltungskonzepte industrieller Arbeitswelt, in: Die Mitarbeit 31 (1982) 323. formuliert er eine Wertentscheidung, die biblische Anhaltspunkte hat. Frank Crüsemann sieht in der Sozialgesetzgebung des Deuteronomium ein solches Vorhaben: “Die Möglichkeiten, sich die von anderen erarbeiteten Produkte oder die Produzenten selbst anzueignen, werden ent1023 scheidend eingeschränkt.” Daß Produzenten in den Genuß ihrer Arbeit kommen, ist eine Perspektive, die auch im Psalm ausgesprochen wird. “Was deine Hände erwarben, kannst du genießen” (Ps 128,2). Die Arbeit des anderen sich nicht anzueignen, Autonomie und Selbstbestimmung sind Aspekte von Humanität. Humanisierung ist deshalb sozialethisch mehr als die bloße Anpassung der Technik und der technologischen Ausstattungen an den Menschen. Humanisierung der Arbeit betrifft auch strukturelle Rahmenbedingungen der Produktion und der Besitzverhältnisse. Theologische Wirtschaftsethik kann auf eine jahrtausendealte Tradition des Ringens um Arbeitsverhältnisse verweisen, die Entfremdung und Trennung der Arbeitenden von ihren Produkten aufhebt. Humanisierung der Arbeit reicht deswegen über technische und arbeitsorganisatorische Aspekte hinaus. In Zeiten der Arbeitslosigkeit entsteht oft ein Konflikt zwischen dem Anspruch auf Humanität der Arbeit und dem humanen Anspruch auf Arbeit. Der Konflikt darf nicht gelöst werden um den Preis von Arbeitsplätzen, die humanen Ansprüchen nicht gerecht werden. Gefährlich wäre es, wenn der Skandal einer sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit dazu führen würde, die Debatte um eine menschenwürdige Gestaltung von Arbeit abzusagen. Zeiten der Arbeitslosigkeit sind keine Zeiten der Humanitätspause. Arbeit begründet ein Recht auf eine humane Arbeit. Nicht Befreiung von der Arbeit, sondern Befreiung zur Humanität in der Arbeit ist die gesellschaftliche Aufgabe. Zwischen den Ansprüchen auf humane Arbeit und der Wirtschaftlichkeit kann es zu Konflikten kommen. Dieser Wertkonflikt darf jedoch nicht vorzeitig zugunsten der Wirtschaftlichkeit gelöst werden, denn sachlich würde dies die Preisgabe der Humanität zugunsten der Ansprüche von Wirtschaftlichkeit bedeuten. Es gibt einen Vorrang des Menschen, der sich auch in den humanen Ansprüchen im Vollzug der Arbeit äußern muß. Diese Wertentscheidung zugunsten der Arbeit betont der Sozialethiker Günter Brakelmann: “Im Ziel- und Wertekonflikt muß klar im Sinne des „Rechts auf Arbeit‟ entschieden wer1024 den.” 9.1.4 Rechte aus Arbeit 1023 1024 F. Crüsemann, “...damit er dich segne...”(Dtn 14.29), 95. G. Brakelmann, Zur Arbeit geboren, 65. 343 Im Arbeits- und Sozialrecht der Tora drückt sich eine Einsicht aus, daß zwischen Würde der Arbeit, Recht für die Armen und der Regulierung der Arbeitsverhältnisse ein Zusammenhang existiert. Dieser Zusammenhang zeigt sich in der Absicht, Arbeitsbedingungen dadurch zu humanisieren, daß die Interessen der Arbeitenden zum Maßstab werden. Sklaverei wird zeitlich zu begrenzen (Ex 21,2-6); einen Schuldner nach seiner zeitlich befristeten Knechtschaft mit einer Unterstützung zum Aufbau einer eigenen Existenz auszustatten (Dtn 15,14), Schuldknechtschaft in eine abhängige Lohnarbeiterexistenz umzuwandeln (Lev 25,39-43), Bedingungen der abhängigen Lohnarbeit zu regeln (Dtn 15,18; 24,14), abhängige Lohnarbeiter mit einem Recht auf fristgerechte Lohnzahlung und humane Behandlung zu versehen (Dtn 24,14f; Lev 25,43) oder dem Knecht das Recht auf Arbeitsruhe (Ex 20,10; Dtn 5, 14) zu garantieren, sind nur einige jener arbeitsrechtlichen Regulierungen der Tora, die die Tendenz aufzeigen, auch den Knecht und nicht allein den Herrn zum Träger von Rechten zu machen. Durch Arbeitsverhältnisse hervorgerufene Objekt- oder Abhängigkeitssituationen werden minimiert, indem Freiheitsrechte allen und nicht allein denen zuerkannt werden, die über eine ökonomisch starke Position verfügen. “Du sollst deiner Herrschergewalt über deinen Knecht freiwillig am Sabbattag in dankender Erinnerung an IHN, deinen Befreier, entsagen. Damit machst du den Sabbattag, der schon seit der Schöpfung als Idee existiert hat, zu einer Wirk1025 lichkeit im Leben.” Der Sabbat ist eine soziale Errungenschaft, die die Arbeitsherren achten und garantieren sollen. Der Rabbiner Benno Jacob nennt die Arbeit an den Werktagen eine “Vorhalle zum Heiligtum”. Denn: Ebenso wie die Ruhe am siebenten Tag, folgt die Arbeit an den Werktagen dem göttlichen Vorbilde, wenn sie “sinnvolle, zweckmäßige, lebens1026 fördernde Arbeit” ist. Getragen sind diese Regulierungen des Arbeitsrechts von einem Ethos, das reale Freiheit und Gerechtigkeit für alle will. Auch der Arme und ökonomisch Schwache hat das Recht auf Freiheitsrechte. Diese Tendenz fand im Arbeitsrecht des Talmuds ihre Fortsetzung. Hier zeigt sich die klare Absicht, die Rechtsposition des Arbeitnehmers 1027 zu stärken. A.Ben-David nennt es deshalb auch einen bemerkenswerten Grundzug der Rechtsauffassung in der Zeit des Talmud, daß beispielsweise im Gegensatz zum römischen wie übrigens auch zum modernen Arbeitsrecht nicht dem Arbeitgeber, wohl aber dem Arbeitnehmer das Recht eingeräumt wird, das Arbeitsverhältnis einseitig und zu jeder Zeit zu kündigen. Darin zeige sich eine Rechtsauffassung, die von dem 1025 1026 1027 344 B. Jacob, Das Buch Exodus, 594. Ebd. 575. A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 67f. her denkt, der arbeitet, und nicht von dem her, der die Arbeitskraft des anderen für seine Zwecke nutzen will. Der biblische Gerechtigkeitsbegriff, der ein gemeinschaftsgemäßes Verhalten meint, verbindet sich mit Freiheitsrechten für den Arbeitenden. Strukturelle Benachteiligung soll durch ein Recht ausgeglichen werden, das dadurch Gerechtigkeit schafft, daß es sich zugunsten der Schwächeren einsetzt. Dieses parteiliche Gerechtigkeitsverständnis zugunsten der Schwächeren am Arbeitsmarkt will eine Rückkehr in “ägyptische Verhältnisse” der Unfreiheit, Unterdrückung und Unterlegenheit abwehren. Gerechtigkeit und Freiheit stehen im biblischen Verständnis nicht in einem Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig. Wie kann eine solche ethische Grundentscheidung der Tora zugunsten des arbeitenden Menschen, der ansonsten in struktureller Benachteiligung leben müßte, unter den Bedingungen einer nach wie vor strukturell kapitalistischen Produktionsweise seine ursprüngliche Wirkung entfalten und weiterführen? Traugott Jähnichen nennt das Eintreten für Partizipationsrechte der Arbeitnehmer ein “wesentliches Merkmal des sozialen Protestantis1028 mus” . In der Entschließung des Rates der EKD zur Mitbestimmung wird auf den Sinn des Mitbestimmungsrechtes verwiesen, nämlich “das bloße Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden und den Arbeiter als Men1029 schen und Mitarbeiter ernst zu nehmen.” Das Mitbestimmungsrecht stellt der Rat der EKD in eine Perspektive, die den “Gedanken der Selbstverwaltung unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeiterschaft” im 1030 Blick hat. Das Recht auf Partizipation, Mitbestimmung, Mitgestaltung oder Mitverantwortung ist ein Recht, das sich aus der Arbeit selber und nicht aus eingeschränkten Eigentumsrechten begründet. Arbeit selber konstituiert Freiheitsrechte der Mitsprache, Mitbestimmung und Mitge1031 staltung im Unternehmen. Es geht dabei um die Freiheitsrechte aller Wirtschaftssubjekte. Die politischen Freiheitsrechte des Bürgers müssen zu Freiheitsrechten des Wirtschaftsbürgers erweitert werden. Kapitalistische Marktwirtschaften statten bislang nur die, die Kapital in den Produktionsprozeß einbringen, mit Freiheitsrechten aus. Damit aber wird Freiheit halbiert. Der Unternehmer ist nicht das einzige wirtschaftsethisch verantwortliche Subjekt. Erst eine Unternehmensverfassung, die eine aktive Beteiligung aller im Unternehmen realisiert, vermag Marktwirtschaft und Freiheit zu versöhnen. 1028 1029 1030 1031 T. Jähnichen, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der soziale Protestantismus und die Entwicklung der Mitbestimmung (1848-1955), Bochum 1993, 390. Rat der EKD, Entschließung zur Mitbestimmung (1950), zit. nach: G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, 380. Rat der EKD, Entschließung zur Mitbestimmung (1950), 381. Vgl. dazu G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? 316-321. 345 Die Entscheidung über Produktionsvolumen, Produktionsrichtung und Arbeitsplätze ist in einem kapitalistischen Unternehmen mit dem Eigentumsrecht verbunden und deshalb asymmetrisch verteilt. Erst eine Unternehmensverfassung, die die Unternehmensseite nicht allein von der Kapitalseite legitimiert, sondern auch von den Kapitalgebern und denen, die ihre Arbeit in den Prozeß des Unternehmens einbringen, löst das Demokratiepostulat ein. Das zweipolige Verständnis von Kapital auf der einen Seite und Arbeit auf der anderen ist durch ein dreipoliges zu erweitern. Kapital und Arbeit bestellen und legitimieren eine dritte Funktion für ein Unternehmen: die Unternehmensleitung. Es ist ein Zeichen für eine demokratische Gesellschaft, daß der mündige Wirtschaftsbürger seine Rechte aus Arbeit nutzen kann zur Ausgestaltung seiner Arbeitsverhältnisse. Die Kirchen haben in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort deshalb auch zu Recht die Schaffung und den Ausbau von “Wirtschaftsbürgerrechten” (Ziff. 143) gefordert. 9.2 Zweiter wirtschaftsethischer Impuls: Solidarisch arbeiten Die Bibel spricht vom Menschen als Ebenbild eines Gottes, der selber arbeitet (Gen 1,1-2a). Das Ebenbild Gottes ist ein Mitarbeiter Gottes. Dieser mitarbeitende Mensch wird wiederum zum Mitarbeiter aller Menschen. Die theologische Rede von der Ebenbildlichkeit des Menschen begründet die Gleichheit aller Menschen in der Arbeit. Diese Gleichheit in der Arbeit stiftet zugleich Solidarität. Arbeit verbindet die Menschen miteinander. Die soziale Dimension der Arbeit ist nicht von der personalen zu trennen. Diese biblische Sicht der Arbeit des Menschen soll an zwei Folgerungen exemplarisch ausgeführt werden: dem gerechten Lohn und der Umverteilung von Arbeit. 9.2.1 Gerechter Lohn Eine Wirtschaftsethik, die vom arbeitenden Menschen her denkt, hat den gerechten Lohn und nicht nur die ökonomische Debatte um den gerechten Preis zum Thema. Der Lohn ist ein Grundproblem für den arbeitenden Menschen. Für das Kapital ist der Lohn lediglich Kostenfaktor, für die Arbeit ist er Lebensunterhalt. Diese gegensätzliche Bedeutung des Lohnes macht die Hauptursache der Konflikte zwischen Kapital und Arbeit aus. Der Arbeitslohn ist einer der wichtigsten Aspekte von Arbeit im realen Leben. Georg Wünsch ist einer der ganz wenigen Sozialethiker, der diesen Tatbestand sieht und benennt. In der 2. Auflage der RGG schreibt er: “Die hohe Bedeutung und Tragweite des Lohnes beruht auf dem Um- 346 stand, daß er für die meisten Menschen die alleinige wirtschaftliche Lebensbasis darstellt und daher von ihm, soweit wirtschaftliche Bedingungen in Frage stehen, allein die Lebensmöglichkeit und die Verwirklichung sonstiger Lebenswerte abhängt, nämlich aller Werte, die eine menschen1032 würdige Existenz ausmachen.” Angesichts der großen ökonomischen und gesellschaftlichen, aber individuellen Bedeutung der Frage nach dem gerechten Lohn ist der Befund außerordentlich erstaunlich, wie peripher und beiläufig Sozialethik 1033 sich dieser Thematik angenommen hat. Dabei spielt die Lohnfrage bereits in der biblischen Tradition und auch im realen Leben der Menschen heute eine wichtige Rolle. Friedrich Fürstenberg geht zwar in der RGG davon aus, daß die betreffenden neutestamentlichen Stellen “nur allgemeine Ansatzpunkte, die der Konkretisierung entsprechend jeweils 1034 gültiger gesellschaftlicher Normen bedürfen” , bieten, doch worin diese allgemeinen Ansatzpunkte, die konkretisiert werden müssen, bestehen könnten, ist aus seinen Ausführungen nicht mehr ersichtlich. Da staatliche oder profane Instanzen zur Regelung der Lohnfragen in biblischer Zeit fehlten, war es um so dringlicher, über die Religion zu einer akzeptablen Lösung der Konflikte um die Lohnhöhe zu kommen. Die Tora wurde deshalb zur einzigen Instanz, die Probleme des Lohnes regulieren und dadurch den wirtschaftlich und sozial Schwachen stützen konnte. Die Tora regelt nicht die Höhe des Entgeltes oder des Lohnes, will aber die verbindliche Auszahlung des Lohnes am Ende des Arbeitstages sicherstellen. Begründet wird diese Bestimmung theologisch mit dem Unterdrückungsverbot (Ex 22,20-26; Lev 19,13; Dtn 24,14f., Jer 22,13, vgl. auch Jes Sir 4,1-6, ntl. Verweise: Lk 10,7; Apg. 1,18; 1 Tim 5,18; Jak 5,4; 1035 2 Petr 2,13.15; Jud 11). In talmudischer Zeit beträgt der Lohn des Ta1036 gelöhners einen Denar (vgl. Mt 20,8ff.). Walther Bienert ordnet die Frage nach dem gerechten Lohn biblisch dem Ausbeutungsverbot und dem gemeinschaftsgerechten Verhalten zu. “Sobald die Lohnhöhe danach bemessen wird, wer der Stärkere ist, han1032 1033 1034 1035 1036 G. Wünsch, Art. Lohn- und Lohnsystem: II. Ethisch, in: RGG 2. Aufl. Bd. III, 1716f. Vgl. dazu: W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 94-98; H. Echternach, Art. Lohn, in: Ev. Soziallexikon, Stuttgart 7. Aufl. 1980, Sp. 835 - auffallend ohne atl. Bezüge. Auch die TRE verweist in ihrem Beitrag zum “Lohn” nicht auf atl. Bezüge, vgl. M. Winter, Art. Lohn, I. Neues Testament, TRE Bd. 21, 447-449. Vgl. dazu Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis, 102. G. Wünsch ist einer der wenigen Wirtschaftsethiker, der die ethische Frage des gerechten Lohns aufnimmt (G. Wünsch , Evangelische Wirtschaftsethik, 637ff.). Wenn über Lohn die Rede ist, dann zumeist im Zusammenhang mit dem theologischen Begriff der Gnade, so auch Art. “misthos/Lohn” , in: THWNT Bd. IV, 699ff.; vgl. G. Bornkamm, Der Lohngedanke im Neuen Testament, Lüneburg 1947. F. Fürstenberg, Art. Lohn und Lohnsystem, II. Sozialethisch, in: RGG 3. Aufl. Bd. IV, 444f. nähere Ausführungen oben in Abschnitt: 6.1.2.2.2. Ben-David, A., Talmudische Ökonomie, 66. 347 1037 delt es sich biblisch gesprochen um eine „Bedrückung‟ der Armen.” Der ökonomisch Schwache soll seiner Lage wegen nicht ausgenutzt werden. Die Position am Markt darf daher sozialethisch auch nicht allein den Ausschlag über die Verteilung des Sozialproduktes geben. Gerechtigkeit als gemeinschaftsgerechtes Verhalten nennt nach biblischem Verständnis den ungerecht, der sich gemeinschaftswidrig verhält. Nicht nur das Prinzip von Angebot und Nachfrage soll deshalb leitend für die Bestimmung der Lohnhöhe sein, sondern der Bedarf (vgl. Jes 58,7). Die biblischen “Primär-Tugenden” Recht und Gerechtigkeit wenden sich gegen eine reine Ausrichtung des Lohnes nach dem Marktwert. Im Anschluß an die wichtigsten Wirtschaftsgesetze reflektiert das Buch Deuteronomium das Verhältnis von menschlicher Arbeit, sozialem Verhalten und göttlichem Segen. Sachlich fordert es eine an den Normen und Werten des sozialen Ausgleichs orientierte Umverteilung. Arbeit, Ertrag der Arbeit und Solidarität werden in einem Verhältnis gesehen. Der göttliche Segen für die Arbeit wird explizit daran gebunden, daß ein Teil des Ertrags den gesellschaftlich Schwächsten zugute kommt. Erst die solidarische Einbeziehung der Schwachen in den Reichtum und den Gewinn der Produktion gewährleistet den Segen für die Arbeit. “Um dieser Sache willen wird dich JHWH, dein Gott, segnen in all deinem Tun und in all deinem Erwerb deiner Hand” (Dtn 15,10; auch Dtn 15,18; 23,21; 24,19). Es ist ein Segen für die Menschen, daß dieser Umverteilungspro1038 zeß möglich wird. Die Steuergesetzgebung des Zehnten ist die erste historisch nach1039 weisbare Sozialsteuer im gesamten Umfeld Israels (Dtn 14,22-29). Sie war eine Umverteilung, die den gesellschaftlich und ökonomisch Schwächeren den Lebensunterhalt sichern sollte. In jedem dritten Jahr soll der Zehnte direkt in den Ortschaften an die sozial Unterprivilegierten und die Landlosen verteilt werden. Diese Personengruppe bekommt eine ökonomisch gesicherte Grundlage. Das Deuteronomium schafft eine vermutlich zunächst erhobene Abgabe auf den Ernteertrag für den König ab, verwandelt diese Naturalsteuer in eine Sozialabgabe und bestimmt 1040 den Rest für Feierlichkeiten beim zentralen Tempel. Die Staats- oder Königsabgaben werden nun nicht gänzlich in Tempelabgaben überführt, sondern zur Existenzsicherung unterprivilegierter Personen verwendet werden. Begründet wird diese Maßnahme mit dem Hinweis “... damit du 1037 1038 1039 1040 348 W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 97. F. Crüsemann, “ ... damit er dich segne in allem Tun deiner Hand ...”, 7-103; F. Crüsemann, Die Tora, 263. F. Crüsemann, Für eine Armensteuer. Ein biblisches Plädoyer, in: Evangelische Kommentare, Heft 9, 1993, 532; ders., Die Tora, 263f.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 338.342-346. F. Crüsemann, Die Tora, 254f. lernst, den Herrn, deinen Gott, zu fürchten” (Dtn 14,23). Diese biblische Sozialsteuer löst eine doppelte Wertentscheidung ein: Sie dringt auf eine verteilungsrelevante Dimension der Arbeit und macht aus einer ethischen Grundentscheidung einen Rechtsanspruch der Schwachen. Diese normative Wertentscheidung setzt auf Ausgleich und auf Unterstützung der Schwächeren. Dabei weiß die Bibel, daß Wertentscheidungen zugunsten der Schwächeren nur etwas wert sind, wenn sie in einen Rechtsanspruch überführt werden. Das neutestamentliche Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg illustriert ein toragemäßes Verständnis von Lohn und Recht auf Existenz (Mt 1041 20,1-16). Arbeiter erhalten für unterschiedlich lange Arbeitszeiten den gleichen Lohn. An dieser als ungerecht empfundenen Situation entzündet sich ein Streit. Die Langzeitarbeiter protestierten dagegen, daß sie einen Lohn in der gleichen Höhe ausbezahlt bekamen wie die Kurzarbeiter. In den Augen der Langzeitarbeiter und des Weinbergsbesitzers war auch ein Hungerlohn rechtens, der unterhalb des Existenzminimums lag. Von 1042 einer realen Alltagserfahrung her, die Arbeitslosigkeit und Lohndruck vorausgesetzt, deutet Luise Schottroff das Gleichnis: es ist nicht eine theologische Kritik am Lohndenken, sondern es wendet sich gegen die Benutzung des Gerechtigkeitsempfindens als Waffe gegen andere Men1043 schen: Es gehe “um eine konkrete Funktion von Lohndenken” . Das Gleichnis setzt die Alltagserfahrung voraus, daß diejenigen, die nur kürzer als einen ganzen Arbeitstag gearbeitet haben, einen geringeren Lohn bekommen, selbst wenn dieser dann unter dem Existenzminimum 1044 liegt. Das Gleichnis illustriert eine Arbeitsrealität, macht aber auch jene alttestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung deutlich, die den Arbeits- 1041 1042 1043 1044 L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) Die Arbeit im Weinberg und der patriarchale Mythos vom Familieneinkommen, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 205-225. Vgl. auch: J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 6. Aufl. Göttingen 1962; E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 1961, 87-94; 158-162. “Unser Gleichnis ist mitten aus dem Leben seiner Zeit genommen, über der das Gespenst der Arbeitslosigkeit stand.” J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 138; auch: L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) 205ff. L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” 214. “Ihr Verdienst (der Sklaven und Tagelöhner, F.S.) betrug im Durchschnitt einen Denar mit Beköstigung.” (J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 126) “Der Tagelohn eines ungelernten Landarbeiters betrug im selben Zeitraum einen Denar. ... In der Landwirtschaft wurde und wird die Anzahl der Arbeitstage bedingt durch die Jahreszeit und die Sabbath- und Festtage. Deshalb scheint sicher, daß ein Tagelöhner nur an etwa 200 Tagen im Jahr Arbeit fand.” (A. BenDavid, Talmudische Ökonomie, 293) Das Einkommen erreichte also gerade das Existenzminimum. Die Mischna definierte genau, wer arm war und Recht auf den Armenzehnten hatte. “So bildeten 200 Denar oder Zuz die untere Grenze des damaligen Lebensstandards.” (Ebd. 292) 349 1045 lohn in einen Zusammenhang mit dem Recht auf Existenz stellt. Es setzt gegen diese erfahrene Realität, die Menschen unter das Existenzminimum drückt, einen anderen Maßstab. Es will Solidarität stiften zwischen denjenigen, die wegen der Arbeit eines langen Tages Anspruch auf den vollen Lohn hatten, und denjenigen, die nur die Chance erhalten hatten, wenige Stunden zu arbeiten. Basis dieses Solidaritätsdenkens ist die Gottesvorstellung. “Das Gleichnis wirbt um die Solidarität von Menschen, die die gemeinsame Gottesvorstellung vom barmherzigen Gott 1046 haben.” Doch an einem Punkt trennt sich das Gleichnis von der erlebten Realität: Der Weinbergsbesitzer durchbricht eine Lohnordnung, die sich ausschließlich an dem Gerechtigkeitsgrundsatz “Jedem nach seinen 1047 Leistungen” orientiert. “Das Gleichnis stellt die Güte Gottes dar.” Diese hält der normalen Realität der Weinbergsbesitzer, die sich ansonsten nur am Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit orientieren, den Spiegel vor. Über Gottes Güte nachzudenken, wirft ein Licht auf eine Realität, die von Leistungsgerechtigkeit geprägt ist. Das Gleichnis setzt aber nicht den Gerechtigkeitsgrundsatz außer Kraft (“Jedem nach seiner Leistung”), sondern ergänzt ihn durch ein Gerechtigkeitsprinzip (“Jedem nach seinen Bedürfnissen”). Formal wird die Rechtsordnung gehalten. Nach der Tora ist der Tageslohn am Abend auszuzahlen (Lev 19,13; Dtn 24,15). Auch die vereinbarte Lohnhöhe für den Tag wird eingehalten. Der formale Rechtsgrundsatz jedoch wird durchbrochen, indem sich der “gütige Weinbergsbesitzer” an einer Norm orientiert, die außerhalb des formalen Rechtsgrundsatzes besteht: das Lebensrecht selber. Das Gleichnis spricht ein Urteil über eine Realität, die vom Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit allein geprägt ist. Die Leistungsgerechtigkeit allein genügt nicht, denn sie ist blind gegenüber den Bedürfnissen. Die ökonomische Rationalität, die das Gleichnis veranschaulichen will, ist die Kombination von Leistungsgerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit. Gerechtigkeit wird gedeutet als das Recht auf Existenzsicherheit. Welche Kriterien kann es geben, nach denen ein Lohn als “gerecht” oder “ungerecht” bezeichnet werden kann? Ein marktwirtschaftliches Denkmodell geht von der Vorstellung aus, daß sich die Löhne am Arbeitsmarkt auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage bilden. Der Neoliberalismus wertet deshalb im Rahmen dieses Denkmodells Arbeit als Ware. Die Höhe des Lohnes als Entgelt für geleistete Arbeit wird dann als “gerecht” bezeichnet, wenn der Lohn dem Marktlohn entspricht. Die Rolle kollektiver Organisationen wie der Gewerkschaften oder auch des Staates bei dem Prozeß der Lohnfindung wird folgerichtig als markt1045 1046 1047 350 Vgl. H. Schröder, Jesus und das Geld, 87ff. L.Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” 214. Ebd. 212; so auch: E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 82. widrig abgelehnt. Der Lohn ist ein nackter Wettbewerbspreis, der sich auf dem Markt bildet, wie die folgenden Zitate illustrieren: “Die Tarifautonomie ist also nicht notwendiger Bestandteil, sondern ein Fremdkörper in 1048 der Marktwirtschaft.” Denn: “Die Gewerkschaftsbewegung entstand aus dem Gedanken der Solidarität, und das bedeutet konkret die Ausschaltung des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt.” Die neoliberale Position will Arbeitszeit und Lohn allein nach den Gesetzen des Marktes regeln. “Der kartellmäßig organisierte Einkauf von Arbeitskraft steht im Wider1049 spruch zu unserem Wirtschaftssystem.” Alle Versuche, den Marktmechanismus außer Kraft zu setzen, würden mißlingen und letztendlich zu einer Schädigung gar derer führen, die meinten, gegen den Markt Forderungen oder auch soziale Errungenschaften durchsetzen zu können. Wenn Arbeit ökonomisch den anderen Waren auf dem Markt gleichgestellt wird, wird die Frage nach dem gerechten Lohn vom Ansatz her erledigt. Mit der Arbeit geht es in einer Marktwirtschaft zu wie mit den Wa1050 ren im Supermarkt. Das Marktdenken kennt keinen Maßstab, der Auskunft darüber geben könnte, wann ein Lohn auf einem Wettbewerbsniveau liegt. Der Wettbewerb setzt vielmehr eine Spirale frei, die nach unten offen ist, denn immer gibt es irgendwo irgendjemanden, der einen Lohn-Preis unterbieten könnte. Oswald von Nell-Breuning akzeptiert zwar, daß die Marktlage den Preis der Waren bestimmen kann, doch “auf den Lohn, von dem der Arbeiter seine und seiner Familie Lebensbe1051 dürfnisse bestreitet, ist diese Auffassung unanwendbar.” Der Grund liegt darin, daß die Annahme, die Arbeit des Menschen und der Lohn für diese Arbeit seien wie irgendeine Ware zu behandeln, inhuman ist. Die Frage nach dem gerechten Lohn kann nicht dem Marktmechanismus unterworfen werden, denn dieser bestimmt Preise und Löhne nicht nach dem Maßstab der Gerechtigkeit, sondern nach dem der Durchsetzungsmacht und der Position auf dem Markt. Nicht welche Preise gerecht sind, sondern mit welchen Preisen ein Anbieter sich am Markt durchsetzen kann, entscheidet dann über die Höhe des Preises für den 1048 W. Engels, Fremdkörper, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 3.5.1992, 138. R. Hank, Fluchthelfer. Verbände ohne Tarifbindung, in: FAZ Nr. 220 vom 22.9.1997, 15 unter Bezug auf die Satzung des Arbeitgeberverbandes der Holz- und Kunststoffverarbeitenden Industrie in Rheinland-Pfalz. 1050 In einer eher journalistischen Sprache begründet W. Engels, daß der Markt Löhne wie Preise festzulegen hat. “Karstadt, Rewe und Tengelmann legen ihre Preise autonom fest, ohne sie mit einer Verbraucherorganisation auszuhandeln. Mit diesem Preisdiktat sind wir gut gefahren . ... Je erfolgreicher die Gewerkschaften im Arbeitskampf abschneiden, um so schlimmer kommt es für die Arbeitnehmer.” W. Engels, Fremdkörper, in: Die Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 3.5.1992, 138. 1051 O.von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente, Wien 1977, 37. 1049 351 Lohn. Der Lohn wird zu einer Machtfrage. Der Marktmechanismus beseitigt die Frage nach dem gerechten Lohn, statt sie zu stellen und zu beantworten. Welcher Lohn für welche Arbeit? Welche Äquivalente gibt es für die beiden grundverschiedenen Faktoren Arbeit und Entgelt? Das Marktmodell bietet eine nur vordergründige Lösung in der Suche nach einem Äquivalent an, wenn es die Preisbildung von Waren auf die Preisbildung der Löhne überträgt. Doch Lohn und Ware sind substantiell nicht vergleichbar. Wenn die eine Seite auf den Lohn dringlicher angewiesen ist als die andere Seite auf das Erbringen der Leistung, dann verbürgt der Markt nicht Gerechtigkeit. Er verstärkt vielmehr das Ungleichgewicht 1052 von Macht und Ohnmacht. Der gerechte Lohn läßt sich also weder als Ergebnis von Angebot und Nachfrage noch als Ergebnis des machtförmig ausgetragenen Tarifkonfliktes bestimmen; die sozialethische Suche nach Gerechtigkeitskriterien 1053 ist unverzichtbar. Welche Auskunft kann schon der Markt über eine dann auch gerecht zu nennende Lohnzumessung für den Bediener einer CNC-Maschine, den kontrollierenden Meister oder den Top-Manager machen? Zu Recht hat Georg Wünsch den gerechten Lohn als eine “sitt1054 liche Frage” bezeichnet. Dadurch wird die Lohnfrage aus einem Marktautomatismus herausgenommen und in die gesellschaftliche Verantwortung gestellt. Der Markt kann keine Antwort auf die Frage nach einem gerechten Lohn geben. Eine Orientierung am Markt hat ethisch höchst problematische Implikationen. Auch wenn eindeutige Kriterien nicht erreichbar sind, so lassen sich für eine sozialethische Bewertung zwei Grenzbestimmungen formulieren: das Existenzminimum als Untergrenze und die Grenzproduktivität als Obergrenze. Innerhalb dieser beiden Markierungen lassen sich sozialethische Kriterien für einen Maßstab von Gerechtigkeit eines Lohnes geltend machen, die durchaus in Konflikt zueinander stehen können. Diese Kriterien sind Leistung, Lebenslage, Solidarität. Lohn als Leistungslohn ist Entgelt für geleistete Arbeit, Lohn als Lebenslohn ein Unterhaltsmittel für ein menschenwürdiges Dasein. Gerechtigkeit bedeutet für den Leistungslohn, daß Arbeit nach Kriterien der Zeit, der Schwere der Arbeit, Ausbildung etc. entlohnt wird. Die Frage nach dem, was gerechter Lohn bedeutet kann, beantwortet der Leistungslohn mit dem Verweis auf Leistung als Maßstab. Aber in diesen Maßstab gehen abermals Kriterien ein. Welcher Maßstab liegt vor, nach dem entschieden wird, ob die Arbeit in Planung und Disposition höher oder niedriger als die in der Produktion zu veranschlagen sei? Warum wird die 1052 1053 1054 352 Vgl. dazu W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 156. Vgl. zum folgenden: W. Huber, Lohn, II. Ethisch, in: TRE Bd. 21, 449-453. G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 612. Leistung der geistigen, planerischen Arbeit höher bewertet als produktive Arbeit? Auch beim Lebenslohn fehlen eindeutig fixierbare Maßstäbe der Gerechtigkeit. Sozialethisch läßt sich sagen, daß aus Gründen des Existenzrechtes eines jeden die untere Grenze des Lebenslohnes das Existenzminimum ist. Die Tora hatte sich mit dieser entscheidenden Lohnfrage auseinanderzusetzen. Sie legte eine untere Lohnhöhe fest, die we1055 nigstens das Existenzminimum sicherte. Um den Druck und die Existenzangst niedriger Löhne zu mildern, regulierte die Tora den Lohnzahlungsmodus. Lohn dürfe nicht zurückgehalten werden, sondern müsse noch am Tag, bevor die Sonne untergehe, ausgezahlt werden (vgl. Lev 19,13; Dtn 24,14ff.; Jer 22,13b). Das Deuteronomium läßt sich verstehen als “eine durchdachte Sozialgesetzgebung, die darauf abzielt, daß die Arbeitenden das von ihnen Produzierte selbst zu essen vermögen, wo aber zugleich die daran partizipieren, denen eigenes Produzieren 1056 nicht möglich ist.” Diese Regelung wollte sicherstellen, daß niemand aus dem sozialen Gefüge herausfiel. Eine solche Lohnregelung verhindert, daß Menschen trotz Arbeit arm sind. Auch entwickelte Industriegesellschaften kennen das Problem der Working poor, der arbeitenden Armen. Untere Grenze des Lebenslohnes ist das Existenzminimum. Die Forderung nach einem familiengerechten (Lebens-)Lohn ist eine 1057 traditionelle Forderung der Katholischen Soziallehre. Sie hält die Erinnerung an ein Ethos wach, das der Bibel nicht fremd ist. Wenn sie auch mit dieser Forderung das traditionelle Familienideal stabilisieren wollte, das einen in Erwerbsarbeit tätigen Vater und eine vom Mann abhängige Hausfrau und Mutter voraussetzte, so kommt in dieser Forderung doch eine ethische Entscheidung zum Ausdruck, die frei vereinbarte Marktlöh1058 ne nicht gerechte Löhne nennen will. Leistungskriterien und Solidarität stehen deutlich in einer Spannung, denn Leistung zielt auf Ungleichheit und Solidarität auf größtmögliche Gleichheit. Wolfgang Huber urteilt: “Im Gefälle christlicher Ethik liegt der 1059 Vorrang des Solidaritätsprinzips vor dem Leistungsprinzip.” Dieses Vorzugsurteil hat die Gründe auf seiner Seite, die auch maßgeblich sind für die Tora und ihrem Grundprinzip, einer Logik der Humanität Vorrang vor anderen Rationalitäten zu geben. 1055 1056 1057 1058 1059 W. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 94f. F. Crüsemann, “... damit er dich segne...”, 102. O. von Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, 169ff. M. Riley, Die Rezeption der katholischen Soziallehre bei christlichen Feministinnen, in: Concilium 27 (1991) 420-430. W. Huber, Lohn, 453. 353 Zusammengefaßt: Der Produktionsprozeß muß als Sozialprozeß verstanden werden, in dem arbeitsteilig produziert wird. Die Zuordnung der gerecht zu nennenden Anteile an diesem Sozialprozeß ist nicht objektiv herzustellen. Die Frage nach dem gerechten Lohn ist nicht allein ein ökonomisches Problem; es gehört in den Zusammenhang der solidarischen Dimension der Arbeit. Sozialethik wird deswegen beide Aspekte zusammenhalten müssen: Lohn als ein Einkommen, das einen kulturellen und sozialen Lebensstandard und einen gerechten Anteil an dem sozial erwirtschafteten Gewinn des Unternehmens ermöglicht. Zur Lohngerechtigkeit gehört deshalb, daß die Lohnhöhe den Unternehmensgewinn und die Aktienentwicklung widerspiegelt. Arbeit durch Einkommen statt Grundeinkommen ohne Arbeit erst löst jenen hohen personalen, sozialen und demokratischen Stellenwert der 1060 Arbeit ein, wie ihn die Bibel kennt. Die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen ohne Arbeit ist so alt wie der Kapitalismus 1061 selbst. Ein garantiertes Grundeinkommen, das ohne “Gegenleistung” gezahlt wird und mehr sein will als ein zeitweiliger Notbehelf, steht in der Gefahr, wie ein Lohn für die Ausgrenzung aus der Gesellschaft zu fungieren. Vor allem aber unterschätzt die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen den Stellenwert der Beteiligung an Erwerbsarbeit. Sie resigniert aber auch vor einer auf privatem Eigentum beruhenden Marktwirtschaft, die nicht den Wert der Arbeit, sondern nur die Ware Arbeit kennt. Daß jeder die Möglichkeit erhalten muß, für das einen Beitrag zu leisten, was die Gesellschaft ihm zukommen läßt, ist eine ethische 1060 1061 Fast alle Parteien kennen Modelle, die jedoch unter verschiedenen Bezeichnungen diskutiert werden, so Existenzgeld, Bürgergeld, Grundsicherung, Grundeinkommen. Vgl. die Debatte um das Grundeinkommen: H. Büchele u. L. Wohlgenannt, Grundeinkommen ohne Arbeit. Auf dem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft, Wien 1985; M. Opielka u. G. Vobruba, Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt 1986; G. Bäcker- Breil, “Konzepte für eine Grundsicherung, in: epd-Dokumentation 1995 Nr. 6/7, 99-112.; A. Spermann, “Das Bürgergeld - ein sozial- und beschäftigungspolitisches Wundermittel?” in: Sozialer Fortschritt Heft 4/1994, 105-111. Einige Konzepte wollen an die Stelle der bisherigen Hilfen zum Lebensunterhalt gemäß dem Bundessozialhilfegesetz treten; andere wollen eine Grundsicherung gewähren, die bürgerrechtlich begründet wird; andere wiederum wollen Grundsicherung an die Bereitschaft zu sozialem oder familiärem Engagement binden. Diese Konzepte stellen weitreichende Fragen, die wenigstens genannt werden sollen: Welche gesellschaftlichen Veränderungen werden durch diese Konzepte eingeleitet? Welche Auswirkungen werden sich im Konsumverhalten zeigen? Führt die bedarfsorientierte Grundsicherung, die zu einer Absenkung des Konsumniveaus führt, auch zur Entwicklung eines anderen Wohlstandsmodells, das sich nicht allein an materiellen Wohlstandsbegriffen orientiert? So beispielsweise die sog. Speenhamland-Gesetze (1795), mit denen in England bei der Einführung einer liberalen Wirtschaftsordnung versucht wurde, Arbeit nicht den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, sondern ein “Recht auf Lebensunterhalt” zu garantieren. Der Versuch, eine liberal-kapitalistische Ordnung ohne einen Arbeitsmarkt zu schaffen, scheiterte mit verheerenden sozialen Folgen. Vgl. dazu: K. Polanyi, The Great Transformation, 113ff. 354 Perspektive, an der festgehalten werden muß, denn zwischen dem Recht auf Arbeit und dem Recht auf Einkommen gibt es eine unauflösliche 1062 Verbindung. 9.2.2 Arbeitsumverteilung 1063 Ein “Kapitalismus ohne Arbeit” wird als Folge der Rationalisierung durch den Einsatz neuer Technologie prognostiziert. Logische Konsequenz aus dem Optimierungskalkül der am Markt agierenden Personen und Unternehmen ist es, den Arbeitseinsatz zu reduzieren. Verdrängung von Arbeit ist jedoch keineswegs nur Ergebnis von Rationalisierung im Sinne eines effektiveren Einsatzes der Produktionsfaktoren. Sie resultiert auch aus einer betriebswirtschaftlichen Diskriminierung der Arbeit. Die Ersetzung von Arbeit durch automatisierte Produktion kann epochale Chancen zur Freiheit eröffnen. Diese Freiheitschance jedoch ist an Bedingungen gebunden. Der ökonomisch und technologisch erzwungene Trend zu steigender Arbeitsproduktivität ist kein Fluch, sondern dann ein Segen, wenn die Effekte erhöhter Arbeitsproduktivität nicht privat genutzt, sondern gesellschaftlich weitergegeben und verteilt werden. Eine an der Ethik der Beteiligung und Teilhabe orientierte Perspektive wird darauf dringen, daß jedes Mitglied der Gesellschaft Recht und Anspruch auf Anteil an Zuwächsen des Produktivitätsfortschrittes hat. Arbeitsumverteilung ist ein Modus der Umverteilung des Produktivitätsfortschrittes. Unterbleibt diese Umverteilung, ist der Mangel an Arbeitsplätzen oder die Arbeitslosigkeit eine pervertierte Form eines möglichen Segens der Produktivität. Unter dieser Perspektive erfordern Gerechtigkeit und Solidarität eine gerechte Verteilung der Einkommen. Prinzipiell gibt es drei unterschiedliche Strategien der Arbeitsumverteilung: - Mehrverteilung der Erwerbsarbeit durch Schaffung zusätzlicher Nachfrage oder durch Steigerung des Wirtschaftswachstums; - Schrägverteilung der Erwerbsarbeit, die bestimmte Gruppen - vor allem Schwächere - ausgrenzt, die Mehrzahl der Beschäftigten aber unter immer größerem Leistungsdruck weiterarbeiten läßt; 1062 1063 So auch: T. Jähnichen, Zeit für sich, Jobs für alle, in: Evangelische Kommentare 11/1997, 647650. U. Beck, Kapitalismus ohne Arbeit, in: Der Spiegel Nr. 20/1996, 140-146; vgl. dazu auch: J. Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt, New York 1995. 355 - Gleichverteilung der Arbeit als eine Form, die alle Arbeitswilligen an der Beschäftigung beteiligt. Der Sabbat ist eine Institution, die nicht nur das Verhältnis von Arbeitsund Ruhezeit regelt. Er ist auch eine Institution der Gleichverteilung von Arbeit und Ruhe zwischen Herrn und Knecht. Die griechische Antike praktizierte dagegen eine Schrägverteilung von Arbeit und Ruhe nach der Klassen- oder Schichtzugehörigkeit. Anhaltende Arbeitslosigkeit in entwickelten Industriegesellschaften stellt auch eine Form der Arbeitsumverteilung dar, eine Form jedoch, bei der die einen ganz ausgegrenzt werden und die anderen weiterhin Anteil an Erwerbsarbeit haben. Arbeitslosigkeit läßt sich deshalb durchaus als eine Form asymmetrischer Arbeitszeitverkürzung darstellen, bei der allerdings nicht nach dem Maßstab der Gerechtigkeit die gesellschaftlich vorhandene Arbeit verteilt wird. Arbeit gerecht zu verteilen, wird in der beschäftigungspolitischen Debatte auch mit Begriffen diskutiert, die sich an Einrichtungen wie dem Sabbatjahr / Sabbatical ausrichten. Zumeist ist die Sabbatjahr-Regelung eher privilegierten Berufsgruppen vorbehalten. Geiko Müller-Fahrenholz knüpft an der biblischen SabbatjahrTradition an und hat ein Konzept arbeitsrechtlich abgesicherter, regelmäßig wiederkehrender bezahlter Perioden entwickelt, die frei von Lohnerwerbstätigkeit sind und zugleich eine Lohnabsicherung gewähren. Seinen Vorschlag nennt er “Freijahre”. Dieser Vorschlag hat einen vertei1064 lungspolitischen und einen humanen Aspekt. Der Soziologe Ulrich Beck plädiert ebenfalls für Sabbaticals, mit denen der Druck auf Vollarbeitsplätze gemindert werden könnte, wenn ein steuerfinanziertes Bürgerengagement mit einem Lohneinkommen aus Erwerbsarbeit kombi1065 niert werde. Eine andere Art von “Vollbeschäftigung” entstünde. Aus einer Vollbeschäftigung herkömmlicher Art entstünde eine volle Teilhabe aller Bürger an gesellschaftlichen Prozessen. Die Dominanz von Erwerbsarbeit im individuellen und gesellschaftlichen Leben muß in der Tat zugunsten anderer Tätigkeiten zurückgedrängt weden. Erst seit der Industrialisierung nimmt Erwerbsarbeit eine zentralen Stellenwert im Leben ein. Die Erinnerung an den Sabbat enthält ein anderes Arbeitsverständnis. An dieses Arbeitsverständnis der Vormoderne zu erinnern, kann ein Beitrag sein, die Reduzierung von Arbeit auf Erwerbsarbeit in der Indust1064 1065 G. Müller-Fahrenholz, Freijahre für alle, in: Evangelische Kommentare 21 (1988) 595-598. - In der kirchlichen Debatte wird dieser Anstoß nicht weiter verfolgt. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle auf die Initiative des DGB, Sabbatjahre einzuführen. Sie existieren für Beamte seit einigen Jahren bereits u.a. in Berlin, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz. (DGB-Information vom 24. Mai 1995) U. Beck, Die Seele der Demokratie. Wie wir Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren können, in: DIE ZEIT Nr. 49 vom 29.11.1997, 7f. 356 riegesellschaft rückgängig zu machen und verdrängte Tätigkeitsformen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Arbeit gerecht zu verteilen ist eine Leitlinie, die den Wert der Arbeit realisiert. Arbeitslosigkeit bedeutet sozialethisch, das Recht auf Weltgestaltung vorzuenthalten. Das Recht auf Arbeit ist Ausdruck eines Partizipationsrechtes der Mitgestaltung. Die soziale Spaltung der Gesellschaft kann nur durch Formen der Arbeitsumverteilung, die den Umfang der Arbeit für alle reduziert, aufgehalten und rückgängig gemacht werden. Bei der aus Gründen der gerechten Arbeitsumverteilung notwendigen 1066 Arbeitszeitverkürzung stellt der Lohn die Schlüsselfrage dar. Eine gleichzeitige Verminderung von Arbeit und Einkommen ist jedenfalls nicht allen Beschäftigten zumutbar. Ein sozialethisches Verständnis von Arbeit, das Arbeit in seiner individuellen und sozialen Dimension begreift, wird daher das Projekt Arbeitteilen mit einer solidarischen Umverteilung von Einkommen und Vermögen verknüpfen müssen. Nur so ist zu verhindern, daß der Arbeitsmarkt gespalten ist zwischen denen, die Arbeit haben, und Arbeitslosen, die über Transferleistungen ihren Lebensunterhalt sichern müssen. Diese Arbeitsumverteilung ist eine teurere Form von Arbeitsumverteilung, da sie mit einer Verteilung von Einkommen durch Transferleistungen im Rahmen sozialer Sicherungssysteme einhergeht. Auch eine nicht an solidarischen Kriterien orientierte Arbeitsumverteilung ist immer eine Umverteilung von Einkommen. Von Niedriglöhnen, die sich aus der Preisbildung über Marktkräfte ergeben, wird eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erwartet. Billigjobs stehen deshalb im Dienst der Wettbewerbsfähigkeit. Doch die amerikanischen “Working poor”, die trotz Erwerbsarbeit nicht genügend für ein würdiges Leben verdienen, sind ein warnendes Bei1067 spiel. Billigjobs sind deshalb nur zugleich mit einem Ausbau eines starken Sozialstaats zuzumuten und können nicht Teil eines Abbaus des Sozialstaates sein. Der Sozialstaat ist eine Gestalt der solidarischen Dimension der Arbeit. Ökonomisch wie auch sozialethisch sind deshalb Billigjobs in den Unternehmen nur erträglich, wenn sie von einem effizienten und starken Sozialstaat flankiert werden. Das Wirtschafts- und Sozi1066 1067 Konkrete, auch finanziell durchkalkulierte Berechnungen für Vorschläge einer solidarischen Arbeitsumverteilung liegen vor. Für den Öffentlichen Dienst könnten so 17-20 Mrd. DM eingespart werden, mit denen 300.000 bis 500.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn nach diesem Vorschlag die oberen Gehaltsgruppen auf 10%, die mittleren auf 5% Einkommen verzichten würden und dies mit einem Zeitwohlstand “vergütet” bekämen. Vgl. dazu: P. Grottian, Th. Wiedmann, Für einen neuen Typus von Tarifvertrag, in: FR Nr. 183 vom 9.8.1997, 7. Vgl. dazu die Erfahrungen mit Billigjobs in den USA und die Erklärung der US-Bischöfe zum Neoliberalismus: F. Segbers, Von Amerika lernen heißt nicht, siegen lernen, in: F. von Auer u. F. Segbers (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland, 57 - 66. 357 alwort der Kirchen hat deshalb gefordert, die vom Arbeitgeber gezahlte geringe Entlohnung durch ein zusätzliches Sozialeinkommen zu ergän1068 zen, damit die Beschäftigten nicht in Armut geraten (Ziff. 174). 9.3 Dritter wirtschaftsethischer Impuls: Versöhnt mit der Schöpfung arbeiten 9.3.1 Logik der Nutzung Im Wirtschaftsprozeß setzen sich die Ansprüche des Menschen auf Nutzung der natürlichen Umwelt durch. Diese Ansprüche können mit den ökologischen Bedingungen harmonieren, ihnen aber auch zuwiderlaufen. In einer auf Privatkapital beruhenden Marktwirtschaft sind Umweltgüter wie Luft, Boden, Wasser, insofern sie Gemeinschaftsgüter (öffentliche Güter) sind, in gewissem Maße Fremdkörper, da nämlich eine Privateigentumsordnung wie die Marktwirtschaft die Auf- und Zuteilbarkeit von 1069 Ressourcen voraussetzt. Umweltgüter jedoch sind grundsätzlich als Vermögensgüter zu verstehen, die nur genutzt, nicht verbraucht werden dürfen. Wo aber Verbrauch unumgänglich ist, ist eine Kompensation zu sichern. Das sog. Verursacherprinzip will Kosten “internalisieren” und als Gegenstand der Rechnungsstellung dem Produktionsprozeß zuordnen. Das Konzept der “externen Kosten” will jene Kosten offenlegen, die bei der Produktion entstehen, nicht aber dem Verursacher zugerechnet werden. Solange jedoch verursachte Kosten extern abgewälzt werden können, sagen die am Markt erzielten Preis nicht die ökonomische Wahrheit, 1070 so Ernst Ulrich von Weizsäcker. In die am Markt erzielten Preise müssen aus Gründen der “ökologischen Wahrheit” all jene Kosten eingehen, die auch ökologisch verursacht worden sind. Zwei Essentials aus dem Erbe der neuzeitlichen Aufklärung bestimmen nach wie vor das Verständnis von Ökonomie und Ökologie: zum einen die Dominanz technischer und ökonomischer Rationalität, zum ande1068 1069 1070 Kritisch wendet H. Stüwe gegen den “Kombi-Lohn” ein, daß ein marktgerechtes Arbeitsentgelt dann keine Richtschnur mehr für Tarifverhandlungen wäre. “Wobei die Beschäftigungschancen wesentliche Indikatoren der Marktgerechtigkeit zu sein haben: durch deren Mißachtung ist das Problem entstanden, das jetzt durch den Kombilohn verdeckt werden soll. ... Da nirgendwo eine überzeugende Lösung als Marktersatz gefunden wurde, wird die Idee des Kombilohnes immer wieder propagiert. Sie mag verführerisch sein. Aber letztlich birgt auch sie mehr Risiken als Chancen.” So B. Stüwe, Der Kombi-Lohn - eine riskante Idee, in: FAZ Nr. 230 vom 4.10.1997, 13. U. E. Simonis, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin 1996, 6. E. U. von Weizsäcker, Erdpolitik, 142ff. 358 ren die beanspruchte Herrschaftsstellung des Menschen gegenüber der Natur. Aus diesem Willen zur Macht und dem Herrschaftsbewußtsein des Menschen wurde und wird ein Verständnis von Fortschritt hervorgebracht, daß keine Ehrfurcht gegenüber der Mitwelt kennt, sondern zum eigenen Nutzen in die Lebenszusammenhänge dieser Erde eingreift. Dieses seit Descartes ausgeübte Unterwerfungsverhältnis zwischen Mensch und Mitwelt ignoriert, daß der Mensch selber in die Lebenszusammenhänge der Erde integriert ist. Das neuzeitliche, von Ausnutzung und Beherrschung geprägte Verhältnis des Menschen zur Natur hat Dennis L. Meadows, der Verfasser der Studie des Club of Rome Grenzen des Wachstums, auf ein Menschenbild zurückgeführt, das jüdischchristlichen Ursprungs sei. “Das eine Menschenbild, das von den Befürwortern eines unbegrenzten Wachstums getragen wird, ist der homo sapiens, ein ganz besonderes Geschöpf, dessen einzigartiges Gehirn ihm nicht nur die Fähigkeit, sondern auch das Recht gibt, alle anderen Geschöpfe und alles, was die Welt zu bieten hat, für seine Zwecke auszubeuten. Dies ist ein uraltes Menschenbild, fest in der jüdisch-christlichen Tradition verankert und erst kürzlich bestärkt durch die großartigen tech1071 nischen Errungenschaften der letzten wenigen Jahrzehnte.” Die Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition für die Entstehung des neuzeitlichen Naturverständnisses darf sicherlich nicht so einlinig und undialektisch beschrieben werden, auch wenn die Hypothek eines Schöpfungsverständnisses mit ihren Aussagen über die Herrschaftsstellung des Menschen gegenüber der geschaffenen Natur schwer lastet. Das neuzeitliche Unterwerfungsinteresse basiert auf einem Nutzenkalkül, das sich auch im ökonomischen Konzept der Moderne Ausdruck verschaffte. Die Grundannahme des am Markt orientierten Ökonomiekonzeptes geht davon aus, daß das individuelle Einzelinteresse sich zum Nutzen aller summiere. Diese Grundannahme hat sich jedoch als irrig erwiesen: Das eigene Interesse auch aus wohlverstandenem wirtschaftlichen Gründen zu verfolgen, fördert nicht das dem Menschen und allem Lebendigen gemeinsame Interesse. Das Eigeninteresse hat sich nicht als ein Motiv erwiesen, das die Bewahrung des außermenschlichen Lebens garantiert. So konnte die Ökonomie zu einem Ort werden, wo der Mensch seinen Anspruch auf die natürliche Umwelt als einer unerschöpflichen Ressource in die Tat umsetzte. Eine Wirtschaftsweise vermochte sich durchzusetzen, die sich aggressiv gegen die nichtmenschliche Natur wendet und den Lebenszusammenhang mit der Natur, in die der Mensch hineingestellt ist, abzuschneiden droht. 1071 D.L. Meadows u.a., Wachstum bis zur Katastrophe? Stuttgart 1974, 28f., zit. nach: N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974) 137. 359 Der erste industrielle Konflikt - Kapital gegen Arbeit - resultiert aus einem Verteilungsproblem kollektiv erwirtschafteter Güter. Ulrich Beck weist zu Recht darauf hin, daß dieser Verteilungskonflikt mit einer “Ausbeutungslogik” verbunden ist: Der Vorteil des einen wird zum Nachteil 1072 des anderen. “Interessant ist, daß der ökologische Gesellschaftskonflikt sich genau spiegelbildlich zu diesem Wohlstandsverteilungskonflikt 1073 begreifen läßt.” Es sind gerade die Folgen der Reichtumsproduktion, die zerstörerisch wirken. Das industriegesellschaftliche Dilemma besteht darin, daß die Drosselung der einen Konfliktlogik die anderen Konflikte forciert. Die Industriegesellschaft kannte bislang im Verteilungskonflikt nur einen Konflikt um partielle Interessen. Der ökologische Konflikt jedoch ist kein partieller, sondern ein Konflikt um die Sicherung des Lebens oder Überlebens überhaupt. Ulrich Beck sieht deshalb in ökologischen Konflikten “eine moralische und soziale Tiefenstruktur, die aus der 1074 Verletzung von Überlebensnormen entsteht” . Ursprünglich hatten die Menschen sich gegen eine feindliche Umwelt behaupten müssen. Inzwischen hat sich das Gewaltverhältnis umgekehrt: Die Menschen sind in der Lage, gegen die Umwelt vernichtende Siege zu erringen. Sie haben es in ihrer Hand, die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Die Natur steht im Schatten der Gewalt. Darin zeigt sich eine ökonomische Durchdringung des gesamten Lebens. Ökonomische Steigerungsinteressen erhalten Vorrang vor den Erhaltungsinteressen der Natur. Die Logik, die zu gesellschaftlichen Asymmetrien und Spaltungsprozessen führt, ist dieselbe, die sich auch ökologisch verheerend auswirkt. Ökologische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, Schöpfung und Gerechtigkeit gehören deshalb zusammen. In den Vorbereitungsdokumenten zur 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1997 heißt es: Analyse und Kritik werden in diesen Zeiten dringend benötigt, wo die ökologische Krise sich zuspitzt, weil wirtschaftliche Einstellungen die räuberische Erweiterung von Riesenunternehmen, den Verbrauch natürlicher Ressourcen und die entmenschlichende Ausbeutung von Arbeitern erlauben. (...) Die Wirtschaftstheorie kann nicht mehr mit der Annahme weiter1075 machen, daß natürliche Ressourcen unerschöpflich sind. 1072 1073 1074 1075 360 U. Beck, Der ökologische Gesellschaftskonflikt, WSI-Mitteilungen 12/1990, 751. Ebd. 751. Ebd. 753. Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit (Vorbereitungsmaterialien für die 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1997), abgedruckt in: Reformierte Kirchenzeitung 5/1997, 238. 9.3.2 Regulierungen aus dem biblischen Schöpfungsethos Welche Einsichten kann eine Orientierung am biblischen Schöpfungsethos für die ökologische Frage vermitteln? Nicht das von Descartes definierte Unterwerfungsverhältnis von Mensch und Natur, sondern das ökologische und auch soziale Verbundensein allen Lebens ist der Maßstab, der in den theologischen Begründungen der biblischen Überlieferung zur Sprache kommt. Der Mitwelt kommen Rechte zu, die sie nicht dem Nutzer verdanken. Die Welt ist mehr wert als sie Nutzen hat. Christoph Stückelberger hat aus dem Bild einer Ökonomie des Hauses das 1076 Leitbild einer christlichen Mitweltethik des Maßes entwickelt. Ausgangspunkt der sozialethischen Argumentation ist die schöpfungstheologisch begründete Aussage: “Gott ist Gastgeber und der Mensch ist Gast 1077 auf Erden.” Aus dieser Grundaussage heraus formuliert Christoph Stückelberger “Leitlinien der Gästeordnung”. Sie wollen Auskunft darüber geben, was es heißt, sich als Gast auf Erden maßvoll zu verhalten. Gerhard Breidenstein kommt in seiner Untersuchung zum Eigentumsbegriff zu dem skeptischen Ergebnis, “daß die biblischen Äußerungen zum Thema Eigentum für die Probleme der Eigentumsordnung, d.h. für die spezifisch sozialethische Fragestellung, nichts ergeben. Damit sind aber alle christlichen, jedenfalls alle evangelisch-theologischen Aussa1078 gen zur Ordnung des Eigentums ohne Legitimation.” Mit dieser Aussage wird zum einen die Bedeutungslosigkeit biblischer Kategorien und Einsichten für die neuzeitliche Eigentumsethik konzediert und zum anderen gefolgert, aus biblischen Traditionen seien keine gegenwartsgestaltenden ethischen Perspektiven zu gewinnen. Läßt sich dieses Urteil halten? Gestaltung der Schöpfung in treuhänderischer Verantwortung ist die Perspektive, unter die die Bibel die Arbeit des Menschen stellt. “Macht euch die Erde untertan” (Gen 1,28). Jahrhundertelang haben Menschen dieses Mandat als Verantwortung verstanden und einen schonenden Umgang mit der Schöpfung gelebt. Zeitgleich mit der Auswanderung der Ökonomie aus dem gemeinsamen Gehäuse mit der Ethik wurde die Anthropozentrik des biblischen Verantwortungsgedankens, wie sie in der Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck kommt, in eine 1079 Anthropozentrik des Interessenmotivs für den Markt überführt. Der 1076 1077 1078 1079 Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, bes. 226ff. Von Arbeitsansatz und Methodik her fügt sich diese Arbeit in meine Konzeption ein. Ebd. 231. G. Breidenstein, Das Eigentum und seine Verteilung. Eine sozialwissenschaftliche und evangelisch-sozialethische Untersuchung zum Eigentum und zur sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 1968, 292. W. Huber, Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München 1990, 230f. 361 biblische Verantwortungsgedanke sagt: Der Mensch bleibt auch seinen eigenen Interessen nur dann treu, wenn er seine Rücksichtnahme nicht auf das Eigeninteresse beschränkt. Die den Menschen umgebende Schöpfung wurde aber zur Ressource zur Erfüllung eigener ökonomischer Interessen und Motive. Der Mensch erklärte sich zum Meister und Besitzer der Natur. Die heute ausgerufene Partnerschaft mit der Natur bleibt ein vergebliches Postulat, wenn und solange die tieferen, geistesgeschichtlich begründeten Ursachen für die Krise im Mensch-NaturVerhältnis nicht aufgedeckt werden. Diese haben ihren Grund darin, daß der Mensch sich als Subjekt versteht, das einem Objekt, nämlich der Natur, gegenübersteht. Das antike Palästina war ein eher armes Land. Um diesem Land die Lebensgrundlage abzuringen, brauchte der Bauer ökologisches Wissen, denn Land konnte auch wieder versteppen und unfruchtbar werden. Der Biologe Aloys Hüttermann attestiert der Bibel “ein profundes biologisches 1080 und ökologisches Wissen” und “intime Kenntnisse der Naturgesetze” , die sich in den Nutzungsvorschriften des Bodens und in Vorschriften über den Umgang mit der Natur niedergeschlagen haben. Die Tora enthält deshalb auch Bestimmungen, die eine ökologische Balance sichern sollte. Wichtigste Institution war die Ackerbrache. “Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im siebten Jahr sollst du es brach liegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen, den Rest mögen die Tiere des Feldes fressen.” (Ex 23,10.11a) Das Brachegebot steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Recht der Armen und dem diesem nachgeordneten Recht der Tiere auf Nahrung. Soziale Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Regeneration der Erde stehen nicht gegeneinander. Dtn 15,1-11 verschiebt den Akzent auf das Soziale und verändert das ökologische Brachjahr zu einem Schuldenerlaßjahr. Lev 25,2-7.18-23 betont die Regenerationszeit, die das Land braucht. Das Land gehört JHWH (V 23). Ihm zur Ehre wird nicht eine Ausnutzung des Landes, sondern vielmehr ein Sabbat gehalten, der Land, Mensch und Tiere regenerieren läßt (V 2). Wenn das karge Land nach diesem Rhythmus bestellt wird, dann kann es seine Fruchtbarkeit erhalten und so produktiv sein, daß es nach dem Sabbatjahr einen Überschuß hervorbringt. Nach sechs Jahren folgte ein Sabbatjahr und dem Sabbatjahr das Jahr der Aussaat, so daß nach dem Sabbatjahr erst im darauf folgenden Jahr geerntet werden konnte (V 22). “Seht, ich werde für euch im sechsten Jahr meinen Segen aufbieten, und er wird den Er1080 A. Hüttermann, Die ökologische Botschaft der Thora, 148.154. Diesen angepaßten Umgang mit den Ressourcen bestätigt auch H.Vogelstein, Die Landwirtschaft in Palästina zur Zeit der Misnah. Vgl. dazu auch: F. Crüsemann, Die Tora, 304ff. 362 trag für drei Jahre geben” (Lev 25,21). Die Tora wird als Anweisung zu einer Ökonomie verstanden, die Leben garantiert (Dtn 8). Hält Israel die Tora, dann wird Israel zu einem “prächtigen Land” (Dtn 8,7). Die Katastrophe des Exils wird als Folge der Mißachtung der Tora gedeutet (Lev 26,43f): Das Land wird zur Wüste und Steppe (Lev 26,33f). Das Sabbatjahr ist also getragen von einem Respekt vor dem Land und der Schöpfung insgesamt. Das Sabbatjahr gibt die Erkenntnis wieder, daß Ökonomie mit Gewalt gegen die Schöpfung zu tun haben kann. Diese strukturelle Gewalt soll durch die Institution des Sabbatjahres minimiert werden (Ex 23,10f.; Dtn 15,1f.). “Dieses Gesetz ist eine Erweiterung des Gedankens des Frie1081 dens vom sozialen Bereich auf den Naturbereich.” So lehren Sabbat und Sabbatjahr einen anderen Umgang mit der Schöpfung und mit denen, die die Erde bewohnen: nicht alles unter Kontrolle bringen, loslassen können, die Natur sich selber überlassen - wenigstens in regelmäßig wiederkehrenden Zyklen. Die gemeinsame Ruhe aller am siebenten Tag und die Brache aller Äcker im selben Jahr war immer kontraproduktiv, wenn ökonomische Kategorien angelegt werden. Für jede allein am kurzfristigen Nutzen orientierte Wirtschaftsweise bedeutet diese Weisheit nichts anderes als ein entgangener möglicher Gewinn. In den Einrichtungen des Sabbat und des Sabbatjahres drückt sich eine Vorzugsregel aus, die ethisch plausibel und ökonomisch vernünftig ist: Bei konkurrierenden ökonomischen und ökologischen Interessen kommt den ökologischen ein Vorrang zu. Land und Landbesitz bilden für den altisraelitischen Bauern die entscheidende Voraussetzung für die Sicherung des Lebens. Um diese Existenzbedingung zu sichern, gab es ein Eigentumsrecht, nach dem Grund und Boden, Eigentum, vornehmlich Landbesitz nicht frei verfügbar 1082 sind, sondern dienen der Familie als Lebensraum. Bereits sprachlich kommt dieses Eigentumsverständnis zum Ausdruck. Hebräische Worte für Eigentum, Besitz bezeichnen sowohl die Art der Aneignung als auch die Beziehung zwischen Besitzer und Besitz. Damit unterscheiden sie sich von einem Eigentumsverständnis, das von Aneignungsformen und 1083 personaler Beziehung abstrahiert. Eigentum und Besitz sind Beziehungsbegriffe. Aus diesem Grund weisen nahezu alle Begriffe für Eigen1084 tum im Hebräischen anthropologische und theologische Bezüge auf. Bereits terminologisch unterscheidet das Alte Testament Eigentum an 1081 1082 1083 1084 E. Fromm, Die Herausforderung Gottes und des Menschen, Zürich 1970, 197. J. Ebach, Art, Eigentum, I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 406. Ebd. 405. Ebd. 404. 363 1085 Tieren, Boden und Menschen. “Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner” (Ps 24,1, auch Lev 25,23). Diese biblische Weisheit des Psalmisten beschreibt den theologischen Rahmen biblischer Eigentums- und Bodenrechtsbestimmungen. Sie stehen für einen anderen, einen treuhänderischen Umgang nicht nur mit dem Boden, sondern mit der Schöpfung insgesamt. Das Land ist zum Erbbesitz gegeben (Dtn 4,38). Der Schöpfungsglaube behauptet deshalb das prinzipielle Eigentumsrecht Gottes an allem, was geschaffen ist, und setzt der Verfügung des Menschen auf die Schöpfung eine kritische Grenze. Bereits das Bundesbuch setzt ein Verständnis von Eigentum voraus, das den Lebensraum als Patrozinium Gottes begreift. Das priesterliche Schrifttum entwickelt den Gedanken weiter, indem es noch deutlicher das Eigentumsrecht Gottes an seinem Grundbesitz betont und diesen Besitz deshalb nur mit einem auf Zeit verliehenen Nutzungsrecht ausstat1086 tet. Lev 25,23 regelt, daß der Boden grundsätzlich unverkäuflich ist, weil das Land JHWH gehört. Nur die Ernten dürfen veräußert werden (V 13-19). Boden wird also nur auf Zeit und zur Nutzung übergeben. Privateigentum wird als anvertrauter Lebensraum verstanden, d.h. niemand hat das Recht, es seinem Nächsten vorzuenthalten oder sich auf Kosten wirtschaftlich Schwächerer zu bereichern. Land soll geschützt bleiben, denn es ist das lebensnotwendige Produktionsmittel der Agrargesellschaft und die Existenzgrundlage der bäuerlichen Betriebe. Eindeutig denkt diese Regelung von dem her, der gezwungen ist, Land zu veräußern. Er soll geschützt werden. Gerade Notlagen könnten dazu führen, daß der eine sich auf Kosten des anderen bereichert. Gegen diese Mechanismen des Marktes will das “Ausbeutungsverbot” (V 14b) schützen. “Wenn du deinem Stammesgenossen etwas verkaufst oder von ihm etwas kaufst, sollt ihr einander nicht übervorteilen” (Lev 25,14). Die Tora nimmt den Bodenpreis aus den Marktgesetzen heraus: Der Käufer bezahlt nicht nach dem Marktpreis, sondern nach dem realen Wert, der sich aus der Summe der Ernteerträge bis zum Jobeljahr ergibt, denn mit dem Jobeljahr fällt der Boden wieder an den Verkäufer zurück. Dieser Eingriff in die Marktgesetze wird theologisch begründet: “Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir” 1087 (Lev 25,23 auch V 17). 1085 1086 1087 364 F. Horst, Art. Eigentum, biblisch, in: RGG Bd II, 3. Aufl. Sp. 363. Ebd. Sp. 364. Vgl. auch die näheren Ausführungen oben Abschnitt .4.2.2. Die Tora bemühte sich darum, den Schutz des Eigentums vor Über1088 griffen und die soziale Verpflichtung des Eigentums zu garantieren. Eigentum ist eine materielle Grundlage der Freiheit. Der Dekalog verbietet deshalb Übergriffe auf das Eigentum des Nächsten. (Ex 20,17; Dtn 5,21) Grundbesitz ist in einer Agrargesellschaft wie der des Alten Israel Grundlage des Wirtschaftens und wird deshalb auch im Dekalog ausdrücklich einem Schutz unterstellt. Ex 20,17 bezieht sich weniger auf ein Begehren im Sinne neidischer Gesinnung als auf einen geplanten und ausgeführten Übergriff auf fremdes Gut; die Fassung Dtn 5,21 verschärft die Aussage gegenüber Ex 20,17, indem ein begehrliches Wollen („wh) hinzugefügt wird. Die wichtigste Intention der Schutz des Eigentums be1089 steht darin, vor dem Zugriff des Stärkeren zu schützen. “Nichtbegehren in der (unterschiedlichen) doppelten Auffächerung (nämlich Haus und Frau, Sklave, Vieh, F.S.) sichert die gesamte Lebensgrundlage des 1090 Nächsten, Besitz und Familie.” 1091 In Israel gab es Bodenpacht. Wie wurden die Pachtverhältnisse rechtlich geregelt? Wie sah das wirtschaftlich-soziale Gefälle zwischen Pächtern und Verpächtern aus? Willy Schottroff versteht das Gleichnis von den bösen Weingärtnern als Darstellung eines realen Sozialkonfliktes (Mk 12,1-9 parr.). Die Pächter ermorden den Abgesandten des Grundbesitzers, wohl um sich durch “Ersitzung” in Besitz des Weinbergs zu bringen. Das Gleichnis spricht ein Urteil über die sozio-ökonomischen Verhältnisse: Israel ist wie ein Volk, das keinen Hirten hat (Mk 6,34). Von der ausbeutenden Führungsschicht wird die Masse des Volkes unterschieden (Mk 12,12). Durch die ausbeuterischen Interessen der Oberschicht sei das Land in einen heillosen und von Gewalt geprägten Zu1092 stand geraten, ist die Pointe des Gleichnisses. Das Sabbatjahr bedeutet einen Vorrang des allgemeinen Rechts auf Leben vor dem Recht auf Eigentum. Im Vordergrund steht eine Orientierung am Nutzen. Da JHWH Eigentümer des Landes ist, steht aller Besitz an Grund und Boden unter einem göttlichen Eigentumsvorbehalt. Eigentum ist dem Menschen zu seinem Nutzen gegeben und kein Selbstzweck. Nutzung des Eigentums soll daher zum Vorteil aller sein. Eigentum darf deshalb nicht in willkürlicher Weise gehandhabt werden, die sich ruinös auf andere auswirkt. Das Recht auf privates Eigenum findet seine Grenze dort, wo das Lebensrecht anderer bedroht ist. Getragen ist 1088 1089 1090 1091 1092 J. Ebach, Art, Eigentum, I. Altes Testament, 403-407. So J. Ebach, Art., Eigentum , I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 406. F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit, 76. W. Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9 parr.). Ein Beitrag zur Geschichte der Bodenpacht in Palästina, in: Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins 112 (1996) 18-48. W. Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtern (Mk 12,1-9 parr.), 41. 365 die biblische Eigentumsvorstellung von der Idee vom Eigentum als Nießbrauch. Um die sozialen Schäden aus einem freien Handel mit Boden abzufangen, wird der Handel auf den Ertrag des Bodens beschränkt, der Boden selbst jedoch ist nicht veräußerbar. Dabei handelt es sich um einen bewußten Eingriff in die Mechanismen des Marktes, wie die Ausnahmeregel zeigt: Immobilien in der Stadt, die nicht als Produktionsmittel dienen, unterliegen nicht der Verkauftsbeschränkung der Jobeljahrformel. Sie sind frei verkäuflich (Lev 25,29-31). Der wirtschaftsethische Kern des Jobeljahres besteht darin, allen einen offenen Zugang zu den Ressourcen des Landes zu gewähren und einen verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen zu gewährleisten. Dieses Eigentumsverständnis der Tora gewinnt gerade angesichts der Umweltproblematik, die zutiefst mit dem Weltbild der Moderne zusammenhängt, eine hohe Aktualität. Der Ausschluß des Handels mit dem Boden und das Brachjahr zeigen einen hohen Respekt vor dem Boden. Der Umgang mit Grund und Boden steht nicht allein unter einer Nutzen Perspektive. Diese Haltung kann beitragen, zu einem Eigentumsverständnis zu kommen, das eine Balance zwischen Nutzung und Regeneration des Bodens herbeiführt. Das Eigentumsverständnis kann deswegen als umweltfreundlich charakterisiert werden. Zwei Wege gibt es, die zu einer umweltgerechten Eigentumsordnung führen. Entweder werden Umweltaspekte in der Privateigentumsordnung selbst stärker wirksam. Dies läuft auf einen Ausbau des Privateigentums an Umweltgütern hinaus, denn dem Eigentümer wird die Verantwortung für umweltverbrauchende und -belastende Wirkungen zugewiesen. Der andere Weg geht von der Annahme aus, daß die natürliche Umwelt an sich ein gemeinschaftlich-öffentliches Gut ist. Das bedeutet nun nicht, daß wirtschaftliche Nutzung kollektiviert werden müßte. Udo Ernst Simonis schlägt ein Eigentumsrecht vor, das dem ökologischen Imperativ gerecht werden kann. Dieses Eigentumsrecht an Umweltgütern wäre geteilt: das wirtschaftliche Eigentum an Umweltgütern als individuelles Dominium und das gemeinschaftliche Patrimonium. Das Konzept des Patrimoniums geht davon aus, daß die wirtschaftliche Nutzung der Umweltgüter dem Anspruch auf Eigentum unterzuordnen ist. Die Umwelt wird also als ein Erbgut betrachtet, das der Mensch nicht geschaffen hat, und das auch künftigen Generationen als Existenzgrundlage dienen soll. Nutzungsrecht und Eigentumsrecht müßten miteinander verbunden sein. In vielen Gemeinden gibt es noch aus älteren Zeiten stammende Eigentumsordnungen, die gemeinschaftliches Bodeneigentum kennen, das private Nutzung erlaubt. In der Allmendenordnung gibt es beispielsweise eine solche Verbindung von privater Nutzung und Eigentum. Udo Ernst Simonis schlägt vor, Elemente einer umweltgerechten Eigen- 366 tumsordnung im Sinne des Patrimoniums in der modernen Industriege1093 sellschaft zu verankern. Diese von Udo Ernst Simonis geforderte “Verknüpfung von individueller wirtschaftlicher Nutzung des Eigentums und Erhaltung der ökologi1094 schen Funktionsbestimmung” kommt dem Eigentums- und Besitzverständnis der Bibel recht nahe. Der Schutz der natürlichen Umwelt ist konstitutiver Bestandteil eines Eigentums, als dessen “Besitzer” Gott und dessen “Nutzer” die Menschen verstanden werden. Die Menschen sind Treuhänder und Nutzer eines Gutes, dessen Besitzer nicht sie, sondern Gott ist. Grund und Boden sind grundsätzlich nicht verkäuflich, sondern dienen allen als Existenzgrundlage in einer bäuerlichen Gesellschaft (Lev 25,23). Akkumulationsprozesse von Grund und Boden werden mit der Institution des Jobeljahres zyklisch korrigiert (Lev 25, 8ff.). Zwischen der Eigentumsfrage und der Nutzung des Besitzes an Boden oder Ressourcen und der Forderung nach Solidarität, oder anders ausgedrückt: zwischen Ökonomie, Solidarität und Ökologie existiert durch einen solchen Eigentumsbegriff ein enger innerer Zusammenhang. Ein schöpfungsgerechter Umgang mit Eigentum und Solidarität bleibt solange eine Fiktion, wie das Eigeninteresse eines Besitzindividualismus sich als Strukturprinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung darstellen kann. Solidarität und Ökologie sind dann nichts weiter als eine nachträgliche Reparaturmaßnahme, welche die schädlichen Nebenfolgen des Besitzindividualismus abfangen soll. Deshalb sagt auch das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen: “Mit einer ökologischen Nachbesserung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan. Notwendig ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft insgesamt” (Ziff. 148). Die Rede von der Bestimmung der Güter dieser Erde für alle zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse wird ohne einen solidarischen und schöpfungsgerechten Eigentumsbegriff zu einem leeren Pathos. Gegen die Ökonomisierung aller Lebenswelten setzt die biblische Tradition die Institution des Sabbat. Erich Fromm legt den Sabbat auf diese ökologische Dimension hin aus: “Der Sabbat ist ein Tag des Waffenstill1095 standes im Kampf des Menschen mit der Natur.” Der wöchentlich wiederkehrende Sabbat ist der wöchentlich wiederkehrende Einspruch gegen eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die Erde steht dem Menschen nicht zur grenzenlosen Ausbeutung und zum grenzenlosen Nutzen zur Verfügung. Der Sabbat ist aber mehr als nur ein Waffenstill1093 1094 1095 U.E. Simonis, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, Wissenschaftszentrum Berlin, 1996, 12. Dort auch weitere Literaturangaben. Ebd. 14. E. Fromm, Haben oder Sein, 57. 367 stand. Der aus Deutschland emigrierte jüdische Theologe Abraham Heschel bewertete den Sabbat: “Er ist die tiefe bewußte Harmonie des Menschen und der Welt, Mitgefühl für alle Dinge und Teilhabe an dem 1096 Geist, der vereint, was unten und oben ist.” Deshalb ist der Sabbat besonders in der ökumenischen Sozialethik zunehmend als ein Zeichen der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie wiederentdeckt worden. Die Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Canberra 1991 stellt einen beispielhaften Versuch dar, alte Einsichten der biblischen Tradition für gegenwärtige Fragestellungen neu zu erschließen. Sowohl für Juden als auch für Christen bietet die Einführung des Sabbat, des Sabbatjahres und des Jubeljahres eine deutliche Vision der ökonomischen und ökologischen Versöhnung, der sozialen und persönlichen Erneuerung. Der Sabbat erinnert uns daran, daß die Zeit, der Bereich des Seienden, nicht lediglich Verfügbares ist, sondern eine heilige Dimension hat, die unserem Kontroll-, Befehls- und Unterdrückungsdrang widersteht. In den Konzepten des Sabbat- und des Jubeljahres verbinden sich die ökonomische Effektivität bei der Nutzung der knappen Ressourcen mit der Haushalterschaft über die Umwelt, das Gesetz mit dem Mitleid, die Wirtschaftsordnung mit der sozialen Gerechtigkeit. Nicht Produktion und Konsum erhalten unsere Erde, sondern die ökologischen Systeme, die die Voraussetzungen für das menschliche Leben bilden. Es gibt eine enge und unauflösliche Verbindung zwischen Ökonomie und Ökologie, wie der konziliare Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der 1097 Schöpfung deutlich gezeigt hat. Die biblische Perspektive lenkt den Blick auf den einen Haushalt der Schöpfung, in dem Ökonomie und Ökologie versöhnt werden sollen. Älteres Wissen, das in der Bibel überliefert wird, eröffnet eine neue Perspektive zur Wahrnehmung von Problemen, die ansonsten nicht als solche begriffen würden. Darin zeigt sich ihre Aktualität. In den Vorbereitungsdokumenten zur 23. Vollversammlung des Reformierten Weltbundes (1997) heißt es: Der Sabbat erinnert an die Tatsache, daß die Schöpfung einen Wert an sich hat und nie einfach auf “natürliche Ressourcen” reduziert werden kann. In der Bibel bezieht sich der Aufruf, den Sabbat zu halten, nicht nur auf einen Tag von sieben, sondern auf einen Lebensstil. (...) In der heutigen Welt mit ihrer Kultur der Habgier und Ausbeutung ist es ein Zeichen 1096 1097 368 A. Heschel, Der Sabbat, 28. W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991. Offizieller Bericht der Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, 7.- 20. Februar 1990 in Canberra, Frankfurt 1991, 54. von Widerstand, gerecht zu handeln und sich an den Sabbat zu erinnern, 1098 ihn heilig zu halten. Dies stellt eine Gegenkultur dar. Die Sabbattradition erinnert an ein Konzept, das Ökonomie und Ökologie durch solche Regulierungen in den Institutionen von Sabbat und Sabbatjahr versöhnt, die Naturnutzung auf ein Maß begrenzt und die Regenerationsfähigkeit der Natur nicht überfordert. 9.3.3 Soziale und ökologische Marktwirtschaft Die leider viel zu wenig beachtete Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz Verantwortung wahrnehmen 1099 für die Schöpfung hatte bereits 1985 gefordert, das Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft um die ökologische Komponente zu erweitern. In der Erklärung heißt es: Es geht dabei um eine Wirtschaftsordnung, in der freier Wettbewerb durch Anreize und Auflagen Impulse zugunsten ökologischer Ziele enthält und der ein ökologiepolitischer Rahmen gesetzt ist, der den Wirtschaftsprozeß gegenüber der Umwelt in eindeutige Schranken verweist. (...) Der Gedanke einer „ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft setzt also auf die Anpassungsfähigkeit des wirtschaftlichen Systems sowie auf die unternehmerische Einsicht und das Interesse, bei gegebenen Anreizen Aufgaben aufzugreifen, die der Natur und dem Gemeinwohl dienen. (Ziff. 81) Strukturelle Eingriffe sind gefordert, damit der ökologische Umbau der Sozialen Marktwirtschaft vollzogen werden kann. “Die Verpflichtung auf den Schutz der Umwelt stellt keine kosmetische Korrektur der bestehenden Wirtschaftsordnung dar, sondern einen grundlegenden Einschnitt” (Ziff. 83). Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen nimmt diese Argumentation auf, wenn es die Erweiterung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft um das Attribut “ökologisch” (Ziff. 142) fordert. Leider jedoch werden die strukturellen Ursachen der ökologischen Schädigung als Folge einer auf Wachstum angelegten Wirtschaftsweise nicht thematisiert. Wie läßt sich aber eine Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang konzipieren? Diese entscheidende Frage läßt das Wort der Kirchen unbeantwortet. Auch wenn Ökologie als Referenzrahmen für ökonomisches Denken seit den Grenzen des Wachstums (Club of Rome) erst jüngeren Datum ist, lassen sich doch Traditionslinien aufzeigen, die bis zu den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft zurückreichen und an Aktualität nichts 1098 1099 Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit, 235. Gütersloh 1985. 369 verloren haben. In seiner frühesten Schrift, die sich mit der Konzipierung einer Sozialen Marktwirtschaft beschäftigt, setzt sich Alfred MüllerArmack bereits 1948 (!), mit den “Problemen des Überflusses” ausei1100 nander. Weitsichtig forderte er deshalb in einer Zeit, als große Teile Deutschlands noch in Trümmern lagen, Instrumentarien zur Bändigung des erwarteten Überflusses. Auch Wilhelm Röpke war sich der konstitutiven und immanenten ökologischen Brisanz der Marktwirtschaft bewußt. Der Wachstumszwang fördere einen Kult der Produktivität, der materiel1101 len Expansion und des Lebensstandards. “Entscheidend sind die Dinge jenseits von Angebot und Nachfrage, von denen Sinn, Würde und innere Fülle abhängen, die Zwecke und Werte, die dem Reich des Sittli1102 chen im weitesten Verstande angehören.” Die Ökologiedebatte zeigt, daß die Soziale Marktwirtschaft von sich aus keineswegs ökologische Rücksichten kennt. Das Postulat einer auch ökologisch verpflichteten Sozialen Marktwirtschaft wird sich nur dann einlösen lassen, wenn von der Anthropozentrik des ökonomischen Interessenmotivs Abschied genommen wird. Das geschieht dadurch, daß erstens ein neuer Wirtschaftsbegriff realisiert wird, der ein ökologieverträgliches Ziel des Wirtschaftens formuliert, und zweitens ein auf Nutzung und Verbrauch der Ressourcen der Erde reduziertes Eigentumsverständnis revidiert wird. Ein an realen Alternativen orientiertes Denken wird allerdings davon ausgehen müssen, daß außerhalb der arbeitsteiligen Industriegesellschaft oder gar gegen sie keine Auswege aus dem ökologischen Desaster gefunden werden können. Hier könnte man sich vom biblischen Schöpfungs- und Eigentumsverständnis inspirieren lassen, um zu einer mitweltgerechten Zivilgesellschaft zu gelangen, die realpolitische Lösungsansätze für eine zukunftsweisende Ökonomie entwickelt und umsetzt. 9.4 Vierter wirtschaftsethischer Impuls: Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen Die säkularen Umbrüche des Jahres 1989 haben die ökonomische Effizienz einzelwirtschaftlicher Produktion in Marktwirtschaften bestätigt. Das ökonomische Urteil jedoch reicht nicht für ein wirtschaftsethisches Urteil aus. Marktwirtschaften können ja höchst effizient in der Produktion der Güter sein, trotzdem aber soziale, humane oder ökologische Schäden 1100 1101 1102 370 A. Müller-Armack, Die Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 154. W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich, Stuttgart 1966, 166. Ebd. 22. hervorrufen. Für ein einzelnes Unternehmen kann als vernünftig gelten, was für eine gesamte Gesellschaft in keiner Weise vernünftig zu sein braucht. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich fordert deshalb, daß Marktwirtschaften gerade wegen ihrer ökonomischen Effizienz “zur Vernunft zu 1103 bringen” seien. Die Beantwortung der ökonomischen Grundfragen nach dem Was, Wie und Für wen darf trotz marktwirtschaftlicher Effizienz nicht von der Eigenlogik des Marktes erwartet werden: Marktwirtschaftliche Effizienz ist nicht Ergebnis der Logik des Marktes, sondern muß in einem demokratischen Prozeß erfolgen. Der marktradikale Neoliberalismus erwartet von einem freien, deregulierten Markt die höchste ökonomische Effizienz. Ökonomische Freiheit steht deshalb auch im Zentrum. Marktwirtschaftliche Effizienz kann aber nicht allein auf den Erfolg einzelwirtschaftlicher Produktionsweise zurückgeführt werden. Das Gegenteil hat sich geschichtlich erwiesen: Innovative Partizipation und demokratische Teilhabechancen sind Voraussetzung für die ökonomische Effizienz der Marktwirtschaft. Das Wirtschaftsund Sozialwort der Kirchen verweist auf diesen Zusammenhang, wenn es gegen kurzfristige isolierte Gewinninteressen, die sich am Markt realisieren lassen, auf die gesellschaftliche Einbettung des Marktes hinweist. “Diese Perspektiven und Maßstäbe sind nicht wirklichkeitsferne Postulate, sondern Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft, die sich nicht durch vermeintliche Sachzwänge oder durch kurzfristige Interessen irre machen läßt” (Ziff. 126). Ein soziales Klima oder verläßliche gesellschaftliche und soziale Strukturen sind in diesem Sinn als eine gute Rahmenbedingung ökonomischen Handelns zu verstehen. Finden die wirtschaftsethischen Wertentscheidungen für eine Kombination von Ökonomie und Solidarität, von ökonomischer Effizienz und sozialer Einbindung in der Politischen Ökonomie der Tora einen Rückhalt? 9.4.1 Regulierung des Marktes in der Tora Die wirtschafts- und sozialethisch relevanten Rechtskorpora der biblischen Tradition bemühen sich um eine intensive Auseinandersetzung mit 1104 den Wirtschaftssystemen ihrer Zeit. Akkumulationsprozesse, die zu asymmetrischen Verhältnissen in der Gesellschaft führen, sind nicht nur eine Signatur kapitalistischer Marktgesellschaften, sondern beginnen bereits mit dem Übergang von Kleingruppengesellschaften zu Ackerbaukulturen und setzen sich in der Zeit der Städtegründungen und später in den Großreichen fort. In allen antiken Gesellschaften gab es Gegenbe1103 1104 P. Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, 483. Vgl. oben Abschnitt 4.2. 371 wegungen gegen zerstörerische Akkumulations- und Verelendungsprozesse. Auch die Tora mußte sich mit sozialen Folgen einer Marktökonomie auseinandersetzen. Das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht der Tora lebt von dem Grundsatz, daß alle Menschen gleichen Zugang zu den Lebensressourcen haben sollen. Rainer Albertz sieht deswegen in der Wirtschaftsethik der Tora den Versuch, “gegen die unterdrückenden 1105 Zwänge wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit” Regulierungen der Marktökonomie zu stellen. Der Markt gehört wirtschaftshistorisch zu den ältesten gesellschaftlichen Einrichtungen; in Ausmaß und Bedeutung für die jeweiligen Gesell1106 schaften ist er allerdings unterschiedlich zu bewerten. Die Bibel kann auf ein jahrtausendealtes Erfahrungswissen im Umgang mit dem Markt verweisen. Die biblischen Wirtschaftsgesetze sind entstanden in Auseinandersetzung mit dem Markt. So kennt die Tora Bestimmungen in ihrem Wirtschaftsrecht, die Verkauf und Handel regeln und die Gesetze des Marktes suspendieren. Der Kauf und Erwerb von Grund und Boden wird nicht als ein dereguliertes freies Marktgeschehen geregelt (Lev 25,14 ff.). Allein der Gebrauchswert einer Immobilie zählte ökonomisch, denn der Wert resultierte aus der Anzahl der Ernteerträge. Spekulation auf der Basis des Gesetzes von Angebot und Nachfrage war ausge1107 schaltet. Auch das Neuen Testament mußte sich mit den Grundprinzipien der Marktwirtschaft auseinandersetzen. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern handelt als eines der wenigen neutestamentlichen Texte aus1108 drücklich von marktwirtschaftlichen Vorgängen (Lk 12,16-21). Es erzählt von einem reichen Bauern, der die Chancen nutzt, die eine freie Marktwirtschaft ihm bieten. Er verknappt das Angebot, indem er den Weizen in Scheunen hortet und nicht auf dem Markt verkauft. Wirtschaftlich ist Knappheit auf dem Markt vernünftig, denn ein knappes Angebot treibt die Preise hoch. Der reiche Bauer erzeugt eben diesen wirtschaftlich erwünschten Knappheitseffekt. Sein Verhalten ist ökonomisch vernünftig; es folgt der Logik des Marktes. 1105 1106 1107 1108 372 R. Albertz, Die Tora Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, 309. H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 23 - 35. Vgl. die näheren Ausführungen und Berechnungen in Abschnitt4.2.2. Die erste unveröffentlichte Vorlage für eine Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen “Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland” bezog sich noch auf dieses Gleichnis und sah in ihm ein Beispiel für ein Verhalten, das Vorsorge nur als die eigene Versorgung, sein eigenes Essen und seine Getränke begreift. “Zukunftsverantwortung muß mehr einschließen, als nur die jeweils eigene Versorgung.” Diese Erzählung, die wie nur wenige von marktwirtschaftlichem Verhalten spricht, fiel aber dem weiteren Redaktionsprozeß zum Opfer. Der Anbau von Getreide war der wichtigste landwirtschaftliche Produk1109 tionszweig. Weizen war das Hauptnahrungsmittel in der Antike, wie Plinius‟ Aussage belegt: “Nichts ist fruchtbarer als der von der Natur zur 1110 menschlichen Hauptnahrung bestimmte Weizen.” Ähnlich ein Midrasch: “Dem Weizen gegenüber ist alles Nebensache, er erhält die 1111 Welt.” Palästina nennt die Bibel ein Land des Weizens und der Gerste (vgl. Num 8,8; 2 Sam 17,28; Jes 28,25; Jer 41,8; Joel 1,11; Rut 2,23; 1112 Chron 2,14). Mit Getreideprodukten, hauptsächlich mit Weizenbrot, 1113 deckte man die Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs. In der Antike schwankten die Getreidepreise auch unabhängig von Notsituationen wie Mißernten erheblich. Durch Verknappung wurde versucht, den Getreide1114 preis hochzutreiben. Mangellagen und sogar Ernährungskrisen wurden künstlich geschaffen. Die Weizenpreise reagierten deutlich auf 1115 Knappheiten im Angebot, sofern nicht der Staat regulierend eingriff. In Notzeiten stieg der Weizenpreis um das 16fache an. Diese Preissteigerung, die für die Bevölkerung Hungersnot bedeutete und den Getreidehändlern enorme Gewinnspannen bescherte, spricht auch ein palästinensische Sprichwort an, das Joachim Jeremias zitiert: “Die Wucherer beuten die Notlage aus; es ist die Rede von der Regen bringenden „Wolke, die das Unglück der Wucherer (wörtlich: der Ansetzer des Marktprei1116 ses) ist‟.” Von Rabbi Akiba (50/55 - 135 n. Chr.) stammt die knappe Definition des Wirtschaftsgesetzes von Angebot und Nachfrage: “Die Mengen des zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmen wieder ab, so (kehrte) der Markt (will sagen die Preise am Markt) 1117 wieder zu seinem alten Platze (Stand) zurück.” Cicero verweist bei der Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten auf eine herrschende Praxis nach den Gesetzen des Marktes: “Das Getreide hat nur bei Mißernten einen Preis; ist die Ernte reichlich ausgefallen, so verkauft 1118 es sich unvorteilhaft.” Er spricht hier ein zentrales Gesetz der Marktwirtschaft an: Die Verknappung des Angebotes treibt die Preise hoch. 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 99. Plinius, nat. hist. XVIII (XXI), 508d, zit. ebd. 101. Mdr Peiktha Rabbathi zu Ki -Theze X, 35 a, zit. ebd. 297. Zum Gertreideanbau vgl. die Ausführungen ebd. 99ff; 297ff; vgl. auch: J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 3. neubearb. Aufl. Göttingen 1962, 42ff; J. Habbe, Palästina zur Zeit Jesu. Die Landwirtschaft in Galiläa als Hintergrund der synoptischen Evangelien, Neukirchen - Vluyn 1996. A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 99. Zu den Weizenpreisen in der Antike: Ebd. 102, 106. M.I. Finley, Die antike Wirtschaft, 209. Gen R. XIII, zit. nach: J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 137f. Dort auch weitere Angaben zu den Weizenpreisen in normalen Zeiten und auch in Zeiten der Not. Zit. in A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, XX. Cicero, Verr II, 3, 227, zit. nach L. Schottroff, W. Stegemann, Jesus, 163, Anm. 33. 373 Dieses Wirtschaftsgesetz von Angebot und Nachfrage war in der Antike 1119 nicht nur bekannt; es wurde auch gezielt eingesetzt. Die knappen Hinweise deuten auf marktwirtschaftliche Vorgänge bei der Versor-gung der Bevölkerung mit Getreide. Luise Schottroff und Wolfgang Stegemann deuten das Gleichnis vom reichen Kornbauern als ein Gleichnis, das von einem Getreidespekulan1120 ten handelt. Auch Aurel von Jüchen stellt sich den Bauern als einen 1121 “üblen Spekulanten” vor. Die individuelle Bereicherung mit Hilfe der Gesetze des Marktes macht den Kern des Gleichnisses vom reichen Kornbauern aus. Der durch Getreidespekulation erworbene Reichtum soll ein sorgenfreies Leben in Überfluß ermöglichen (Lk 12,19). Der Kornbauer agiert ökonomisch vernünftig: Er verknappt das Angebot. Diese künstliche Verknappung treibt die Preise hoch. Das ökonomisch vernünftige Verhalten am Markt ist jedoch sozial verheerend. Der ökonomische Knappheitspreis ist unsozial, denn die Armen haben unter dem erhöhten Marktpreis zu leiden. Der reiche Kornbauer zieht aus der Notlage der Armen seinen Nutzen. Er beteiligt sich jedoch an einem “Wirtschafts1122 verbrechen, das für die antike Wirtschaft von zentraler Bedeutung ist.” Lukas fällt ein Urteil über das systemlogische Verhalten des Kornbauern in einer Ökonomie des freien Marktes: Das marktrationale Verhalten wird ethisch und theologisch als Verbrechen gedeutet. Denn der erwirtschaftete Gewinn stammt aus einer Notlage von Mitmenschen. Lukas beurteilt das ökonomische Verhalten nach der Logik des Marktes ethisch und theologisch. Er nennt die Haltung des reichen Bauern “töricht” (Lk 12,20). “Töricht” (hebr. kesil) bezeichnet nicht einen intellektuellen Mangel. Das negativ geprägte Bild des Toren ist nicht zuletzt theologisch geprägt, zumal die Antitypik von “Tor” (hebr. kesil) und “Weiser” (hebr. hakam) dem Gegensatz von Frevler (hebr. rasa) - dem der “Tor” nahekommt - und Gerechten (hebr. saddiq) entspricht (siehe etwa Spr 10,23; 1123 15,7). Das Verhalten des reichen Bauern ist als töricht zu bezeichnen, denn es ist ungerecht und gemeinschaftsschädigend. 1119 1120 1121 1122 1123 374 Gegen E.W. Stegemann, E. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 40. “Das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, das nach der volkswirtschaftlichen Lehre vom Grenznutzen den Preis bestimmt, kannten die antiken Menschen nicht.” L. Schottroff u. W. Stegemann, Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen, Stuttgart, Berlin 1978, 125ff.. Dieser Deutung habe ich mich angeschlossen in meinem Beitrag: “Ich will größere Scheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durch Gerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit, in: K. Füssel u. F. Segbers (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 105114. A. von Jüchen, Jesus zwischen reich und arm. Mammonworte und Mammongeschichten im Neuen Testament, Stuttgart 1985, 30. L. Schottroff, W. Stegemann, Jesus, 126. M. Saeboe, Art. kesil = Tor, in: THAT, Bd. I., 4. Aufl. München , Zürich 1984, Sp. 838. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern schildert die Folgen des Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage. Marktwirtschaftlich organisierte Ökonomien beachten prinzipiell nicht die Grundbedürfnisse, denn sie bekommen nur die Bedürfnisse in den Blick, die mit Geld ausgestattet sind. Mit “Leben”, “Essen”, “Trinken” sind in Lk 12,22 die Grundbedürfnisse des Menschen angesprochen. Aufgabe der Ökonomie als System ist die Bereitstellung von Gütern zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Aber erst wenn Geld oder Kaufkraft den Bedürfnissen zugeordnet werden, entsteht für Marktwirtschaften die realisierbare Größe Bedarf. Auf Bedarf, nicht aber auf Bedürfnisse reagieren die Märkte. “Gottes Abbau der Knappheit durch Gottes Gerechtigkeit schafft einen neuen Menschen, das Geschöpf, das seine Genugtuung darin findet, Gottes Recht und Gerechtigkeit zu dienen. Der Glaube an den Gott des „Genug durch Gerechtigkeit‟ befreit den Menschen nicht von jedem Hunger, sondern er verwandelt diesen in den Hunger nach Gerechtigkeit. Ziel des menschlichen Lebens ist nicht Konsum und nicht Akkumulation, sondern das Tun der Gerechtigkeit. Alle Bedürfnisse sollten im Hinblick 1124 darauf definiert werden.” Wenn die Versorgung mit den lebenswichtigen Gütern der Logik des Marktes allein überlassen wird, werden die Bedürfnisse der Armen vernachlässigt. Gemeinwohlorientierungen sind einem Denken, das marktwirtschaftlich vernünftig ist, zunächst fremd. Auf das eingeschränkte ökonomische Ziel der Güterproduktion bezogen, ist diese Ökonomie effektiv. Sozial gesehen aber ist sie katastrophal. Nicht die Produktionsleistungen der Weizenernte sind fehlerhaft, sondern die Verteilungsverhältnisse. In seiner Rede an die Jünger (Lk 12,22-31) gibt Jesus eine Antwort auf die herrschende Ökonomie des Marktes, die in der Traditionslinie der Hebräischen Bibel und der aus der Tora weiterentwickelten mündlichen Gesetzestradition, dem Talmud, liegt. Zwei Ökonomien mit ihren je eigenen normativen Gehalten stehen sich gegenüber. Lukas verbindet die Gleichniserzählung vom reichen Kornbauern durch ein “Deswegen” (Lk 12,22) mit der folgenden Anweisung zu einer ökonomischen Alternative an die Jünger. “Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, daß ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, daß ihr etwas anzuziehen habt” (Lk 12,22). Jener Ökonomie als Umgang mit Knappheit, wie sie der reiche Kornbauer praktiziert, setzt Jesus in seiner Rede an die Jünger eine Ökonomie als Umgang mit Vertrauen gegenüber. Die Mahnung zur Sorglosigkeit will nicht zur einer Sorglosigkeit anhalten, die die Probleme der Existenzsicherung zurückstellt, sondern weist auf Gott hin, der wie ein guter Ökonom für die 1124 D.M. Meeks, God the economist, 177, eigene Übersetzung. 375 Schöpfung sorgt. “Euer Vater weiß, daß ihr das alles braucht. Euch jedoch muß es um sein Reich gehen; dann wird euch das andere dazugegeben” (Lk 12, 30f.). Das Wirtschaften aus Vertrauen auf den Schöpfer orientiert sich am Reichtum der Schöpfung. Von dieser Voraussetzung aus wird die Frage gestellt nach der gerechten Verteilung dessen, was 1125 vorhanden ist. Die Sorglosigkeit steht für das Paradigma der Ökonomie des Vertrauens. Die Sorge soll sich deswegen nicht auf die Knappheit beziehen, sondern auf die Gerechtigkeit. Das Reich Gottes hebt die Sorgen auf, die mit der Ökonomie aus Knappheit gegeben sind. Erwartet wird die Befriedigung der Lebensbedürfnisse vom Reich Gottes, in dem die Ökonomie nach den Weisungen der Tora zum Zuge kommt. Das Gleichnis und die daran anschließende Rede Jesu schildern zwei alternative Ökonomien mit ihren jeweils konkurrierenden normativen Absichten: Die Ökonomie der Bereicherung (Lk 12,16-21) steht gegen die Ökonomie des Vertrauens auf die Fülle der Schöpfung (Lk 12, 22-31). Anders gesagt: Sich gegenüber stehen die normative Logik des Marktes und die normative Logik einer Ökonomie des Vertrauens. Innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems treibt der reiche Kornbauer sachgerecht Ökonomie. Er folgt der normativen Logik des Marktes. Ein so verstandenes ökonomisch vernünftiges Verhalten ist jedoch nach dem Urteil der Tora “tödlich”: Der reiche Kornbauer stirbt (Lk 12,20f). Die Tora setzt einen Bezugsrahmen für ein lebensdienliches ökonomisches Handeln: Wirtschaften ist nicht eine Veranstaltung zur Gewinnerzielung, sondern hat für gerechte Produktion und Distribution zu sorgen. Ökonomisch vernünftig ist nach der Urteil der Bibel nur ein ökonomisches Verhalten, welches das Lebensrecht der Armen sichert und einbezieht. Der Kornbauer und Weizenspekulant ist ein Mann, der die ökonomisch vernünftigen Anweisungen der Tora zu gerechtem Wirtschaften mißachtet hat und Ökonomie wie die “Heiden” treibt (Lk12,30). Die Tora wie auch das Gleichnis vom Kornbauer befaßen sich mit den Grundstrukturen einer Marktökonomie, die seit der Antike bis in die Gegenwart die gleiche geblieben ist: Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Marktwirtschaft, deren Triebfeder das Gewinnstreben ist. Die forderte ökonomische Tugend in dieser Ökonomie ist die Habsucht. Vor ihr warnt Jesus ausdrücklich in der Einleitung zu dem Gleichnis (Lk 12,15). Die Habsucht ist dort rational und verständlich, wo von einer Knappheit ausgegangen wird, die individuelle und auf Kosten anderer überwunden werden soll (vgl. Lk 12,19). Sie ist Anreiz zu einem erfolgreichen Verhalten im Rahmen dieser Ökonmie der Bereicherung. Bereicherung ist auf den eigenen Nutzen bedacht, sogar dann wenn er sich aus Nachteilen 1125 376 Vgl. die Ausführungen dazu in Abschnitt 4.2.2 und 4.4.4. anderer ergeben sollte. Der Kornbauer registriert seinen Nutzen: “Ruh dich aus, iß, trink, und freu dich des Lebens” (Lk 12,19). Das Gegenbild geht von einer Ökonomie aus, die von der vorhandenen und anvertrauten Fülle der Schöpfung ausgeht. Hingewiesen wird auf die Raben, die nicht säen und doch ernten (Lk 12,24), auf die Lilien, die nicht arbeiten und doch prächtig gekleidet sind (Lk 12, 26). Eine Ökonomie, die sich die Fülle der Schöpfung zum Leitbild nimmt, erfordert eine andere ökonomische Tugend als die Ökonomie der Bereicherung: Nicht die Sorge um die Überwindung der Knappheit, sondern die Sorge um das Reich Gottes, 1126 also um eine Ökonomie nach der Weisung Gottes (Lk 12,31). Während in der Ökonomie der Bereicherung eigennützige Konkurrenzbeziehungen um die knappen Güter gelten, ist die Ökonomie aus Vertrauen auf die Schöpfung von solidarischen Beziehungen derer geprägt, die haushälterisch mit der ihnen gemeinsam anvertrauten Schöpfung umgehen. Welche Leitlinien für die Ökonomie der Tora Geltung hatten, können folgende Bestimmung des Talmud verdeutlichen, die ein Verbot des Speicherns von Grundnahrungsmitteln aussprechen. Man darf keine Früchte (d.h. Getreide), Dinge, die als Lebensmittel dienen, z.B. Wein, Öl und Mehl aufspeichern, wohl aber Gewürze, Kümmel, Pfeffer, die die nicht lebensnotwendigen Dinge repräsentieren. Dies gilt nur von einem Einkauf auf dem Markt, bei der eigenen Ernte aber ist es erlaubt: Man darf im Israellande Früchte (Getreide) für drei Jahre aufspeichern: für das Vorjahr des Siebentjahres (im Siebentjahr ist die Bestellung des Feldes verboten, und die nächste Ernte ist erst am Ende des zweiten Jahres nach Beginn des Siebentjahres zu erwarten), für das Siebentjahr 1127 und für das Nachjahr des Siebentjahres (...). Das Verbot, Getreide zu speichern, spricht sich nicht gegen eine vernünftige Vorratshaltung aus, sondern will verhindern, daß durch Speichern und Zurückhaltung von Gütern der Marktpreis steigt. Nicht der Markt soll über den Zugang zu lebensnötigen Gütern entscheiden dürfen. Das, was der Mensch unbedingt zu seiner Existenz braucht, soll nicht einem Marktpreis unterworfen werden. Denn letztlich würde dies bedeuten, daß der Markt über die Zuteilung und den Zugang zu lebenswichtigen Gütern entscheidet. Diese Talmudbestimmung regelt durchdacht und rechtlich detailliert, wie sich der Preis für Grundnahrungsmittel bilden soll: Der Preis für die Grundnahrungsmittel darf kein Marktpreis sein, der sich nach Angebot und Nachfrage richtet. Anders die sogenannten Luxusgüter wie Gewürze, Kümmel, Pfeffer. Diese Güter gehören nicht zum absoluten Existenzminimum, deshalb können deren Preise sich am Markt bil1126 1127 Nähere Ausführungen zu einer Ökonomie der Fülle unterAbschnitt: 4.2.2.3. TB Baba Bathra 90b, zit. nach: A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 212. 377 den. Zusätzlich regelt der Talmud genau, wie mit dem Sabbatjahr umzugehen ist. Steht ein Sabbatjahr bevor, dann ist Speichern in einer solchen Höhe erlaubt, daß für das Sabbatjahr selber und für die Aussaat nach dem Sabbatjahr genug Getreidegut vorhanden ist. Das Verbot, die Grundnahrungsmittel zu horten, soll der Gesellschaft einen marktunabhängigen Preis für diese Lebensmittel sichern. Dadurch soll gewährleistet werden, daß der Lebensunterhalt und die Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln nicht den Gesetzen des Marktes ausgeliefert sind. Gerade dies aber hat der reiche Kornbauer getan. Er zieht seinen Nutzen aus einem marktwirtschaftlichen Verhalten, das der Ökonomie der Tora widerspricht. Eine weitere Regelung des Talmud, die für unseren Zusammenhang wichtig ist, reguliert den Handel. Der Zwischenhandel wird ausgeschaltet. Auch diese Bestimmung will eine Versorgung der Bevölkerung zu einem Preis ohne einer gewinnbringenden Handelsspanne sichern: Man darf im Israellande an Dingen, die als Lebensmittel dienen, zum Beispiel Wein, Öl und Mehl, nichts verdienen (d.h. der Zwischenhandel ist verboten und die Produzenten haben direkt an die Konsumenten zu verkaufen). Man erzählt, daß Rabbi Elasar ben Assarja an Öl und Wein verdiente. Hinsichtlich des Weines war er der Ansicht Rabbi Jehudas (der meinte, der Weingenuß in Israel sei zu beschränken); Öl war in der Ortschaft des Eleasar genügend vorhanden (so daß er durch seinen Verdienst den Preis nicht in die Höhe trieb). Die Rabbinen lehren: Man darf an Eiern nicht doppelt verdienen. Mari bar Mari sagte: Hierüber streiten Rab und Schmuel: einer erklärt „eines auf zwei‟(d.h. unter “doppelt” ist der Verkauf zu doppeltem Preis zu verstehen) und der andere sagt: Ein Kaufmann an einen anderen Kaufmann - d.h. der Wiederverkauf ist verboten, da 1128 hierdurch zweimal verdient wird. Der Zwischenhandel ist also verboten, erlaubt ist nur der Direktverkauf. Der Talmud gibt hier einen Streit der Rabbinen wieder und belegt dadurch, daß um eine Anpassung der ursprünglichen Intention an veränderte sozio-ökonomische Verhältnisse gerungen wurde. In der Tradition der Tora steht die Marktregulierung, wie sie hier der Talmud fordert: ein durch Knappheit hervorgerufener Preis und eine preistreibende Handelsspanne bei Zwischenhandel für Grundnahrungsmittel soll außer Kraft gesetzt werden. In dieser regulierenden Einschränkung schlägt sich eine jahrhundertelange Erfahrung der biblischen Überlieferungen mit den Mechanismen des Marktes nieder. Die biblische Tradition hält ein Wissen darüber bereit, daß eine reine Marktökonomie 1128 TB Baba Bathra 90b, zit. ebd. 212. Festgegt haben die Rabbinen die Gewinnspanne, die als Übervorteilung zu bezeichnen ist. Wenn sie ein Sechstel des Einstandspreises (=16,6%) übersteigt, dann kann ein Handel als unerlaubt annuliert werden. Vgl. ebd. 211. 378 den ökonomischen Zwecken, nämlich der Güterherstellung und Güterverteilung zum Nutzen aller, nicht gerecht werden kann. Aus dieser Erfahrung zieht die Tora die Konsequenz, die Möglichkeiten des Marktes zu nutzen und seine negativen Effekte auszuschalten. Maßnahmen wurden also getroffen, die einerseits die Gewinnspanne aus dem Handel begrenzten und andererseits den Handel mit lebenswichtigen Produkten regelten. Deshalb sollten die Marktprozesse dadurch sozial reguliert werden, daß der Preis der lebensnotwendigen Güter und die Versorgung der Gesellschaft mit Gütern nicht allein über den Markt, sondern auch über den Bedarf gesteuert wurde. Diese Regulierungen der Tora sind in direkter Auseinandersetzung mit den Mechanismen einer Marktwirtschaft entstanden; sie wollen eine Logik der Humanität gegen ökonomische Gewinninteressen durchhalten, setzen ethische Ziele gegen vermeintlich ökonomische Sachzwänge und entwickeln praktikable Instrumentarien gegen negative und unsoziale Effekte eines freien Marktes. Darin zeigt sich die Absicht, ökonomische Vorgänge in die Gestaltungsverantwortung des Menschen zu geben. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Gleichnisrede vom reichen Kornbauern und die anschließende Mahnung an die Jünger stehen in der Tradition der ökonomischen Leitlinien der Tora und lassen sich auch in jene Leitlinien einordnen, die sich in den ökonomischen Regulierungen des palästinensischen Talmud niederschlagen. Zentrales Kriterium ist die Lebensdienlichkeit der Ökonomie, die sich gegenüber den Armen erweisen muß. Hier wird das wirtschaftliche Leben keinesfalls lediglich “mit 1129 einfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages” betrachtet, wie Ernst Troeltsch die ökonomischen Vorstellungen in Jesu Predigt charakterisiert, sondern in der Tradition der Tora werden Grundhaltungen dargelegt, die wirtschaftspraktisch sind und zu einem ökonomischen Verhalten anleiten sollen, das eine Alternative zur herrschenden Ökonomie darstellte. 9.4.2 An Gerechtigkeit und Partizipation gebundene Freiheit Freiheit gilt als Markenzeichen des herrschenden Wirtschaftssystems. Die Bibel kennt einen zweifachen Begriff von Freiheit. Der Exodus ist das Symbol der äußeren Freiheit, der Sabbat das der inneren Freiheit. “Kein politischer, sozialer und ökonomischer Exodus aus Unterdrückung, Deklassieren und Ausbeutung führt wirklich in die Freiheit einer menschlichen Welt ohne den Sabbat, ohne das Lassen aller Werke, ohne die 1129 E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), 46. 379 Ruhe findende Gelassenheit in der Gegenwart Gottes. (...) Exodus und Sabbat gehören also untrennbar zusammen. Sie ergänzen sich notwendig. Sie verkommen und führen nicht zur Freiheit, wenn sie getrennt werden und nur der eine von ihnen zur Grundlage der Freiheitserfahrung 1130 gemacht werden soll.” Wie Exodus und Sabbat untrennbar verbunden sind, so gehören auch Gerechtigkeit und Freiheit zusammen. Benno Jacob nennt den Sabbat ein “Zeichen der sich selbst bestimmenden Frei1131 heit” . Diese untrennbare Verbindung zwischen Gerechtigkeit/Exodus und Freiheit/Sabbat enthält eine Wertentscheidung, die wirtschaftsethisch von Belang ist. Begrenzung ökonomischer Freiheiten und Ansprüche ist eine wirtschaftsethische Grundkategorie der Tora: das Sabbatgebot begrenzt die Ausnutzung von Arbeit, das Sabbatjahr begrenzt die Ausnutzung des Bodens, das Jobeljahr begrenzt die Akkumulation von Boden und Reichtum, das biblische Eigentumsrecht begrenzt die privaten Verfügungsrechte - generell: nicht Freiheit für eine Eigenlogik der Ökonomie, sondern Freiheit für eine Logik der Humanität durch Begrenzung der ökonomischen Dynamik. Die Effizienz der Marktwirtschaft muß aus ökonomischen und auch aus ethischen Gründen genutzt werden, um Märkte zu organisieren. Am Markt vorbei getroffene wirtschaftliche Entscheidungen werden bestraft. Das zwingt zu ökonomischer Effizienz. Wofür Bedarf besteht, was produziert werden soll, was angeboten werden soll, kurz die Allokationsfunktion des Marktes (nämlich die Steuerung der Ressourcen nach den Bedürfnissen), kann sehr wohl über Preise und marktwirtschaftliche Prozesse angezeigt werden. Marktwirtschaften sind ökonomisch effizient, sozialethisch jedoch erst erträglich, wenn sie gesellschaftlich eingebettet sind und sozialethischen Impulsen wie Freiheit und Gerechtigkeit Geltung verschaffen. Aus ethischen Gründen sind deshalb zwei Prämissen zu beachten: Einerseits ist die moderne, komplex arbeitsteilig organisierte Wirtschaft aus Gründen des Effizienz und der Koordinationskapazität auf wesentliche Elemente marktwirtschaftlicher Systemsteuerung angewiesen, andererseits muß Ökonomie immer aus Gründen der Lebensdienlichkeit prinzipiell den Charakter eines Subsystems der Gesellschaft haben und sich deshalb der Gesellschaft unterordnen. Diese beiden Prämissen nennt der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich treffend die funktionale Prämisse des Marktes und die normative Prämisse des Vor1132 rangs der Ethik vor der Logik des Marktes. Wirtschaftsethisch gesehen müssen beide Prämissen beachtet werden. 1130 1131 1132 380 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, 3. Aufl. München 1987, 289f. B. Jacob, Das Buch Exodus, 573. P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 333f. Die Denkschrift der EKD Gemeinwohl und Eigennutz proklamiert jenseits der Fundamentalalternative Marktwirtschaft oder Planwirtschaft ein Freiheitspostulat: Das demokratische Recht aller Wirtschaftssubjekte auf Beteiligung (Ziff. 28). Aus freiheitsethischen Motiven ist “die Soziale Marktwirtschaft als eine demokratische Wirtschaft zu gestalten” (Ziff. 195). Die Demokratiefähigkeit der Marktwirtschaft muß folglich in “Leit1133 ideen einer republikanischen Ethik des modernen Wirtschaftsbürgers” ihren Ausdruck finden. Politische Bürgerrechte und Wirtschaftsbürgerrechte gehören zusammen, wenn das Demokratieprojekt der Moderne nicht unvollendet abgebrochen werden soll. Die neuzeitliche Vorstellung politischer Freiheitsrechte findet in wirtschaftlich-sozialen Rechten ihre Ergänzung. Wirtschaftsbürgerrechte haben nicht nur partizipative Momente der Mitsprache und Mitbestimmung. Die Idee des Wirtschaftsbürgers will in aktiven Teilhaberechten auch eine Entsprechung zur angemessenen Verteilung des Sozialproduktes einlösen. Teilhabe und Beteiligung sind eine Form der Gerechtigkeit. “Die Frage der Gerechtigkeit hat auch mit der Verteilung von Macht zu tun” (Ziff. 155). Die einzelwirtschaftliche Produktion in einer Marktwirtschaft steht unter einer doppelten Kontrolle: Zwang zur ökonomischen Effizienz und zur Zustimmung der beteiligten Wirtschaftssubjekte. Diese an Gerechtigkeit gebundene Freiheit unterziehen die Neoliberalen einer Schmähkritik. “Wahr ist (...), daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtig1134 keit - und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist.” Milton Friedman, Schüler von Hayek, sah die westlichen Marktwirtschaften vor 1989 in einer doppelten Bedrohung ihrer Freiheit: von außen durch die “Männer im Kreml” und durch eine “Bedrohung von innen, die von den Menschen mit guten Absichten und gutem Willen ausgeht, die 1135 uns zu reformieren wünschen.” Die Protagonisten des ökonomischen Mainstreams des Neoliberalismus verstehen jeden ethischen und sozial, gesellschafts- oder ordnungspolitischen Impuls als Bedrohung der Freiheit in einer Marktwirtschaft. Friedrich August von Hayek spricht von der Notwendigkeit, daß beim Marktgeschehen, in dem “die Wirkungen der Handlungen eines jeden weit über seinen möglichen Gesichtskreis hinausreichen, der Einzelne sich den unpersönlichen und scheinbar unver1136 nünftigen Kräften der Gesellschaft unterwirft.” Freiheit wird also von den extremen Neoliberalen in eine Freiheit zur Unterwerfung unter den 1133 1134 1135 1136 P. Ulrich, Moral in der Marktwirtschaft, in: Evangelische Kommentare 2/1992, 89. F.A. von Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, Tübingen 1979, 16. M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 257. F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus, 39. 381 Markt umgedeutet. Dem Neoliberalismus liegt ein Freiheitsverständnis zugrunde, nach dem Freiheit in der Hinnahme von Marktprozessen und dem Ausführen von Sachgesetzmäßigkeiten besteht. Die Neoliberalen reduzieren den Freiheitsbegriff auf ökonomische Freiheit. Nach Milton Friedman macht diese wirtschaftliche Freiheit “einen bedeutenden Teil 1137 der ganzen Freiheit” aus. Die durchaus anzuerkennende Verteidigung der Freiheit des einzelnen wird durch die Verengung auf die ökonomische Freiheit jedoch höchst zweifelhaft. In modernen Industriegesellschaften lebt der größte Teil der Menschen in abhängigen Arbeitsverhältnissen. Ihre Freiheitsrechte jedoch werden von den neoliberalen Verteidigern der Freiheit nie zum Thema gemacht. Das Freiheitspostulat der Neoliberalen verdient nicht deshalb Kritik, weil sie die Freiheit zu sehr in das Zentrum rücken, sondern weil sie ein ökonomisch reduziertes Freiheitsverständnis haben. Trotz der systemtheoretischen Behauptung einer Entsprechung von Freiheit und Markt kennt die Marktwirtschaft von sich aus keineswegs eine reale Freiheit aller beteiligten Wirtschaftssubjekte. Sie hat nur ein Interesse an den Freiheitsrechten der Unternehmerseite. So behandelt das geltende Recht der Unternehmensverfassung allein das Unternehmen 1138 und nicht die Arbeitnehmer als Mitglieder eines Unternehmens. Das Unternehmen ist jedoch nicht nur ein Ort der Herstellung von Gütern oder Dienstleistungen, sondern ein Sozialprozeß, in dem Menschen in einem Verbund stehen. Erst eine Unternehmensverfassung, die allen, die am Sozialprozeß der Gütererzeugung beteiligt sind, reale mitgestaltende Freiheitsrechte zugesteht, wird dem Demokratieanspruch der Verfassung 1139 und dem Freiheitsanspruch der Marktwirtschaft gerecht. Demokratisierung der Wirtschaft ist ein Weg, die politischen Freiheitsrechte des Bürgers zu Freiheitsrechten des Wirtschaftsbürgers zu erweitern und mit wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten auszustatten. Erst die durchgehende Beteiligung aller Wirtschaftssubjekte - und eben auch der Arbeitnehmer - an den Entscheidungsprozessen am Arbeitsplatz, im Betrieb und Unternehmen - löst das Postulat der Demokratieverträglichkeit 1140 auch der Sozialen Marktwirtschaft ein. 1137 M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 29. Das Zweite Vatikanische Konzil versteht das wirtschaftliche Geschehen als einen Prozeß, in dem “Personen miteinander im Verbund stehen” (Gaudium et spes 68, Abs.1 Satz 1). Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes fordert die “aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung” (Gaudium et spes 68, Abs. 1 Satz 2). Nicht unähnlich heißt es in den “Sozialethischen Erwägungen zur Mitbestimmung” der EKD vom 8.11.1968: “Der Christ versteht das partnerschaftliche Verhältnis zwischen sozialen Gruppen als Ausdruck der gegenseitigen Achtung und des gemeinsamen Dienstes” (Ziff. 5, Abs. 3). 1139 Vgl. dazu die Ausführungen oben Abschnitt 9.1.4 zu Rechte aus Arbeit. 1140 Vgl. F. Segbers, Markt und Teilhabe, 195f. 1138 382 Mit der Neuen Technologie und Mikroelektronik hat sich in den Unternehmen ein demokratiefreundlicher Trend durchsetzen können, der dezentrale Führungsstrukturen und Autonomie an die Stelle hierarchischer Systeme gesetzt hat. Diese neuen Partizipationsformen sind nicht den mit dem Eigentum verbundenen Rechten abgerungen worden, sondern sind ein Führungsinstrument, das vom Management selbst installiert wurde. Das Management hatte erkannt, daß autoritäre Führungsmuster kostenträchtiger sind als Organisationsformen, die partizipativ Gestaltungs- und Autonomieräume erschließen, da Motivation und Kreativität in komplexen Unternehmensorganisationen Kostenvorteile verschaffen und sich in einem Kosten-Nutzen-Kalkül rechnen. Soweit Motivation und Kreativität durch Demokratisierung unternehmensstrategisch genutzt werden, sind sie letztlich Marktimperativen untergeordnet. Demokratie jedoch besitzt einen Selbstwertcharakter. Das Verständnis von Demokratie, wie es sich in der Moderne entfaltet hat, besitzt stets eine Bedeutung, die nicht funktionalisiert verengt werden darf. Diese betrieblichen und unternehmenspolitischen Konzeptionen, die Partizipations- und Autonomieräume verschaffen, sollten nicht gleich mit Demokratisierung in Zusammenhang gebracht werden. Denn unternehmenspolitische Modelle, die demokratische Spielregeln nur für funktionale Zwecke einsetzen und gewähren, entwickeln von sich aus noch nicht das Demokratisierungsprojekt weiter. Wichtiges Kriterium für diese neuen Führungsstrukturen ist, ob sie das Demokratisierungsprojekt weiterbringen. Der vorhandene demokratiefreundliche Zug bietet einen Ansatz für eine tatsächliche Demokratisierung, die über die funktionalistische Nutzung von Teilhabe und Mitgestaltung hinausreichen kann. Die demokratiefreundlichen Ansätze in den Unternehmen sind deshalb als Chance für die Entwicklung einer demokratischen Lebenswelt, die der Autonomie und Partizipation Raum gibt, zu nutzen. Die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nach Alfred MüllerArmack orientiert wirtschaftliches Handeln an den “zwei großen Zielen (...) der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit”: “Bloße Freiheit könnte zu einem leeren Begriff werden, wenn sie sich nicht mit der sozialen Gerechtigkeit als verpflichtender Aufgabe verbände. So muß die soziale Gerechtigkeit mit und neben der Freiheit zum integrierenden Bestandteil un1141 serer zukünftigen Wirtschaftsordnung erhoben werden.” Zwischen marktwirtschaftlicher Effizienz, den wirtschaftlichen Impulsen der Freiheit und Gerechtigkeit besteht hier kein Gegensatz. Sie bedingen sich vielmehr gegenseitig und werden gleichrangig nebeneinander gestellt. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen thematisiert auch die Frage des 1141 A. Müller-Armack, Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, in: ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, 2. Aufl. Bern-Stuttgart 1981, 96. 383 Verhältnisses von Sozialem und Wirtschaftlichem. Es wendet sich gegen die Kurzbenennung “Sozialwort” (Ziff. 6). Um beides, um wirtschaftliche und soziale Belange, soll es gehen. Im Wirtschafts- und Sozialwort heißt es: “Verteilt werden kann nur das, was in einem bestimmten Zeitraum an Gütern und Dienstleistungen erbracht worden ist” (Ziff. 6). Die hier formulierte Nachrangigkeit des Sozialen gegenüber dem Wirtschaftlichen nennen Karl Gabriel und Werner Krämer “eine Verkehrung der Präferenzen (...): Wirtschaftliche Rationalität und ihre Werttheorie erhalten eine Priori1142 tät vor dem Entwickeln von schöpferischen sozialen Kräften.” Bereits Alexander Rüstow hatte sich diese Position zueigen gemacht, nach der die Ökonomie sich in den Dienst höherer, außerökonomischer Werte zu stellen habe: “Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen (d.h. religiösen, ethischen, kulturellen, F.S.) Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft zu stellen. Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich 1143 in den Dienst dieser Forderungen zu stellen.” Ausdrücklich wendet sich Rüstow gegen eine Anschauung, die eine Moral des Marktes bereits darin ausmacht, daß der Markt ökonomisch effizient sei. Kennzeichen einer “Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit” - so auch der Titel des Beitrag von Rüstow - , ist der Primat einer Logik der Humanität und des Sozialen vor der Logik der Wirtschaftsinteressen. Die Bedeutsamkeit dieses Primats müsse sich nach Rüstow an folgendem Kriterium beweisen: “Wir müßten bereit sein und wären bereit, für das aus überwirtschaftlichen Gründen vorzugswürdige Wirtschaftssystem auch dann einzutreten, wenn es weniger produktiv wäre als andere. Wir wären bereit 1144 und müßten bereit sein, dafür auch wirtschaftliche Opfer zu bringen.” Im Konflikt zwischen den Ansprüchen der Humanität und den Wirtschaftsinteressen sei ein klarer Vorrang einzuräumen, “daß die Wirtschaft in allen Punkten und durchweg in den Dienst überwirtschaftlicher Werte gestellt werden muß, und daß im Konfliktfall diese überwirtschaft1145 lichen Werte den Vorrang verdienen.” Der Unterschied zu MüllerArmack ist offensichtlich. Diese Grundhaltung wird auch von NellBreuning geteilt, wenn er den Satz kritisiert, daß eine gute Wirtschaftspolitik die beste Sozialpolitik sei. Diese Aussage stelle die Dinge auf den Kopf. Richtig sei vielmehr: “Ob eine Wirtschaftspolitik gut oder schlecht ist, bestimmt sich danach, wieviel oder wie wenig sie beiträgt zu einer befriedigenden, an ethischen-kulturellen Maßstäben gemessen positiv zu 1146 bewertenden Gestaltung des sozialen Lebens.” Kritisch zu befragen 1142 1143 1144 1145 1146 384 K. Gabriel u. W. Krämer (Hg.), Vorwort, in: dies., Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt, 9. A. Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, 78. Ebd. 79. Ebd. 87. O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 96. ist die gleichwertige Betonung des Ökonomischen und des Sozialen, von der Alfred Müller-Armacks Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ausgeht. Sie sichert nicht die Lebensdienlichkeit der Ökonomie. Der Vorrang der Arbeit vor dem Kapital meint das Kriterium der Lebensdienlichkeit angesichts der Ansprüche der Ökonomie. Da das Ökonomische nur einen instrumentellen Wert darstellt, der eine Funktion gegenüber dem Sozialen hat, muß eine am Vorrang der Arbeit orientierte lebensdienliche Ökonomie im Konfliktfall institutionell sichern, daß das Soziale das Ökonomische regieren kann. Im Ringen um einen Vorrang dessen, was dem Leben dient, wird ein unabgeschlossener Prozeß ausgelöst, in dem um das Optimum gestritten wird. 9.5 Fünfter wirtschaftsethischer Impuls: Sorgsam haushalten Der Begriff Ökonomie besteht aus den beiden griechischen Begriffen oikos (die häusliche, gemeinschaftliche Produktionseinheit) und “nómos” (das Gesetz). Der Oíkos benennt den Ort, an dem produziert wird; nómos gibt Auskunft darüber, wie produziert wird. “Nomos gehört etymo1147 logisch zu nemoo, zuteilen.” Nemoo (= zuteilen) wurde fast synonym mit dikaion (= gerecht) verwendet. Ökonomie teilt somit den zu einem Produktionsverband (oikos) Gehörenden das Vorhandene nach dem 1148 Maßstab der Gerechtigkeit (nómos) zu. Aufgabe der Ökonomie ist es, allen einem Sozialverband zugehörenden Menschen Güter und Arbeit gerecht zuzuteilen. Daß diese ökonomische Zielrichtung auch in der Ökonomik diskutiert wird, zeigt Jürgen Seifert in seiner Kritik des Gutachten des Sachverständigenrates der Bundesregierung: “Die Bundesrepublik kann sich die Dominanz eines begrenztökonomischen Ansatzes nicht mehr leisten. Sie braucht eine Ökonomie auch für das soziale Ganze und auch für den Haushalt der Natur. Es geht um eine Ökonomie, die nicht das Ökonomische verabsolutiert, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes „oíkos‟ (Haus) für das „ganze 1147 1148 Th. Kleinknecht, Art. nomos, in: ThWNT IV, 1942, 1016 sowie 1017, Anm. 1. Der Sache nach wird in diesem Abschnitt das behandelt, was zumeist mit “Nachhaltigkeit” bezeichnet wird. Ich habe jedoch das Attribut “sorgsam” vorgezogen, um den Verantwortungsaspekt zu unterstreichen. Ökonomie hat es von der Sache und dem Begriff her mit einer Sorge zu tun: mit gerechter Verteilung und sorgsamem Umgang bei der Herstellung von Gütern. Der Begriff “Nachhaltigkeit” ist zu disparat und bezeichnet diametral gegensätzliche Anliegen. Vgl. die Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie: Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, hg. von BUND und Misereor, Basel 1996; U Steger, Konsens ohne Wert, in: Die Zeit vom 8.9.1995, 26. Vgl. auch: E. U. von Weizsäcker, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt, 4. akt. Aufl. Darmstadt 1994, 121, 180f. 385 Haus‟ sorgt, also für die Arbeitslosen ebenso wie für die Umwelt, für die Alten ebenso wie für die Jugend, für die Gesundheit ebenso wie für die Verteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern. (...) Es geht um eine 1149 Ökonomie, die das soziale Ganze im Blick hat.” Eine am Leitbild des Hauses orientierte Ökonomie wird in einen Zusammenhang mit der Lebenswelt gebracht. Oskar Negt betont zu Recht, daß dieser Ökonomie ein Menschenbild zugrunde liege, das den alltagsweltlichen Erfahrungen und Wünschen der Menschen nach gegenseitiger Achtung und Aner1150 kennung entspreche. 9.5.1 Ökonomie als Haushaltsökonomie Die Tora-Ökonomie versteht sich als Fürsorge für das anvertraute Leben in dem einen Welten-Haus für Menschen und Mitwelt. Die Erde ist der oikos, das gemeinsame Haus; Gott ist der Haushalter, der den Menschen Weisungen zu einem haushälterischen Verhalten gibt, und die To1151 ra ist die Hausordnung, der nómos. Dieses Reden von Gott als Ökonomen eröffnet auch den Zugang zu einem neuen ökonomischen Wertbegriff. Wie oben bereits ausführlich dargestellt, ist Ökonomie nach dem Verständnis der Tora ein Umgang mit Vertrauen auf die gegebene Fülle der Schöpfung und kein Umgang mit Knappheiten, die es zu beheben 1152 gilt. Diese unterschiedlichen ökonomischen Prämissen haben weitreichende Folgen. Die Ökonomie seit Adam Smith gilt für die Ökonomie nach dem Verständnis des Aristoteles und der Tora als eine Fehlform oder allenfalls Grenzform der Ökonomie. Und umgekehrt: Die Ökonomie der Tora und auch die des Aristoteles ist keine Ökonomie im Verständnis 1153 von Ökonomie seit Adam Smith. Von der oikonomía des Aristoteles blieb nur der Name Ökonomie. In der oikonomía des Aristoteles handeln die Menschen sorgend, sie haben die anderen und die Mitwelt im Blick; in der Ökonomie seit Smith sind sie eigennützig und allein auf ihren Vorteil bedacht. Nur eine Ökonomie, deren Ziel die Versorgung mit nützlichen und notwendigen Gütern ist, verdient nach Aristoteles die Bezeich1149 1150 1151 1152 1153 386 J. Seifert, Wir brauchen eine “Ökonomie für das ganze Haus”, in: vorgänge 28(1989) 2, S. 25, zit. in: O. Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft, 6. O. Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft, 9. Von Gott im Zusammenhang mit “Ökonomie” zu reden, entspricht nicht nur dem biblischen Zeugnis, sondern ist auch der altkirchlichen Theologie vertraut, wenn sie von Heilsökonomie spricht. Leider jedoch wurden diese in der Dogmenschichte vorhandenen Begriffe nicht mehr so weiterentwickelt, daß sie in eine Beziehung zu dem gebracht wurden, was heute mit Ökonomie gemeint ist. Vgl. die Ausführungen oben in den Abschnitten 4.2.1;4.2.2; 4.4.4 sowie 9.4.1. G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 214. 1154 nung “naturgemäß” . Ökonomie ist also nach dem aristotelischen Verständnis auf den gesellschaftlichen Zweck der Güterversorgung hingeordnet. Karl Polanyi nennt “die Trennung einer separaten wirtschaftlichen Zielsetzung von den gesellschaftlichen Beziehungen, denen sol1155 che Grenzen und Schranken eigen waren,” den Bruch zwischen beiden Konzeptionen von Ökonomie. Die Ökonomie begann, sich aus der Lebenswelt zu lösen, entwickelte eine Eigendynamik, die schließlich zu einer “Kolonisierung der Lebenswelt” (J. Habermas) führte. 1154 1155 Aristotles, Politik, 8 p 1256 b 27. K. Polanyi, The Great Transformation, 86. 387 Den Bruch kann das folgende Schema verdeutlichen: 1156 Ökonomie Was will Ökonomie? Ökonomie dient der Beschaffung, Versorgung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zum Lebensunterhalt. Gängige Vorstellung: Ziel: Grundprinzip: Fertigkeit: Ökonomische “Tugend”: Instrumente: 1156 388 Tora-Ökonomie: Ökonomie der Sorge - unterentwickelt, primitiv - Versorgung mit den Gütern - Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse - Gebrauch der Güter für ein gutes Leben Ökonomie der Moderne Ökonomie des Marktes - modern, entwickelt - Güterversorgung - Befriedigung von Nachfrage - Kapitalerwerb; Geldvermehrung - Wachstum - wachsender Wohlstand - Versorgung mit Gü- Eigennutz tern - Wachstum - Ökonomie als “Kunst” - Trennung der Ökonomie von ethischen Erwägun- ethische Orientierungen gen: Gerechtigkeit und Maß - Ökonomie als Sachzwang - Maßhalten - Sachzwangdenken - Ökonomie als Sorge - Eigennutz - solidarische Sozial- Konkurrenzbeziehungen beziehungen - Produktion von Ge- Markt zum Austausch brauchsgütern des von Gütern Lebens, Kreislaufwirt- - Handel schaft ohne oder mit - Kapital/Geld/Zins zur nur geringem FernKapitalbeschaffung für handel Investitionen - Wettbewerb durch Angebot und Nachfrage - Gewinnerwirtschaftung - Preis als Ergebnis von Tausch; Lohn als Marktpreis Das Schema modifiziert eine Skizze von G. Bien, Die aristotelische Ökonomik und die moderne Ökonomie, 232. Wirtschaftssub- Personenverbände - Marktprozesse jekte: Auch wenn es nicht um eine unmittelbare Anwendung dieser Einsichten des Aristoteles oder der Tora geht, gleichwohl enthält das Ökonomieverständnis aus der Zeit der Vormoderne Einsichten für eine lebensdienliche Ökonomie, wie sich an folgenden vier Aspekten zeigt: Sich an diesen alten aristotelischen und auch der Tora geläufigen Begriff von Ökonomie zu erinnern, bedeutet erstens keineswegs eine Rückkehr zu einer älteren und längst überholten Produktionsweise. Der vorneuzeitlichen Ökonomiebegriff hat eine Aktualität, die darin besteht, der 1157 Ökonomie die Funktion eines Mittels zuzuerkennen. Ökonomie heißt, sich um die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern zu sorgen. Jenseits des Eigennutzes, der ein leitendes Prinzip des Marktes ist, kommen die Bedürfnisse in den Blick. Zugrunde liegt eine Grundhaltung des Sorgens. Die Ökonomie ist nicht ihr eigenes gesellschaftliche Ziel, sondern ihr wird ein Ziel gesetzt, für das sie zu sorgen hat. Sie ist ein Mittel zur Erreichung des Zwecks der gesellschaftlich notwendigen Güterversorgung. Die Ökonomie der Tora und die nach aristotelischem Verständnis verstand sich als ein solches Mittel. Dadurch war sie gesellschaftlich eingebettet. Wirtschaftsethisch bedeutet dies: Ökonomie sozial und ökologisch einzubetten, ist die aktuelle Herausforderung, auf die das Ökonomieverständnis der Tora und des Aristoteles hinweist. Es kann nicht darum gehen, bloß auf die Versorgungsökonomie der Antike zurückzugreifen und diese auf die Bedingungen moderner Erwerbsökonomie anwenden zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, die alten Prinzipien und Leitvorstellungen auf die Besonderheiten einer neuzeitlichen Erwerbsökonomie hin zu modernisieren. Dieser ökonomische Wertbegriff verpflichtet zweitens zu einem verantwortlichen ökonomischen Handeln, das dem Leben aller auf dieser einen Erde dient. Damit Ökonomie diese Aufgabe überhaupt wahrnehmen kann, braucht sie ethische Orientierungen und Maßstäbe, die jedoch nicht so verstanden werden dürfen, daß sie lediglich ethisch Grenzen markieren. Ethisches und ökonomisches Handeln sind vielmehr integrativ zu verstehen. Ethik erscheint von diesem Ansatz her als eine normative Voraussetzung und als konstitutive Bedingung ökonomischen Handelns überhaupt. Die Metapher “Haus” kann eine solche ethische Voraussetzung formulieren, die ökonomisches Handeln auf die begrenzten Ressourcen des Hauses bezieht, mit denen sorgsam umzugehen ist. Oder bildlich gesprochen: Wer bei seiner Tätigkeit im Haus sich so ver- 1157 Vgl. oben die Ausführung in Abschnitt: 4.2. 389 hält, daß das Haus zerstört wird, macht auch für die Zukunft weitere Tätigkeiten im Hause selber unmöglich. Die Menschen als Bundespartner Gottes sind deshalb zur Fürsorge für das Leben (oikonomia) gerufen. Die Beziehung des Schöpfers zu seinem Volk wird im Bund versinnbildlicht. In den Kirchen gibt es eine wirtschaftsethische Debatte, die sich an diesem Ökonomiebegriff orientiert und in ihm einen Ausweg aus sozialen, ökologischen und ökonomischen Krisen sieht. Die Erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel (1989) hat in den Mittelpunkt ihrer wirtschaftsethischen Überlegungen die Metapher des Hauses gestellt. Sie hat für das “gemeinsame Haus Europa” “einige grundlegende Hausregeln, eine Art Hausordnung, die das 1158 Zusammenleben möglich macht” , vorgelegt. Die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 griff ebenfalls den theologischen Begriff der Haushalterschaft auf, nannte die Erde einen “Haushalt aller Kreaturen, der auch unser eigenes Heim ist” und klagte angesichts der Verwüstungen eine “Versöhnung im Haushalt des Lebens” (Basistext A 30) ein. Drittens kann der Bezugspunkt der aristotelischen Ökonomie und auch der Tora, der mit dem Leitbild des “Hauses” formuliert wird, ein Gegenbild zu einer Globalisierung ökonomischer Interessen formulieren, die das “Haus der ganzen Welt” mit seinem Gefälle in Lohnhöhe, sozialen oder ökologischen Standards als Motor des Wettbewerbs und die ganze Erde als weltweite Ressource für Rohstoffe begreift. Die ökonomische Globalisierung über die Märkte deckt sich keineswegs mit der Suche nach einer bestandsfähigen politischen und zivilen Weltgemeinschaft. Aristoteles versteht das Haus als Ort des täglichen Zusammenlebens und des Wirtschaftens; vom Staat sagt er, daß dieser “zwar des Lebens wegen entstanden ist, aber doch um des guten Lebens willen 1159 besteht.” Christoph Stückelberger hat biblisch begründete sozialethische Regeln für eine Hausordnung entwickelt, die die Beziehungen zwischen Gott, den Menschen und allen, mit denen die Menschen das Leben auf der Erde teilen, regeln. Mit der Metapher des Hauses wird ein Maß genannt, das sich gegen eine in der Ökonomie strukturell institutio1160 nalisierte Habgier wendet. Viertens sind die ökonomischen Konzeptionen der Tora und des Aris1161 toteles im Zusammenhang der Ausweitung des Handels entstanden. Ganz deutlich entwickelt Aristoteles seine Vorstellungen angesichts der 1158 1159 1160 1161 390 Europäische Ökumenische Versammlung, Frieden in Gerechtigkeit. Basel, 15.-21. Mai 1989, in: EKD-Texte Nr. 27, Hannover 1989, 33. Aristoteles, Politik, A 2 p 1252 b 29. Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, 307. vgl. oben Abschnitt 4.2. Tatsache, daß über das Maß des natürlichen Selbstgenügens hinaus weitere Güter durch Tausch und Handel von weither herbeigeschafft werden. Durch Handel komme eine Dynamik in Gang, die unbegrenzt Reichtum durch Geld beschaffen wolle. “So gibt es auch für dieses Kapitalerwerbswesen keine Grenze des Zieles; Ziel aber ist ein solcher 1162 Reichtum und somit der Besitz von Geldmitteln.” Zusammengefaßt: Gefordert ist also eine Rückbesinnung auf jene Aufgabenstellung der Ökonomie, wie sie bei Aristoteles und auch in der Tora beschrieben wird, also auf eine Ökonomie, die sich als Sorge für das Haus und Anleitung zur Haushalterschaft versteht und nicht nur am marktförmigen Tauschwert der Güter und Dienstleistungen orientiert ist. Es geht darum, das Haus des eigenen Lebensraumes mit dem größeren Haushalt der Schöpfung zu verknüpfen. Von dort her bekommt der eigene kleine Haushalt des Lebens seine Ordnung und sein Maß. Seit dem 18. Jahrhundert hat die neuzeitliche Ökonomie diese über zweitausendjährige Tradition einer lebensdienlichen Ökonomie, die sich als Teil der Ethik verstand, verlassen und tritt nunmehr als eine eigenständige Disziplin auf, der ethische Reflexionen fremd sind. Wirtschaftliches Handeln orientierte sich seit dieser Zeit ausschließlich an den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage. Aus dem Blick geriet, daß Ökonomie für das Lebensnotwendige zu sorgen habe und nicht allein auf Tauschprozesse am Markt reduziert werden dürfe. Die Folge war, daß das Konzept der Sorge um die Bedürfnisse der Menschen durch das Konzept der Nachfrage ersetzt wurde. Milton Friedman kann deshalb das Ziel der Ökonomie so beschreiben: “Die freie Wirtschaft (...) 1163 gibt den Menschen das, was sie wollen.” Gefragt wird nicht, was Menschen benötigen, sondern welche Nachfrage angemeldet wird. Beantwortet wird allerdings nur jene Nachfrage, die mit Geld und Kaufkraft ausgestattet ist. Die Kategorie der Nachfrage ersetzt die Kategorie des Bedarfs. Die Nachfrage jedoch ist prinzipiell unbegrenzt. Denn nie gibt es genug, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Deshalb vermindert sich auch in diesem Ökonomiekonzept nie die Knappheit der Güter. Die Knappheit vermehrt sich vielmehr. Diesem Ökonomieverständnis ist nicht nur die Kategorie des Genug fremd, auch jene des Zuviel. Keine Produktionsmenge kann zu groß sein, kein Unternehmen kann zuviel Gewinn machen, kein Betrieb zuviel produzieren. Wachstumssteigerung wird zum obersten Indikator des ökonomischen Erfolgs. Es gibt kein ökonomisches Kriterium, sich mit dem zufrieden zu geben, was da ist. Eine Grenze des Genug gibt es nicht. Umgekehrt: Es wird das Gefühl stimuliert, es wäre nie genug da. 1162 1163 Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 28f. M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 36. 391 Die Knappheitsökonomie führte zu einer Umwertung der Produktionsfaktoren. Arbeit und Natur hatten fortan nur den Wert, den der Markt ergab. Aus Natur oder Arbeit als grundlegenden Werten im Prozeß der Gütererzeugung wurden bloße Produktionsfaktoren. Darin liegt auch der tiefste Grund für die Blindheit der Ökonomie gegenüber Natur und Arbeit. Sorgsam zu haushalten, setzt heute voraus, daß man der lebendigen Arbeit und der lebendigen Schöpfung, kurz: dem Leben gegenüber wieder eine Einstellung gewinnt, die den Wert und nicht nur den Nutzen gewichtet. Aristoteles weist auf einen Aspekt hin, der seit den Grenzen des Wachstums (Club of Rome) geradezu modern anmutet: Das Streben nach einem unendlichen Mehr wirkt sich auf die Ökonomie zerstörerisch aus: “Grund für diese Gesinnung (nach immer mehr, F.S.) ist die emsige Bemühung um das Leben, doch nicht um das gute Leben; weil aber jenes Begehren ins Grenzenlose geht, so begehren sie auch unbegrenzte 1164 Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen.” Ökonomie hatte es seit Aristoteles und der Tora immer auch mit der Begrenzung von Wünschen zu tun, wie deren Kritik an der Untugend “Habgier / Habsucht” zeigt. Die Rückbesinnung auf die klassische Aufgabenstellung der Ökonomie, wie sie Europa von seinen kulturellen und religiösen Ursprüngen her kennt, leitet zu einer Haushalterschaft an, die sich nicht einseitig am Marktwert von Gütern und Dienstleistungen orientiert. Sie fragt vielmehr nach der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Dadurch kann sie ökonomisches Handeln wieder an den Erfordernissen der sozialen Lebenswelt und der kreatürlichen Mitwelt ausrichten. Diesen Erfordernissen gilt die ökonomische Sorge. “Vorrang haben demnach immer jene Be1165 dürfnisse, die Leben ermöglichen und erhalten.” Der Markt antwortet nicht auf die notwendige Unterscheidung zwischen menschlichen Nöten, dem Bedarf und luxurierten Bedürfnissen. Aber gerade die Nöte der Armen sind die himmelschreienden Herausforderungen der Ökonomie, die von den Wünschen der Reichen verdrängt werden. Die Reichen - im Weltmaßstab bedeutet dies auch: die reichen Nationen - verschlingen einen übergroßen Anteil an Ressourcen und Energien der Erde, weil sie ihre Bedürfnisse auf dem Weltmarkt durchsetzen können. Sie können es tun, weil der herrschenden Ökonomie die Einsicht in die Nöte und in die Bedürfnisse der Armen fremd ist. In der ökumenischen Sozialethik gibt es einen doppelten Perspektivenwechsel. Die Option für die Armen schuf den Durchbruch für eine Perspektive aus der Sicht der Armen. Dieser Perspektivenwechsel wird seit dem Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung um einen zweiten ergänzt: Es gilt das Ganze dieser Erde 1164 1165 392 Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 41 - 1258 a 1. G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 71. 1166 und aller Geschöpfe in den Blick zu nehmen. Soziale und ökologische Gerechtigkeit sind nicht einander entgegengesetzt, sondern ergänzen sich durchaus. Mit diesem Perspektivenwechsel kann ein neuer ökonomischer Wertbegriff entwickelt werden, der die fundamentalen Lebensbedürfnisse (besonders der Armen im globalen Süden) und das Überleben des Oíkos insgesamt in den Blick bekommt. Beide Anliegen gehören zusammen. Gerade ein hermeneutischer Ausgangspunkt vom perspektivischen Standort bei den Armen nimmt wahr, daß es dieselbe ökonomische Logik ist, die zur Verarmung eines großen Teils der Menschheit nicht nur, aber besonders im globalen Süden - und zum ruinösen Raubbau an der Natur beiträgt. Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff will deshalb auch die sozialen und ökologischen Aspekte integrieren, wenn er eine Option für die Armen fordert, die jene am meisten bedrohten Geschöpfe mit einschließt: “Die Herausforderung besteht darin, dahin zu gelangen, daß sich die Menschen mit anderen Arten zusammen als eine große Familie des Planeten Erde verstehen und daß sie den Weg zurück finden zur Gemeinschaft mit den übrigen Lebewesen, zur 1167 planetarischen und kosmischen Gemeinschaft.” Ohne ausdrücklich auf das biblische Verständnis von oikos einzugehen, nimmt Leonardo Boff doch in der Sache das Anliegen auf, wie sein Buchtitel Unser Haus 1168 die Erde , zeigt. Die US-amerikanische Kirche United Church of Christ hat in ihrer Erklärung Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit einen Begriff von Ökonomie entwickelt, der beide Aspekte von Gerechtigkeit integriert: Ökonomie habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß “alle Haushaltsmitglieder eine menschenwürdige Grundversorgung und die Mittel 1169 zur Beteiligung am Gemeinschaftsleben haben.” Die Sorge um den bewohnten Erdkreis schließt die soziale und ökologische Dimension ein, aber auch die Dimension der Zukunft. Sorgsam zu haushalten bedeutet, so mit den Gütern dieser Erde umzugehen, daß diese gerecht unter denen verteilt werden, die gegenwärtig das Leben auf dieser Erde miteinander teilen, aber auch mit denen, die zukünftig diese Erde als ein bewohnbares Haus vorfinden wollen. Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Canberra (1991) hat einen ökonomischen Wertbegriff entwickelt, “der nicht auf Geld- und 1166 1167 1168 1169 K. Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung, München 1989; M. Robra spricht von einem “Wandel ökumenischer Sozialethik” (Ökumenische Sozialethik, 172.); auch: F. Segbers, Eine Welt. Hausordnung für den globalen Markt, in: F.von Auer u. F. Segbers (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 297 - 302. L. Boff, Theologie der Befreiung und Ökologie, 430. L. Boff, Unser Haus - die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören, Düsseldorf 1996. So in der Erklärung der UCC, Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit, in: epd - Dokumentation, Nr. 13/1988, 15. 393 Tauschwert, sondern Überlebensfähigkeit und Gebrauchswert beruht.” 1170 Dadurch übernimmt der Mensch eine doppelte ökonomische Rolle und Verantwortung: Er ist Teil der geschaffenen Welt und zugleich auch 1171 damit beauftragt, Gottes Haushalter in ihr zu sein. Die Sorge um den bewohnten Erdkreis, die die Sorge um das Lebensrecht der Armen und der zukünftigen Generationen einschließt, und nicht die abstrakte Frage nach Systemen, Systemtheorien oder ökonomische Modellen, gilt hier 1172 als das entscheidende sozialethische Kriterium. 9.5.2 Regulierung der Wünsche Gerechte Verteilung der produzierten Güter ist ein Maßstab für einen maßvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde. Die prophetischen Überlieferungen verstehen einen maßvollen Umgang mit den Gütern nie als Selbstzweck, sondern als Beitrag zu Recht und Gerechtigkeit (vgl. 1173 Jes 1,10-17; 24,1-6; Am 5,1ff.). Das biblische Eigentumsverständnis, wie es in der Aussage “Dem Herrn gehört die Erde” (Ps 24,1) zum Ausdruck kommt, steht unter dem Vorzeichen der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Bodens. Die Güter sind nur anvertraut und nicht zur privaten Verfügung gegeben. Gerechte Nutzung der Ressourcen und Teilen der Güter sind deswegen auch Aspekte des biblischen Eigentumsverständnisses. Die biblische Sabbattradition kann eine Perspektive für andere als nur materielle Bedürfnisse eröffnen. Der Sabbat steht quer zu einem Zeitverständnis, das Zeit als knappe und deshalb ökonomisch effektiv auszunutzende Ressource versteht. Die Arbeit an den Werktagen, das Produzieren und Herstellen wird zyk-lisch unterbrochen, um Zeit für andere, nämlich kulturelle, kreative und kommunikative Tätigkeiten zu haben. Der Sabbat schafft, Raum für eine Zeit, in der humane Tätigkeiten gelebt werden können. Er läuft deswegen auch einem Trend zuwider, wie er sich im ökonomischen Umgang mit der Zeit ausdrückt, die bei der Rationalisierung der Produktion auf die Ausnutzung letzter Zeitporen setzt. Dem nur auf materiellen Wohlstand ausgerichteten Denken setzt der Sabbat ein anderes Verständnis von Wohlstand gegenüber, nämlich einen “Zeitwohlstand” (J. Rinderspacher), der zwar mit dem Symbol des 1170 1171 1172 1173 394 W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1990, 68. Ebd. 61. Vgl. dazu K. Füssel u. F. Segbers, Die Bibel zu Rate ziehen. Einleitung, in: dies. (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 13f.; auch: F. Segbers, Eine Welt. Hausordnung für den globalen Markt, 285-308. Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, 300. Sabbat jenseits der Werktage angesiedelt ist, dennoch die Werktage gestalten will. Vom Sabbat her soll ein Licht auf die Werktage fallen. Habgier erstreckt sich nicht allein auf materielle Güter, auch auf die Zeit selber, die ökonomisch möglichst total genutzt werden soll. Dieser Gier nach der ganzen Zeit für Produktion und Handel setzt der Sabbat durch Unterbrechung eine Grenze. Die 23. Vollversammlung des Reformierten Weltbundes hat sich in Debrecen 1997 ausdrücklich auf die biblische Bedeutung des Sabbat berufen: In einem solchen Sabbatverständnis wird deutlich, daß dem erbarmungslosen Appetit nach Konsum Grenzen gesetzt werden müssen. Die Gier der Vielen raubt dem Leben des Planeten den Atem. Land, Luft, Wälder und Wasser brauchen Erneuerung, Regenerierung und die Wiederaufrichtung, die aus der biblischen Vision des Sabbattages, des Sabbatjahres und des Jubeljahres erwächst. Am Sabbat wird Gottes Absicht gefeiert, die ganze Schöpfung von Ausbeutung zu erlösen. Es ist eine Vision des Genug, die den wenigen Privilegierten das Recht abspricht, die erschöpflichen Ressourcen völlig auszubeuten. Im Geist des Sabbat sind alle zu einem sol1174 chen Lebensstil gerufen (Ziff. 16). Die Bedeutungsgehalte des Sabbat können zu einem neuen Wohlstandsbegriff beitragen, der den herrschenden, am Materiellen ausgerichteten transzendiert. Das Sabbatjahr ist eine Erinnerung und ein Gegenmittel gegen den Wachstumszwang. Im Bericht der Europäischen Ökumenischen Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS) in Brüssel zum UmweltAktionsprogramm der EU heißt es, daß die Beschreibung des Jubeljahres für eine ethische Bewertung der Umweltproblematik aus folgenden Gründen heute wichtig und aktuell sei: a) Sie ist realistisch in ihrer Betrachtungsweise des menschlichen Verhaltens. b) Sie hilft uns zu verstehen, was die Bibel meint, wenn sie von Gerechtigkeit spricht. Gerechtigkeit ist kein abstraktes Konzept, sie appelliert vielmehr an Beziehungen: Beziehungen sind gerecht oder ungerecht. c) Beziehungen beschränken sich nicht auf die Menschen allein; sie umfassen die Ganzheit der Schöpfung: Land, Wasser und Luft, Tiere und Pflanzen. d) In bezug auf das Wachstumskonzept, das unserem gegenwärtigen Wirtschaftsmodell zugrunde liegt, warnt uns Leviticus 25 vor dem möglicherweise destruktiven Element, das es sowohl in bezug auf die Beziehung zu den Menschen als auch 1174 Beschluß Sektion 2, Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach ungedruckten Unterlagen des Reformierten Weltbundes. 395 zur Natur enthält. Um diesem destruktiven und entzweienden Element entgegenzuwirken, bedarf es der Einführung bestimmter Mechanismen, die auf die Wiederherstellung der gerechten Beziehungen zwischen Mensch, Land und Wohlstand abzielen. e) Sie bringt die Idee der Begrenzung und der Wiederherstellung guter Verhältnisse im Wirtschaftsleben zur Sprache. Das Land muß ruhen, um „erlöst‟ zu werden. Auch dem käuflichen Erwerb sind Grenzen gesetzt (Lev 25,28). Dies ist besonders im Hinblick auf unser Modell der „nachhaltigen Entwicklung‟ wichtig, das verlangt, daß die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Grenzen des Ökosystems gesehen werden muß. f) Sie entlarvt die Neigung der Menschen zu Habgier als Mangel an Vertrauen in Gottes Verheißungen. g) In unserer heutigen Gesellschaft, in der jeder Zweifel an der Idee eines „ständigen Wachstums‟ und der Wettbewerbsfähigkeit zumeist für tabu erklärt wird, appelliert der Leviticus-Text an die moderne Menschheit, sich davon, als Formen der Idolat1175 rie, abzuwenden. Eine christliche Theorie der Bedürfnisse, die den biblischen Befund aufnimmt, wird zunächst darauf verweisen, daß die Menschen zu dem einen Leib Christi zusammengefügt sind (vgl. 1 Kor 12,12 f). Jedes Glied des einen Leibes empfindet das Bedürfnis der anderen Glieder als sein eigenes Bedürfnis. Christliche Ethik tritt als Anwältin besonders der Armen und Ausgeschlossenen auf, wird deshalb gerade zunächst auf die Bedürfnisse der Bedürftigen achten und die Interessen der Benachteiligten artikulieren. Einen Hinweis kann auch die neutestamentliche Rede vom Weltgericht geben (Mt 25,31-46). Sie rückt die ökonomischen Grundfragen ins Zentrum: die Fragen nach Essen, Trinken, Wohnung, Kleidung werden heilswichtig. Schließlich wird eine christliche Theorie der Bedürfnisse verdeutlichen müssen, daß die Bedürfnisse der Bedürftigen auch der Befriedigung und Erweiterung der eigenen Bedürfnisse Grenzen setzen. Der Schwache oder die Option für die Armen sind ein Maß der Gerechtigkeit. Gerecht ist, was dem Schwächsten am meisten nützt. Die Erinnerung an die Ökonomie der Tora und an die aristotelische Unterscheidung zwischen der Haus- und der Kapitalerwerbsökonomie kann beitragen, eine ökonomische Alternative zu denken. Karl Polanyi sieht in der aristotelischen Unterscheidung zwischen “Haus-haltsführung und Gelderwerb den prophetischsten Hinweis, der jemals im Bereich der Sozialwissenschaften gegeben wurde; er stellt jedenfalls immer noch die 1175 Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS), Ist das herrschende Wirtschaftsmodell mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar? Ein kritischer Bericht zur Halbzeit - Auswertung des fünften Umwelt-Aktionsprogramms der EU, in: epd-Dokumentation 17/1996, 74f. 396 beste, uns zur Verfügung stehende Analyse des Problems dar. Aristoteles beharrt darauf, daß der Sinn des eigentlichen Haushalts die Produktion für den Gebrauch und nicht Produktion für den Gewinn ist, aber eine zusätzliche Produktion für den Markt, meint er, müsse die Autarkie des Haushalts nicht gefährden, sofern die zum Verkauf bestimmten Produkte ohnehin zu Ernährungszwecken auf dem Gut erzeugt würden, wie Getreide oder Vieh; der Verkauf von Überschüssen müsse daher die Grundlage des Haushalts nicht zerstören. Nur ein Genie der praktischen Vernunft konnte, wie er, erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für die Marktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß der Geldfaktor ein neues Element einführte; daß aber das Prinzip der Produktion für den Gebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloß 1176 Anhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben.” Anknüpfend an diese Traditionslinie in der Theologie- und Philosophiegeschichte könnte die alte aristotelische Unterscheidung zwischen Ökonomie und Chrematistik eine Einsicht in den wirtschaftsethischen Diskurs einbringen, die von der modernen und in besonderem Maße von der neoliberalen Ökonomie als sachfremd abgetan wird. Thomas von Aquin dringt auf eine Unterscheidung, die im gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Bewußtsein kaum mehr vorhanden ist: “Alle Güter sind entweder nötig und nützlich oder überflüs1177 sig.” Bei Jan A. Comenius (1592 - 1670) findet sich eine Argumentation, die auch noch von eben jener Unterscheidung zwischen Nötigem und Überflüssigem weiß, die im entwickelten Kapitalismus aber verloren gegangen ist. In einem Brief an den Kurfürsten von der Pfalz schrieb Comenius 1668: “Die ganze Welt ist ein Markt mit allerlei Waren; voll von diesen, die jene Waren auch verkaufen, kaufen, schauen; aber die Wenigsten von ihnen wissen das Nötige von dem Unnötigen zu unterscheiden. Da ist bunt durcheinander Gutes und Schlechtes, Notwendiges und Überflüssiges, Nützliches und Schädliches, Kostbares und Wertloses ausgestellt und wird angepriesen, verkauft, gekauft. Und was noch mehr verwunderlich und beklagenswert ist, man bringt häufiger überflüssige Dinge zum Markt als nötige, häufiger schädliche als nützliche und häufi1178 ger schlechte als gute; man preist sie an, verkauft und kauft sie.” Nützliche von überflüssigen Bedürfnissen zu unterscheiden, setzt eine Theorie der Bedürfnisse voraus, die sozialethisch jedoch erst noch zu 1176 1177 1178 K. Polanyi, The Great Transformation, 85. Zit. ohne Fundstelle nach D. Sölle, Lieben und Arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung. Stuttgart 1985, 143. Zit. nach M. Stöhr, Biblische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, in: Pastoraltheologie 84 (1995) 547. 397 1179 entwickeln ist. Diese Aufteilung zwischen notwendigen Gütern und Luxusgütern ist jedoch nicht unproblematisch, da die Gefahr besteht, daß das Notwendige auf das reduziert wird, was für die nackte Subsistenz notwendig ist. Soweit theologische und sozialethische Bewertungen der Bedürfnisse vorliegen, haben sie oftmals diesen Grundtenor, Bedürfnisse zu begrenzen. Will man allerdings nicht einer Diktatur über Bedürfnisse oder einer asketischen Unterscheidung von Notwendigem und Luxus das Wort reden, so wird es darauf ankommen, einen Wohlstandsbegriff zu entwickeln, der nicht auf materielle Inhalte allein reduziert ist. Zeit zu haben, ist eine Form des Zeitwohlstandes. Kulturelle Betätigung oder Eigenarbeit sind als Arten von Wohlstand anzusehen. Von diesem erweiterten Wohlstandsbegriff her können materielle Bedürfnisse durch die Entwicklung anderer, ebenfalls fundamentaler Bedürfnisse des Menschen begrenzt werden. Was könnte ein “Genug” an materiellen Gütern heißen? In eine Definition des Genug wird eine Verantwortungsdimension eingehen müssen. Keine absolute Festlegung oder Richtschnur wird Auskunft über ein Genug geben können - und dürfen, wenn die Freiheit des Menschen nicht autoritativ beschränkt werden soll. Was “Genug” bedeuten kann, wird immer wieder neu zu definieren sein, indem kulturelle, soziale und ökologische Faktoren mitberücksichtigt werden. Die Auseinandersetzung um das materielle “Genug” muß in Verbindung mit ökonomischen und kulturellen Vorgaben gesetzt werden, die das Mehr-Haben als Leitbild fördern. Der Un-Kultur einer kollektiven Habsucht im globalen Maßstab, die institutionell und strukturell gefördert wird, ist eine globale Kultur der Selbst1180 beschränkung entgegenzustellen. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen will sich an dieser Debatte um einen neuen Wohlstandsbegriff beteiligen. Es eröffnet eine Perspektive, die zu einer Änderung des Lebensstils gegen ein vorherrschend gewordenes Konsum- und Wohlstandsdenken beitragen kann (Ziff. 231). In der Gesellschaft insgesamt seien die Ziele der ökonomischen Rationalität dominierend geworden. Die Kirchen fordern, daß von den Quantitäts-Zielen des “Mehr” und “Schneller” zu den Qualitäts-Zielen des “Weniger”, “Langsamer” und “Bewußter” umgesteuert wird. Es geht um einen neuen Wohlstandsbegriff, der “dem dauernden Wohl des Menschen dient” (Ziff. 232). Leider verbinden die Kirchen diese Ethik jedoch nicht mit den strukturellen Fragen und Bedingungen einer auf Wachstum orientierten Ökonomie, son1179 Vgl.dazu die Ausführungen bei: M. Volf, Zukunft der Arbeit, 143 - 158; W. Bindemann, Die Hoffnung der Schöpfung. Römer 8, 18-27 und die Frage einer Theologie der Befreiung von Mensch und Natur, Neukirchen - Vlyun 1983, 170-177. 1180 So O. Höffe, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, in: ders., Moral als Preis der Moderne, 2. Aufl. Frankfurt 1993, 165. 398 dern allein mit dem individuellen Verhalten. Dadurch überfordern sie nicht nur das einzelne Gesellschaftsmitglied, sie verzichten auch darauf, die sozio-strukturellen und ökonomischen Ursachen zu analysieren und zu benennen. Die ökonomische Theorie geht von einem Knappheitstheorem aus, von der relativen Knappheit der Güter und den unbegrenzten menschlichen Bedürfnissen. Eine sozialethische Theorie der Bedürfnisse dagegen wird über die Lebensqualitätsdimension und über die Ökologiediskussion auf die absolute Knappheit der Güter verweisen und über die Unterscheidung von materiellen und immateriellen Bedürfnissen von relativen Bedürfnissen sprechen. Spätestens mit der ökologischen Krise hat sich das ökonomische Steigerungsinteresse in seiner ganzen Problematik gezeigt. Zahlreiche Faktoren haben zu einer Entfesselung der Bedürfnisse beigetragen. Ein Grund jedoch ist ohne Zweifel ein Umwertungsprozeß, der mit dem Beginn der Neuzeit einsetzte. Der Philosoph Otfried Höffe fordert deshalb, wieder zu lernen, Geschäftssinn als Habsucht, Konkurrenzdruck als Neid, kurz: zahlreiche Interessen als Leidenschaften, vielleicht sogar als Laster anzusprechen. Ein Bewußtsein für moralisch illegitime Leiden1181 schaften sei wiederzugewinnen. Er will nicht einer neuen Tugendethik das Wort reden und erwartet sich auch nicht aus der Summe der Besonnenheit der je einzelnen eine Lösung. Doch ohne eine Änderung auf der privaten Ebene können nicht jene Prozesse eingeleitet werden, die zu einer gesellschaftlichen Umsteuerung der Produktionsziele beitragen. Dieser angestrebte Kurswechsel kann solange nicht allein durch individuelles Verhalten erreicht werden, wie der inhärente Wachstumszwang der Marktökonomien das Laster Habgier strukturell institutionalisiert hat. Deswegen wird es darauf ankommen, Strukturen zu schaffen, die den Wachstumszwang nicht lediglich von einem quantitativen zu einem qualitativen Wachstum umlenken, sondern die in einem grundsätzlicheren Sinne Wachstums- und Steigerungsziele aus ökologischen Gründen insgesamt reduzieren und die Produktionsziele besonders an jenen Bedürfnisse ausrichten, die die Armen und die kreatürliche Mitwelt anmelden. Walther Bindemann nennt deshalb auch zu Recht die Kritik der Bedürf1182 nisse ein Paradigma einer Befreiungstheologie der Reichen. Das handlungsleitende Prinzip der Knappheit setzt einen Wachstumsprozeß in Gang, der prinzipiell unbegrenzt ist. Das Gesetz der Knappheit kennt kein Genug. Die Allokation von Ressourcen nach gewinnmaximierenden Prinzipien hat die Effektivität und Produktivität in einem weltgeschichtlich bislang unerreichten Maße erhöhen können. Angesichts der ökologischen Folgen dieses ökonomischen Paradigmas der Knappheit 1181 1182 Ebd. 164. W. Bindemann, Die Hoffnung der Schöpfung, 170. 399 wird die natürliche Basis der Ökonomie inzwischen selber zerstört. Knappheit verkehrt sich von der Hilfe zur Beseitigung von ökonomischen Nöten und Zwängen zum ökologischen Verhängnis. Die Begrenzung der Wünsche hat es neben diesem ökologischen Aspekt immer auch mit einer Umverteilung der Wünsche zu tun: Der Wunsch einer großen Mehrheit der Weltbevölkerung nach den lebensnötigen Dingen zum Leben überhaupt muß endlich das ihm gebührende Gewicht erhalten. Das Gegenbild einer Marktökonomie des Nimmersatt ist eine “Ökonomie des Genug”, wie sie Bob Goudswaard und Harry de Lange vorgelegt haben. Beide Ökonomen geben zu, daß diese Ökonomie in der Regulierung der 1183 Wünsche “ihren harten Kern” hat. Ein perspektivischer Standort, der die Option für die Armen ernst nimmt, klärt den Vorrang der Bedürfnisse: Vorrangig sind immer die Nöte der Armen, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger und der beschädigten Schöpfung. Wo solidarische Orientierungen den Vorrang haben, sind die Bedürfnisse von vornherein begrenzt. “Der Preis dafür ist, daß ein Teil der Wünsche der Menschen 1184 weichen muß.” Es geht also um nichts weniger als um eine Orientierung ökonomischen Handelns an dem, was den Menschen und der Erde not tut. 9.6 Sechster wirtschaftsethischer Impuls: Bereicherung begrenzen 9.6.1 Ökonomischer Paradigmenwechsel Zu Beginn der Neuzeit vollzog sich ein folgenreicher Paradigmenwechsel. Die seit “Athen” und “Jerusalem” geläufige Kritik der Habsucht als einer Untugend verkehrte sich: Aus einem privaten Laster wurde eine soziale Tugend. Der Ökonom Hans G. Nutzinger teilt diese Einschätzung des Paradigmenwechsels, wenn er schreibt: “Damit wird eine jahrtausendealte Tradition philosophisch-religiöser Kritik von Habsucht und Reichtum - gespeist aus so unterschiedlichen Quellen wie Aristoteles‟ Unterscheidung von Chrematistik (als Bereicherungslehre) und Oikonomia (als Lehre von der - naturalen - Hauswirtschaft) in seiner „Politik‟ und in der „Nikomachischen Ethik‟ oder aus der jüdisch-christlichen Hervorhebung von Nächstenliebe und der Verdammung des Mammon 1183 1184 400 G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 83. Arthur Rich unterstützt diesen Ansatz: “Es geht keineswegs um eine rigide Verzichtswirtschaft, sondern um den Weg von einer Ökonomie des Immer-Mehr zu einer Ökonomie des Genug.” (A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 128f.) G. Goudzwaard u. H. de Lange, Weder Armut noch Überfluß, 83. 1185 prinzipiell in Frage gestellt.” In seiner berühmten Bienenfabel hat Bernard Mandeville einen Paradigmenwechsel in der Umwertung der Untugend Habgier in eine Tugend literarisch mit dem Paradoxon “private Laster, öffentliche Vorteile” zu begründen versucht. In der Bienenfabel heißt es: Die Moral: Stolz, Luxus und Betrügerei 1186 muß sein, damit ein Volk gedeih‟. In der gesamten Philosophie- und Ökonomiegeschichte war diese zynische und amoralische Haltung eines blanken Utilitarismus bislang immer auf Ablehnung gestoßen. Gezeichnet wird eine Natur des Menschen, der nur auf sein Wohl bedacht ist. Der Wirtschaftshistoriker R.H. Tawny spricht von einem Bruch mit der europäischen, d.h. griechischrömischen und auch christlich-jüdischen Geistesgeschichte: “Gerade das Bestreben, das die moderne Gesellschaft als verdienstlich ansieht, nämlich den irdischen Reichtum unablässig und grenzenlos zu mehren, verurteilte der Denker des Mittelalters als sündhaft, und die Laster, die er am leidenschaftlichsten anprangerte, gehörten zu den edleren und feine1187 ren wirtschaftlichen Tugenden einer späteren Zeit.” Zu diesem Bruch mit den religiösen und philosophischen Traditionen mußte es kommen, um die Voraussetzungen für die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise zu schaffen. Die Grundstruktur der Geld- und Marktwirtschaft mit ihrer Triebfeder des Gewinnstrebens ist seit der Antike die 1188 gleiche geblieben. Damit sich in der Neuzeit der Kapitalismus entfalten konnte, war es nötig, die Untugend Habgier als Grundhaltung dieser Triebfeder in eine Tugend umzudeuten. Die klassische politische Ökonomie im 17./18. Jahrhundert begann, die Habsucht in der Gestalt des Eigennutzes als Antrieb des Menschen zu wirtschaftlichem Handeln zu werten, und deutete die Ausübung individueller Vorteilsnahme als Vorteil für die Gesamtheit. Sie wird zu einem wünschenswerten, erstrebenswerten sozialen Verhalten umgedeutet. Ökonomisch wird dieser Antrieb zum Mehr-Haben-Wollen, die Habgier, strukturell als Zwang zum Wachstum institutionalisiert. “Das Besondere am Marktsystem ist, daß durch das Eigeninteresse des Einzelnen auch der Gesamtnutzen maximiert wird. 1185 1186 1187 1188 H. G. Nutzinger, Arbeit unter dem Primat der Ökonomie, in: Pastoraltheologie 84 (1995) 580582; auch A. O. Hirschman, Leidenschaft und Interesse. Politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt 1980. B. Mandeville, Die Bienenfabel, 92. R.H. Tawny, Religion und Frühkapitalismus, Bern 1946, 50. Vgl. auch oben Abschnitt 8.2; sowie: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” 168-172. H.Chr. Binswanger, Die Marktwirtschaft in der Antike, 34. 401 1189 Der Erfolg des Individuums erst garantiert den Wohlstand vieler.” Das Eigeninteresse avanciert demnach zum ökonomisch besten Weg, das Gemeinwohl zu erreichen. Das, was die philosophischen und religiösen Traditionen Europas “Laster” und “Sünde” nennen, summiert sich nun zu einem positiven Saldo. Das Gewinnmotiv ist wegdefiniert. “Nicht die „pleonaxia‟, das Mehrhaben-Wollen ist der neue Zug des Kapitalismus, sondern die moralische Neutralisierung des Gewinnmotivs zu einem respektablen menschlichen Motiv und seine Anerkennung als Grundmotiv 1190 der Wirtschaft.” Die in der Geschichte europäischer Philosophie immer als Untugend bezeichnete Habgier konnte so zu einer sozialen Tugend, die die Effizienz der Ökonomie garantiert, umgedeutet werden. Otfried Höffe ordnet einer Motivationsverschiebung jene Veränderung der Moral zu, die zu einer folgenreichen Umwertung der Werte führte, durch die Laster - ihrer Illegalität befreit - normativ positiv beurteilt werden: das 1191 Laster der Habsucht wird zum lobenswerten Geschäftssinn. Diese Umwandlung der Untugend Habsucht in eine Tugend hatte zur Folge, daß “eine lange Tradition der Beschäftigung mit der Habsucht (...) all1192 mählich in Vergessenheit” geriet. Diese Umformung der traditionellen Werte der jüdisch-christlichen Tradition konnte einer kapitalistischen Produktionsweise den Boden bereiten. Die Veränderungen in Ökonomie und Ethik bedingen sich gegenseitig und führen zu einem Menschenbild, das es bis zur Moderne in der Philosophiegeschichte nicht gegeben hat. Funktional zu einer Ökonomie, die Wettbewerb und Konkurrenz zu ihrem Antrieb machte, formte sich ein adäquates Menschenbild: ein Mensch, der primär auf seinen Eigennutz bedacht ist. Der Mensch, der zu Gutem und Bösem fähig ist, wird nun zum Menschen, der “des Menschen Wolf” (Hobbes) ist. Diese anthropologische Aussage geht konform mit einer Anthropologie, die den Werthaltungen und Motiven jener seit der Aufklärung sich herausbildenden freien Marktwirtschaft entspricht. Die im 17./18. Jahrhundert eingeführte und sich herausbildende Marktwirtschaft konnte sich dadurch als eine Wirtschaftsform legitimieren, die der Natur des Menschen entspreche und sich genauso wie der Mensch und alles Lebendige evolutionär entwickelt habe. Christliche Ethik hat sich lange schwer getan, Eigennutz als ein ethisch legitimes Motiv wirtschaftlichen Handelns zu akzeptieren. Die Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz kann als ein Durchbruch be1189 1190 1191 1192 402 W. Weimer, Das Teilen und die Moral der Märkte, 9. P. Koslowski, Ethik des Kapitalismus, 17. O. Höffe, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, 164. R. Rieth, “Habsucht” bei Martin Luther, 41; vgl. auch: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” zeichnet werden, wenn sie fordert, “Eigennutz in einer Ordnung der Gegenseitigkeit einzubinden” (Ziff. 139). Der Eigennutz wird nicht mehr ethisch diskreditiert, sondern als Grundstruktur menschlicher Existenz akzeptiert und deswegen auch für ökonomische Prozesse legitimiert, jedoch nur insofern, wie Eigennutz begrenzt und eingebunden ist. Problematisch ist allerdings eine gleichgewichtige Wertung, wenn es in der Denkschrift heißt, daß es darauf ankomme, nach Formen des “„intelligenten Eigennutzes‟ als „intelligenter Nächstenliebe‟” (Ziff. 147) zu suchen. Eigennutz sollte nicht theologisch legitimiert, sondern durch Einrichtungen reglementiert werden, welche die Bedürfnisse des Nächsten und der kreatürlichen Mitwelt respektieren. Wie der Eigennutz effektiv begrenzt wird, kann als der kritische Maßstab gelten, der darüber entscheidet, ob eine auf Eigennutz basierende marktwirtschaftliche Ordnung ethisch legi1193 timiert ist. Was über die Anthropologie zu sagen ist, wird theologisch auch in der 1194 Tora thematisiert. Alle Weisungen der Tora stehen unter dem Obersatz: “Wer sie einhält, wird durch sie leben” (Lev 18,5). Auf die anthropologische Grundfrage, wie es denn mit dem Bösen und dem Guten im Leben der Menschen bestellt sei, antwortet die Tora in zweifacher Hinsicht. Sie sagt zum einen, was Gottes Wille ist, und lehrt dadurch, von Gottes Willen her zu erkennen, wo Menschen ihre Bestimmung verfehlen. Zum anderen aber will die Tora Leben trotz und inmitten des Bösen erhalten. Das Böse, “das Wölfische”, soll nicht bleiben. Humanisierung soll eine Chance bekommen. Dazu legt die Tora konkrete Instrumentarien und Institutionen der Gerechtigkeit vor. Benno Jacob charakterisiert 1193 1194 Interessant ist, daß zeitgleich auch die römisch-katholische Kirche ihre notorische Skepsis gegenüber marktwirtschaftlichem Wirtschaften auf der Basis von Konkurrenz in der Enzyklika Centesimus annus (1991) abgelegt hat. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Michael Novak hat diese Entwicklung als Versöhnung des Katholizismus mit dem Kapitalismus gewürdigt und in Parallele zum Protestantismus verstanden, dem nach M.Weber der Kapitalismus seine geistigen Grundlagen verdanke. Positiv wird der Kapitalismus gewertet, wenn er als Wirtschaftssystem betrachtet wird, “das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmers, des Marktes, des Privateigentums ... anerkennt”, negativ jedoch, wenn unter Kapitalismus ein Wirtschaftssystem verstanden wird, “ in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist” (Centesimus annus, Ziff. 42). Vgl. dazu die im Buchtitel formulierte Parallelität: M. Novak, Die Katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Trier 1996. Als Grundthese formuliert M. Novak: “Aus dem Schmelztiegel einer hundertjährigen innerkirchlichen Diskussion geht eine angemessenere und befriedigendere kapitalistische Ethik hervor als die Protestantische Ethik Max Webers” (M. Novak, Die Katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 23). M. Novak übersieht jedoch die notorische Kritik päpstlicher Verlautbarungen an einer freien Marktwirtschaft oder dem Neoliberalismus. Novak identifiziert die päpstlichen Aussagen zur Marktfunktion mit dem Neoliberalismus. O. Bayer, Bleibt das Böse? Mit einer realistischen Anthropologie den Friedensprozeß fördern, in: Evangelische Kommentare 1/1994, 31ff. 403 die Tora-Weisungen so: “Sie wollen erziehen, nämlich zu Gottesfurcht 1195 und Achtung des Menschen in seinen Grundrechten.” Christliche Anthropologie ist deshalb nach zwei Seiten hin als realistisch zu charakterisieren: gegen die Verharmloser des Bösen in der Tradition des Rousseau‟schen Denkens, welches das gemeinschaftswidrige Handeln vom Menschen weg auf die Gesellschaft verlagert; aber auch gegen eine Argumentationslinie, die auf Hobbes zurückgeht, das Böse zum Grundprinzip macht und deshalb gemeinschaftsschädigendes Verhalten nicht nur fest und unveränderlich der Natur des Menschen zurechnet, sondern darüber hinaus auch noch als gemeinschaftsfördernd umdeutet. Ein Humanismus, der die Tora ernst nimmt, resigniert nicht vor dem Bösen, nimmt es aber auch nicht als Faktum oder Fatum hin. Er 1196 setzt vielmehr auf “humanisierende Eingriffe” . Diese Einsicht der Tora befreit zur Analyse gemeinschaftswidriger Strukturen in der Ökonomie und setzt gegen Mächte und Gewalten, die Leben behindern, solche Regeln, Institutionen und Mechanismen, die das Leben fördern. Von Adam Smith stammt die klassische Beschreibung der liberalen Wirtschaftsweise, die von positiven Motiven des Handelnden zur Erreichung eines wirtschaftlich wünschenswerten Ziels absieht: “Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers, Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern 1197 sprechen von ihrem Vorteil.” Gesteuert und motiviert wird das Marktgeschehen vom Eigennutz, nicht von einer Sorge, die im Mittelpunkt klassischer oikonomìa stand. Adam Smith teilt das maßgeblich von Hobbes geprägte Selbstverständnis seiner Zeit, daß der Mensch von Eigennutz geleitet ist und dieser Eigennutz sich zu einer Quelle des Wohlstands der Gesellschaft summiert. Kennwort ist eine Metapher, die mit dem Namen Adam Smith verbunden ist, aber gleichwohl in seinem Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen nur ein einziges Mal vorkommt. Wer seine Interessen bei der Gewinnmaximierung verfolge, werde “von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu er1198 füllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.” Die Motivation wird also von den Zielen abgekoppelt. Für Adam Smith als Ethiker war jedoch diese Verfolgung des Eigennutzes ethisch nur dann zu rechtfertigen, wenn daraus ein gemeinwohlverträgliches Ergebnis resultierte. Horst Claus Recktenwald, Herausgeber des Hauptwerkes Wohlstand derNationen, 1195 1196 1197 1198 404 B. Jacob, Das Buch Exodus, 1061. R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 20. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 17. Ebd. 371. nennt es eine “Verstümmelung oder pervertierte Auslegung der Grund1199 idee” , wenn der Vorwurf erhoben werde, daß Adam Smith das Ökonomische un