Steuerung und Wirksamkeit in der Eingliederungshilfe Prof. Dr. Andrea Riecken Hochschule Osnabrück Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften [email protected] 2. Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen - Kassel 25.02.2016 1 Gliederung Probleme der Steuerung 1. Kommunale Umsetzungspraxen 2. Interessenkonflikte 3. Anreizsysteme 4. Psychiatrische Grundversorgung Probleme der Wirksamkeit 5. Forschungsdesiderate 6. Wirksamkeitsmessung Fallbeispiel Alkoholabhängigkeit 7. Von ICD zu ICF 8. Von ICF zu Core Sets 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan © Prof. Dr. Andrea Riecken 2 Probleme der Steuerung © Prof. Dr. Andrea Riecken 3 1. Kommunale Umsetzungspraxen Wo verfahren Kommunen in der Umsetzung unterschiedlich? Zugang zur Eingliederungshilfe • Wer darf beraten, wer darf bei der Antragsstellung helfen? Verhandlung • Gespräch erfolgt in unterschiedlicher personeller Besetzung Vertragsfixierungen • Schriftliche Fixierung des Bedarfs erfolgt durch unterschiedliche Ausführende Erhebungsinstrumente • Bedarfsfeststellung erfolgt anhand unterschiedlicher Erhebungsbögen • Hilfepläne sind unterschiedlich detailliert © Prof. Dr. Andrea Riecken 4 1. Kommunale Umsetzungspraxen Kategorien für Bedarfsermittlung (zumeist orientiert an Metzler, Schlichthorster-Modell, etc.) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Alltägliche Lebensführung Individuelle Basisversorgung Gestaltung sozialer Beziehungen Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben Kommunikation und Orientierung Emotionale und psychische Entwicklung Gesundheit Es gibt Kommunen, die in fast allen Kategorien auf eine Binnendifferenzierung (Unterpunkte) verzichten. Es kommt so zu einer fragmentarischen Bedarfserfassung. Wer weniger genau nachfragt, wird weniger Bedarf ermitteln. © Prof. Dr. Andrea Riecken 5 1. Kommunale Umsetzungspraxen Zielbestimmung • Prozesse der Zielfestlegung sind verschieden • Zielauswahl bezieht sich kaum auf wissenschaftliche Erkenntnisse • Bei Zielfestlegung (genauso wie bei der Bedarfsermittlung) geht zumeist der Bezug zur ICD-Diagnostik und ICF-Diagnostik verloren • Umgang mit Zielabweichungen sind verschieden Anzahl der Fachleistungsstunden • Gewährung von Fachleistungsstunden für ein und denselben Hilfebedarf können von Kommune zu Kommune verschieden sein • Etc. © Prof. Dr. Andrea Riecken 6 1. Kommunale Umsetzungspraxen Diskussion Es gibt keine wissenschaftliche Untersuchung der kommunalen Umsetzungspraxen? Was bedeutet das für Menschen mit Behinderung? Wieso dürfen Umsetzungspraxen rechtlich so stark voneinander abweichen? © Prof. Dr. Andrea Riecken 7 2. Interessenkonflikte Interessenkonflikte in der Eingliederungshilfe (Riecken 2014) Leistungsträger Interessenkonflikt Leistungserbringer Krankenkassen Externe Gutachter entscheiden über Antrag und Umfang Psychotherapeuten Sozialhilfeträger Leistungsträger entscheiden über Antrag und Umfang Behindertenhilfe © Prof. Dr. Andrea Riecken 8 2. Interessenkonflikte Diskussion Warum haben Menschen mit Behinderung in der Eingliederungshilfe kein Anrecht auf ein externes Gutachterverfahren wie Psychotherapiepatienten? © Prof. Dr. Andrea Riecken 9 3. „Anreizsystem“ in der Psychotherapie • Grundsatz: Ob eine Psychotherapie verlängert wir, hängt von ihrem Erfolg ab, d.h. verlängert wird nur dann, wenn ein Patient Fortschritte macht • Begründung: Das Therapieverfahren schlägt an und der Patient profitiert (Verbesserung der Gesundheit, etc.) • Lernerfahrung: Patient -> Belohnung für positive Entwicklung; Therapeut -> Belohnung für gute Therapie und gutes Therapieverfahren Ergebnis • Viele Menschen profitieren nachweislich von Psychotherapien (Wirksamkeit in vielen Studien nachgewiesen) • Professionalisierung der Psychologie/Psychotherapie schreitet voran (Psychotherapieforschung als wachsendes Forschungsgebiet) © Prof. Dr. Andrea Riecken 10 3. „Anreizsystem“ in der Eingliederungshilfe • Grundsatz: Fachleistungsstunden bleiben gesichert, wenn sich der Klient nicht verbessert bzw. wenn er Krisen produziert. Bei Verbesserung des Zustandes wird gekürzt. • Begründung: Es soll keine Abhängigkeit entstehen. • Lernerfahrung: Klient -> Entwicklung in die Selbständigkeit lohnt sich nicht, weil dann meine „sichere Bank“ (Ambulante Assistenz) gekürzt wird; Leistungserbringer ->Hochqualifizierte Arbeit wird bestraft, weil Klienten verloren gehen Ergebnis • Fehlsteuerung -> Falsches Anreizsystem weil Verbesserungen (Klient) und gute Leistungen (Leistungserbringer) nicht belohnt werden • Fehlsteuerung -> Das falsche Anreizsystem trägt mit dazu bei, dass Langzeitfälle und Fallzahlen zunehmen © Prof. Dr. Andrea Riecken 11 3. „Anreizsystem“ Diskussion Wie müsste das Anreizsystem in der Eingliederungshilfe verändert werden? © Prof. Dr. Andrea Riecken 12 4. Psychiatrische Grundversorgung Gesundheitspolitische Steuerung • Steuerungsprozesse 1: Ambulant vor Stationär • Steuerungsprozesse 2: Aufgaben wurden vom Sozialpsychiatrischen Dienst z.T. in das Ambulant betreute Wohnen verlagert • Externer Einflussfaktor: steigende Anzahl von Menschen mit psychischer Behinderung Folge für die ambulante und stationäre Versorgung • In der ambulanten Versorgung werden immer mehr Menschen mit schweren chronischen psychischen Störungen begleitet, d.h. Klienten, die psychisch sehr instabil sind (Krisen, Rückfälle, Suizidalität) • Prognose: Viele diese Klienten werden unabhängig von ihren Fortschritten dauerhaft in der ambulanten Eingliederungshilfe verbleiben • In die stationäre Versorgung gelangen fast nur noch Menschen mit schwersten psychischen Störungen/Behinderungen • Prognose: In der stationären Hilfe entwickeln sich teilweise psychiatrieähnliche Verhältnisse © Prof. Dr. Andrea Riecken 13 4. Psychiatrische Grundversorgung Leistungsträger Veränderte Zuweisungspraxis von schweren Fällen Stationäre Versorgung Ambulante Versorgung Übrig bleiben schwerste Fälle Zunahme von schweren Fällen Fakten aus der Borderline-Persönlichkeitsforschung • • • 6% aller 15jährigen Mädchen betreiben regelmäßig Selbstverletzungen 3% haben mehr als 3 Suizidversuche hinter sich Indirekte Kosten sind für die Betroffenen und die Gesellschaft sehr hoch, weil viele kein gutes Funktionsniveau erreichen (z.B. Ausbildung, Berufstätigkeit, Versorgung von eigenen Kindern, etc.) © Prof. Dr. Andrea Riecken 14 4. Psychiatrische Grundversorgung Diskussion Wie viel Geld ist für die Versorgung von psychisch kranken Menschen in der Eingliederungshilfe „objektiv“ notwendig und was sind Politik und Gesellschaft bereit zu zahlen? © Prof. Dr. Andrea Riecken 15 Probleme der Wirksamkeit © Prof. Dr. Andrea Riecken 16 5. Forschungsdesiderate Der Bezug zwischen Diagnoseinstrumenten, Zielen und Maßnahmen ist unklar Rehasystem ICD – ICF – Rehaziele – Rehamaßnahmen Eingliederungshilfe ICD – ICF – Bedarfsermittlung - Ziele im Hilfeplan Hilfsmaßnahmen © Prof. Dr. Andrea Riecken 17 5. Forschungsdesiderate Psychotherapie und Medizin Wirksamkeitsstudien und evidenzbasierte Leitlinien sind vorhanden und handlungsleitend (verpflichtend) (-> Heilung) Eingliederungshilfe Methodisch gut kontrollierte Wirksamkeitsstudien und evidenzbasierten Leitlinien sind nicht vorhanden (-> Teilhabe) Fazit Grundsätzlich fehlt es an Forschungsgeldern, d.h. die Hochschulen können dieses Forschungsfeld „Wirksamkeit der Eingliederungshilfe“ nicht wirklich bearbeiten © Prof. Dr. Andrea Riecken 18 5. Forschungsdesiderate Diskussion Wer hat überhaupt ein Interesse an der Forschung und stellt Forschungsgelder zur Verfügung? © Prof. Dr. Andrea Riecken 19 5. Wirksamkeitsmessung Verlaufsmessung Benötigt werden verschiedene Meßzeitpunkte (t1, t2, …) t1 t2 … t3 Was ist bei Verlaufsmessungen zu beachten? Prognose: Wie schnell ist bei welchen Klienten, bei welchen Zielen welche Größe der Veränderung zu erwarten? Assessment-Instrumente: Mit welchen Instrumenten, soll was, wie genau gemessen werden? Kosten: Wer übernimmt die Kosten für die Verlaufsmessungen, in welcher Höhe? Personal: Welche Qualifikationen benötigen Fachkräfte bei Leistungsträger und -erbringen um Verlaufsmessungen valide und reliabel durchführen, auswerten und interpretieren zu können © Prof. Dr. Andrea Riecken 20 6. Wirksamkeitsmessung Meßgrößen Was soll und kann im Verlauf von wem gemessen werden? 1. ICD 10 (Symptome mehrerer psychischer Störungen) ? 2. ICF (Symptome verschiedenster funktionaler Beeinträchtigungen) ? 3. Ziele des Hilfeplans (Symptome der Stabilisierung und Verbesserung der Teilhabe (sozial, beruflich, rechtlich, kulturell) sowie der selbständiger Lebensführung, der Lebenszufriedenheit und der Verbesserung der Kontextfaktoren etc. ? © Prof. Dr. Andrea Riecken 21 6. Wirksamkeitsmessung Assessment-Instrumente zur ICF • ICF-AT 50 Psych (Nosper, 2006) • Mini-ICF-APP (Linden, Baron & Muschalla, 2009) • MATE-ICN (Buchholz, Rist, Küfner & Kraus, 2009) • ICF-PsychA&P (Bruett, Schulz, Koch & Andreas, 2010) • ICF – Rehaziele bei Drogenabhängigkeit • ICF - RPK – Fragebogen (RPK-BAG, 2005) • WHODAS-II (WHO) Fazit • Es gibt verschiedene Instrumente zur Messung von ICF, die unterschiedliche Inhalte erfassen • Entweder sind die Instrumente zu einfach/ungenau oder zu komplex • Sie erfassen in der Regeln nicht die Kontextfaktoren © Prof. Dr. Andrea Riecken 22 6. Wirksamkeitsmessung Ziele des Hilfeplans Alltägliche Mini-ICF-APP Anpassung an Regeln und Routinen Planung und Strukturierung von Aufgaben Flexibilität und Umstellungsfähigkeit Anwendung fachlicher Kompetenzen Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit Durchhaltefähigkeit Selbstbehauptungsfähigkeit Kontakt zu Dritten Individuelle Gestaltung Teilnahme am Kommunikation Emotionale Gesundheit Lebensführung Basisversorgung sozialer kulturellen und und und Beziehungen gesellschaftlichen Orientierung psychische Leben Entwicklung Wie führt die Zielerreichung im Hilfeplan zu einer Verbesserung der Funktionsfähigkeit nach ICF? Gruppenfähigkeit Familiäre bzw. intime Beziehungen Spontan-Aktivitäten Selbstpflege Verkehrsfähigkeit © Prof. Dr. Andrea Riecken 23 6. Wirksamkeitsmessung Diskussion 1. Welches Assessment-Instrument soll zur ICF Messung genutzt werden? 2. Ist es überhaupt sinnvoll für die Verlaufsmessung in der Eingliederungshilfe ein ICF-AssessmentInstrument zu nutzen? 3. Sollte für die Eingliederungshilfe vielleicht nicht eher eine Assesment-Instrument (in Anlehnung an den ICF) entwickelt werden, das stärker die Veränderungen in der Teilhabe, der selbständigen Lebensführung, der Lebensqualität und der Kontextfaktoren misst? © Prof. Dr. Andrea Riecken 24 Fallbeispiel Alkoholabhängigkeit © Prof. Dr. Andrea Riecken 25 7. Von ICD zu ICF Anamnese Langjährige Alkoholabhängigkeit eines 42-jähriger Mannes • • • • • • • • • • • Früher Beginn (als Jugendlicher) 25-30-jährige Abhängigkeitsgeschichte (Alkohol) Familiäre Vorbelastung ( alkoholabhängiger Vater) Immer wieder Job- und Führerscheinverlust Schulden Starker Suchtdruck Impulskontrolle gestört Antriebslosigkeit Dauerhafte Schlafstörungen Hohe Rückfallgefahr: immer wieder Rückfälle, schwere Rückfälle (Trinkexzesse), kaum längere Abstinenzphasen Vernachlässigung der Körperhygiene © Prof. Dr. Andrea Riecken 26 7. Von ICD zu ICF Anamnese Langjährige Alkoholabhängigkeit eines 42-jährigen Mannes • • • • • • Diverse körperliche Schäden (Bauspeicheldrüse, Leber, Bluthochdruck, Übelkeit und Erbrechen, etc.) Fehl- und Mangelernährung Diverse kognitive Probleme (Planen, Probleme lösen, etc., hirnorganische Beteiligung möglich) Stimmungslabilität (wiederkehrende depressive Verstimmungen einschließlich suizidaler Krisen, Schuldgefühle, Aggressivität, etc.) Weitere Fähigkeiten sind gestört (z.B. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, Stressverarbeitung, etc.) Soziale Isolation und fehlende Freizeitgestaltung © Prof. Dr. Andrea Riecken 27 7. Von ICD zu ICF ICD 10 F 10.25 Abhängigkeitssyndrom von Alkohol, ständiger Substanzgebrauch F 10.31 Entzugssyndrom mit Krampfanfall ICF Quelle: Frieboes/Zaudig/Nosper (2005). Rehabilitation bei psychischen Störungen: Elsevier: München; S. 278ff. © Prof. Dr. Andrea Riecken 28 7. Von ICD zu ICF © Prof. Dr. Andrea Riecken 29 7. Von ICD zu ICF Erster Befund der Fallanalyse • Es besteht eine Datenfülle • Es bestehen viele und große Probleme (Stufe 3/4) in mehreren Bereichen • Es zeigen sich typische Fähigkeitsstörungen für Abhängigkeitserkrankungen Fragestellungen • Gibt es Testverfahren, die die Diagnostik erleichtern? • Gibt es Core Sets für Suchterkrankungen? • Wie lassen sich die Daten zur Prognose verdichten? • Wie fließen die diagnostischen Befunde in die Bedarfsermittlung und den Hilfeplan ein? • Wie lassen sich die Probleme priorisieren? © Prof. Dr. Andrea Riecken 30 8. Von ICF zu Core Sets Core Sets Aktuelle Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass sich von der ICD Diagnose typische Fähigkeitsstörungen (ICF) für die psychische Störung ableiten lassen. • • • Verbindung von ICD und ICF => Forschung zu Core Sets muss weitergehen Ziel muss es sein, für fast jede psychische Störung (ICD) Core Sets (ICF) zu erhalten Core Sets müssen zusätzlich um individuelle Fähigkeitseinschränkungen ergänzt werden (das kommt noch oben drauf - on the top) © Prof. Dr. Andrea Riecken 31 8. Von ICF zu Core Sets Testverfahren 13 Bereiche von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen • • • • • • • • • • • • • Anpassung an Regeln und Routinen Planung und Strukturierung von Aufgaben Flexibilität und Umstellungsfähigkeit Anwendung fachlicher Kompetenzen Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit Durchhaltefähigkeit Selbstbehauptungsfähigkeit Kontakt zu Dritten Gruppenfähigkeit Familiäre bzw. intime Beziehungen Spontan-Aktivitäten Selbstpflege Verkehrsfähigkeit © Prof. Dr. Andrea Riecken 32 8. Von ICF zu Core Sets © Prof. Dr. Andrea Riecken 33 8. Von ICF zu Core Sets © Prof. Dr. Andrea Riecken 34 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Welche Theorien sagen etwas über die Prognose (Schwere, Langfristigkeit, etc.) des Falls aus? Alkoholismus-Typologie Cloninger 1981 Typ B Alkoholismus (viele Risikofaktoren in der Kindheit) • Früher Beginn • Familiär gehäufter Alkoholkonsum • Schwere Abhängigkeitssymptome • Viele psychopathologische Probleme • Viele alkoholbezogene Probleme • Häufig Mehrfachkonsum (andere Suchtmittel zusätzlich) Phasenmodell nach Jellinek 1951 • Präalkoholische Phase • Prodromalphase • Kritische Phase • Chronische Phase © Prof. Dr. Andrea Riecken 35 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Was bedeutet die Prognose in Bezug auf Bedarf und Hilfeplan? • Nach Auswertung der sozialklinischen Befunde und wissenschaftlichen Erkenntnissen ist von einem „Langzeitfall“ auszugehen • Der 42-jährige Mann ist schwerwiegend psychisch erkrankt, benötigt langfristig Hilfe - vermutlich über Jahre – seine Teilhabe ist durch die vielen und ausgeprägten Beeinträchtigungen multipel gefährdet oder schon tatsächlich mehrfach beeinträchtigt • Hilfeplanpläne, die schnelle Erfolge mit einem geringen Stundenaufkommen als Ziel festlegen, ignorieren die Schwere der Erkrankung und Behinderung © Prof. Dr. Andrea Riecken 36 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Was bedeutet die Prognose in Bezug auf Bedarf und Hilfeplan? • • • • Die Daten legen nahe, dass aufgrund der Schwere der Erkrankung und Behinderung alle Bereiche, die in der Bedarfsermittlung abgefragt werden, betroffen sein müssten Jede Form, den Bedarf „kleinzurechnen“ läuft dem Schweregrad der psychische Erkrankung und Behinderung zuwider Es stellt sich vielmehr die Frage des Priorisierens Woran soll mit wie viel Aufwand und mit welchen Verhaltenstrainings und Interventionstechniken gearbeitet werden © Prof. Dr. Andrea Riecken 37 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Anhand welcher Theorien sind welche Ziele auszuwählen und zu priorisieren? Zielhierarchie in der Suchtbehandlung (Kruse et al. 2000) © Prof. Dr. Andrea Riecken 38 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Anhand welcher Theorien sind welche Ziele auszuwählen und zu priorisieren? Transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung Prochaska & DiClimente (1992) Stufen Phasen der Änderungsbereitschaft 1. Precontemplation (Absichtslosigkeit) Keine Problembewusstsein und keine Absicht zur Verhaltensänderung 2. Contemplation (Absichtsbildung) Problembewusstsein vorhanden, Vor- und Nachteile einer Verhaltensänderung werden abgewogen 3. Preparation (Vorbereitung) Entscheidung zur Verhaltensänderung wird getroffen, erste Schritte in Richtung Reduktion werden unternommen 4. Action (Handlung) Hohes Maß an Zeit und Energie wird zur Änderung des Verhaltens und der Umgebung aufgewendet 5. Maintenance (Aufrechterhaltung) Das geänderte Verhalten wird im Alltagshandeln zu Routine, ist aber noch nicht hinreichend stabil, erhöhte Rückfallgefahr besteht noch 6. Termination (Stabilisierung) Das Zielverhalten hat sich langfristig stabilisiert, Rückfallgefahr ist minimiert, © Prof. Dr. Andrea Riecken 39 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Kategorien der Bedarfsermittlung und des Hilfeplans 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Störungsspezifische Ziele, Verhaltenstrainings und Interventionen Alltägliche Lebensführung Individuelle Basisversorgung Gestaltung sozialer Beziehungen Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben Kommunikation und Orientierung Emotionale und psychische Entwicklung Gesundheit • Umgang mit alkoholbedingten körperlichen und kognitiven Folgeschäden • Stressbewältigungstraining • Abbau impulsiver Verhaltensweisen und Erhöhung der Selbststeuerungsfähigkeiten (Sport und Erfolgserlebnisse) • Aufbau von alternativen Verhaltensweisen (Freizeit ohne Sucht) • • • • • • • Aufbau von Veränderungsmotivation Weiterentwicklung in der Zielhierarchie Vermittlung in ambulante Psychotherapie Vermittlung in Selbsthilfegruppe Vermittlung in Schuldnerberatung Vermittlung in ärztliche Behandlung Entwicklung eines Krisenplans • Umgang mit Suchtdruck und Risikosituationen • Umgang mit Rückfällen • Tagesstrukturierende Maßnahmen über Wochenpläne • Training basaler Kompetenzen und Aufbau von Selbstfürsorge (Körperpflege, Wäsche, Einkaufen, Ernährung etc.) über Wochenpläne • Umgang mit negativen Gefühlen (Schuld, Scham, etc.) und Suizidalität • Aufbau sozialer Kompetenzen • … • … © Prof. Dr. Andrea Riecken 40 9. Von ICF/Core Sets zu Bedarf und Hilfeplan Diskussion 1. Wo und wie wird der sozialklinische Ansatz, also die Fokussierung auf die psychische Störung die zur Behinderung geführt hat, in der Eingliederungshilfe umgesetzt? 2. Wie bewerten die Leistungsträger diese störungsspezifische Perspektive? 3. Welche fachlichen Leitlinien sind aus Professionssicht für das Arbeitsfeld Eingliederungshilfe (Wonhen und Arbeit) zu entwickeln? © Prof. Dr. Andrea Riecken 41