- EZETTHERA

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Aggression und Depression
Wie regulieren depressive Menschen unterdrückte
Aggression in ihrem Bewegungsverhalten?
Nicole Pichler
Januar 2016
Diplomarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Tanztherapeutin am
EZETTHERA
Europäisches Zentrum für Tanztherapie
München
Abstract
In der vorliegenden Abschlussarbeit werden zuerst die Begriffe der Aggressions- und Triebenergie
nach Carl Gustav Jung erläutert sowie deren Bedeutung und Wichtigkeit für die Psychodynamik des
menschlichen Lebens. Nicht gelebte Aggressions- und Triebenergie wird mit den Abwehrmechanismen (nach Sigmund und Anna Freud) mit den Depressionssymptomen (laut ICD 10) und der Bewegungsanalyse (nach Rudolf von Laban und Judith Kestenberg) in Verbindung gebracht.
Im Bewegungsverhalten von 10 psychiatrischen PatientInnen, bei denen verschiedene Formen der
Depression diagnostiziert wurden, wird der Spannungs-/ Bewegungsfluss „gebunden“ und „frei“ sowie die Spannungsflusseigenschaften „hohe Intensität“ und „niedrige Intensität“ beobachtet.
Je schwerer die Erkrankung umso weniger Wechsel des Spannungs- und Bewegungsflusses werden
festgestellt. Im gesamten Bewegungsverhalten ist „niedrige Intensität“ eindeutig vorherrschend.
„Hohe Intensität“ wird nur in einzelnen Körperteilen bei PatientInnen mit schwerer Depression beobachtet. Ein eindeutiger Nachweis aus bewegungsanalytischer Sichtweise, ob und wie unterdrückte
Aggression im Bewegungsverhalten depressiver Menschen reguliert wird, kann im Rahmen dieser
Arbeit nicht erbracht werden. Sie wirft stattdessen eine Vielzahl von Fragen auf, die weiterer Forschung bedürfen.
This thesis gives an explanation of the terms aggression and drive (instinctual) energy in relation to
the theories of Carl Gustav Jung as well as their understanding and importance for the
psychodynamics in human life. Unexperienced aggression and drive (instinctual) energy is related to
the defense mechanisms (following Sigmund and Anna Freud) and depression symptoms as
described in ICD 10 and the movement analysis (referring to Rudolf von Laban and Judith
Kestenberg).
The movement patterns of 10 psychiatric patients, diagnosed as depressive of various kinds and
symptom grades, were observed regarding to movement / tension flow „bound“ vs. „free“ as well as
the tension flow attributes „high intensity“ vs. „low intensity“.
The higher the degree of the diagnosed disturbance the lower the observable changes in tension
/movement flow. “Low intensity” is predominant in the overall motion pattern of this patient group,
while “high intensity” is observable only in distinct body parts of severely depressed people. An
unequivocal proof of a contingency in the regulation of suppressed aggression in the movement
patterns of depressive people is not stated in this paper. On the contrary a number of questions are
raised, that request further research.
I
Inhalt
1
Vorwort.................................................................................................... 1
2
Aggression ................................................................................................ 3
2.1
Die Aggressions- und Triebenergie aus tiefenpsychologischer Sicht ....................... 3
2.2
Aggressions- und Triebenergie in der menschlichen Entwicklung ........................... 6
2.3
Aggression - wozu? ................................................................................................... 9
2.4
2.3.1
Identitätsbildung...................................................................................................... 9
2.3.2
Abgrenzung .............................................................................................................. 9
Zusammenhänge von Aggressions-/ Triebenergie und den Depressionssymptomen10
2.4.1
2.5
3
Abwehrmechanismen ............................................................................................ 12
Aktueller Stand der Forschung ............................................................................... 15
Bewegungsanalyse ................................................................................. 19
3.1
Bewegungsfluss – Spannungsfluss.......................................................................... 19
Gebunden: ........................................................................................................................... 19
Frei:
4
3.2
Spannungsflusseigenschaften (SFE)........................................................................ 20
3.3
Vorantriebe (VAN) .................................................................................................. 21
3.4
Antriebe (ANT) ........................................................................................................ 22
Methodik................................................................................................ 24
4.1
5
20
Beobachtung........................................................................................................... 26
Auswertung/ Interpretation ................................................................... 30
5.1
hohe/ niedrige Intensität........................................................................................ 30
Hohe Intensität.................................................................................................................... 31
Niedrige Intensität............................................................................................................... 32
5.2
5.3
gebundener/ freier Bewegungsfluss....................................................................... 33
5.2.1
Gebunden............................................................................................................... 34
5.2.2
Frei ......................................................................................................................... 35
Vergleiche ............................................................................................................... 35
6
Zusammenfassung .................................................................................. 38
7
Literaturverzeichnis ................................................................................ 40
8
Abbildungsverzeichnis ............................................................................ 41
9
Tabellenverzeichnis ................................................................................ 41
II
1
Vorwort
Während meiner Ausbildung zur Tanztherapeutin arbeitete ich in meinem Grundberuf als Dipl. Gesundheits- und Krankenschwester an der psychiatrischen Abteilung des Klinikum Wels - Grieskirchen.
Nachdem ich davor viele Jahre im neurologischen und in anderen Bereichen tätig war, lernte ich nun
einen für mich völlig neuen pflegerischen und pflegetherapeutischen Umgang mit PatientInnen im
klinischen Bereich kennen. Es ging hier nicht um „den Insult“, „die Gallenblase“ oder „das Glaukom“
sondern um Menschen in ganz individuellen Lebenssituationen, mit all ihren Belastungen, Ressourcen und ihrem sozialen Umfeld. Den Menschen so in seiner Ganzheit zu sehen war schon immer
mein Grundverständnis für zwischenmenschliche Kontakte, und so fühlte ich mich sehr ermutigt
meine tanztherapeutische Arbeit in diesem Bereich einzuführen.
Sehr schnell lernte ich Menschen mit den unterschiedlichsten psychiatrischen Krankheitsbildern kennen und deren ebenso unterschiedliche Sorgen, Ängste, Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte. In
den tanztherapeutischen Gruppen spiegelten sich diese großen Unterschiede auch im Bewegungsverhalten und –bedürfnis wider. Daher beschäftigte mich bald die Frage, ob es sinnvoller wäre, die
PatientInnen nach Diagnosen in Gruppen einzuteilen oder lieber ganz gemischt. Das war dann auch
das 1. Thema für meine Diplomarbeit. Mein Plan war der, zwei Gruppen miteinander zu vergleichen;
eine mit ausschließlich depressiven PatientInnen und eine gemischte (PatietInnen mit sämtlichen
anderen psychiatrischen Erkrankungen). Leider musste ich dieses Thema bald abbrechen, da über
einige Monate hinweg fast ausschließlich depressive PatientInnen an unserer Abteilung in stationärer
Behandlung waren und somit keine Vergleichsgruppe zustande kam.
Bei der neuen Themensuche erinnerte ich mich an meine vielfältigen Erfahrungen in meiner langjährigen tanzpädagogischen Arbeit mit Menschen aller Altersgruppen. Sowohl in der Arbeit mit Kleinkindern (2-4 Jahre) und deren Müttern, mit Volksschulkindern, jungen Erwachsenen in Ausbildung,
„60+ Frauen“ und SeniorInnen gab es ein Thema, das in verschiedensten Ausprägungen immer wieder offensichtlich war: Wut bzw. Zorn und der Umgang damit!
Während Kleinkinder ihren Ärger noch sehr direkt und ungefiltert ausdrücken, laut weinen, schreien
oder gar um sich schlagen, haben die meisten Kinder im Volksschulalter bereits verschiedene Umgangsformen damit gelernt. Was aber nicht heißt, dass ihnen dies immer leicht fällt. Ich fand es immer sehr spannend, wie unterschiedlich sich z.B. die Mädchen und Buben einer 1. Klasse in Streitsituationen verhielten. Da gab es jene, die ihrer Wut sehr lautstark Ausdruck verliehen, jene, die es
vorzogen der Lehrerin zu erzählen („petzen“) was „Der da“ grad wieder Böses getan hat, aber auch
jene Kinder, die kaum ein Wort sagten oder sogar völlig verstummten.
-1-
Diese Verhaltensweisen lassen sich dann – in verschiedensten Ausprägungen – bis ins hohe Alter
weiterverfolgen, und Jede/r von uns kennt die eigenen „Vorlieben“ nur zu gut - und das ist gut so.
Denn Ärger, Wut und Zorn gehören genauso zum Leben wie z.B. Freude, Glück und Zufriedenheit.
Allerdings gibt es Menschen, in deren Leben manche dieser Emotionen scheinbar gar nicht vorkommen (oder nicht vorkommen dürfen). So fiel mir bei den depressiven PatientInnen im Klinikum auf,
dass Ärger, Wut und Zorn für sie scheinbar überhaupt keine Rolle spielten. Viele erzählen, sie hätten
z.B. ihren Ärger immer hinuntergeschluckt, oder ihn sich schon als Kind abgewöhnt, oder sich lieber
auf die Lippen gebissen anstatt etwas zu sagen, etc. Irgendwann leiden sie dann an Schlafstörungen,
diversen somatischen Beschwerden (z.B. Magenschmerzen, Bluthochdruck, Kopfschmerzen), verlieren jeglichen Appetit, können sich an nichts mehr erfreuen, sich kaum mehr auf etwas konzentrieren,
fühlen sich „depressiv“! Da stellt sich doch die Frage, ob es so gesund sein kann die eigene Wut/ Aggression so zu unterdrücken?
Mir ist wohl bewusst, dass es eine Vielfalt an Ursachen und auch an Theorien über die Entstehung
der Depression gibt. Aber ein eventueller Zusammenhang von Wut bzw. Aggression und Depression
weckte mein besonderes Interesse.
Aus tanztherapeutischer Sichtweise ist natürlich das Bewegungsverhalten von großem Interesse, und
so kam ich auf die Idee, die unterdrückte Aggression im Bewegungsverhalten von Personen zu erforschen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde.
Dafür war mein Arbeitsplatz natürlich sehr hilfreich. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bedanken bei den PatientInnen für ihre Bereitschaft sich filmen zu lassen, und beim Leiter der Abteilung,
Hr. Prim. Dr. Elmar Windhager für seine Unterstützung.
Außerdem möchte ich mich bei all den lieben Menschen von ganzem Herzen bedanken, die mich mit
ihren Talenten und ihren wunderbaren Wesen über die lange Zeit der Entstehung dieser Diplomarbeit so hilfreich, inspirierend, geduldig und liebevoll unterstützt, motiviert und begleitet haben.
-2-
2
Aggression
Der lateinische Wortursprung “aggredi” bedeutet angreifen, sich nähern, herangehen, auf jemanden
zugehen und im aktiveren Sinne etwas ein- bzw. herausfordern. Aggression ist somit ein Ausdruck
der Fähigkeit zur Selbstbehauptung und eine wesentliche Voraussetzung für ein intaktes Selbstwertgefühl.
Begriffsdefinitionen bezeichnen „Aggression“ als ein durch Affekte ausgelöstes, auf Angriff ausgerichtetes Verhalten des Menschen, das auf einen Machtzuwachs des Angreifers bzw. eine Machtverminderung des Angegriffenen zielt. Sie kann tätlich sein, sie kann aber auch verbal erfolgen, in Intrigen,
Verleumdungen oder einer feindseligen, ablehnenden Haltung Ausdruck finden. (online duden, 2015;
lexikon stangl, 2015).
2.1
Die Aggressions- und Triebenergie aus tiefenpsychologischer Sicht
In dieser Arbeit beziehe ich mich auf das Modell der Aggressions- und Triebenergie nach Carl Gustav
Jung, wo diese als archetypische Wirkkräfte verstanden werden (C.G. Jung, 1995C). Um dies näher
erläutern zu können, lohnt es sich, zuerst den Begriff „Archetypus“ zu erläutern, um vorweg Missverständnisse zu vermeiden.
Beim Begriff „Archetypus“ ist es wichtig, zwischen dem unanschaulichen Archetypus an sich und dem
archetypischen Bild zu unterscheiden. Ersterer ist eine der menschlichen Psyche innewohnende
Struktur, letzteres kommt in verschiedenen archetypischen Erscheinungsbildern zum Ausdruck, wie
zum Beispiel in Märchen und Mythen. Die Archetypen sind unsichtbare und unanschauliche Wirkfaktoren im Unbewussten des Menschen. Sie bilden die Strukturdominanten der Psyche, indem sie das
seelische Erleben ordnen und die Bilder und Motive im Unbewussten nach bestimmten Grundmustern anordnen. Besonders zu beachten ist, dass es sich bei den Archetypen nicht um vererbte Vorstellungen, vererbte Bilder und Symbole handelt, sondern um Möglichkeiten zu deren Erscheinung
und Gestaltwerdung. Die Archetypen sind Bereitschaftssysteme, die das seelische Erleben anordnen,
bewirken und die Erscheinungsbilder strukturieren. Sehr klare und eindrückliche Erscheinungsbilder
kann man in den Mythen finden. Insbesondere die griechische Mythologie bietet hier eine breite
Palette. Sieht man sich in dieser Mythologie nach bildhaften und figuralen Entsprechungen um, was
Aggression und Triebenergie angeht, so wird man hier sehr schnell fündig. Dass für die Aggressionsenergie der Kriegsgott Ares prädestiniert ist, dürfte wohl außer Frage stehen. Für die Triebenergie
steht hier unumstritten Dionysos, der Gott des Blutrausches, des Weines, der Ekstase und - des Tanzes (C.G. Jung, 1998)!
-3-
Ares, als archetypisches Bild für Macht und Aggression, kann als eine
wesentliche Grundwirkkraft der Psyche verstanden werden. So ist
Ares bezeichnenderweise auch der Vater des Eros, des Gottes der
lustvollen und liebevollen Bezogenheit, den er gemeinsam mit der
Liebesgöttin Aphrodite zeugt. Das heißt, ohne Ares kein Eros. Carl
Gustav Jung sieht den Machtaspekt als Gegenpol zur Liebe, wie bereits im Mythos angedeutet. Da die Welt und das menschliche Leben
in Polaritäten, in Gegensatzspannungen pulsiert, bedeutet dies
zwangsläufig, dass in Ermangelung des „Ares“ oder „Aggressionspols“
der Spannungs- oder Lebensfluss im Sinne des Eros zum Erliegen
kommt (Kereny, 1992; Jung, 1995C).
Abb. 1: Ares (wikipedia, 2015)
Nebenbei sei auch erwähnt, dass das zweite von Ares und Aphrodite gezeugte Kind Harmonia ist, die
Schwester des Eros. Damit wird ausgedrückt, dass Harmonie nur in einem ausgeglichenen Spannungsverhältnis zwischen Aphrodite und Ares, im Sinne von Liebe und Macht bzw. Aggression eintreten kann (Kereny, 1992).
Nun noch eine kurze Erläuterung zum archetypischen Bild des Dionysos und
somit der Triebenergie: Er ist ein mystischer Erlösergott, der von den Toten aufersteht. Er ist ein animalischer Gott, in dessen Erscheinung Mensch und Tier
ineinander verschwimmen. Er ist der Gott des Rausches und des Obszönen,
grausam und lustvoll zugleich und er ist der erklärte Feind aller allzu ordnungsliebender Menschen, die er bei ihren verborgenen Begierden packt und in den
Wahnsinn treibt (Dommermuth-Gudrich, 2001). Der Wahnsinn braucht jedoch
nicht wortwörtlich verstanden werden, sondern kann oft auch in verschiedensten psychischen Beschwerden und Erkrankungen, wie z.B. Depression, als eine
Ursache vermutet werden. Während sich Ares vorzugsweise mit Kriegern und
Kriegshelden umgibt, sind es bei Dionysos die Nymphen, die als Mänaden sein
rasendes Gefolge bilden. Man könnte also den Schluss ziehen, dass das Männliche sich eher von Ares angezogen fühlt, während das Weibliche mehr zu Diony-
Abb. 2: Dionysos
sos tendiert (Ranke-Graves, 2008).
(wikimedia, 2015)
Hierzu soll betont werden, dass das Männliche nicht gleichzusetzen ist mit dem Mann, oder das Weibliche mit der Frau. Wie wir heute wissen, sind beide Qualitäten in jedem Menschen angelegt. Jeder
kennt nun Beispiele von Männern, die sehr viele weibliche Anteile haben, so wie auch so manche Frau
mehr männliche Anteile hat als der Durchschnitt. Näheres dazu erläutert C.G. Jung in seinem Konzept
von Animus und Anima (Ranke-Graves, 2008).
-4-
So wie die Aggressions- und Triebenergie hier mit den archetypischen Bildern des Ares und Dionysos
beschrieben wurden, darf man jedoch nicht dem Irrtum erliegen, dass die beiden Energien voneinander zu trennen sind. Vorhanden sind immer beide, allerdings nicht zu gleichen Anteilen! Sie tendieren in uns Menschen ständig jeweils in die eine und in die andere Richtung (Jung, 1995C).
Die Griechen widmeten den Göttern – und damit diesen beiden Energien – unterschiedliche Rituale.
So wurden zum Beispiel zu Ares’ Ehren Kampfspiele organisiert, wo ganz eindeutig die Aggressionsenergie in Form von Wettkampf im Vordergrund stand. Um die archetypischen Qualitäten des Dionysos zu ehren wurden Orgien gefeiert, wo der Wein in Strömen floss, sehr viel getanzt wurde und auch
die Sexualität sehr ausschweifend praktiziert wurde (Jung, 1995C).
Friedrich Nietzsche postulierte am Ende des 19. Jahrhunderts, dass zu einem erfüllten Menschsein
das „ungezügelte Dionysische“ ebenso dazugehöre wie das „diszipliniert - ordnende Apollinische“
(Dommermuth-Gudrich, 2001, S. 90). Und wenig später erhärtete Sigmund Freud diese These mit der
Beobachtung, dass jemand, der seine Triebregungen fortwährend zu unterdrücken sucht, „wahnsinnig“ im Sinne von neurotisch wird (Dommermuth-Gudrich, 2001). Carl G. Jung beschrieb dieses Phänomen in seinen Worten: „Wenn wir ‚außer uns geraten vor Wut’, so sind wir offenbar nicht mehr
identisch mit uns selbst, sondern sind von einem Dämon, einem Geist, in Besitz genommen worden.“
(C.G.Jung, 1995, S. 361)
Ein wesentlicher Teil der Triebenergie ist außerdem die Libido. Anders als C. G. Jung, der diese als die
psychische Energie des Menschen bezeichnete, brachte S. Freud die Libido besonders mit den Trieben der Sexualität in Verbindung. Beide Sichtweisen finden in der Wortbedeutung (lat. libido) „Begierde, Lust, Verlangen, Zügellosigkeit“ (de.Pons, 2015) ihre Erklärung. Zugleich wird hier deutlich,
dass es sich nicht um eine eigenständige Energieform handelt, sondern eben um einen Teil der Triebenergie! Diese entfaltet sich je nach Entwicklungsphase unterschiedlich, wird aber im Falle der Befriedigung als lustvoll erlebt. Dies beginnt im Säuglingsalter beim Saugen und bei der Nahrungsaufnahme und entwickelt sich in den ersten Lebensjahren bei der Ausscheidung der Exkremente, was als
erste produktive Leistung erlebt wird. Später wird diese Energie in intensiven Lustgefühlen durch
Onanie oder kindliche sexuelle Spiele erlebt (Freud, 2015). Gleichzeitig findet eine zunehmende (kreative) Auseinandersetzung mit der Umwelt statt sowie eine körperliche Umsetzung der Triebenergien
in Wachstum und Bewegung, der Motorik. Somit bildet die Triebenergie den Antrieb für die konkrete
Umsetzung in Sexualität, Kreativität und Motorik (Jung, 1995A).
Zusammenfassende Aspekte der Triebenergie sind somit:
๏
orgiastisch (bis zum Wahnsinn)
๏
lebenslustig
-5-
๏
lustvoll
๏
sinnlich
๏
kreativ
Laut Sigmund Freud und Konrad Lorenz ist die Aggressionsenergie angeboren, staut sich innerlich auf
und drängt daher notwendigerweise nach Entladung. Da diese aggressive Energie nicht verhindert
werden kann, und sie lediglich in harmlosere oder sogar sozial „wertvolle“ Betätigungen umgeleitet
werden kann, ist es äußerst wichtig, regelmäßig Möglichkeiten für Aggressionshandlungen zu finden,
damit es nicht zu unkontrollierten Entladungen kommt. (hipa/aggression, 2015)
Zusammenfassende Aspekte der Aggressionsenergie sind daher:
2.2
๏
Wut
๏
Zorn
๏
Macht
๏
Kampf in weitestem Sinne
Aggressions- und Triebenergie in der menschlichen Entwicklung
Der Grazer Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Christoph Göttl sieht die Aggression als Teil der kindlichen Entwicklung und unterteilt sie in zwei Formen: Die erste, und häufigste Form, entsteht aus der
Angst heraus, wenn sich das Kind bedroht fühlt. In Familien, in denen viel Druck herrscht, kann das
Kind das Gefühl bekommen sich wehren zu müssen. Wenn der Wut des Kindes Angst zugrunde liegt,
zeigt sich dies in hoher körperlicher Erregung, rot anlaufendem Kopf, stockendem Atem und zittriger
Stimme. In diesem Zustand wird das Kind von seinen Emotionen völlig überschwemmt und kann seine Umwelt kaum mehr wahrnehmen, was einem Ausdruck der Triebenergie zugeordnet werden
kann. Um sich wieder zu beruhigen, benötigt es meist sehr viel Zuwendung, Trost und Zeit (Medizin
populär, 2015).
Dient ein Wutausbruch dazu, sich (in der Familie) durchzusetzen, sich zu positionieren oder etwas zu
erreichen, dann geht es um Macht. Diese Form wird manchmal auch als „instrumentelle Aggression“
bezeichnet und wird somit der Aggressionsenergie zugeordnet (Fürntratt-Kloep, 1985). Wer kennt
nicht das vor Wut tobende Kleinkind im Supermarkt, das sich laut schreiend eine bestimmte Süßigkeit erkämpfen will? Gibt man diesem Kind nach, so wird es augenblicklich aufhören zu toben. Diese
Form der Aggression tritt besonders häufig in der sogenannten Trotzphase im Alter von 2 – 3 Jahren
auf und dient der Identitätsbildung. Das Kind lernt sich abzugrenzen und zu verhandeln, es entwickelt
-6-
seine soziale Kompetenz. Im Alter von etwa sechs Jahren, zu Schulbeginn, wenn der Leistungsdruck
zunimmt, lässt sich diese Aggressionsform zum zweiten Mal gehäuft beobachten. In der Pubertät
schließlich heißt es für den Jugendlichen Abschied zu nehmen von der Kindheit. Nun ist er gefordert
sich eine Identität als Erwachsener zu schaffen und zu erkämpfen (Medizin Populär, 2015).
Für die menschliche Entwicklung können u.a. vier zentrale Archetypen hervorgehoben werden, bei
denen es um die Auseinandersetzung mit verschiedenen Bereichen geht:
»
Der König/ die Königin steht für das väterliche/ mütterliche Prinzip, er/ sie ist Sinnbild für die Verantwortung für andere.
»
Der Liebhaber/ die Liebhaberin ist geprägt von großem Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Sensibilität. Er/ sie ist zu Hingabe und wahrer Liebe fähig.
»
Der Magier/ die Magierin bezieht sich auf die Sinnfragen des Lebens „Wer bin ich?
Woher komme ich? Wohin gehe ich?“ aber auch auf die „heilende Frau“ bzw. „den
weisen Alten“.
»
Der Krieger/ die Kriegerin betrifft die Auseinandersetzung mit der Aggressionsenergie in sich und mit der Aggression in der Welt. (Moore, 1992)
Fischedick (1992) beschreibt in seinem Buch „Der Weg des Helden“ den Archetyp des Kriegers und
die Möglichkeiten der Auseinandersetzung damit. Unter anderem sieht er den Gegenpol in der Opferhaltung. In dieser kreist die Aufmerksamkeit ständig um Angst, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und
Ohnmacht. Die Perspektive des Kriegers jedoch stellt das Übernehmen der Verantwortung für das
eigene Leben in den Vordergrund. Hier gilt es zu lernen sich durchzusetzen und zu verteidigen.
Besonders für Frauen ist es eine große Herausforderung, sich auf diese Auseinandersetzung, diesen
Kampf einzulassen, da viele diese Seite des Lebens fürchten. Im Krieg geht es wenig fürsorglich und
wenig rücksichtsvoll zu! Die Konfrontation mit der eigenen Angst, mit der Angst vor Verletzungen,
sowie mit Erinnerungen an bereits erlittene Verwundungen ist unausweichlich. Aber auch die Angst
vor der eigenen Stärke, vor der eigenen Wut und dem eigenen Hass wird sich bemerkbar machen.
Es kann daher sehr sinnvoll sein, der spürbaren Wut einen Ausdruck zu verleihen, was allerdings
meist von dem Schamgefühl „sich so gehen zu lassen“ nieder gehalten wird. Es fällt eben nicht leicht,
sich selbst mit so negativ bewerteten Impulsen ansehen zu müssen. Daher wird diese „Lektion des
Kriegers“ von vielen Menschen vermieden, mit dem Resultat, dass sie sich in vielen Situationen sehr
schwach und hilflos fühlen, wenn es z.B. im Alltag darum geht, bei einer Behörde ein Anliegen durchzusetzen (Fischedick 1992).
Es gilt also zu lernen, Verantwortung für uns selbst und unser Wohl zu übernehmen und Stärke zu
entwickeln. In der eigenen Verantwortung zu leben kann mit Lust aber auch mit Last verbunden sein,
-7-
kann als Freiheit und Ermächtigung, aber auch als Zumutung erlebt werden. Wer beginnt, eigenverantwortlich zu leben und der Stimme des eigenen existentiellen Gewissens zu folgen, muss auch damit rechnen, dass er mit Konventionen und Traditionen in Konflikt gerät.
Betrachtet man die Aggression aus wissenschaftlicher Sichtweise, so ist damit jedes Verhalten gemeint, das auf die Schädigung oder Verletzung eines Individuums abzielt. Schwerwiegende Formen
der Aggression werden als Gewalt bezeichnet (Nolting, 2005).
Ein wichtiges Merkmal der Aggression ist die „zielgerichtete“ Schädigung. In der Entwicklung kleiner
Kinder in den ersten zwei Lebensjahren sehen wir heftiges Schreien, Schlagen und Treten etc. als
ungezielten Affektausdruck. Dieses Verhalten richtet sich z.B. auf das „Haben-wollen“ eines Spielzeuges, aber nicht gegen eine Person und ist daher voraggressives Verhalten. Die deutliche Fixierung, die
Gerichtetheit auf die angegriffene Person entwickelt sich erst später. Wie wesentlich aber diese Intention ist, wird im Alltag und besonders vor Gericht deutlich. Hier wird auch von „Aggression“ gesprochen, wenn niemand zu Schaden gekommen ist, es jedoch beabsichtigt war (wenn z.B. der
Schuss daneben ging). Außerdem wird deutlich unterschieden zwischen aggressivem Verhalten (z.B.
schlagen, verspotten, beschimpfen, drohen) und aggressiver Emotion (z.B. Ärger, Groll, Zorn), welche
beide als Folge einer Provokation oder Frustration entstehen können (Nolting, 2005).
Für die Erklärung aggressiven Verhaltens gibt es verschiedene Theorien: Neben dem triebtheoretischen Ansatz von S. Freud und dem instinkttheoretischen Ansatz von K. Lorenz werden folgende Vertreter von lerntheoretischen Ansätzen vielfach zitiert:
Albert Bandura: Aggressives Verhalten wird durch Vorbildfunktion aggressiver Menschen gelernt
(Nolting, 2005).
Iwan Petrowitsch Pawlow: Ein neutraler Umweltreiz in Verbindung mit einem aggressionsauslösenden Reiz kann Auslöser von Aggression werden (Nolting, 2005).
Burrhus Frederic Skinner: Durch aggressives Verhalten hat man Erfolg, daher wird auch in Zukunft
wieder aggressiv gehandelt (Nolting, 2005).
Des Weiteren erklärt die Frustrations-Aggressions-Hypothese von John S. Dollard und Neal E. Miller,
dass aggressive Impulse durch Frustration entstehen, während das General Aggression Model (GAM)
von Craig A. Anderson und Brad J. Bushman verschiedene spezifischere Theorien zur Aggression zusammenfasst (Nolting, 2005).
Diese Erläuterung zum Aggressionsverständnis in der Wissenschaft erhebt keinerlei Anspruch auf
Vollständigkeit. Sie ist allenfalls als kleiner Auszug aus einer Vielzahl von Erklärungsmodellen zu verstehen.
-8-
2.3
Aggression - wozu?
2.3.1
Identitätsbildung
Laut Sigmund Freud und den von ihm entdeckten Abwehrmechanismen ist es für die Entwicklung des
Ichs wichtig, sein beginnendes Identitätsgefühl gegen störende Einflüsse von innen und außen zu
schützen (Fischedick, 1992). Bei jeder Begegnung mit Menschen erstellt unsere Psyche völlig autonom ein Bild von dieser Person. Dieses Bild entspricht wohl zu einem gewissen Teil der Wirklichkeit
des anderen Menschen. Auf jeden Fall entspricht es aber unseren unbewussten Bedürfnissen. Wir
sprechen dann von Projektion. Und wir projizieren immer! Ein Mensch, der in uns besonders angenehme Gefühle weckt, wird in Folge zu unserem Freund, zum Vertrauten, zum Geliebten. In ihn projizieren wir unsere Ideale und blenden seine Mängel und Schattenseiten aus. Somit können wir ihm in
Offenheit und ohne Angst begegnen. In einen anderen Menschen, der in uns unangenehme Gefühle
aufkommen lässt, projizieren wir alles an bösen Gedanken und Negativem, was in uns zu finden ist.
Daher können wir dann an ihm unsere ganze Ablehnung, Abneigung, unser moralisches Verurteilen
des Bösen ausleben und dürfen ihm quasi „ruhigen Gewissens“ als Feind begegnen. Projektionen
sind also einerseits Voraussetzung für Freund- und Feindbilder, andererseits ist durch sie überhaupt
erst Begegnung möglich. Sie ermöglichen sowohl Öffnung als auch Abgrenzung und damit fundamentale Erfahrung des eigenen Selbst. Feindbilder sind zwar eine Verzerrung der Wirklichkeit, aber sie
helfen anfangs sich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse mit Entschlossenheit in Handlungen umzusetzen (Pflüger, 1986). Besonders bei Kindern sehen wir dieses Verhalten in Form von Streit sehr
häufig, der von verschiedenen Beweggründen geprägt ist. So kann z.B. ein Kind sehr traurig oder
auch verärgert aus Kindergarten oder Schule heimkommen, will oder kann aber nichts über die Ursache seines Gefühls erzählen. Stattdessen beginnt es mit Eltern oder Geschwistern einen Streit wegen
irgendwelchen Lappalien nur um sich somit einen „erklärbaren“ Grund für das Weinen oder Trotzigsein zu schaffen. Ein andermal jedoch sucht das Kind Streit um sich zu erproben und sich zu messen.
Aus der Zeit der Pubertät kennen wir wohl alle die Zeiten, in denen wir durch Provokation und Streit
Grenzen ausloten mussten. Das Bewusstwerden der eigenen Stärke und verschiedenste Grenzerfahrungen brauchten wir um zu lernen, was es heißt Grenzen zu akzeptieren oder auch zu überschreiten. Dieser Entwicklungsprozess war, und ist auch noch heute, bei allen Jugendlichen geprägt von der
Identitätsfindung durch Abgrenzung.
2.3.2
Abgrenzung
„Zorn ist der gesunde, innere Impuls „Nein, danke“ zu etwas zu sagen, das uns nicht gut tut und nicht
mit der Wahrheit in Einklang steht. Er festigt die innere Autorität und die Fähigkeit zur Selbstbehaup-
-9-
tung. Natürlicher Zorn richtet sich niemals gegen andere Menschen oder Wesen und darf auch niemals dazu benutzt werden, jemandem Schaden zuzufügen.“ (Kessler, 2005, S. 192)
Diese Ausdrucksform im Sinne von „Nein, danke – das will ich nicht – hier ist meine Grenze!“ stellt
somit eine wichtige Möglichkeit zur Abgrenzung dar.
Wichtig hierfür ist allerdings die Erkenntnis, dass es in meiner Verantwortung liegt ein solches „Nein“
klar und deutlich – und vor allem rechtzeitig auszusprechen, noch bevor ich in etwas hineingezogen
werde, das nicht „mein Ding“ ist. Das heißt, es braucht unbedingt meine innere Zustimmung, damit
ich hier aktiv werden kann.
Bevor ich mich also z.B. über aufdringliche Nachbarn beklage, mache ich ihnen deutlich, dass mich
Tratsch und Klatsch nicht interessieren und ich meine Zeit lieber mit anderen Beschäftigungen
verbringe. Bevor ich in einem von plötzlichen Unruhen geschüttelten (Urlaubs-)Land Gefahr laufe
gekidnappt zu werden, storniere ich die bereits gebuchte Reise. Wenn ich nicht im richtigen Augenblick Nein zu sagen vermag, mache ich mich selbst zum Opfer der Umstände.
Unser natürliches Sicherheitsbedürfnis ermöglicht uns durch ein gesundes Maß an Achtsamkeit alltägliche Risiken abzuwägen. Überwiegt allerdings die Angst unsere Sicherheit zu verlieren, finden wir
uns meist entweder in einer Vermeidungshaltung oder sind blind für den Wink, der einer tatsächlichen Gefahr immer vorausgeht. Wenn wir achtsam wären, könnten wir dieser Gefahr mit einem Nein
entrinnen.
Eine solch ungesunde Grenzenlosigkeit kommt einer Begrenzung gleich: einer Begrenzung unserer
Verantwortung, unserer Würde, Autonomie und unserer eigenen schöpferischen Souveränität. In
unserer Wahrnehmung betritt sozusagen eine „andere Person“ unser Revier, breitet sich aus, beginnt über uns zu herrschen und zwingt uns ihr Denken und Fühlen, ihr Weltbild und ihre Überzeugungen auf. Durch diese Abgabe unserer Selbstverantwortung verlieren wir nicht nur unsere Macht
und Würde, sondern machen uns selbst zu Opfern. Damit nicht genug, denn wir ziehen dabei so gut
wie immer noch andere, meist uns nahestehende Menschen mit hinein wie z.B. unsere Kinder, Lebenspartner Familienmitglieder und Arbeitskollegen (Kessler, 2005).
2.4
Zusammenhänge von Aggressions-/ Triebenergie und den Depressionssymptomen
Die Depression wird in der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) (Dilling et al. 2011) der Gruppe F3 – affektive Störungen zugeordnet.
Sie ist einerseits Teil des Erscheinungsbildes der bipolaren affektiven Störung, andererseits wird sie
als depressive Episode sowie als rezidivierende depressive Störung in verschiedenen Schweregraden
beschrieben.
- 10 -
Da die klinischen Bilder, die der Depression zugeordnet werden, so vielfältig sind, spricht Mentzos
(2013) von der Gruppe der Depressionen. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes
„Depression“ (Bedrückung, gedrückte Stimmung) fasst er zusammen: „Tatsächlich ist die gedrückte
Stimmungslage, der depressive Affekt, der gemeinsame Nenner aller Variationen der Depression,
während die anderen Symptome unterschiedlich ausgeprägt sein können.“ (Mentzos 2013, S. 125)
Die nachfolgend angeführten Symptome laut ICD 10 (2011) können somit bei den verschiedenen
Formen der Depression in völlig unterschiedlicher Intensität auftreten oder auch ganz fehlen. Es sind
dies:
»
Antriebslosigkeit: Die Person kann sich für nichts begeistern, ist kaum zu motivieren
und kann sich auch selbst schwer oder kaum zum Handeln aufraffen.
»
Minderung der Konzentrationsfähigkeit: Müdigkeit, Traurigkeit und Pessimismus
beeinträchtigen die Aufmerksamkeit und verhindern oft auch das Treffen von Entscheidungen.
»
Ein- und Durchschlafstörungen oder frühmorgendliches Erwachen, dadurch andauernde Müdigkeit und Absinken der Leistungsfähigkeit.
»
Psychomotorische Hemmung: Die Körperbewegungen sind verlangsamt (manchmal
auch der Sprachfluss), die Person fühlt sich schwach und kraftlos, wodurch normale
Alltagstätigkeiten als enorme Anstrengung wahrgenommen werden. Physiologische
Körperfunktionen, wie z.B. die Verdauung, sind verlangsamt, der Gesichtsausdruck
ist ebenfalls verlangsamt oder ausdruckslos.
»
Fehlendes Interesse für die Außenwelt: Gesellschaftlicher Rückzug, Alltagstätigkeiten, wie z.B. einkaufen, arbeiten, können nur mit Mühe oder gar nicht mehr bewältigt werden.
»
Anhedonie: Unfähigkeit, Lust zu empfingen; die anhaltende, oft grundlose, Traurigkeit hindert die Person daran Freude zu empfingen, alles wird negativ gesehen.
»
Appetit- und Gewichtsverlust
»
Vermindertes Selbstwertgefühl
»
Libidoverlust
»
Selbstvorwürfe
»
Gefühl der Leere/ der Gefühllosigkeit
»
Schuldgefühle bis zum Versündigungswahn: wie z.B. „Ich bin der schlechteste
Mensch der Welt!“
»
Verarmungswahn: Z.B. die Angst, die Familie nicht mehr ernähren zu können.
»
Anklammerungstendenzen
- 11 -
»
Selbstdestruktivität bis zu Suizidalität
Die Kriterien der ICD 10 beschreiben sehr detailliert, je nach Schweregrad der depressiven Episode
bzw. der rezidivierenden depressiven Störung, wie viele der nachfolgend angeführten Symptome in
welcher Intensität der Ausprägung und über welchen Zeitraum bestehen müssen, um eine exakte
Diagnose erstellen zu können. Da für meine Forschungsarbeit die Symptome ausschlaggebend sind
und nicht die Diagnosen, werde ich letztere hier nicht näher anführen.
Um eine Verbindung von Aggressions-/ Triebenergie mit den Depressionssymptomen herzustellen,
kann davon ausgegangen werden, dass die Unterdrückung bzw. der fehlende Ausdruck dieser Energien Auswirkungen in irgendeiner Form mit sich bringt. Ein Umgang mit der Aggressions-/ Triebenergie wird im Laufe der Entwicklung und in der Interaktion mit der Umwelt (Familie, Freunde, Gesellschaft) mehr oder weniger gelernt bzw. erfahren. Allerdings gibt es eben auch viele Möglichkeiten
diese Energien zu unterdrücken oder abzuwehren. Für ein besseres Verständnis hierfür und zur genaueren Differenzierung greife ich hier auf das Modell der Abwehrmechanismen zurück:
2.4.1
Abwehrmechanismen
Die Definition der Abwehrmechanismen ist ein wesentliches Konzept der Psychoanalyse, dessen
Grundstein Sigmund Freud und seine Tochter Anna legten. Sie sind die Voraussetzung zur Bewältigung unbewusster psychischer Konflikte, dienen aber auch dem Schutz des psychischen Gleichgewichts und somit der Erhaltung unseres positiven Selbstwertgefühls (Freud, 2012).
Nachfolgend werde ich nun einige Abwehrmechanismen erläutern, die mit Aggressionsenergie in
Zusammenhang zu bringen sind, sowie Verbindungen zu den Depressionssymptomen herstellen.
Verdrängung:
Dies ist ein Abwehrmechanismus, der das Ich (bei Freud jener Teil der Persönlichkeitsstruktur, der für
das bewusste Denken, den kritischen Verstand, das Selbstbewusstsein steht) vor bedrohlichen Einflüssen schützen soll. Bei der Verdrängung wird daher alles, was nicht ins Weltbild passt kurzerhand
ignoriert (Freud, 2012).
So ist es zum Beispiel mit dem Gewissen nicht vereinbar, einen Elternteil zu hassen oder ihm Böses
zu wünschen. Dieser eigentliche Hass (= versteckte Aggression) wird nicht bewusst wahrgenommen
sondern verdrängt. So vermeidet es der Mensch in einen inneren Konflikt zu geraten. In Träumen
kann es allerdings dann vorkommen, dass man diese Aggression auslebt, indem z.B. der geliebten
Mutter Gewalt angetan wird.
- 12 -
Die Aggression ist jedoch eine Emotion (lat. „emovere“; herausbewegen, aufwühlen, in Bewegung
setzen), also eine Gemütsbewegung im Sinne eines Affekts, welche durch bewusstes oder unbewusstes Wahrnehmen von Ereignissen oder Situationen ausgelöst wird und meist nach außen gerichtet
ist. Eine Vermeidung dieser Form von Herausbewegen/ innerer Bewegung über einen längeren Zeitraum führt unweigerlich entweder zu einem Stau oder Stillstand der Emotion. Die gestaute Emotion
wird sich früher oder später z.B. in Wutausbrüchen oder aggressivem Verhalten entladen (= männliches Depressionssymptom, siehe 2.5) oder sich im Stillstand als ein Gefühl der Leere oder Gefühllosigkeit ausbreiten.
Somit ergeben sich mögliche Folgen und Auswirkungen der verdrängten Aggressionsenergie:
»
Schlafstörungen
»
Schuldgefühle
»
Selbstvorwürfe
»
Gefühl der Leere/ Gefühllosigkeit
»
Wutausbrüche/ aggressives Verhalten
Reaktionsbildung:
Bei dieser Form der Abwehr werden Gefühle, Triebe, Motive, die man fürchtet, durch gegenläufiges
Verhalten überdeckt. Diese Umkehr geschieht jedoch völlig unbewusst! Der „Freundliche“ weiß somit nichts mehr von seiner Wut, der „Kühle“ nichts mehr von seiner Lust und der „Fromme“ nichts
mehr von seiner Bosheit (Freud, 2012).
Es gibt viele Menschen, die scheinbar absolut keinen Zugang zu ihrer Aggressionsenergie haben und
stattdessen in allen Lebenslagen, ohne Ausnahme, immer „freundlich, lieb und nett“ sind. So bringt
z.B. die Sekretärin ihrem Chef mit zuckersüß lächelnder Miene seinen Kaffee, obwohl er sie einige
Minuten davor aufs Heftigste und völlig ungerechtfertigt beschimpft und zurechtgewiesen hat.
Eben diese Menschen berichten auffallend häufig von einem überdurchschnittlich hohen Schlafbedürfnis, Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, Appetitlosigkeit („…das schlägt mir auf den Magen!“)
und genereller Lustlosigkeit.
Mögliche Folgen umgekehrter Aggressionsenergie sind somit:
»
Minderung der Konzentrationsfähigkeit
»
Appetit- und Gewichtsverlust
»
Libidoverlust
- 13 -
Projektion
Bei der Projektion werden unbewusste Triebimpulse (wie z.B. die Aggressionsenergie), Wünsche,
Schuldgefühle, Ängste, aber auch eigene Schwächen und Fehler auf ‘Objekte’ in der Außenwelt übertragen. Solche Objekte können einzelne Personen, Personengruppen, Gegenstände oder Situationen
sein (Freud, 2012). So werden z.B. eigene Wut oder aggressive Impulse, die in unserer Gesellschaft
nicht gut geheißen werden, in andere hineinprojiziert. Und dann erklärt z.B. der Angeklagte auf die
Frage des Richters, warum er den ihm völlig fremden Mann niederschlug damit, dass dieser ihn so
provozierend angesehen hatte.
Mögliche Folgen projizierter Aggression sind daher:
»
Anhedonie
»
Vermindertes Selbstwertgefühl
»
Selbstvorwürfe
»
Schlafstörungen
»
Wutausbrüche/ aggressives Verhalten
Rationalisierung
Bei der Rationalisierung handelt es sich um ein verstandesmäßiges Rechtfertigen eines Verhaltens,
indem die wahren, aber nicht eingestandenen und vom Über-Ich nicht akzeptierten Motive (Beweggründe) ersetzt werden durch solche, die dem betreffenden Menschen für sich selbst und die andern
als annehmbar erscheinen (Freud, 2012). Wut und Zorn wird daher nicht ausgedrückt oder ausgelebt
mit der Erklärung „Das gehört sich nicht!“, „Das ist nicht gesund.“, „Gott würde mich dafür strafen!“
oder einfach „Ich möchte doch meine Mitmenschen nicht verärgern.“
Mögliche Folgen rationalisierter Aggression sind daher:
»
Schlafstörungen
»
Fehlendes Interesse für die Außenwelt
»
Somatische Beschwerden
»
Affekthandlungen (z.B. Wutausbrüche)
Konversion
Unter Konversion versteht man in der Psychoanalyse den Umschlag einer unerledigten Affektregung
(z.B. Aggression, Wut, Ärger, Angst, Schuldgefühl etc.) ins Körperliche (Somatische). Um sich psychischen Konflikten, Wut oder Ängsten nicht stellen zu müssen, werden sie verdrängt, zeigen sich jedoch als körperliche Symptome wie z.B. Erröten, Magenschmerzen, Herzklopfen, Migräne, Zittern
- 14 -
etc. Das Affektäquivalent ist eine besondere Form der Konversion. Hier regt sich der Körper anstelle
der Psyche, z.B. beim Wut- oder Angstzittern (Freud, 2012).
Beispiele einer Konversion sind stets vor Prüfungen auftretende Erkrankungen oder unwillkürliche
Bewegungen der Gliedmaßen. Die sich völlig taub anfühlende Haut der jungen Frau, wenn ihr Freund
sie berührt, obwohl sie gerne mit ihm schlafen würde. Oder ein gewissenhafter Angestellter, der vom
Chef gedemütigt wurde und am liebsten alles hinschmeißen würde. Stattdessen kann er am nächsten
Tag wegen einer Gangstörung nicht am Arbeitsplatz erscheinen.
Mögliche Folgen einer Konversion von Aggression, Wut oder Ärger:
»
Somatische Beschwerden
»
Vermindertes Selbstwertgefühl
»
Fehlendes Interesse für die Außenwelt
»
Appetit- und Gewichtsverlust
Autoaggression
Von Autoaggression spricht man, wenn eine Person eine nicht eingestandene oder nicht akzeptierbare Aggression gegen einen anderen in eine Aggression gegenüber sich selbst verwandelt. So wird der
Konflikt mit der Person, gegen die sich die Aggression richtet, vermieden (Freud, 2012).
Man verhindert so sich unbeliebt zu machen, manchmal erntet man sogar Zuwendung und Aufmerksamkeit. Die Tochter, die sich über ihre Mutter maßlos ärgert, verletzt sich selbst mit einem Messer
am Bein. Um diese Wunde zu versorgen, bedarf es der Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Oder
die Angestellte, die sich, nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Chef, selbst die Haare rauft und
ohrfeigt, obwohl sie sich viel lieber auf ihn stürzen würde. Da dieses Verhalten aber ihre Existenzgrundlage – ihren Job – gefährden könnte wird die Aggression in Autoaggression umgewandelt.
Mögliche Folgen der Autoaggression sind daher:
2.5
»
Selbstdestruktivität bis zu Suizidalität
»
Vermindertes Selbstwertgefühl
»
Schlafstörungen
Aktueller Stand der Forschung
Laut einer Studie des österreichischen Instituts für medizinische Statistik (IMS Health), die vom Jänner bis Dezember 2001 durchgeführt wurde, liegen die Depressions-Diagnosen nach dem Befund
„Bluthochdruck“ (6,4 Millionen Mal erstellt) mit 1.979.000 Befunden an zweiter Stelle. Etwa 17 Prozent der Bevölkerung erleben zumindest ein Mal im Leben eine Depression, wobei Frauen doppelt so
häufig betroffen sind (sciencev1B, 2015).
- 15 -
Betrachtet man die Diagnosen der häufigsten psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen so
wurde die Diagnose „depressive Episode“ nahezu 5 mal häufiger festgestellt als z.B. andere Angststörungen, affektive Störungen, Schizophrenie und Schlafstörungen (sciencev1B, 2015).
Diese allgemeinen Angaben spiegeln sich auch in einer Statistik der psychiatrischen Abteilung des
Klinikums Wels-Grieskirchen wider. Hier wurden die psychiatrischen Hauptdiagnosen aller Patient/Innen aus den Jahren 2004 bis 2012 nach den Diagnosegruppen der Kategorie F (Psychische und
Verhaltensstörungen) der ICD10 zusammengefasst und ausgewertet. Unter F3 sind somit sämtliche
affektive Störungen zusammengefasst, d.h. neben der großen Gruppe der depressiven Episode und
der rezidivierenden depressiven Störung auch die bipolare affektive Störung, die manische Episode,
anhaltende affektive Störungen sowie andere affektive Störungen. Diese hausinternen Zahlen wurden von der Controllingabteilung des Klinikums Wels-Grieskirchen zur Verfügung gestellt:
35%
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0%
F0
F1
F2
F3
F4
F5
F6
F7
F8
F9
Tabelle 1: Häufigkeit der Hauptdiagnosen der Kategorie F in %
Legende zu Tab.1:
F0: Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (z.B. Demenz, Delir)
F1: Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
F2: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
F3: Affektive Störungen
F4: Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen
F5: Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
F7: Intelligenzminderung
F8: Entwicklungsstörungen
F9: Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Die hohe Zahl der Depressionsdiagnosen, die sich zusammensetzt aus „depressiven Episoden“ und
„rezidivierenden depressiven Störungen“, fällt hier auch innerhalb der Gruppe der „affektiven Störungen“ auf.
- 16 -
Bei einer geschlechtsspezifischen Aufteilung wird deutlich, dass in Summe weit mehr Frauen an Depressionen erkranken als Männer. So ist, laut Statistik, jede vierte Frau aber „nur“ jeder zehnte Mann
einmal im Leben davon betroffen (sciencev1 A, 2015).
männlich
33 %
weiblich
67%
Tabelle 2: Aufteilung der affektiven Störungen (geschlechtsspezifisch)
Legende zu Tab.2:
F32: depressive Episode
F33: rezidivierende depressive Störung
Alle anderen F: manische Episode, bipolare affektive Störung,
anhaltende und andere affektive Störungen.
Umso erstaunlicher ist daher das Ergebnis meiner Suche nach Studien und Forschungsergebnissen
bezüglich der Bedeutung von Aggression für die Entstehung von Depression. Wenn es überhaupt
Forschungen auf diesem Gebiet gibt, dann geschlechtsspezifisch ausdrücklich Männer betreffend
(siehe z.B. „National Comorbidity Survey Replication“ S.18). Aggression wird offensichtlich den Männern zugeordnet, Frauen werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt! Des Weiteren beziehen
sich die Forschungen nahezu ausschließlich auf die Aggression als Ausdrucksform der Depression bei
Männern. D.h. Wutausbrüche und aggressives Verhalten werden sozusagen als spezifisch männliche
Symptome der Depression gesehen, während Antriebslosigkeit, Interessens- und Gefühllosigkeit zur
„typisch“ weiblichen bzw. allgemeinen Symptomatik zählen. Diese Differenzierung erinnert nun wieder ganz deutlich an die oben beschriebene Aggressions- und Triebenergie in Verbindung mit Ares
und Dionysos (siehe Kapitel 2.2).
In einer US-weiten Umfrage wollten Forscher der Universität von Michigan in Dearborn Gründe für
die unterschiedlichen Lebenszeitprävalenzen (= Häufigkeit der Erkrankung) bei Männern und Frauen
- 17 -
erforschen. Im Rahmen der „National Comorbidity Survey Replication“ wurden 2382 Männer und
3310 Frauen befragt. Dabei stellte sich heraus, dass Männer mit Depressionen eher als Frauen über
Wutattacken/Aggressionen (95 versus 88 Prozent), Drogengebrauch (61 versus 41 Prozent) und riskantes Verhalten (53 versus 29 Prozent) berichten, auch wenn zudem traditionelle Symptome wie
depressive Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebsverminderung und Schlaflosigkeit
angegeben werden. Wurde in der Untersuchung ein Testsystem angewandt, dem männerspezifische
Symptome zugrunde lagen (Male Symptoms Scale), war die Rate der Depressionen bei den Männern
höher als bei den Frauen (26 versus 22 Prozent). Nutzten die Forscher dagegen zum Vergleich ein
System, das sowohl traditionelle Symptome als auch alternative, männerspezifische Symptome berücksichtigt, waren die Prävalenzen, mit 31 Prozent bei den Männern und 33 Prozent bei den Frauen
nahezu gleich (archpsyc.jamanetwork, 2015).
Allerdings stellt sich hier auch die Frage, ob die Aggression wirklich ein Symptom der Depression ist,
oder ob es sich nicht vielmehr umgekehrt verhält. Könnte es nicht sein, dass nämlich unterdrückte
Aggressionen auf Dauer depressiv machen? Wenn sich diese aufgestaute Aggression dann bei einem
als depressiv geltenden Menschen entlädt, sieht das natürlich so aus, als wäre die Depression die
Ursache der Aggression. Dabei war es genau umgekehrt.
- 18 -
3
Bewegungsanalyse
Zur genauen Beobachtung und Analyse von Bewegungen möchte ich 2 große Systeme erwähnen;
einerseits die Laban Bewegungsanalyse (LBA), entwickelt von Rudolf von Laban, andererseits das
Kestenberg Movement Profile (KMP), welches Judith Kestenberg aus der LBA entwickelte. Während
die Laban Bewegungsanalyse aus der Beobachtung von Erwachsenen entwickelt wurde, fügte Judith
Kestenberg ihre Beobachtungen von Säuglingen und Kindern dem noch hinzu, wodurch ein weiterer
Schwerpunkt auf die Entwicklung von Bewegung gelegt wurde. Des Weiteren werden mit Hilfe des
KMP Alltagsbewegungen beschrieben, somit ist es nicht notwendig, dass die KlientInnen/ PatientInnen bestimmte Bewegungsaufgaben erfüllen müssen. Die Interpretation ermöglicht das Erkennen
von Ressourcen sowie des Fehlens von Bewegungsqualitäten (Bender, 2007).
Für die Auseinandersetzung mit der Aggressionsenergie ist die Kategorie der Antriebe und somit die
innere Beteiligung von Bedeutung. Da sich diese Kategorie aber aus den Vorantrieben und den Spannungsflusseigenschaften entwickelt, möchte ich, aus entwicklungspsychologischer Sicht, von vorne
beginnen. Ich werde nur die, für diese Arbeit relevanten Kategorien, erwähnen um einen knappen
Überblick zu gewähren. Genauere Einzelheiten können im Handbuch „Die psychophysische Bedeutung der Bewegung“ von Susanne Bender nachgelesen werden.
3.1
Bewegungsfluss – Spannungsfluss
„Bewegungs- oder Spannungsfluss ist der Wechsel von Muskelspannung im Körper. Der grundlegende
Rhythmus ist ein Wechsel von gebundener, kontrollierter und freier, unkontrollierter Spannung in der
Bewegung.“ (Bender 2007, S.9)
Der Bewegungsfluss, unterteilt in die Elemente gebunden und frei, ist sozusagen die Grundlage dafür, dass wir uns mit Genauigkeit und Kontrolle bewegen können (Bender, 2007).
Gebunden:
Gebundene Bewegungen sind kontrolliert, geführt und können jederzeit gestoppt werden. Sie werden auch zur Unterdrückung von scheinbar gefährlichen Gefühlen eingesetzt (z.B. Wut). Der gebundene Fluss scheint von der Peripherie zur Körpermitte zu strömen. Wird der Bewegungsfluss vollständig kontrolliert, kommt es zu einer Körperstarre, die schließlich Bewegung verhindert. Bei psychisch erkrankten Menschen ist häufig sehr viel gebundener Fluss zu beobachten. Sie versuchen so
ihre außer Kontrolle geratenen Gefühle zu überwachen und somit die Kontrolle über sich und ihr
Leben zu behalten (Bender, 2007).
- 19 -
Aggressionsenergie, die meist in kämpferischer, zielgerichteter und somit kontrollierter Art ausgedrückt bzw. –agiert wird (siehe 2.1), zeigt sich meist in gebundenem Bewegungsfluss.
Frei:
Freie Bewegungen können nicht jederzeit gestoppt werden, fließen meist von der Körpermitte in die
Peripherie und ermöglichen einen ungehemmten Ausdruck. Freier Fluss zeigt sich besonders im Ausdruck von Glücksgefühlen, die von Leichtigkeit, Sorglosigkeit und Wohlbefinden geprägt sind. Er befreit den Bewegungsimpuls von der Kontrolle, lässt somit Spannung los und zeigt eine gewisse Sicherheit der Person im Ausdruck ihrer Gefühle (Bender, 2007).
Triebenergie in ihrer Überschwänglichkeit, Grenzenlosigkeit, im „Rasend vor Wut sein“ oder im
Suchtverhalten (siehe 2.1) ist geprägt von freiem Bewegungsfluss.
3.2
Spannungsflusseigenschaften (SFE)
„Spannungsflusseigenschaften (SFE) beschreiben verschiedene Möglichkeiten des Wechselspiels von
gebundenem und freiem Spannungsfluss, um Gefühle und Temperament zu regulieren und zu kontrollieren.“(Bender 2007, S. 16)
Hohe Intensität:
Eine hohe Intensität des Spannungsflusses entsteht dann, wenn durch intensive Gefühle ein sehr
‚freier’ oder ein sehr ‚gebundener’ Fluss erzeugt wird. Solche Menschen können ihre Gefühle und
Bedürfnisse intensiv ausdrücken und stehen voll im Leben (z.B. Extremsportler). Die Kombination
‚freie, hohe Intensität’ lässt Gefühle oder Bewegungen überschwänglich und wild wirken. Kontrollverlust, körperliches und verbales Entgleisen sowie ein stark schwankendes Gefühlsleben (von überglücklich bis furchtbar entsetzt) können hier beobachtet werden. Wohingegen Menschen mit ‚gebundener hoher Intensität’ eher angespannt bis hin zu völlig bewegungslos erscheinen. Sie sind meist
sehr leidenschaftlich oder aber wütend, ängstlich, beunruhigt (Bender 2007).
Niedrige Intensität:
Niedrige Intensität im Spannungsfluss bedeutet, dass wenig Energie in der Bewegung steckt. Sie
zeigt sich in sanftem, stillem, scheuem Verhalten. ‚Freie niedrige Intensität’ spiegelt ein sanftes, entspanntes Gefühl wider und charakterisiert Personen, die keine starken Gefühle spüren sondern alles
eher leicht und ruhig nehmen. Viel ‚gebundene niedrige Intensität’ erzeugt Vorsicht und Hemmung
(Bender 2007).
- 20 -
3.3
Vorantriebe (VAN)
Die Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter verläuft von einer nach innen gerichteten zu einer
nach außen gerichteten Aufmerksamkeit. Somit bilden die Vorantriebe eine Verbindung zwischen
den Spannungsflusseigenschaften (dem inneren Fokus auf die Muskeltätigkeit) und den Antrieben
(den Fähigkeiten mit der Außenwelt umzugehen) (Bender 2007).
Vorantriebe sind Bewegungen, die mit einer inneren Anstrengung, Besorgnis oder Vermeidung bezüglich der Raumaufmerksamkeit, der Absicht des Krafteinsatzes und des Erspürens des richtigen
Zeitpunktes gemacht werden. Man kann solche Bewegungen überall dort beobachten, wo jemand
etwas Neues ausprobiert, etwas lernt, unangenehme Gefühle abwehren möchte, sich in Aufregung
oder in einer Stresssituation befindet. Die Person ist innerlich beschäftigt, d.h. die Konzentration geht
eher nach innen. Wenn z.B. beim Erlernen einer neuen Sportart die Bewegungen schließlich automatisiert sind, werden sie zu Antrieben und wirken dann effektiv und geschickt. D.h. aus den Vorantrieben entwickeln sich die Antriebe (Bender 2007).
Die Vorantriebe werden unterteilt in die 3 Kategorien
-
Raum (kanalisieren/ flexibel)
-
Kraft (vehement, angestrengt/ vorsichtig)
-
Zeit (plötzlich/ zögerlich) (Bender 2007)
Ist die nötige Intention für die Kraft-Antriebe ‚stark’ bzw. ‚leicht’ nicht vorhanden, sehen wir die Vorantriebe vehement, angestrengt und vorsichtig.
Vehement, angestrengt:
Vehemente oder angestrengte Bewegungen sieht man, wenn jemand versucht mit ‚hoher Intensität’
(SFE) seiner Intention Ausdruck zu verleihen, wobei zwar viel Energie aufgewendet wird aber die
gewünschte Wirkung ausbleibt. Vehement oder angestrengt ausgedrückte Gefühle wirken meist
überschwänglich, verherrlichend oder abschreckend. Für erfolgreiche Problemlösung und Frustrationstoleranz ist Vehemenz und Anstrengung wiederum sehr hilfreich, ebenso zur Abwehr aggressiver
Impulse (Dampf ablassen, ohne jemandem etwas anzutun) (Kestenberg-Amighi et al. 1999 in Bender
2007).
Vorsichtig:
Den Vorantrieb ‚vorsichtig’ sieht man, wenn der Versuch etwas mit ‚niedriger Intensität’ (SFE), sehr
behutsam zu tun, ungeschickt wirkt (z.B. ein Zweijähriger, der sehr ‚vorsichtig’ versucht ein Baby zu
- 21 -
streicheln, wobei ihm die nötige Sanftheit der Bewegung noch nicht recht gelingen mag). Auch beim
Versuch jemanden zu trösten oder zu beruhigen kann die Unsicherheit, ob es für die Person angenehm ist, zum ‚vorsichtigen’ Handeln führen. Hilfreich ist dieser Vorantrieb für leichtes Lernen, um an
der Oberfläche zu bleiben (damit keine starken Gefühle hervorgerufen werden) und um sich Situationen oder Aufgaben vorsichtig zu nähern. Außerdem kann es auch zur Ablenkung von eigenen Aggressionen verhelfen, um sich nicht zu sehr auf etwas einzulassen und somit keine tieferen Gefühle
auszulösen. Im oben bereits erwähnten Abwehrmechanismus „Reaktionsbildung“ spielt die ‚Vorsicht’
ebenso ein wichtige Rolle. Hier werden eigene aggressive Gefühle kaschiert indem sich die Person
betont nett präsentiert (Kestenberg-Amighi et al. 1999 in Bender 2007).
3.4
Antriebe (ANT)
Die Antriebe zeigen unsere innere Einstellung und Auseinandersetzung mit den physikalischen Gegebenheiten von Raum, Kraft und Zeit. „Von daher sind die Antriebe der Höhepunkt der Entwicklung der
zunehmenden Kontrolle über die Bewegung, die zu der Fähigkeit führt, sich auf die Umwelt zu konzentrieren und in ihr zu wirken.“ (Bender 2007, S. 43)
Die 4 Antriebsfaktoren laut Laban sind -
der Bewegungsfluss (gebunden/ frei)
-
der Raum (direkt/ indirekt)
-
die Kraft (stark/ leicht)
-
die Zeit (schnell/ getragen) (Bender, 2007)
Da Laban hauptsächlich Erwachsene beobachtet hat, sah er den Bewegungsfluss als ein Element der
Antriebe. Kestenberg erkannte jedoch in ihrer Beobachtung von Neugeborenen und Kleinkindern,
dass es diesen noch nicht möglich ist, ihre Bewegungen so zu organisieren und mit voller innerer
Beteiligung durchzuführen, dass sich daraus eine Veränderung bezüglich der Einstellung zu Raum,
Kraft und Zeit ergibt. Daher löste sie den Bewegungsfluss aus den Antrieben heraus und sah ihn als
Grundlage für die Spannungsflusseigenschaften (siehe Kap. 3.1) (Bender 2007).
Der Antriebsfaktor Kraft bedingt die Wahrnehmung des eigenen Körpergewichts, um die Qualitäten
stark und leicht des Krafteinsatzes verändern zu können. „Das abwechselnde Auftreten von Stärke
und Leichtigkeit in der Bewegung zeugt von gut entwickelter Intentionalität, Festigkeit des Vorsatzes
und Willensstärke.“ (Bender 2007, S. 55).
- 22 -
Stark:
Der Antrieb stark ist z.B. beim Heben oder Schieben von sehr schweren Dingen zu beobachten, wenn
es um den Einsatz der eigenen Körperkraft geht. Aber auch im Gespräch kann der eigene Standpunkt
durch eine ‚starke’ Geste (mit dem Fuß aufstampfen) unterstützt werden (Bender 2007).
Leicht:
Beim Antrieb leicht wird das eigene Körpergewicht zurückgehalten, wenn es um eine besonders vorsichtige Handlung geht (Glasscherben aufheben). In der Kommunikation können ‚leichte’ Gesten
(sanftes Streicheln, leichtes Klopfen der Finger) sowie Humor und Diplomatie beobachtet werden
(Bender 2007).
- 23 -
4
Methodik
Im Rahmen meiner Anstellung als Tanztherapeutin am Klinikum Wels-Grieskirchen auf der Abteilung
für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin konnte ich die für diese Arbeit erforderlichen Beobachtungen sammeln. Die psychiatrische Abteilung besteht aus der Allgemeinpsychiatrie (44 Betten
aufgeteilt auf 2 Stationen), der Akutpsychiatrie (15 Betten) und der Tagesklinik (10 Plätze). Außerdem
zählt noch die Demenzstation (16 Betten) dazu. Im Rahmen meiner Teilzeitanstellung betreue ich nur
die stationären und die tagesklinischen PatientInnen, nicht die PatientInnen der Demenzstation.
Die PatientInnen werden von den FachärztInnen zu den verschiedenen Therapien (Physio-, Ergo-,
Musik- und Tanztherapie) zugewiesen. Besonders bei der Tanztherapie geschieht dies entweder auf
Anraten der ÄrztInnen, auf meine Empfehlung oder aber auch auf ausdrücklichen Wunsch der PatientInnen. Mir obliegt dann die Einteilung in verschiedene Gruppen bzw. zu Einzelstunden, sofern
letzteres nicht ohnehin per Zuweisung ausdrücklich gewünscht ist. Die tagesklinische Gruppe findet
einmal pro Woche statt, die beiden stationären Gruppen zweimal wöchentlich.
Da sich meine ursprüngliche Absicht, die PatientInnen nach Diagnosen in Gruppen einzuteilen, aufgrund der jeweils zu geringen Anzahl nicht gut umsetzen lässt, ist mein Haupteinteilungskriterium
Alter bzw. Beweglichkeit der PatientInnen. Die Gruppengröße begrenze ich auf maximal 6 Personen.
Jede Patientin und jeder Patient hat einen eigenen Wochentherapieplan, auf dem sämtliche Therapietermine eingetragen werden. Somit liegt es in der Eigenverantwortung der PatientInnen an ihren
Therapien teilzunehmen und sich im Falle etwaiger Verhinderung bei den TherapeutInnen oder beim
Pflegepersonal zu melden. Wenn nötig, erhalten die PatientInnen dabei selbstverständlich Unterstützung.
Der Tanztherapieraum ist ein multifunktioneller Therapieraum und daher den meisten PatientInnen
bereits aus anderen Settings bekannt.
Für die Auswertung dieser Arbeit wählte ich ausschließlich stationäre PatientInnen (5 Frauen, 5 Männer) aus. Um möglichst aussagekräftiges Beobachtungsmaterial zu sammeln, filmte ich jeweils ganze
Therapiestunden. Vorher erklärte ich den PatientInnen, dass ich die Aufzeichnungen ausschließlich
für mich persönlich für diese Arbeit verwende, und dass sie nach erfolgter Auswertung wieder gelöscht werden. Erst nach ausdrücklicher Zustimmung aller Anwesenden schaltete ich die Kamera ein,
was meistens – aber eben nicht immer – der Fall war. Wenn PatientInnen mit psychotischen Symptomen in der Gruppe waren, nahm ich gänzlich Abstand vom Filmen um einem eventuellen Einbauen in die bzw. Verstärken der Wahnsymptomatik vorzubeugen (z.B. Gedanken wie „Hier sind überall
Kameras zu meiner Überwachung versteckt!“ oder „Diese Aufzeichnung wird später sicher manipuliert und gegen mich verwendet!“ etc.).
- 24 -
Für die Bewegungsbeobachtung wählte ich aus dem Filmmaterial pro Person 10 Minuten, in denen
sie zum einen gut im Bild zu sehen (was bei mehreren, sich bewegenden Personen im Raum und einer fix stehenden Kamera nicht immer leicht war) und zum anderen in irgendeiner Form in Bewegung war. Bei der Beobachtung des Spannungsflusses geht es generell nicht um die korrekte Ausführung einer Bewegung, sondern um die Regulation und Kontrolle der Gefühle. Daher schien es mir
nicht von Bedeutung für alle exakt die gleichen Bewegungsimpulse zu geben. Vielmehr wählte ich
jene Bewegungssequenzen, in denen die PatienInnen nahezu bis völlig frei im Gestalten ihrer Bewegungsabläufe waren. Somit ergaben sich einerseits durchgehende Beobachtungssequenzen von jeweils 10 Minuten, andererseits Sequenzen, die sich aus 2 bis 3 kürzeren Teilen zusammensetzen.
Zu Beginn schien mir ganz klar, dass ich für die Bewegungsbeobachtung die Kraftantriebe „stark“ und
„leicht“ wähle. Es ist ja auch sehr naheliegend Aggression mit einem hohen Krafteinsatz in Verbindung zu bringen. Aber beim Filmen der PatientInnen wurde mir sehr schnell klar, dass ich diesen
Krafteinsatz vergeblich suchen werde, da die Kraftantriebe – und somit der Krafteinsatz - eine innere
Beteiligung, ein gezieltes Vorhaben, eine Absicht voraussetzen, welche depressiven Menschen aber
meist fehlt.
Vorantriebe wiederum können überall dort beobachtet werden, wo etwas Neues gelernt wird, unangenehme Gefühle verdrängt werden wollen oder Stresssituationen entstehen. Die PatientInnen der
Psychiatrie befinden sich fast ausnahmslos in Situationen, die sie stressen, wo sie Unangenehmes
verdrängen wollen und eventuell sogar neue Verhaltensmuster lernen. So gesehen wären die Vorantriebe der Kraftintention für die Regulation unterdrückter Aggression nicht aussagekräftig.
Durch diese Überlegungen kam ich schließlich zu dem Entschluss, mich bei der Bewegungsbeobachtung auf den Bewegungs- bzw. Spannungsfluss zu konzentrieren, da dieser jedem Menschen von
Geburt an, sozusagen als persönliches Grundtemperament, zur Verfügung steht. Der Wechsel von
gebundenem und freiem Fluss kann bei jedem Menschen beobachtet werden. Die Spannungsflusseigenschaften beschreiben die Art und Weise, wie Gefühle und Temperament individuell reguliert
werden. Um auf der Entwicklungsebene zum Kraftantrieb zu bleiben, habe ich mich entschieden, die
Spannungsflusseigenschaften ‚hohe Intensität’ und ‚niedrige Intensität’ sowie den Spannungs- bzw.
Bewegungsfluss ‚gebunden’ und ‚frei’ zu beobachten. Dabei wählte ich für die Spannungsflusseigenschaften die Minute als Beobachtungseinheit, d.h. eine Minute entspricht einer Einheit hoher bzw.
niedriger Intensität. Für die Beobachtung von freiem und gebundenem Fluss wählte ich die Anzahl
der Wechsel von dem Einen zum Anderen.
- 25 -
4.1
Beobachtung
Wie bereits oben erwähnt, wurden 10 PatientInnen beobachtet: 5 Frauen und 5 Männer.
Hier folgt eine Auflistung der Personen mit den Kategorien Alter und Diagnose, gefolgt von der zahlenmäßigen Auswertung der Bewegungsbeobachtung. Die Interpretation folgt im nächsten Kapitel.
1. Herr A.: 26 Jahre
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 10
frei: 9 (teilweise lang anhaltend, insg. überwiegend)
2. Frau B.: 42 Jahre
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 10
frei: 8 (oft lang anhaltend)
3. Herr C.: 58 Jahre
Schwere depressive Episode (F 32.2)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 4
frei: 1
4. Frau G.: 54 Jahre
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 6
frei: 5
5. Herr H.: 58 Jahre
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode (F 33.2)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
- 26 -
gebunden: 4
frei: 3 (nur ganz kurz in Händen und Beinen)
6. Herr M.: 53 Jahre
Mittelgradige depressive Episode (F 32.1)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 12
frei: 10 (eher kurz)
7. Frau N.: 71 Jahre
Schwere depressive Episode (F 32.2)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 5
frei: 4 (nur ganz kurz in Armen oder Beinen)
8. Frau O.: 39 Jahre
Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode (F 33.2)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 8
frei: 4
9. Frau P.: 78 Jahre
Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F 32.3)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 6
frei: 3
10. Herr S.: 45Jahre
Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F 32.3)
niedrige Intensität: 10
hohe Intensität: 0
gebunden: 14
frei: 11
- 27 -
Übersicht aller 10 PatientInnen
Tabelle 3: Übersicht Spannungs- und Bewegungsfluss
Intensität
Tabelle 4: Übersicht Spannungsflusseigenschaften
- 28 -
Zusammengefasst ergeben sich folgende Zahlen:
FRAUEN:
niedrige Intensität: 50
hohe Intensität: 0
gebunden: 35
frei: 24
MÄNNER:
niedrige Intensität: 50
hohe Intensität: 0
gebunden: 44
frei: 34
GESAMT:
niedrige Intensität: 100
hohe Intensität: 0
gebunden: 79
frei: 58
Tabelle 5: Gesamtübersicht
- 29 -
5
Auswertung/ Interpretation
Im Rahmen dieser Arbeit gehe ich der Frage nach, wie depressive Menschen unterdrückte Aggression
in ihrem Bewegungsverhalten regulieren. Natürlich ist die Aggression nur eine kleine und nicht alleine ausschlaggebende Komponente einer Depression und ihrer Entstehung. Die Ergebnisse können
außerdem auch wegen der geringen Anzahl der Testpersonen nicht repräsentativ sein.
Der Zusammenhang von Aggression und Depression ist noch sehr wenig erforscht. Aber in Hinblick
darauf, dass die Aggressions- und Triebenergie in uns Menschen als Teil unserer Psyche vorhanden
ist, widme ich diesem Thema gezielt Aufmerksamkeit. Daher betrachte und beobachte ich die PatientInnen eben aus dem Blickwinkel der Aggression und komme damit zu folgenden Rückschlüssen und
Hypothesen:
5.1
hohe/ niedrige Intensität
Die auffälligste Beobachtung ist wohl jene, dass sich alle PatientInnen durchgehend und ohne Unterbrechung in niedriger Intensität bewegten. Hohe Intensität war bei niemandem in der Bewegung
sichtbar. Bei Einzelnen fiel allerdings zeitweise ein stark angespannter, gehaltener Rumpf auf, der
durchaus einer hohen Intensität zugeordnet werden kann. Tatsächlich konnte diese Beobachtung bei
Herrn C, Herrn H, Frau N, Frau O und Herrn S gemacht werden, wobei bei Herrn S zeitweise sowohl
der Rumpf als auch die Arme betroffen waren. Auffallenderweise sind dies ausnahmslos PatientInnen
mit schweren depressiven Episoden. Nur Frau P, die auch eine schwere depressive Episode hat und
zudem mit 71 Jahren die älteste Patientin der Beobachtungsgruppe ist, schien im Bereich des Rumpfes relativ gut beweglich zu sein und überraschte immer wieder mit erstaunlich grazilen und eleganten Bewegungen. Frau P war in ihrer Jugend begeisterte Bodenturnerin und Eiskunstläuferin. Ihr Körper hat sichtlich viele der damals intensiv trainierten Bewegungsabläufe gespeichert und verinnerlicht, sodass zahlreiche Bewegungen der kleinen, zierlichen Frau – trotz altersbedingter Bewegungseinschränkungen und -unsicherheiten – äußerst anmutig, graziös und leicht wirkten.
Von den anderen PatientInnen gab nur Herr S häufige sportliche Aktivität, nämlich Langlaufen und
Radfahren, an. Die übrigen 4 PatientInnen mit schweren depressiven Episoden gaben keine besondere sportliche bzw. körperliche Aktivität in ihrer Vergangenheit an, was möglicherweise Auswirkungen
auf die Körper- bzw. Rumpfanspannung während der depressiven Episode haben könnte.
Sieht man sich nun die 6 PatientInnen mit schweren depressiven Episoden an, so fällt auf, dass bei 4
PatientInnen teilsweise eine hohe Intensität im angespannten Rumpf zu beobachten war. Bei Frau P
und Herrn S, beide haben eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen, verhält es
sich – wie schon erwähnt – etwas anders. Bei Herrn S sind zusätzlich zum Rumpf teilweise auch noch
die Arme stark angespannt, während bei Frau P keinerlei hohe Intensität zu erkennen ist, trotz sport-
- 30 -
licher Aktivität in der Vergangenheit also ein sehr konträres Bewegungsverhalten. Hier könnte weiter
nach möglichen Ursachen geforscht werden: Hat eventuell die Zeitdauer und Intensität der sportlichen Aktivität (z.B. bereits als Kind regelmäßig trainiert oder erst im Erwachsenenalter praktiziert)
Einfluss auf das Bewegungsverhalten während der Erkrankung? Oder ist die Schwere der Erkrankung
in Kombination mit der Persönlichkeit / des Charakters des Patienten (z.B. auch der Umgang mit Aggression) von Bedeutung? Oder ist es vielleicht auch ein Charakteristikum bei PatientInnen mit dieser
Diagnose, dass sie auffallend konträre Bewegungsverhalten zeigen? Oder ist diese Beobachtung nur
Zufall? Dafür würde es wohl noch sehr viel ausführlicherer Forschung mit einer weit größeren Anzahl
von Probanden bedürfen.
Hohe Intensität
Bewegungen in hoher Intensität zeigen einen intensiven Gefühlsausdruck, wirken sehr kraftvoll und
manchmal auch theatralisch, überschwänglich oder außer Kontrolle. Menschen, die sehr viel hohe
Intensität in ihrem Bewegungsverhalten zeigen, können ihre Gefühle und Bedürfnisse intensiv ausdrücken und stehen voll im Leben. Da bei keiner/m der PatientInnen hohe Intensität im Bewegungsfluss zu sehen war, kann angenommen werden, dass ihnen allen der Ausdruck ihrer Gefühle und
Bedürfnisse schwer fällt.
Was die hohe Intensität einzelner Körperteile, besonders des Rumpfes, betrifft, so kann davon ausgegangen werden, dass die Person versucht, auf diese Art und Weise intensive Gefühle wie Angst,
Ärger und/ oder Schmerz zu kontrollieren.
Die hohe Intensität lässt sich am naheliegendsten mit der Aggressionsenergie in Verbindung bringen,
da diese sehr hochenergetisch und kraftvoll ist, wobei natürlich auch alle anderen Gefühle sehr intensiv und mit hoher Intensität ausgedrückt werden können. Im Normalfall ist ein Gefühlsausdruck in
hoher Intensität davon geprägt, dass der gesamte Körper daran beteiligt ist. Bei einem Wutanfall ist
es z.B. sehr unwahrscheinlich, dass nur der Oberkörper tobt, die Beine jedoch völlig locker und entspannt bleiben. Ebenso wird jemand, der ganz enthusiastisch und begeistert von einem wundervollen Ereignis erzählt, sprichwörtlich mit Händen und Füßen sprechen und somit den gesamten Körper
involvieren.
Die auffallende Spaltung im Körper von hoher Intensität (an gebundenem Fluss) im Rumpf und niedriger Intensität in den Extremitäten bei den PantientInnen mit schwerer depressiver Episode (ohne
psychotische Symptome) könnte auch auf einen inneren Konflikt hinweisen. Möglicherweise geht es
um eine Spannung im Körperinneren, die nicht veräußerlicht wird oder werden soll und daher in
einzelnen Körperteilen gebunden – also gehalten – wird. Ist es die hohe Intensität der Gefühle, die zu
konträr zur allgemein niedrigen Intensität eines schwer depressiven Menschen steht und somit
- 31 -
Spannung erzeugt? Oder geht es um persönliche Unsicherheit und Selbstzweifel (Sind meine Gefühle
„richtig“?/ Dürfen sie so sein?/ Was denken die anderen, wenn ich meine Gefühle zeige? etc.), die
einen Gefühlsaudruck in einzelnen Körperteilen zurückhalten? Und wenn es um Gefühlsausdruck
geht, sind dann nicht alle Gefühle gemeint und nicht ausschließlich Wut, Ärger oder Angst?
Aus welchem Grund auch immer gelangt nun die Energie dieser Gefühle nicht in die Extremitäten.
Ohne Energie in den Armen ist man handlungsunfähig, und wenn in den Beinen keine Energie vorhanden ist, bedeutet das Stillstand bzw. Bewegungslosigkeit, was sich wiederum in folgenden Depressionssymptomen ausdrücken kann:
»
Antriebslosigkeit
»
Schlafstörungen
»
Psychomotorische Hemmung
»
Selbstvorwürfe
Bei Herrn A, Frau B, Frau G und Herrn M, den PatientInnen mit mittelgradigen depressiven Episoden,
konnte keine starke Anspannung einzelner Körperteile beobachtet werden.
Trotz dieser teilweise hohen Anspannung war im gesamten Bewegungsverhalten die niedrige Intensität durchgehend sichtbar. Um hier eventuell genauere Beobachtungen erstellen zu können und um
die vielen aufgetauchten Fragen zu beantworten, wäre wohl eine exakte Differenzierung der Körperteile im Rahmen intensiverer Beobachtungs- und Forschungsarbeit nötig.
Niedrige Intensität
Allgemein steckt in Bewegungen mit sehr niedriger Intensität sehr wenig Energie, die Person wirkt
scheu, reserviert und ohne heftige Gefühlsregungen. Die Gefühle werden nur gedämpft wahrgenommen, was manchmal auch den Versuch darstellt, deren Heftigkeit so wenig wie möglich zu spüren oder sie herunter zu spielen („Es ist doch gar nicht so schlimm!“).
Bringt man diese Bewegungsbeobachtungen nun mit Symptomen der Depression in Verbindung, so
könnten diese quasi übersetzt werden in
»
Antriebslosigkeit,
»
Psychomotorische Hemmung,
»
Anhedonie,
»
Libidoverlust,
»
Gefühl der Leere/ der Gefühllosigkeit.
Ob sich Schlafstörungen, insbesondere Durchschlafstörungen, auch mit vermehrter niedriger Intensität in Verbindung bringen lassen, ist eine weitere Frage, die sich hier stellt. Die mangelnde Energie
- 32 -
mag sich zwar gerne durch vermehrte Müdigkeit zeigen, allerdings leiden die PatientInnen sehr häufig unter einem sehr leichten Schlaf mit vielen Unterbrechungen, wodurch ihnen die nächtliche Erholungsphase fehlt. Womöglich verhindert niedrige Intensität in Kombination mit sehr wenig freiem
Loslassen im Körper die Tiefschlafphasen? Dazu wäre wohl ausführliche Forschung in Zusammenhang
mit der Schlafdiagnostik nötig.
5.2
gebundener/ freier Bewegungsfluss
Insgesamt waren relativ wenige Wechsel von gebundenem und freiem Bewegungsfluss zu beobachten – je schwerer die Depression umso weniger Wechsel (mit einer Ausnahme).
Auffallend unterschiedlich war bei einigen Personen die Zeitdauer der gebundenen und freien Phasen. So waren die Phasen im freien Bewegungsfluss bei Herrn A und Frau B meist sehr lang anhaltend, bei Herrn A insgesamt eindeutig überwiegend. Bei Herrn M, Frau P und Frau O waren diese
Phasen wiederum sehr kurz, und bei Herrn H und Frau N überhaupt nur ganz kurz ausschließlich in
Armen und Beinen sichtbar. Ein gleichzeitiger Unterschied von freiem und gebundenem Bewegungsfluss fiel bei Herrn S auf. Während er seinen Oberkörper zeitweise sehr gebunden bewegte, schlenkerten seine Beine bei jedem Schritt ungewöhnlich schlaksig und frei. Außerdem konnten bei Herrn S
mehr als doppelt so viele Wechsel von gebundenem und freiem Bewegungsfluss beobachtet werden
als bei den anderen 5 PatientInnen mit schwerer depressiver Episode. Er zeigte sogar von allen 10
Personen die meisten Wechsel. Er ist hier sozusagen die große Ausnahme.
Das andere Extremverhalten ist bei Herrn C zu sehen. Während der gesamten Beobachtungszeit ist
kaum ein Wechsel zwischen gebundenem und freiem Bewegungsfluss zu erkennen. Ein einziges Mal
ist ein kurzes freies Ausschütteln eines Beines zu sehen, ansonsten sind all seine wenigen und kleinen
Bewegungen geprägt von einem äußert langsamen, gebundenen Bewegungsfluss. Dieser spiegelt
sich in seinem gesamten Verhalten wider. Nach einem Suizidversuch durch Strangulation vor etwa 4
Monaten verschlechterte sich sein Allgemeinzustand zunehmend, bis er – kurz vor der wiederholten
stationären Aufnahme – weder schlafen noch essen oder trinken konnte. Er hatte ständig das Gefühl,
sein Hals sei zugeschnürt. Zum Zeitpunkt der Bewegungsbeobachtung sind seine Affekte nach wie vor
sehr flach, er ist also kaum affizierbar, hat einen sehr monotonen Gedankengang, ist sehr wortkarg
und spricht äußerst leise mit langer Antwortlatenz. Herr C wirkt fast ein bisschen wie ein Roboter,
Emotionen scheinen nicht vorhanden zu sein bzw. sehr gut in sich verborgen.
- 33 -
5.2.1
Gebunden
Gebundener Fluss ermöglicht das Stoppen oder Verlangsamen einer Bewegung. Kontrolle, Vorsicht,
Besorgnis oder Misstrauen können Ursache für gebundenen Fluss sein und lassen die Person bei hoher Intensität verkrampft wirken. Ein emotionales Durchdringen zu ihr ist kaum möglich. Sie möchte
ihre Gefühle zurückhalten und unter Kontrolle haben, was besonders bei Menschen mit psychischen
Erkrankungen zu beobachten ist. Muskelverspannungen als Folge von zu viel gebundenem Bewegungsfluss sind keine Seltenheit!
Gebundener Fluss kann aber auch Abwehrmechanismus gegen aufkommende Angst oder Wut sein,
welche somit unterdrückt und kontrolliert wird. Bewegung wird gestoppt, lustvolle Gefühle unterdrückt, soziale Beziehungen abgeschnitten (Bender, 2007).
Gebundener Fluss unterstützt außerdem die Konzentrationsfähigkeit um den Fokus halten zu können
(in Kombination mit gleichbleibendem Spannungsfluss). Im Rahmen meiner Beobachtungen habe ich
lediglich die Anzahl der Wechsel von gebundenem und freiem Fluss gezählt, nicht aber die jeweilige
Zeitdauer. Bei den 4 PatientInnen mit schweren depressiven Episoden waren die freien Phasen weitaus kürzer als die gebundenen, d.h. sie bewegten sich hauptsächlich und über lange Zeiträume hinweg durchgehend im gebundenen Fluss. Aus bewegungsanalytischer Sicht wären dies eindeutig begünstigende Hinweise für eine gute Konzentrationsfähigkeit. Allerdings berichten genau diese Patienten von großen Problemen und starken Einschränkungen bezüglich ihrer Fähigkeit sich zu konzentrieren. Sowohl aus medizinischer Sicht als auch bei psychologischen Testungen ist diese verminderte
Konzentrationsfähigkeit ein wichtiges Kriterium, und somit Symptom der Depression. Welche Verbindungen hier bestehen, könnte auch Gegenstand weiterer Forschung sein.
Folgende Depressionssymptome können nun mit einem hohen Maß an gebundenem Bewegungsfluss
in Zusammenhang gebracht werden:
»
Antriebslosigkeit
»
Psychomotorische Hemmung
»
Anhedonie
»
Libidoverlust
Eine mögliche Verbindung zu unterdrückter Aggressionsenergie kann in Verbindung mit der hohen
Intensität in einzelnen Körperteilen vermutet werden, wie schon im vorigen Kapitel erwähnt (siehe
Kap. 5.1). Allerdings gilt auch hier die Annahme, dass es sich ebenso um andere Gefühle handeln
kann, die unterdrückt bzw. (zurück-)gehalten werden. Auch dazu wäre noch genauere Forschung
nötig.
- 34 -
5.2.2
Frei
Freie Bewegungen (wie z.B. beim Schwingen oder Ausschütteln) fließen förmlich aus dem Körper
heraus und können nicht jederzeit gestoppt werden. Meist sieht man diese in Verbindung mit Spontaneität, Leichtigkeit und Glücksgefühlen. Menschen mit viel freiem Bewegungsfluss fühlen sich sicher und sehr wohl, haben gerne Spaß und nehmen vieles nicht so ernst. Aber auch beim Weinen ist
freier Fluss zu sehen – etwas kommt ins „Fließen“.
Freier Fluss kann ebenso als Abwehrmechanismus eingesetzt werden, z.B. um aus einer unangenehmen Situation zu flüchten (mit einer wegschleudernden Geste) und zu mehr Sicherheit und einer
angenehmeren Lage zu gelangen (Bender, 2007).
In der Beobachtung der depressiven PatientInnen war der freie Bewegungsfluss meist als Folge von
lange andauerndem gebundenen Bewegungsfluss zu sehen, der mitunter körperlich sehr anstrengend erlebt wird. Somit entstand oft der Eindruck, dass die freien Bewegungen als Ausgleich und zur
momentanen Erleichterung entstanden. Daher, und aufgrund der meist großen Unsicherheit und
wegen der individuell als unangenehm beschriebenen Befindlichkeit der PatientInnen darf angenommen werden, dass der freie Fluss als Abwehrmechanismus verwendet wurde. Depressionssymptome, die damit in Verbindung gebracht werden können, sind
5.3
»
Antriebslosigkeit
»
Minderung der Konzentrationsfähigkeit
»
Vermindertes Selbstwertgefühl.
Vergleiche
Bei der Auswertung des Spannungs- und Bewegungsflusses gebunden und frei fällt ein deutlicher
Unterschied in Zusammenhang mit den Diagnosen, aber auch einzelne Ausnahmen, auf. Von den
beobachteten 10 Personen wurde bei 4 Personen die Diagnose „mittelgradige depressive Episode“
und bei 6 Personen eine „schwere depressive Episode“ festgestellt, 2 von Letzteren mit psychotischen Symptomen (Frau P und Herr S). Die Gesamtzahl der Bewegungsflusswechsel bei den 4 PatientInnen mit „mittelgradiger depressiver Episode“ (70) ist etwas mehr als doppelt so hoch wie die der 4
PatientInnen mit „schwerer depressiver Episode“ (33). Frau P und Herr S, bei denen eine „schwere
depressive Episode mit psychotischen Symptomen“ diagnostiziert wurde, weisen ein sehr konträres
Bewegungsbild auf. Frau P hat insgesamt am drittwenigsten Wechsel in ihrem Bewegungsfluss (9),
während Herr S mit Abstand am meisten Wechsel zeigt (24). (Die wenigsten Wechsel (5) sind bei
Herrn C mit „schwerer depressiver Episode“ zu beobachten.)
- 35 -
Fasst man nun die Zahlen von Frau P und Herrn S zusammen, so ergeben sich nahezu die gleichen
Werte wie von den 4 PatientInnen mit „schwerer depressiver Episode ohne psychotische Symptome“. Bei einer Gegenüberstellung dieser 6 PatientInnen mit den anderen 4 PatientInnen mit „mittlerer depressiver Episode“ ergeben sich (durch die hohen Zahlen von Herrn S) nur geringfügig niedrigere Werte.
Aufgrund der Beobachtungen von Frau P und Herrn S könnte man annehmen, dass das Bewegungsverhalten von PatientInnen mit „schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen“ sehr
unterschiedlich und möglicherweise zu keiner angenommenen Kategorie ‚passend’ sein könnte. Die
Schwere des Krankheitsbildes könnte somit so großen Einfluss auf das Bewegungsverhalten ausüben,
dass es völlig unvorhersehbar und unberechenbar erscheint. Allerdings könnte diese Beobachtung
aber einfach auch Zufall sein, da sie ja nur bei 2 Personen gemacht wurde. Um hier genauere Aussagen treffen zu können, bräuchte es noch viel ausführlichere Forschung zu diesem Thema.
Tabelle 6: Vergleich mittelgradige und schwere depressive Episode
Legende zu Tab.6:
mittelgradig: 4 PatientInnen mit mittelgradiger depressiver Episode
schwergradig1: 4 PatientInnen mit schwerer depressiver Episode
schwergradig2: 2 PatientInnen mit schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen
schwergradig3: alle 6 PatientInnen mit schwerer depressiver Episode und psychot. Symptomen
- 36 -
Bei all diesen Beobachtungen habe ich nun das Bewegungsverhalten von PatientInnen mit Depressionen verschiedener Schweregrade beobachtet und verglichen. Allerdings stellt sich mir nun die Frage, ob bzw. wie weit sich das Bewegungsverhalten dieser 10 PatientInnen von dem gesunder Menschen unterscheidet und ob die Ergebnisse in Zusammenhang mit unterdrückter Aggression die Selben wären. Dazu wäre ebenfalls weitere Forschung, z.B. mit einer Vergleichsgruppe notwendig. In
diesem Zusammenhang könnten dann auch eventuelle geschlechtsspezifische Unterschiede nachgewiesen werden.
- 37 -
6
Zusammenfassung
Abschließend möchte ich nun einige wichtige Aussagen dieser Arbeit kurz und bündig zusammenfassen:
Ausgehend vom Modell der Aggressions- und Triebenergie nach Carl Gustav Jung handelt es sich hier
um Energieformen, die in jedem Menschen angelegt sind und individuell sehr unterschiedlich gelebt
werden. So findet sich die Aggressionsenergie z.B. in Form von Wut, Zorn, Macht und jeglicher Form
von Kampf in unserem Leben wider, während die Triebenergie in der Lebenslust, der Sinnlichkeit und
der Kreativität zum Ausdruck kommt.
Bereits in den ersten Lebensjahren lernen wir mit diesen Energien umzugehen, sei es zur Identitätsbildung, zur Abgrenzung oder im Umgang mit Leistungsdruck und Frustration. Aber auch im Erwachsenenalter geht es immer wieder um die Auseinandersetzung damit, im gesellschaftlichen Umgang
und natürlich auch im Sinne der persönlichen psychischen Gesundheit.
In Verbindung damit geht es auch darum Verantwortung für das eigene Tun und auch Nicht-Tun zu
übernehmen. Eigenverantwortliches selbständiges Handeln kann sehr stärkend, befreiend und beglückend erlebt werden. Allerdings kann es auch Konflikte, Auseinandersetzungen und Konfrontation
verursachen. Um diese Schwierigkeiten oder Anstrengungen zu vermeiden, neigen viele Menschen
dazu vor allem ihren Ärger, ihre Wut und ihren Zorn zu unterdrücken. Das Freudsche Modell der Abwehrmechanismen unterscheidet dabei viele Möglichkeiten der Vermeidung Aggressions- und Triebenergie zu leben, wie z.B. Verdrängung, Projektion, Autoaggression etc. Wenn die Aggressions- und
Triebenergie über längere Zeit (über Jahre) unterdrückt und somit nicht gelebt wird, reagiert der
Mensch bzw. sein Körper meist in irgendeiner Form, wenn auch sehr unterschiedlich. Diese Auswirkungen habe ich, im Rahmen dieser Arbeit, mit dem Erscheinungsbild depressiver PatientInnen und
somit mit den Depressionssymptomen in Verbindung gebracht.
Aus der Bewegungsanalyse habe ich den Spannungs-/ Bewegungsfluss „gebunden“ und „frei“ sowie
die Spannungsflusseigenschaften „hohe Intensität“ und „niedrige Intensität“ gewählt. Diese vier Kategorien wählte ich, weil sie grundlegende, basale und somit bei jedem Menschen beobachtbare
Qualitäten sind.
Meine Bewegungsbeobachtungen umfassen 10 psychiatrische PatientInnen (5 Frauen und 5 Männer), bei denen verschiedenen Formen der Depression diagnostiziert wurden: 4 Personen mit „rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1.)“ bzw. „mittelgradige depressive Episode (F 32.1)“, 4 Personen mit „rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig schwere Episode (F 33.2)“ bzw. „schwere depressive Episode (F 32.2)“ und 2 Personen mit „schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen (F 32.3)“.
- 38 -
Alle 10 PatientInnen bewegten sich im Beobachtungszeitraum durchgehend in „niedriger Intensität“,
„hohe Intensität“ war nur teilweise in einzelnen Körperteilen sichtbar, und zwar nur bei PatientInnen
mit „schwerer depressiver Episode“ – mit einer Ausnahme. Im gesamten Bewegungsverhalten war
bei niemandem „hohe Intensität“ sichtbar.
Der Wechsel von „gebundenem“ und „freiem“ Bewegungsfluss war bei den 4 PatientInnen mit „mittlerer depressiver Episode“ insgesamt mehr als doppelt so häufig (70) wie bei den 4 PatientInnen mit
„schwerer depressiver Episode“ (33), während er bei den 2 PatientInnen mit „schwerer depressiver
Episode mit psychotischen Symptomen“ völlig konträr war (die Dame 9, der Herr 24).
Nach genauer Beobachtung und Betrachtung aus bewegungsanalytischer Sicht komme ich zu dem
Ergebnis, dass es keine eindeutigen Hinweise für unterdrückte Aggression im Bewegungsverhalten
depressiver Menschen gibt. Vielmehr haben meine Beobachtungen eine Vielzahl an neuen Fragen
aufgeworfen, für deren Beantwortung noch eine ganze Menge an Forschung und Studien nötig wäre.
Dieses Ergebnis war für mich sehr überraschend, da ich eigentlich mit irgendeiner Verbindung gerechnet hatte. Vielleicht ist aber auch ein solcher „Beweis“ – falls es einen gibt – viel schwieriger zu
erbringen als ich dachte. Es ist für mich nun nicht mehr verwunderlich, dass es zu diesem Thema
kaum Forschungen und Studien gibt, denn diese müssten sich mit unzähligen Details und einer großen Anzahl von Probanden beschäftigen.
Nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit möglichen Zusammenhängen von Aggression und
Depression würde ich für weitere Forschungen das Thema auf jeden Fall von der Aggression auf den
gesamten emotionalen Ausdruck erweitern. Berufsbedingt wird mich dieses Thema in der Praxis ganz
sicher weiter begleiten.
- 39 -
7
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8
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Ares (wikipedia, 2015) ................................................................................................................ 4
Abb. 1: Ares (wikipedia, 2015) ................................................................................................................ 4
9
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Häufigkeit der Hauptdiagnosen der Kategorie F in %........................................................... 16
Tabelle 2: Aufteilung der affektiven Störungen (geschlechtsspezifisch) .............................................. 17
Tabelle 3: Übersicht Spannungs- und Bewegungsfluss......................................................................... 28
Tabelle 4: Übersicht Spannungsflusseigenschaften.............................................................................. 28
Tabelle 5: Gesamtübersicht................................................................................................................... 29
Tabelle 6: Vergleich mittelgradige und schwere depressive Episode ................................................... 36
- 41 -
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