Werner Thole Ausbildung von Professionalität Sexualisierte Gewalt und pädagogische Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe Kassel & Berlin, Februar 2014 Werner Thole Herausforderungen … … das heutige Thema wurde auf die Tagesordnungen nach dem Bekanntwerden der sexualisierten Gewaltanwendungen in institutionellen Arrangements, also in Schulen, Internaten und Einrichtungen der stationären erzieherischen Hilfen für Kinder und Jugendliche nach 2010 gesetzt: • Folgen wir der Repräsentativumfrage des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), in der 16- bis 40jährige Frauen und Männer über erlittene sexuelle Gewalt bis zum sechszehnten Lebensjahr befragt wurden, dann erfuhren 61,7% der Betroffenen »Missbrauch mit Körperkontakt« im privat-familialen Kontext, 7,4% in der Schule, 2,5% im Sport- und Freizeitbereich und 4,3% im Heim- und Pflegekontext • Nach einer Umfrage des Deutschen Jugendinstituts ist in den zurückliegenden drei Jahren laut pädagogischer MitarbeiterInnen und des Leitungspersonals in 3,5% der befragten Schulen, in 3,1% der befragten Internate und in 10,2% der befragten stationären Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung mindestens ein Verdachtsfall sexualisierter Gewalt gegenüber Heranwachsenden durch Personen, die in der Institution tätig waren oder sind, bekannt geworden … 2 Werner Thole Herausforderungen … Konfrontiert sind wir mit einer Entzeitlichung von Statusübergängen und damit einer Veränderung des Generationenverhältnisses • Biographische Moratorien werden nicht mehr ausschließlich in der Jugendzeit für alle Zeiten abgefeiert • Übergangsphasen sind inzwischen biographisch querverteilt, begegnen den Menschen episodenhaft auf verschiedene Lebensabschnitte verteilt • Gegensätze zwischen einzelnen Lebensabschnitten sind allgegenwärtig … 3 Werner Thole … um was wird es gehen … Das Thema wird vor dem Hintergrund der genannten Herausforderungen im Zusammenhang mit der Frage nach der Gestaltung von pädagogischen Beziehungen diskutiert: Diagnosen … • Fachschulen, Angewandte Hochschulen, Universitäten Exkurs: Prämisse professioneller Beziehungen • Beispiel: Pädagogische Beziehungen, Macht und sexualisierte Formen der Gewalt in institutionalisierten Sozial- und Bildungsformaten … Konsequenzen … • Für die Qualifizierung … • Plädoyer für die Herausbildung eines professionellen Bewusstseins und einer neuen sensiblen Professionsethik … 4 Werner Thole Diagnose: Qualifikation … Fachschulen In den sechs Lernfeldern, die nach der KMK Rahmenvereinbarung an den Fachschulen unterrichtet werden sollen, wird die Bedeutung von Macht und grenzverletzenden Handlungsformen in pädagogischen Beziehungen nicht ausdrücklich benannt: Das Thema Macht spielt in den Rahmenlehrplänen für die ErzieherInnenausbildung keine zentrale Rolle, aber implizit finden sich Hinweise, die eine Thematisierung ermöglichen können … 5 Werner Thole Diagnose: Qualifikation … Hochschulen für angewandte Wissenschaften (Fachhochschulen) Im Qualifikationsrahmen (QRSArb) wird die Gestaltung von pädagogischen Beziehungen nicht benannt. Auch Fragen der Machtförmigkeit von pädagogischen Beziehungen und die damit verbundenen ethischen Herausforderungen werden nicht dezidiert als Thema formuliert … … und auch in den entsprechenden Diskussionen des Qualifikationsrahmens werden mit dem Thema verbundene Fragestellungen nicht dezidiert aufgegriffen … 6 Werner Thole Diagnose: Qualifikation … Universitäten Im »Kerncurriculum Erziehungswissenschaft« wird zwar für die Lehrerbildungs- wie für die erziehungswissenschaftlichen BA- und MA-Hauptfachstudiengänge jeweils die Implementierung eines Studienmoduls »Professionelle Handlungskompetenz« empfohlen, aber die aufgelisteten Themen lassen nicht erkennen, dass darüber auch die Einrichtung von Themen angeregt wird, die im Kern die Dynamiken pädagogischer Beziehungen aufgreifen sollen … 7 Werner Thole Diagnose: Qualifikation … Festzuhalten bleibt … … die zentralen Rahmungen, Papiere und Empfehlungen für die fachschulischen, fachhochschulischen und universitären Qualifikationen nennen pädagogische Beziehungen, Macht, Emotionalität und grenzverletzende, sexualisierte Formen von Gewalt nicht als Qualifizierungsthema explizit und beschreiben es auch nicht ausdrücklich als professionelles Problem … 8 Werner Thole Diagnose: Exkurs … … zu erinnern ist daran, dass professionelles Handeln von den »naturwüchsigen« familialen, verwandtschaftlichen und lebensweltlichen diffusen Praxen zu unterscheiden ist. In »diffusen« Beziehungen fallen Distanz und Nähe zusammen und eine systematische affektive Distanz und Selbstkontrolle würde die hier strukturell erwartbare Beziehungssymmetrie unterlaufen sowie die Stabilität der Beziehung langfristig in Frage stellen. Professionelle Beziehungen konstituieren sich dagegen nicht über eine immer schon gegebene Naturwüchsigkeit, sondern darüber, dass sie ihren Anlass und ihre Berechtigung jeweils konkret und spezifisch aus- und nachzuweisen haben. Dies gilt allgemein und grundsätzlich auch in pädagogischen Institutionen, deren organisationale Rahmung und Beziehungen familiennahe oder familienersetzende Strukturen, wie beispielsweise in den stationären Formen der Hilfen zur Erziehung, vorweisen. (vgl. Oevermann 1996, S. 141) 9 Werner Thole Diagnose: Exkurs … In der Praxis werden pädagogische, professionelle Beziehungen ganz unterschiedlich hergestellt, wie am Beispiel des ASD sich gut dokumentieren lässt … Die nachfolgend referierten Befunde stammen aus dem Kasseler Forschungsprojekt „Familiale Gewalt – Brüche und Unsicherheiten in der sozialpädagogischen Praxis“ (UsoPrax). In dem Projekt wurde den institutionellen Formen der Identifizierung von Kindeswohlgefährdung und den Arbeitsweisen, also den identifizierbaren, sprachlich explizierten wie dokumentierten handlungspraktischen Konstruktionen des Kindeswohls und der familialen Gewalt im Allgemeinen Sozialen Dienst der kommunalen Jugendämter (ASD) nachgegangen 10 Werner Thole Diagnose Praxis: Pädagogische Beziehungen – Beispiel: ASD Menschlich handeln und Kontakt herstellen Tasten und Ruder herumreißen Narrativ anregen und begleiten Testen und beibringen Ermitteln und führen Diagnostizieren und bewegen Abklären und verwalten Wissen und prophezeihen Vom Interagieren und Delegieren zum Übernehmen 11 Werner Thole Diagnose Praxis: Pädagogische Beziehungen – Beispiel: ASD 1. … die acht Praxismuster zeigen differenziertes professionelles Wissen und professionelles Können sowie unterschiedliche Formen der Herstellung von pädagogischen Beziehungsverhältnissen … 2. … die Beziehungsvarianten werden nicht individuell, sondern immer kontextbezogen, auch unter Bezug auf institutionelle Rahmenbedingungen, hergestellt und in den einzelnen Team sind unterschiedliche Varianten zu erkennen …… 3. … AdressatInnen, insbesondere Kinder und Jugendliche, werden in die Prozesse sozialpädagogischen Agierens als „autonom Handelnde“ kaum einbezogen und verbleiben in einem „Objekt“-Status … 4. … eine souveräne, sozialpädagogische Expertise wird kaum entwickelt respektive über externe Expertisen – juristische und psychologische – überlagert …: Flucht vor „Gewaltbeschreibungen“, offenen „Konfrontationen“ und somit auch vor den Möglichkeiten, pädagogische Beziehungen nachhaltig herzustellen … (vgl. Retkowski, A., Schäuble, B., & Thole, W. 2011) 12 Werner Thole Konsequenzen: Qualifikation … … zu erwerbende Handlungskompetenzen … Die SchülerInnen & Studierenden … • … kennen professionsbezogene Grundlagen und können diese reflektieren und mit Theorien der Erziehung, Bildung und Sozialisation, Hilfe und Betreuung als Kernkategorien handlungsfeldbezogen in Verbindung setzen • … kennen die Aufgaben und das Handlungswissen pädagogischer Berufe in unterschiedlichen Feldern und verfügen über ethische Grundkenntnisse • … sind sensibilisiert für die Gestaltung von Übergängen zwischen unterschiedlichen Sozialisationskontexten, wissen altersspezifische Zugänge zu formulieren und sind vertraut mit den Arbeits- und Handlungsprinzipien in den unterschiedlichen pädagogischen Felder • … sind sensibilisiert für die Machtförmigkeit und Emotionalität pädagogischer Beziehungen und Wissen zwischen diffusen und spezifischen Beziehungsformen zu unterscheiden … 13 Werner Thole Konsequenzen: Qualifikation … Modul „Professionelles Handeln & Professionsethik Theorie • • • Macht und Emotionalität – historische Vergewisserungen Wissen über unterschiedliche Professionstheorien und wissenschaftliche Begründungskontexte Macht und Emotionalität in pädagogischen Kontexten und Beziehungen – theoretische Modelle Empirie • • • Wissen über Befunde und Fragestellungen zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen und Praxen Wissen über Sexualität in der Sozialisation – Befunde und Herausforderungen Wissen über moralische Orientierungen im Kontext einer deskriptiven Ethik Methoden und Formen professionelles Handeln • • • • • Reflexion der eigenen Biographie und deren Bedeutung für pädagogisches Handeln Soziale und interaktive Prozesse in Schule und Unterricht reflektieren in Hinblick auf Moral Distanz und Nähe – pädagogischer Herausforderungen Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handeln – Grundprämissen und Strukturen Kulturen der Aufmerksamkeit, Kooperation und Achtsamkeit 14 Werner Thole Konsequenzen Praxis: Institution, Professionsbewusstsein & -ethik Während rechtliche Normierungen pädagogischer Praxis an starre Standards binden zielen professionsethische Überlegungen auf die Stärkung individueller pädagogischer Professionalität und plädieren für deren institutionelle Verankerung … Eine strukturen- und machtsensible, Kinder und Jugendliche nicht als Objekte adressierende, professionsethische Reflexivität richtet sich nicht nur auf die individuelle Gestaltung der pädagogischen Beziehungsverhältnisse, sondern auch auf die Wahrnehmung, Beurteilung und Bearbeitung der machtbezogenen, institutionellen Kontexte … … sucht auch die organisationalen Rahmungen und die pädagogischen Kontexte zu gestalten … Stärkung des ethischen Professionsbewusstseins und der Organisationskultur über einen kontinuierlichen Prozess der Praxis- und Organisationsentwicklung, der das Wohl der Heranwachsenden in den Fokus stellt … Professionsethik, auch als Institutionenethik 15 Werner Thole Konsequenzen Praxis: Institution, Professionsbewusstsein & -ethik Institutionell verankerter Konsens: Generative und machtgeladene Unterschiede sind prägend und nicht zu unterlaufen … … weder in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen noch in der Arbeit mit Erwachsenen können intime, private oder gar sexuelle Beziehungskonstellationen zwischen PädagogInnen und AdressatInnen eingegangen und gelebt werden ... … die jeweils gegebenen, in den Beziehungen eingelagerten Machtverhältnisse symmetrische Beziehungen nicht ermöglichen. … anders zu betrachten sind sicherlich Beziehungen in non-formalen Kontexten, beispielsweise in der Jugendverbandsarbeit, oder in der Erwachsenenpädagogik ... … offen bleibt, ob die Nichtexistenz von generativen Unterschieden legitimierend herangezogen werden kann, strukturelle, anscheinend egalitäre Beziehungsformen trotz der bestehenden Machtkonstellationen offener zu gestalten … (vgl. Retkowski, A./Thole, W. 2012) 16 Werner Thole Konsequenzen Praxis: Institution, Professionsbewusstsein & -ethik Herstellung einer Kultur der Öffentlichkeit in den pädagogischen Institutionen die gegenüber der subjektiven Instrumentalisierung von Macht sensibel ist und Widerständigkeit der Heranwachsenden gegenüber Praktiken stärkt, die die soziale, körperliche und emotionale Integrität von Kindern und Jugendlichen missachten also auch die Etablierung einer institutionell verankerten Sensibilität für Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen … 17 Werner Thole Konsequenzen Praxis: Institution, Professionsbewusstsein & -ethik Reflexive, professionelle Kultur in Bezug auf die Gestaltungsformen pädagogischer Beziehungen und deren institutioneller Rahmung … Kultur der Aufmerksamkeit …: »Kultur des Hinsehens« zu entwickeln, ist die Auseinandersetzung mit einer »Kultur des Wegschauens« … Kultur einer »Pädagogik der Anerkennung«, die diejenigen, die auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung oder Beratung angewiesen sind, nicht nur als bittstellende »Objekte« von Leistungen, sondern als strukturell und potenziell selbstverantwortlich agierende, zur Entwicklung von Mündigkeit fähige Subjekte adressieren Kultur der Ermöglichung von Teilhabe, diese zu reklamieren und wahrzunehmen 18 Werner Thole Literatur Oevermann, U. (1996): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt a. Main, S. 70-182. Retkowski, A./Thole, W. (2012): Professionsethik und Organisationskultur. In: Thole, W. u. a. (Hrsg.) (2012): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen, Berlin u. Toronto, S. 291-315. Retkowski, A., Schäuble, B., & Thole, W. (2011). »Diese Familie braucht mehr Druck …«. Praxismuster im Allgemeinen Sozialen Dienst – Rekonstruktion der Bearbeitung eines Kinderschutzfalles. Neue Praxis, 41, 485-504. 19 Werner Thole Werbeblock … Werner Thole, Meike Baader, Werner Helsper, Manfred Kappeler, Marianne Leuzinger-Bohleber ... (Hrsg.) (2012): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen. 331 Seiten. ISBN 978-3-84740046-2. 20 Werner Thole … für Anregungen jeglicher Art bin ich dankbar … 21