KVH•aktuell - Kassenärztliche Vereinigung Sachsen

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KVH • aktuell
Pharmakotherapie
Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis
Gestaltet von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen
Jhrg. 18, Nr. 3 – September 2013
Unser Schmerzmittel-Dilemma
Die Schmerzbehandlung gehört zum Praxisalltag – aber dabei werden wir durch
immer neue Meldungen über Nebenwirkungen der NSAR (nichtsteroidalen Antirheumatika) verunsichert, die bei den leichteren Schmerzen eigentlich die geeigneten Mittel sein sollten. Gerade zeigt wieder eine neue Metaanalyse, was die
NSAR nicht nur am Gastroíntestinaltrakt, sondern auch am Herz-Kreislauf-System
anrichten können. Andererseits wissen wir inzwischen auch, wie sich die verschiedenen Substanzen in ihrem Risikoprofil unterscheiden. Unser Beitrag will deshalb
nicht durch neue Warnungen weiter verunsichern, sondern zeigen, wie wir durch
Beachten des Alters, der Begleiterkrankungen des Patienten und seinen sonstigen
Medikamenten das richtige Schmerzmittel finden, die Gefahren minimieren und
somit den größtmöglichen Nutzen erzielen können..
Seite 22
Wir nehmen ihn nicht immer wahr, aber erleben ihn täglich
Der Nocebo-Effekt
Der Nocebo-Effekt ist das Gegenteil des Placebo-Effekts und spielt wie dieser auch
bei der Verordnung von Medikamenten eine Rolle. In dieser Form hat ihn auch
jeder schon erlebt: Wenn ein Patient die potenziellen Nebenwirkungen eines Medikaments kennt, dann spürt er sie subjektiv eher als ein Patient, der über diese
Nebenwirkungen nichts weiß. Wer die Zusammenhänge und das darüber verfügbare wissenschaftliche Material kennt, kann mit dem Nocebo-Effekt in der Praxis
ebenso nutzbringend umgehen wie mit dem Placebo-Effekt.
Seite 26
Zu viel Natrium schadet dem Menschen,
zu wenig aber auch
Über das Kochsalz wird seit vielen Jahren diskutiert, inzwischen stellt sich immer
deutlicher heraus: Zu viel schadet dem Herz-Kreislauf-System und bringt die Leute
früher ins Grab, zu wenig ist aber auch schädlich. Es gilt also, die Patienten zum
richtigen Umgang mit dem Kochsalz zu erziehen – was wiederum viel mit der
richtigen Ernährung zu tun hat. Die neuesten Erkenntnisse zum Natrium(chlorid)
und zu der optimalen Menge in der Nahrung erfahren Sie ab
Seite 9
Ich senke bei meinem Patienten die Lipide
Muss ich die CK bestimmen?
Dass Statine zu einer Myopathie führen können, ist bekannt – aber muss ich deswegen immer die CK (Creatinphosphokinase) bestimmen? Ein routinemäßiges
Monitoring ist nicht erforderlich, aber zu Beginn einer Therapie mit Statinen sollte
man die CK messen und in einigen Fällen auch während der Behandlung. Und was
tun, wenn die CK während einer lipidsenkenden Therapie ansteigt? Auch auf diese
Frage finden Sie die Antwort auf Seite 25
Seite 2
Editorial
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Nr. 3 / 2013
Erneute Masernausbrüche in Deutschland:
Was ist zu tun?
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,
Deutschland hat sich gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verpflichtet, die Masern bis
zum Jahr 2015 zu eliminieren. Voraussetzung dafür ist, dass wir eine Inzidenz von weniger als einem
Fall pro Jahr und 1.000.000 Einwohner erreichen. Wenn uns das gelingt, können wir wesentlich dazu
beitragen, dass es in Europa künftig keine Masernerkrankungen mehr geben wird.
Deutschland wird das WHO-Ziel in diesem Jahr allerdings erneut deutlich verfehlen. Nach Angaben
des Robert Koch-Instituts (RKI) wurden bis zum 17. Juni 2013 bereits 905 Fälle gemeldet. Die meisten
stammen aus Bayern und Berlin. Fast die Hälfte der Patienten war 20 Jahre und älter. Die Mehrzahl war
ungeimpft.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat im Epidemiologischen Bulletin vom 23. April 2013 darauf
hingewiesen, dass in den letzten Jahren relativ viele Säuglinge und Kleinkinder unter zwei Jahren an
Masern erkrankt sind und verweist auf eine Auswertung der Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen
Vereinigungen, nach der die zweite Masern-Mumps-Röteln-Impfung häufig nicht rechtzeitig (spätestens
im 23. Lebensmonat) erfolgt. Sachsen-Anhalt liegt mit seiner Impfquote für die Zweitimpfung bei Kindern
bis zu zwei Jahren von etwa 60 Prozent leicht unter dem Bundesdurchschnitt aller Kassenärztlichen Vereinigungen. Zusammen mit der Impfquote für die erste Impfung, die leicht über dem Bundesdurchschnitt
liegt, finden wir uns im Vergleich aller Kassenärztlichen Vereinigungen im Mittelfeld wieder. Laut STIKO
haben zudem viele junge Erwachsene keine Masernimmunität. Sie weist daher nachdrücklich auf die
Wichtigkeit einer konsequenten Umsetzung der STIKO-Empfehlungen zur Impfung gegen Masern hin.
Der Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat aufgrund der erneuten Erkrankungsfälle eine
Masernimpfpflicht für Kinder ins Gespräch gebracht, will aber zunächst die Aufklärung der Bevölkerung
verbessern und verstärken. In einer Stellungnahme hat Dipl.-Med. Regina Feldmann, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), erklärt, zuerst den Weg über Maßnahmen zur Verbesserung der
Impfraten zu gehen. Sie hat speziell die Kinderärzte aufgefordert, stringenter auf die korrekte Durchführung der empfohlenen Impfung zu achten. Ärzte sollen bei Jugendlichen, die in der Kindheit nicht
zweimalig gegen Masern geimpft wurden, die zweite Impfung als Masern-Mumps-Röteln (MMR)-Impfung
nachholen. Weiterhin empfahl sie den Ärzten, den Patienten in persönlichen Gesprächen aufzuzeigen,
dass es schon häufig zu schweren Erkrankungen gekommen ist, weil nicht geimpft wurde. Auch stehe
die Wahrscheinlichkeit leichter, kurzzeitiger Nebenwirkungen einer Impfung in keinem Verhältnis zur
Erkrankungshäufigkeit wegen eines fehlenden Impfschutzes.
Ich teile diese Auffassung und bitte Sie, auch weiterhin bei Ihren Patienten bestehende Impflücken zu
schließen. Achten Sie auch darauf, dass alle nach 1970 geborenen Erwachsenen zwei dokumentierte
MMR-Impfungen haben. Sind sie entweder ungeimpft, haben in der Kindheit nur eine Impfung bekommen oder ist der Impfstatus unklar, dann sollten sie eine einmalige Impfung mit einem MMR-Impfstoff
erhalten. Damit unterstützen Sie auch das in Sachsen-Anhalt vereinbarte Gesundheitsziel des Erreichens
eines altersgerechten Impfstatus bei über 90 Prozent der Bevölkerung.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Sommerzeit.
Ihr
Burkhard John
Nr. 3 / 2013
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Editorial 2
Deutschland wieder Jodmangelgebiet?
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
4
Zum Austausch von Levothyroxin-Präparaten
4
Kalium-Mangel gefährdet viele Funktionen im Körper
Dr. med. Klaus Ehrenthal
7
CSE-Hemmer und Diabetes mellitus Typ II
8
Zu viel Kochsalz schadet dem Menschen, zu wenig aber auch
Dr. med. Klaus Ehrenthal
9
Therapie der Hepatitis C: Was bringen die neuen Substanzen?
Dr. med. Margareta Frank-Doss
14
Cilostazol/Pletal®: Europäische Arzneimittelagentur schränkt Indikation ein
18
Anwendung von Protelos® bei der Osteoporose eingeschränkt
18
Sicherheitsrisiken bei der Behandlung mit Flupirtin
19
Inhaltsverzeichnis
Schwierige Einschätzung des Blutungsrisikos bei antikoagulierten Patienten 20
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Das Schmerzmitteldilemma
Dr. med. Joachim Seffrin
22
Diclofenac bei Herzinsuffizienz kontraindiziert!
24
CK-Bestimmung bei Therapie mit Lipidsenkern
25
Der Nocebo-Effekt
26
Erfahrungen unserer Leser: Wenn Metformin versagt, NPH-Insulin dazugeben!29
Antikoagulation: Auch an Cumarin mit Selbstkontrolle denken!
30
Sicherer verordnen
Dr. med. Günther Hopf
Tetrazepam: schwere Hautreaktionen, Zulassung ruht
Methotrexat: genaue Anwendungsempfehlungen erforderlich
Donepezil: malignes neuroleptisches Syndrom
Kontrastmittelinduzierte Nephropathie
Kontrastmittel und Nierenfunktion
Protonenpumpenhemmer zur Prophylaxe Agomelatin: zu viele UAW
NSAR – UAW auf Dünn- und Dickdarm
Glukokortikoide: wenig Erfolg beim Tennisellenbogen
Neue Arzneistoffe 2012: kritische Einschätzungen
Ein schwarzes Dreieck ...
Auch Patienten können jetzt Nebenwirkungen melden
31
Leitlinie Multimedikation, Teil 3
36
Tischversion der Leitlinie Multimedikation, Teil 2
43
31
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Impressum
Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden
Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15,
60325 Frankfurt (www.kvhessen.de)
Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal,
Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf,
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth,
Dr. med. Joachim Seffrin, Dr. med. Gert Vetter, Dr. med. Michael Viapiano, Petra Bendrich, Dr. med. Jutta Witzke-Gross.
Fax Redaktion: 069 / 79502 501
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;
Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt
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Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was
Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und
Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und
Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.
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Kurze
Meldung
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Nr. 3 / 2013
Deutschland wieder Jodmangelgebiet?
Jodversorgung in Deutschland wird immer schlechter!
Dr. med. Wolfgang LangHeinrich
Schon mildes Defizit
beeinträchtigt
Hirnentwicklung.
Kinder nehmen
offenbar
nur wenig Jod auf.
Der
Gastbeitrag
Nachdruck aus
arznei-telegramm
6/2013
(a-t 2013; 44: 51-52)
mit freundlicher
Genehmigung der
Redaktion und des
Verlages des
arznei-telegramms.
Ohne Jod stirbt der Mensch. Jod ist Bestandteil des Schilddrüsenhormons und
steuert neben der Reifung des Gehirns der Föten im Mutterleib auch bei Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen wesentliche Herz-, Kreislauf- und Verdauungsfunktionen.
Untersuchungen aus Großbritannien haben gezeigt, dass schon ein mildes bis
mäßiges Joddefizit der werdenden Mutter zu einer beeinträchtigten Hirnentwicklung der Föten führen kann. Diese Kinder weisen später im Alter von 8 bis 9 Jahren
einen deutlich niedrigeren Intelligenzquotienten sowie einen kognitiven Rückstand
gegenüber Kindern mit guter Jodversorgung in der Schwangerschaft auf.
Dies wird auf eine verschlechterte Jodversorgung der Menschen in Großbritannien
zurückgeführt, was auch in Deutschland feststellbar ist. Weil Jod unverzichtbar ist
und als Spurenelement immer weniger im Deutschlands Böden vorkommt, wird es
seit Jahrzehnten den meisten Speisesalzen zugesetzt und dies stellt neben Milchund Fleischprodukten die Hauptjodquelle dar. Offensichtlich aus regulatorischen
und Kostengründen wird zunehmend auf den Einsatz von jodhaltigem Salz bei der
Lebensmittelherstellung verzichtet.
Nach den Richtwerten sollen Säuglinge 40 bis 80 µg Jod/Tag, Kleinkinder und
Jugendliche zwischen 100 und 200 µg Jod/Tag, Erwachsene 200 µg Jod/Tag,
Schwangere 230 µg Jod/Tag und stillende Mütter 260 µg Jod/Tag aufnehmen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Jodausscheidung sollte im Durchschnitt ca.
120 µg/Tag betragen. Bei 6- bis 12-jährigen Kindern war dies 2004 bis 2006 im
Durchschnitt nur 86 µg/Tag und 2009 mit 80 µg/Tag noch einmal weniger. Dies
deutet eindeutig darauf hin, dass die Jodzufuhr zumindest nur im untersten Normbereich, teilweise deutlich darunter liegt, mit zunehmender Tendenz.
In diesem Zusammenhang stellt sich erneut die Frage, warum Deutschland als
Jodmangelland nicht, wie viele andere Länder mit vergleichbarer Problematik, Jod
dem Trinkwasser zusetzt.
Zum Austausch von
Levothyroxin-Präparaten
In a-t 2013; 44: 44-5 fassen wir den Kenntnisstand zur Umstellung von Anti­
epileptika-Originalen auf Nachfolgeprä­parate zusammen. Besonders umstritten
ist der Wechsel auf und zwischen Generika auch beim Schild­drüsenhormon Levothyroxin (EUTHYROX, Generika). Le­vothyroxin gilt vielfach als Mittel mit enger
therapeutischer Breite, [1] wenngleich nicht im Sinne akuter Toxizität bei gerin­ger
Dosiserhöhung.[2] Aus Studien zu den Folgen einer subkli­nischen Schilddrüsendysfunktion, definiert als erhöhtes oder erniedrigtes thyreotropes Hormon (TSH) bei
normalen Schilddrüsenhormonspiegeln, ergeben sich aber Hinweise, dass geringe
Dosisänderungen langfristig relevante klinische Konsequenzen haben können.
[3,4] Über- oder Unterbehandlung kann mit negativen Effekten etwa auf Wachstum und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, Knochenmeta­bolismus oder
kardiovaskuläre Funktion einhergehen. [1] Eine sorgfaltige Dosistitrierung wird
Nr. 3 / 2013
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empfohlen, [3] insbesondere im Rahmen der Therapie von Patienten mit Schilddrüsenkarzinom, bei älteren Patienten – vor allem mit vorbestehenden kardiovaskulären
Erkrankungen – Kindern oder Schwangeren. [2,5,6]
Um die Schwierigkeiten zu überwinden, die durch die un­terschiedlichen Spiegel
des vom zugeführten Levothyroxin nicht unterscheidbaren endogenen Schilddrüsenhormons be­dingt sind, wird die Bioäquivalenz heute mit einer suprathe­rapeutischen
Dosis von 600 µg bei gesunden Freiwillligen ge­prüft, bei einem Äquivalenzbereich
von 80% bis 125% (vgl. a-t 2013; 44: 44-5). [2,7] Dieses Vorgehen wird besonders
von Markenherstellern und den von ihnen unterstützten Mei­nungsbildnern seit
Jahren als zu insensitiv kritisiert. Die im Gegenzug vorgeschlagene Bioäquivalenzprüfung bei athyreoten Patienten mit der TSH-Konzentration als Messparameter
wird von den Behörden nicht akzeptiert, vor allem wegen der hohen Variabilität
des TSH-Spiegels, der vielen Einflüssen unterliegt. [8]
Daten zu den klinischen Folgen des Wechsels von Levothyroxinoriginalen auf
Generika oder zwischen verschiede­nen Generika sind außerordentlich spärlich. Eine
2010 publi­zierte Umfrage von zwei amerikanischen endokrinologischen Gesellschaften und der internationalen Endocrine Society, die alle vom Markenanbieter Abbott
unterstützt werden, er­gibt 199 Verdachtsberichte über unerwünschte Effekte in
Zu­sammenhang mit einer Änderung des TSH-Spiegels, von de­nen 89% nach einem
Präparatewechsel aufgetreten sind. [5] Die Aussagekraft dieser Umfrage ist allerdings zweifelhaft: Da die Autoren im Kopf des Fragebogens bereits mögliche Probleme mit der Austauschbarkeit von Levothyroxinpräparaten the­matisieren, [10] ist
nicht von einem repräsentativen und unverzerrten Rücklauf auszugehen, der zudem
offenbar weniger als 10% beträgt. In einer Anfang dieses Jahres veröffentlichten
offenen randomisierten Cross-over-Studie mit 31 hypothyreoten Kindern wird das
US-amerikanische Markenpräparat SYNTHROID mit einem Generikum verglichen,
das laut Zu­lassung mit SYNTHROID bioäquivalent ist. Unter der achtwöchigen
Einnahme des Generikums liegen die TSH-Werte signifikant höher als unter dem
Markenpräparat (im Median 1,8 mU/l versus 0,7 mU/l). Der Unterschied betrifft nur
die Kinder mit kongenitaler Hypothyreose. Bei der Mehrzahl lie­gen die TSH-Werte
jedoch auch unter dem Generikum im Referenzbereich. Von den drei klaren „Ausreißern“ (TSH 9,4 mU/1 bis 17,8 mU/1) unter dem Nachfolgepräparat sind zudem
zwei wegen Non-Compliance nicht interpretierbar. Die Autoren schließen dennoch
aus den Ergebnissen, dass die beiden Präparate bei kongenitaler Hypothyreose nicht
bioäquivalent sind und raten zur Vorsicht vor dem Austausch auch bei anderen
gefährdeten Patientengruppen. [11]
Bioäquivalenzstudien zu den in Deutschland verfügbaren Levothyroxingenerika
wurden mehrheitlich, aber nicht durchgängig mit LEVOTHYROXIN-HENNING als
Referenz­produkt durchgeführt. Referenzpräparat kann zum Beispiel auch eine in
einem anderen EU-Land erhältliche Levothyroxinzubereitung sein. [12] Nachvollziehen lässt sich dies für Verordner nicht: Wenn sich in Fachinformationen der Generika
überhaupt Angaben zu Bioäquivalenzstudien finden, ist das Referenzpräparat nicht
näher bezeichnet.
Nach Einschätzung der Britischen Arzneimittelbehörde gehört Levothyroxin nicht
zu den Arzneimitteln mit hoher Löslichkeit, sodass von einem möglichen Einfluss
von Hilfsstoffen oder Produktionsverfahren auf die Absorption auszu­gehen ist. [2]
Vergleiche zur Wirkstofffreisetzung, wie sie das Zentrallaboratorium Deutscher
Apotheker (ZL) regelmäßig zu Original- und Nachfolgepräparaten durchführt,
wurden in Verbindung mit Levothyroxinzubereitungen seit Jahren nicht mehr vorgenommen. [13]
Levothyroxin hat zudem bekanntermaßen ein komplexes Stabilitätsprofil. Die
Stabilität von Levothyroxinzubereitun­gen ist anfällig gegenüber Einflussfaktoren wie
Licht, Feuch­tigkeit, Temperatur, Sauerstoff oder bestimmten Hilfsstoffen. Auch für
den Herstellungsprozess ergeben sich aufgrund der Stabilitätsprobleme besondere
Anforderungen. [2] Der Wirk­stoffgehalt von Arzneimitteln darf im Allgemeinen
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Praxis-Tipp
Ist ein Patient
einmal gut auf
ein L-ThyroxinPräparat eingestellt, sollte
nicht mehr
gewechselt
werden
(das heißt:
aut idem
ankreuzen).
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Nr. 3 / 2013
nicht mehr als 5% nach oben oder unten von der deklarierten Menge abweichen.
Bei instabilen Stoffen können die Grenzen weiter sein. Konkrete Zahlen für Levothyroxinpräparate in Deutschland verweigert das BfArM auf Anfrage: Dabei han­delt
es sich nach Einschätzung der Behörde um Betriebsge­heimnisse. [7]
Die Kosten für ein günstiges Levothyroxingenerikum un­terscheiden sich von
einem Original bei einer Tagesdosis von 150 µg um maximal 3,84 € pro Jahr (Jahreskosten auf der Ba­sis der Listenpreise für 100er-Packungen 57,41 € bis 61,25 €).
Auch mit Rabattverträgen dürften sich angesichts dieser Prei­se nur sehr geringe
Einsparungen erzielen lassen. Nach Emp­fehlung der Fachinformationen soll ein
Präparatewechsel nur unter Überwachung auch der labordiagnostischen Parameter erfolgen. Angesichts der geringen Ersparnismöglichkeiten er­scheint uns dieser
zusätzliche Aufwand, der ja auch mit Mehrkosten verbunden ist (TSH-Test: 3 €),
wenig gerechtfer­tigt. Bei Gesamtschau der Daten ist es unseres Erachtens daher
vernünftig, bei gut auf ein Levothyroxinpräparat einge­stellten Patienten das Produkt
nicht zu wechseln.
Levothyroxin (EUTHYROX, Generika) ist ein preisgüns­tiges Altarzneimittel, bei dem sich durch Wechsel zwischen den Handelspräparaten
nur sehr geringe Einsparungen er­zielen lassen.
Levothyroxin wird andererseits zu den Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite gerechnet, bei denen der Austausch von Handelspräparaten problematisch sein kann.
Daten zu den klinischen Folgen eines Wechsels von Levothyroxinpräparaten sind äußerst begrenzt. Für die in Deutschland vermarkteten
Levothyroxinprodukte mangelt es zudem an nachvollziehbaren vergleichenden Bioäquivalenz- und Qualitätsdaten.
Uns scheint es daher vernünftig, bei gut auf ein Levothyroxinpräparat
eingestellten Patienten das Präparat nicht zu wechseln, sondern aut
idem anzukreuzen.
Literatur (R = randomisierte Studie):
1
AbbVie Inc.: US-amerikanische Produktinformation SYNTHROID, Stand Sept. 2012
2
MHRA: Levothyroxine Tablet Products: A Review of Clinical & Quality Consideration, Jan. 2013;
http://www.mhra.gov.u3c/home/groups/pl-p/documents/drugsafetymessageZcon222566.pdf
3
GREEN, W.L.: AAPS J. 2005; 7: E54-8
4
FRANKLYN, JA.: Clin. Endocrinol. 2013; 78:1-8
5
American Thyroid Association et al.: Thyroid 2004; 14:486
6
Arzneimittelbrief 2009; 43:31b
7
BfArM: Schreiben vom 16. Apr. 2013
8
LIONBERGER, R. (FDA): Diavortrag Public Meeting for Levothyroxine Sodium Therapeutic Equivalence, Mai
2005; zu finden unter:
http://wvvw.fda.gov/DrugsyDrugSafety/PostmarketDrugSafetyInformationforPatientsandProviders/ucm161290.htm
9
HENNESSEY, J.V. et al.: Endocr. Pract. 2010; 16: 357-70
10 American Thyroid Association et al.: Thyroid Pharmacovigilance Project;
http://www.thyroidpharmacovigiknce.org/?uid=718bd1fd6955edd5f0246188c919ee49
R 11 CARSWELL, J.M. et al.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2013; 98:610-7
12 BfArM: Schreiben vom 1. Okt. 2009
13 KAUNZINGER, A. (ZL): persönliche Mitteilung
(Weitere Informationen und die Möglichkeit des Abonnements unter www.arznei-telegramm.de)
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
Kalium-Mangel gefährdet viele
Funktionen im Körper
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Seite 7
Beiträge
der
Redaktion
Durch die „moderne“ Ernährung in westlichen Ländern wird die Aufnahme von
Kalium und vielerlei lebenswichtigen Stoffen verändert und oftmals reduziert. Das
liegt einerseits an der weltweiten Abnahme von selbst zubereiteter Nahrung mit
Gemüse und Salat oder Obst, vermindertem Verzehr von Bohnen, Erbsen, Spinat,
Kohl, Petersilie, Nüssen, Bananen, Papayas, Datteln usw. und andererseits an der
Zunahme von Fertigkost in den westlichen Ländern und an damit verbundenen
Schädigungen der Nahrung durch den industriellen Fertigungsprozess, was vielfältig
nachzulesen ist und z. B. von Grimm [2] gut recherchiert wurde.
Kaliummangel kann zu Elektrolytstörungen und damit zu vielfältigen Störungen
der Zellmembranfunktionen und des Stoffwechsels führen, da Kalium in vielfacher
Weise auch als Gegenspieler von Natrium wirkt.
Mit einer Metaanalyse hat Nancy Aburto mit ihrer Arbeitsgruppe vom Department
of Nutrition for Health and Development der WHO in Genf kürzlich gezeigt, dass
durch eine Anhebung der Kaliumwerte im Serum der Blutdruck bei Hypertonikern
deutlich gesenkt wird und damit auch das Schlaganfallrisiko vermindert wird [1].
Studie:
Aburto et al. werteten insgesamt 33 Studien mit rund 129.000 Teilnehmern aus,
darunter waren 22 randomisierte kontrollierte Studien mit 1.606 Teilnehmern, die
eine den Blutdruck senkende Wirkung bei vermehrter Zufuhr von Kalium zeigten.
Elf Studien waren Kohortenstudien mit 127.038 Teilnehmern, bei denen der Einfluss
von vermehrter Kaliumzufuhr auf spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht
wurde. Durch Kontrollen des Blutdrucks und der Laborergebnisse wurden die Effekte einer vermehrten Kaliumzufuhr (im Mittel +90 bis +120 mmol/die) aufgelistet.
Ergebnisse:
Bei den 22 untersuchten randomisierten, kontrollierten Studien fand sich eine
durchschnittliche blutdrucksenkende Wirkung durch vermehrte Kaliumzufuhr:
der systolische Blutdruck sank im Mittel um 3,49 mm Hg
der diastolische Blutdruck sank im Mittel um 1,96 mm Hg.
Diese Wirkung wurde besonders bei Patienten mit arterieller Hypertonie
erzielt, weniger bei normotonen. Bei Hypertonikern war der Effekt deutlich
größer:
Der systolische Blutdruck bei Hypertonikern sank im Mittel um 7,16 mm Hg.
Diese Wirkung wurde erreicht durch die Zufuhr von 90-120 mmol/die Kalium. Die
Wirkung war nicht dosisabhängig. Auch fanden sich keine Hinweise auf negative
Auswirkungen des Kaliums auf die normale Nierenfunktion. Auch die kontrollierten
Werte der Blutlipide und der Katecholamine blieben ebenfalls ohne Hinweise auf
schädliche Wirkungen. In 3 Studien an Kindern zeigten sich ebenfalls keine Nachteile durch die Kaliumgaben. Bei gesunden Nieren fanden sich keine negativen
Auswirkungen einer erhöhten Kaliumgabe.
Die Untersuchungsergebnisse der ebenfalls ausgewerteten 11 Kohortenstu­dien
mit 127.038 Teilnehmern wurden in Beziehung zur Gesamtzahl der späteren
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Kaliumzugabe gesetzt. Dabei fand sich ein
nicht-signifikanter Trend zu einer protektiven Wirkung: Die Zahl der Schlaganfälle
ging bei erhöhter Kaliumzufuhr um 24 % zurück (Risk Ratio 0,76; 95%-Konfidenz­
intervall 0,70-1,11).
Blutdruck sank
durch kaliumreiche
Ernährung – das
heißt: viel Obst
und Gemüse!
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KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
Daraus leitete die Arbeitsgruppe die WHO-Empfehlung ab, eine vermehrte Kaliumaufnahme bei Hypertonikern und zur Schlaganfallprävention zu empfehlen:
„These results suggest that increased potassium intake is potentially beneficial to
most people without renal handling of potassium for the prevention and control
of elevated blood pressure and stroke.”
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Kaliumreiche Ernährung senkt bei nierengesunden
Hypertonikern den Blutdruck
Der Ernährung unserer Patienten muss mehr Beachtung geschenkt werden.
Keinesfalls sollte die derzeitige Fast-Food-Welle vom behandelnden Arzt unterstützt werden.
Frisches regional gewachsenes und möglichst saisonales Obst und Gemüse
sowie selbst zubereitete Speisen sollten den Speiseplan dominieren.
Künstliche Nahrungszusätze in Fertigkost, wie Beimengungen von Vitaminen,
Salz, Zucker, Geschmacksverstärkern, Farb- und Aromastoffen können die
Mängel gegenüber kaliumreicher herkömmlicher Ernährung nicht ausgleichen.
Auch Getränke sollten möglichst naturbelassen, ohne Fremdzusätze (wie z.B.
Aroma-, Farb- und Geschmackszusätze) und ungezuckert konsumiert werden.
Die seit Jahren bestehenden Ernährungsgewohnheiten vieler Patienten müssen vom Hausarzt – nicht selten gegen Widerstände der Patienten – durch
bemühte und geduldige Beratungen verbessert werden.
Zeit- und auch Geldmangel der Patienten sind dabei zu berücksichtigen. Die
Zubereitung gesunder Kost braucht seine Zeit. Sie muss nicht teuer sein.
Jahrelange Essgewohnheiten lassen sich nur langsam und geduldig, orientiert
an den Gesundheitsdaten und Möglichkeiten des Betroffenen, verbessern.
Das gilt besonders bei Hypertonikern und bei Patienten mit einem erhöhten
kardiovaskulären Risiko. Hier kann eine kaliumreiche Ernährung, besonders
in Verbindung mit natriumarmer Kost, den Hochdruck verringern und das
Schlaganfallrisiko mindern.
Bei Patienten mit Nierenschäden sollten diese Empfehlungen allerdings mit
dem Nephrologen abgestimmt werden.
Literatur:
1
Aburto NJ, Hanson S, Gutierrez H, et al.: Effect of increased potassium intake on cardiovascular risk factors and
disease: systematic review and meta-analysis. BMJ 2013;346:f1378,
doi: 10.1136/bmj.f11378 (Publ. 05.April 2013)
2
Grimm, Hans-Ulrich: Verschiedene ernährungskritische Schriften, wie z.B.: Vom Verzehr wird abgeraten. Wie uns
die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht. 2012, Droemer Verlag, 319 S.
Für Sie
gelesen
CSE-Hemmer und Diabetes mellitus Typ II
In einer retrospektiven Medikamenten-basierten Kohortenstudie (471.259 Patienten) aus Ontario/Kanada [1] wurde bestätigt, dass das Diabetesrisiko unter Statineinnahme mit Atorvastatin, Rosuvastatin und Simvastatin bei über 66-Jährigen
steigt. Es erkrankten 3 bis 8 Personen pro Tausend mehr an Diabetes mellitus Typ II
als unter Pravastatin, Fluvastatin oder Lovastatin. Das heißt, es ist weiterhin richtig,
dass in der Primärprävention erst bei einem hohem kadiovaskulären Risiko, z.B.
ARRIBA-Score >20%, ein CSE-Hemmer eingesetzt wird, z.B. Pravastatin. In der
Sekundärprävention ist das Risiko eines Diabetes Typ II verglichen mit dem Benefit
durch den CSE-Hemmer von untergeordneter Bedeutung.
Dr. med. Gert Vetter
Literatur:
1
BMJ 2013;346:f2610; Online: http://www.bmj.com/content/346/bmj.f2610
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U-Kurve gilt auch für das Kochsalz
Zu viel Natrium schadet dem Menschen,
zu wenig aber auch
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Schon ab 115 mm Hg steigt das kardiovaskuläre Risiko mit dem systolischen Blutdruck kontinuierlich an. Um die Homöostase von Wasserhaushalt und Blutdruck zu
gewährleisten, steuert der Körper besonders die Natriumkonzentration. Deswegen
wird eine Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen durch Blutdrucksenkungen mittels Kochsalzreduktion in der Nahrung propagiert.
Dazu erschien 2010 im Deutschen Ärzteblatt eine Übersichtsarbeit von Hoyer et
al. mit Studienergebnissen und Untersuchungen aus zahlreichen Ländern und Bevölkerungsgruppen [1]. Von der WHO wurde bereits 2006 in Paris eine Reduktion
der täglichen Kochsalzaufnahme für Hochdruckkranke von aktuell 8 bis 12 g auf
zukünftig 5 bis 6 g NaCl gefordert [2].
Im Ergebnis wurde von Hoyer et al. festgehalten, dass durch eine moderate
Senkung der täglichen Kochsalzaufnahme in Deutschland von derzeit 8 bis 12 g
Kochsalz (das entspricht umgerechnet etwa 3.150 bis 4.700 mg Natrium) auf 5 bis
6 g (umgerechnet rund 2.000 bis 2.400 mg Natrium) „ein Nutzen für Krankheitslast
und Ökonomie zu erwarten ist.“
Es wurde deswegen eine Reduktion des NaCl-Gehalts industriell verarbeiteter
Lebensmittel gefordert, die für 75 bis 80% der Salzaufnahme und die derzeitige
weitere Zunahme der Kochsalzaufnahme verantwortlich sind, sowie Änderungen
des Lebensstils und Umstellung der Ernährung angemahnt. Dies fand entsprechend
auch Eingang in Leitlinien zahlreicher medizinischer Fachgesellschaften, wie der
Europäischen Gesellschaft für Kardiologie [3].
Die Evidenz für eine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität durch Kochsalzreduktion ist unstrittig bei der Verminderung eines sehr hohen Konsums von mehr
als 15 g pro Tag auf einen mäßigen Konsum von ca. 10 g pro Tag. Eine weitere
Kochsalzreduktion auf einen sehr geringen Salzkonsum von weniger als 6 g pro Tag
kann die Mortalität jedoch nicht weiter evidenzbasiert senken. Da die Bemühungen
zur Reduktion von Kochsalz in industriell erzeugten Lebensmitteln – auch wegen der
Folgen für Haltbarkeit und Keimfreiheit der Lebensmittel sowie Preisgestaltung – in
den westlichen Ländern eher gescheitert sind, ist weiterhin mit einer hohen Kochsalzbelastung der Bevölkerung in den Industrienationen zu rechnen.
Pro strengere Salzrestriktion
So stellten Mozaffarian et al. in einer Metaanalyse (vorgetragen 2010 auf einer
Fachtagung der American Heart Association in New Orleans) aus 107 randomisierten
kontrollierten klinischen Studien fest, dass weltweit mit 2,3 Millionen Todesfällen
durch einen weiterhin überhöhten Salzkonsum zu rechnen ist, von denen 1 Million
bereits vor dem 69. Lebensjahr verstorbene Männer wären – besonders auch in
Schwellen- und Entwicklungsländern [4].
Seit mindestens 2008 wird darüber diskutiert, bis zu welcher Höhe die tägliche
Natriumzufuhr noch toleriert werden sollte, um Hypertonie und Zunahme des
kardiovaskulären Risikos zu vermeiden. So haben Whelton et al. vom Vorstand der
American Heart Association 2013 vorgeschlagen, die tägliche Natrium-Aufnahme
generell auf unter 1500 mg (entspricht etwa 3,8 g Kochsalz) zu beschränken [5].
Kontra allzu strenge Kochsalzrestriktion
Hierzu hat das US-amerikanische Institute of Medicine (IOM), das als Mitglied der
Amerikanischen Akademie der Wissenschaft der Beratung der US-amerikani-
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Beiträge
der
Redaktion
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schen Öffentlichkeit und Politik dient, in einer Erwiderung diskutiert, dass eine tägliche Natriumzufuhr von weniger als 2.300 mg Natrium (= ca 5,8 g Kochsalz) täglich
für manche Gruppen sogar gefährlich sein könnte – z.B. bei zunehmender Herzinsuffizienz, bei erhöhten kardiovaskulären Risikofakturen wie erhöhten Lipidwerten und
Insulinresistenz. Es wurden unterschiedliche Studien analysiert, um herauszufinden,
ob es Patienten gibt, für die eine zu strikte Kochsalzreduktion gefährlich sein könnte
und die Begründung hierzu in einem Report niedergelegt [6].
Dieser Report des IOM bestreitet, dass aufgrund vorliegender Studien eine weitere
Reduktion der täglichen Natriumaufnahme unter 2.300 mg gefahrlos sei. Er widerspricht damit den Empfehlungen der American Heart Association [5], die weiterhin
1.500 mg (= ca 3,8 g Kochsalz) als maximale tägliche Natriumaufnahme empfiehlt,
allerdings ohne eine allgemein anerkannte gesicherte Evidenz.
Studie
In einer Studie untersuchten Paterna et al. 2007 an Patienten mit einer kompensierten chronischen Herzinsuffizienz (NYHA II) die Effekte unterschiedlicher Konzentrationen von Natrium in der Nahrung auf das kardiovaskuläre Risiko [7].
In einer Interventionsstudie wählten Paterna et al. aus 1.244 internistischen Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz (NYHA II, Ejektionsfraktion < 35%,
Serumkreatinin < 2mg/dl), die zur stationären Aufnahme kamen, 232 Patienten
aus. Sie wurden nach Anwendung von 2 Diäten mit unterschiedlichem Natriumgehalt untersucht. Sie wurden innerhalb der Zeit bis zur Entlassung, spätestens am
30. Tag medikamentös auf einen „steady state“ eingestellt (je nach Befund der
Herzinsuffizienz mit Anpassung der Diuretika, mit ACE-Hemmern, Digitalis, Aldosteron, Betablockern und Nitraten). Nach dieser stationären Einstellung wurden diese
Therapien unverändert bis zum 180. Tag beibehalten. Sie wurden randomisiert in
2 Gruppen aufgeteilt:
Gruppe 1: 118 Patienten erhielten eine normale Natriumkost („Normaldiät“)
mit exakt 120 mmol/die Natrium (= ca 2760 mg Na) + 2 x täglich 250 bis 500
mg Furosemid oral plus 1000 ml/die Flüssigkeit. Hiermit wurde die renale Flüssigkeitsbalance während der Untersuchungszeit zwischen dem 30. und 180.
Tag nach stationärer Aufnahme gleichbleibend aufrecht erhalten.
Gruppe 2: 114 Patienten erhielten eine natriumarme Diät mit exakt nur 80
mmol/die Natrium (= ca 1840 mg Na) + 2 x täglich 250 bis 500 mg Furosemid
oral plus ebenfalls 1000 ml Flüssigkeit.
Die Intervention begann am 30. Tag
nach der stationären Aufnahme und
wurde bis zum 180. Tag nach der
1 mmol Natrium = 23 mg Natrium
Entlassung fortgeführt. Zuvor und
1 mmol Natriumchlorid = 58,5 mg ‚Kochsalz (NaCl)
während dieser Studiendauer und
1 g Kochsalz = 17,1 mmol NaCl und enthält 0,3934 mg Natrium
nach Studienende fanden engmaKochsalz in mg dividiert durch 2,54 ergibt Natrium in mg
schig ausführliche Untersuchungen
und Messungen statt, um die Wirkung der Natriumgaben aus der Diät auf die Herzinsuffizienz in den beiden Gruppen
zu vergleichen (Befunde der chronischen Herzinsuffizienz, von Gewicht, Blutdruck,
Herzfrequenz, EKG, und Echokardiogramm, diverse Laborparameter wie natriuretisches Peptid, Aldosteronspiegel, Aktivität des Plasmarenins, sowie Natrium, Kalium,
Chlorid, Bikarbonat, Albumin, Harnsäure, Kreatinin, Harnstoff und Glukose im Serum).
Primärer Endpunkt war eine notwendige erneute stationäre Aufnahme. Sekundärer
Endpunkt waren Rehospitalisationen kombiniert mit Todesfällen.
Umrechnung
Ergebnis
In Gruppe 1 (Normaldiät = ca 2760 mg Na/die) waren notwendige stati-
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onäre Wiederaufnahmen gegenüber Gruppe 2 (natriumarme Diät) vermindert
(7,63 vs. 26,32%, p < 0,05).
Ebenso wurde in Gruppe 1 der sekundäre Endpunkt mit 12,71 vs. 39,47%
seltener erreicht.
In Gruppe 1 mussten 9 Patienten erneut stationär aufgenommen werden
wegen Verschlechterung von NYHA II nach NYHA III/IV, 6 Patienten verstarben
an irreversibler Herzinsuffizienz.
Die Werte von natriuretischem Peptid waren in Gruppe 1 (Normaldiät) niedriger als in Gruppe 2 (natriumarme Diät) (685 +/- 255 pg/ml vs. 425 +/- 125 pg/
ml, p < 0.001).
Bei Gruppe 1 (Normaldiät) ergab sich bei Studienende eine geringe signifikante Reduktion der Aldosteronspiegel (p = 0,039) und kein signifikanter
Unterschied der Plasmareninspiegel, während in Gruppe 2 (natriumarme Diät)
Aldosteron- und Plasmareninspiegel angestiegen waren.
In Gruppe 1 (Normaldiät = ca 2760 mg Na/die) zeigte sich zusammengefasst gegenüber Gruppe 2 eine geringere Rate von Rehospitalisationen und eine signifikante Abnahme der Serumspiegel von Aldosteron,
natriuretischem Peptid und geringer von Plasmarenin.
Bei Gruppe 2 (mit natriumarmer Diät = ca 1840 mg Na/die) fanden Paterna et al.
folgende Veränderungen gegenüber der Gruppe 1 mit Normaldiät:
In Gruppe 2 mussten 30 Patienten wegen klinischer Verschlechterung ihrer
Herzinsuffizienz (NYHA II nach III/IV) stationär behandelt werden:
In Gruppe 2 verstarben insgesamt 15 Patienten (4 x plötzlicher Herztod, 9 x
durch irreversible Herzinsuffuzienz, 2 aus anderen Gründen: 1 x durch ein
Neoplasma, 1 x durch Schlaganfall).
In Gruppe 2 (mit natriumarmer Diät = ca 1840 mg Na/die) fanden sich nach
180 Tagen die Aldosteron- und Plasmarenin-Spiegel signifikant höher als bei
Gruppe 1 (p < 0.001).
Die Ergebnisse der Studie von Paterna et al. zeigen damit, dass eine normale natriumhaltige Kost (hier etwa 7 g NaCl/die) das Outcome bei chronischer Herzinsuffizienz
(NYHA II) verbessern kann. Die Natriumverminderung durch natriumarme Diät mit
80 mmol/die Natrium (etwa 5 g NaCl) hatte eine abnehmende neurohormonale
Schutzwirkung mit schlechterem klinischen Outcome bei kardiovaskulären Risikopatienten mit kompensierter chronischer Herzinsuffizienz gezeigt.
Weitere Studien
Zu ähnlichen Aussagen kamen 2013 Aburto et al. [8] in einem systematischen Review
und Metaanalyse aus 37 randomisierten kontrollierten Studien sowie 14 prospektiven Kohortenstudien. Es wurden nichtakute Herzkranke und Kinder untersucht
mit reduzierter Natriumzufuhr. Die Restriktion der täglichen Natriumaufnahme auf
2.000 mmol/die Natrium (= ca 5,1 g Kochsalz) hatte bei nichtakuten Herzkranken
eine evidente Blutdrucksenkung zur Folge ohne negative Veränderungen bei Blutlipiden, Katecholaminspiegeln und Nierenfunktion (p < 0,05). Eine moderate Evidenz
für die Senkung des Blutdrucks fand sich bei Kindern. Die reduzierte Salzaufnahme
war mit einer Verminderung von Schlaganfällen und fataler KHK bei Erwachsenen
assoziiert. „The totality of evidence suggests that most people will likely benefit from
reducing sodium intake“.
Cochrane Review 2013
Auch die Autoren He FJ, Li J und MacGregor G untersuchten die Wirkung von moderater Kochsalzreduktion in der Nahrung auf den Blutdruck in einem systematischen
Cochrane-Review durch eine Metaanalyse aus 34 randomisierten Studien mit
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insgesamt 3 230 Teilnehmern [9]. Sie untersuchten Studien mit Kochsalzreduktion
von täglich 9 bis 12 g (= ca 3500 – 4700 mmol/die Natrium) auf täglich 5 bis 6 g
Kochsalz (entsprechend etwa 2000 mg – 2400 mmol Natrium).
Auch sie fanden die beschriebene deutliche systolische und diastolische Blutdruckabsenkung bei hypertensiven und auch bei normotensiven Patienten ohne Bezug
zum Alter, zum Geschlecht, zu ethnischen Gruppen oder zur Hautfarbe.
Es fanden sich in diesem Cochrane Review durch mäßige Verminderung der täglichen Kochsalzzufuhr leichte Steigerungen der Plasma-Renin-, der Aldosteron- und
der Katecholamin-Spiegel, ohne auffällige Änderungen des Cholesterins, des LDLund des HDL-Cholesterins und der Triglyceride.
Auch bei Kochsalz gibt es eine U-Kurve
Schon 2011 stellten Martin O’Donnell et al. durch Urinuntersuchungen auf Natrium
und Kalium an den Teilnehmern der ONTARGET- und der TRANSCENT-Studie (nach
Hochrechnung auf den täglichen Kochsalzkonsum aus den Urinkonzentrationen
mittels der Kawasaki-Formel) fest, dass das kardiovaskuläre Sterberisiko in einer
„U“-Kurve nicht nur bei hohem Kochsalzkonsum ansteigt, sondern auch bei Kochsalzmangel erhöht ist. Der Nadir des geringsten kardiovaskulären Risikos lag bei diesen genauen Auswertungen und Nachuntersuchungen bei 4 bis 5 g Natriumzufuhr
täglich entspechend 10 bis 12 g Kochsalzaufnahme [10].
Zu ähnlichen Aussagen war auch bereits Michael Alderman 2007 gekommen
[11]. Diese Aussagen decken sich auch mit einem Review aus 39 Studien, dessen
Ergebnisse 2013 im Lancet publiziert worden waren [12].
Bedeutung
für
unsere
Praxis
10 bis 12 g Kochsalz pro Tag sind für Gesunde optimal
Bei Hypertonie und besonders bei kardiovaskulären Risikofällen sollte die tägliche Natriumzufuhr etwa bis zu 2300 mg (entsprechend maximal etwa 5,8 g
Kochsalz) reduziert werden. Der Blutdruck wird dadurch signifikant gesenkt.
Der Wert einer noch weiteren Natriumreduktion ist weniger gut durch Evidenz gesichert [6].
Bei einer Natriumreduktion in
der Nahrung ist wie bei
einer Kaliumsubstitution auch auf Nierengesundheit zu achten.
Bei der Ernährungsberatung
sollte der Arzt auf das Vermeiden gesalzener, aromatisierter und gesüßter Industrie-Fertigkost besonderen Wert legen.
Brot und Hartkäse enthalten zur Haltbarmachung besonders viel NaCl [13].
Nicht nur die Kalorienzahlen („süße aromatisierte Dickmacher“) sind bei
Fertigkost von Übel, sondern immer wieder die versteckten Kochsalzbeigaben
(z.B. in Pizza, Snacks, Wurst und Schinken). Gemüse- und Fleischkonserven
aus der Industrie enthalten viel von dem, was es zu vermeiden gilt: Salz, Stärke, Zucker, Geschmacksverstärker, Aromastoffe, Farbstoffe usw. (siehe unten).
Nicht zu vergessen ist bei jeder Ernährungsberatung der Hinweis auf die notwendige tägliche Aufnahme von Kalium durch Gemüse, Salate, Obst (siehe
dazu auch den Beitrag auf Seite 7).
Durch Verminderung eines Natriumüberangebots einerseits und Beseitigung
von Kaliummangel andererseits in der täglichen Nahrung lassen sich signifikant Hypertonie und damit das kardiovaskuläre Risiko verbessern.
Aber auch eine extrem natriumarme Diät ist zu vermeiden, sie erhöht das
Risiko [6]. (Natriumarm: unter 3,8 g Kochsalzaufnahme = ca 1.500 mg
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Natrium täglich).
Die optimale Kochsalzzufuhr inklusive aller gesalzener Fertigprodukte liegt
nach Auswertung der bisher ermittelten „U“-Kurve des kardiovaskulären Risikos bei etwa 4 bis 5 g Natriumzufuhr täglich, entsprechend etwa 10 bis
12 g Kochsalz.
Literatur:
1
Klaus D, Hoyer J, Middeke M: Kochsalzrestriktion zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Deutsch Ärztebl 2010;107(26):457-462
2
World Health Organisation: Reducing salt intake in populations. Report of a WHO Forum and Technical meeting. 5.-7.October 2006 in Paris,
France: Less salt, less risk of heart disease and stroke. Publikationen der WHO: [email protected]
3
Guidelines Committee 2003 European Society of Hypertension, European Society of Cardiology guidelines for the management of arterial
hypertension. J Hypertens 2003;21:1011-1053
4
Mozaffarian D, Tao Hao, Rimm EB, Willett WC, Hu FB: Changes in Diet and Lifestyle and Long-Term Weight Gain in Women and Men. New
Engl J Med 2011;364:2392-2404
5
Whelton PK, Appel LJ, Sacco RL, et al.: Further Evidence Supporting the American Heart Association Sodium Reduction Recommandations.
Circulation 2012, publ. November 2, 2012, doi: 10.1161/CIR.0b013c318279abcf
6
Institute of Medicine of the National Academies of Sciences: Sodium Intake in Populations. Assessment of Evidence. 2013, www.iom.edu
http://national-academies.com/newsroom
7
Paterna S, Gaspare P, Fasullo S, Sarullo M, Di Pasquale P.: Normal-sodium diet compared with low-sodium diet in compensated congestive
heart failure: is sodium an old enemy ore a new friend? Clinical Science 2008;114:221-230, doi:10.1142/CS20070193
8
Aburto NJ, Ziolkovska A, Hooper L, et. al.: Effect of lower sodium intake on Health: systematic review and meta-analysis. BMJ
2013;346:11326, doi: 10.1136/bmj.f11326 (Publ.05.April 2013)
9
He FJ, Li J, MacGregor GA: Effect of longer term modest salt reduction on blood pressure: Cochrane systematic review and meta-analysis of
randomized trials. BMJ 2013;346:f11325, doi: 10.1136/nmj.f11325 (Publ. 05.April 2913)
10 O’Donnell M, Salim Y, Mente A, et al.: Urinary Sodium and Potassium Excretion and Risk of Cardiovascular Events. JAMA
2011;306(20):2229-2238, doi: 10.1001/jama.2011.1729
11 Alderman, Michael H: Dietary sodium and cardiovascular disease: the ‘J’-shaped relation. J of Hypertension;25(5):903-1103, May 2007, doi:
10.1097/HJH.0b013e3280c14394
12 siehe auch: Salt: Friend or Foe. The Lancet 2013; 381(9880):1790 (25. May 2013)
13 Grimm, Hans-Ulrich: Verschiedene ernährungskritische Schriften, wie z.B.: Vom Verzehr wird abgeraten. Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht. 2012 Droemer Verlag, 319 S.
Wieviel sind eigentlich 12 g Salz?
Abschätzen kann man es mit Küchenmethoden: Der Esslöffel auf der gegenüberliegenden Seite enthält 12 g Kochsalz.
Wo kommt das meiste Natrium her?
Brot ist eines der wichtigsten Lebensmittel, 230 g Brot verspeist der Deutsche im Schnitt pro Tag. In einer solchen
Menge Weizenbrot stecken alleine schon 3,6 g Salz. Ansonsten weisen Lebensmittelgruppen, bei denen Salz
zur Konservierung verwendet wird, einen hohen Salzgehalt auf. Dabei handelt es sich z.B. um gesalzenen Fisch
und gepökelte Fleisch- und Wurstwaren. Hartkäse ist salzhaltiger als Weichkäse, Schmelzkäse enthält wegen der
verwendeten Schmelzsalze viel Natrium. Generell enthalten auch Fertigprodukte wie Pizza und Instantsuppen
viel Salz. Die folgende Grafik zeigt, aus welchen Lebensmitteln wieviel Prozent des Natriums aufgenommen werden. Wer die Natriumaufnahme reduzieren will, findet hier Ansatzpunkte.
Quelle: Stellungnahme Nr. 007/2012 des BfR, MRI und RKI vom 19. Oktober 2011, zu finden unter www.bfr.bund.de.
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Beiträge
der
Redaktion
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Therapie der Hepatitis C:
Was bringen die neuen Substanzen?
Dr. med. Margareta Frank-Doss
Einleitung
Bis in das 20. Jahrhundert hinein waren akute und chronische bakterielle Infektionserkrankungen, allen voran die Tuberkulose, eine häufige Todesursache. Die
Bekämpfung der Armut sowie bessere Hygiene und medizinische Versorgung für
die breite Bevölkerung ließen die Hoffnung auf ein infektionsfreies Feld zumindest
für die westlichen Industrienationen aufkeimen. Neue und alte Viruserkrankungen
haben uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Eindringlinge heißen
SARS, HIV, Hepatitis-B und -C-Viren.
Die chronische Infektion mit Hepatitis-C-Virus (HCV) gehört weltweit zu den häufigsten Infektionserkrankungen. Die virusbedingte Leberzirrhose ist die wichtigste
Präkanzerose für das hepatozelluläre Karzinom. Für die nächsten 15 Jahre wird
für Europa eine signifikante Zunahme der Hepatitis-C-Virus-assoziierten Mortalität
prognostiziert. In Deutschland wird dieser Erkrankungsgipfel im Jahr 2024 erwartet
[1]. Bereits jetzt sind ein Viertel der Leberzellkarzinome auf eine chronische Hepatitis
C Infektion zurückzuführen.
Patienten mit chronischer HCV-Infektion weisen nicht nur ein erhöhtes leberbezogenes Mortalitätsrisiko, sondern auch eine erhöhte Morbidität und Mortalität
aufgrund von virusassoziierten extrahepatischen Komplikationen auf. Die häufigsten sind rheumatologische (gemischte Kryoglobulinämie), hämatologische (NonHodgkin-Lymphom) und endokrine (Diabetes mellitus aufgrund einer Insulinresistenz) Manifestationen. Hepatitis C Viren können die Blut-Hirn-Schranke passieren
und werden für neurokognitive Symptome verantwortlich gemacht [Berg 2013].
Akute Infektion bleibt fast immer unbemerkt
Die akute Infektion verläuft nahezu immer unbemerkt. Die Chronizität der Virushepatitis C wird einerseits durch virale Faktoren wie molekulare Heterogenität
(Quasiespezies), andererseits durch Wirtsfaktoren wie eine inkompetente Immunantwort, bedingt.
Die aktuell gültige Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verdauung und
Stoffwechsel (DGVS) zur Hepatitis C hat die Indikation zur antiviralen Behandlung
ausgeweitet. Jedem Patienten mit chronischer HCV-Infektion sollte eine Therapie
angeboten werden [2].
Patienten mit dem in Deutschland dominierenden Hepatitis-C-Genotyp 1 (>60%
der Patienten) haben mit der dualen Standardbehandlung, pegyliertes (PEG)Interferon plus Ribavirin, eine deutlich schlechtere Therapieprognose als Patienten
mit Genotyp 2 und 3.
Neue Substanzen können Eradikationsraten deutlich steigern
Diese Situation hat sich nun entscheidend verbessert. Seit Ende 2011 sind die beiden
direkt antiviralen Proteaseinhibitoren Telaprevir und Boceprevir zur Tripel-Kombination mit der Standardtherapie, PEG-Interferon plus Ribavirin, bei Patienten mit
Genotyp 1 zugelassen. Die neuen Substanzen sind Inhibitoren der HCV-spezifischen
nichtstrukturellen Serinprotease NS3/4A. Sie binden kovalent an das aktive Zentrum
der NS3-Protease, was zur Hemmung des HCV-Proliferationszyklus führt.
Die bislang erzielten viralen Eradikationsraten von 40 bis 50% können auf 70 bis
80% in der Ersttherapie und auf 60 bis 70% in der Wiederholungstherapie gesteigert werden. Die Zulassung ist auf Genotyp 1 beschränkt, wobei Telaprevir auch
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bei Genotyp 2 antiviral wirkt und Boceprivir inhibitorische Effekte bei Genotyp 3 hat.
Es zeichnet sich ab, dass die Genotyp-Subgruppendifferenzierung in 1a und 1b
eine prognostische Bedeutung hat. Patienten mit Genotyp 1a haben aufgrund einer
niedrigen viralen Resistenzbarriere weiterhin ungünstigere Behandlungsaussichten.
Anwendung in der Praxis
Diagnose
Für die Diagnose der chronischen Hepatitisinfektion ergeben sich aus der Zulassung
der neuen Substanzen keine Änderungen. Für das Monitoring der Behandlung
werden insgesamt jedoch engmaschigere Laborbestimmungen mit hochsensitiven
Testverfahren erforderlich.
Therapie der akuten Hepatitis C
Die Behandlung der selten festgestellten akuten Hepatitis-C-Infektion besteht nach
wie vor in der Interferon-Monotherapie als pegylierte Darreichungsform. Eine Empfehlung für Telaprevir oder Boceprevir besteht aktuell nicht.
Therapie der chronischen Hepatitis C
Die Zulassung der Protease Inhibitoren erfolgte ausschließlich für Hepatitis-CGenotyp 1.
Ersttherapie (naive Patienten)
Nicht vorbehandelte Patienten sollten primär mit einer Tripel-Kombination therapiert
werden.
Re-Therapie
Die Behandlungsempfehlung ergibt sich aus der differenzierten Analyse der Ersttherapie. Patienten mit viralem Durchbruch (Breakthrough) während oder Rückfall
(Relapse) nach Ersttherapie wird eine Triple-Kombination empfohlen.
Bei Nullrespondern besteht die Gefahr einer funktionellen Monotherapie mit dem
Proteaseinhibitor, woraus wiederum ein hohes Resistenzrisiko resultiert.
Boceprevir
Die Tagesdosis besteht aus 3 x 800 mg (alle 8 h) zusammen mit einer kleinen Mahlzeit zur Verbesserung der Resorption.
Die Therapie wird mit einer sogenannten Lead-in-Phase begonnen. Gestartet wird
dual PEG-Interferon plus Ribavirin über 4 Wochen, gefolgt von der Dreifachkombination. Nach 8, 12 und 24 Wochen erfolgt anhand der Viruslast die Entscheidung über
das weitere Vorgehen (Response-gesteuertes Therapiekonzept). Eine Viruslast über
100 IU/ml bei Therapiewoche 12 und jede nachweisbare Virusmenge in Woche 24
führt zum Therapieabbruch. Die Einhaltung der Stopp-Regeln ist zur Verhinderung
viraler Resistenzen entscheidend wichtig.
Bei Ersttherapie mit anhaltend raschem Ansprechen (keine nachweisbare Viruslast
ab Woche 4) ist die Dreifachbehandlung bereits nach 28 Wochen abgeschlossen.
In allen anderen Fällen erfolgt die Therapie weiterhin über 48 Wochen.
Die wesentlichen unerwünschten Begleiteffekte umfassen die Verstärkung der
Ribavirin-induzierten Anämie sowie Geschmacksveränderungen.
Telaprevir
Die Tagesdosis wird aufgeteilt in entweder 2 x 1125 mg (2 x 3 Tabletten à 375 mg
alle 12 Stunden) oder 3 x 750 mg (3 x 2 Tabletten alle 8 h) zusammen mit einer
fettreichen Mahlzeit zur Verbesserung der Resorption.
Telaprevir wird als Dreifachkombination mit PEG-Interferon und Ribavirin gestartet
und für maximal 12 Wochen verabreicht, gefolgt von der Standardgabe PEG-
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Interferon plus Ribavirin.
Eine Verkürzung auf 24 Wochen bei raschem Ansprechen in Woche 4 (keine Viren
mehr nachweisbar) ist sowohl für die Ersttherapie als auch für die Therapie nach
Rückfall (Relapse) zugelassen. Bei Leberzirrhose und noch nachweisbarer geringer
Virusmenge (<1000 IU/ml) in Woche 4 wird über 48 Wochen behandelt.
Das Kriterium zum sofortigen Therapieabbruch (Stoppregel) ist eine Viruslast
>1000 IU/ml in Woche 4 oder 12 oder jede nachweisbare Viruslast in Woche 24.
Die wesentlichen unerwünschten Begleiteffekte umfassen die Verstärkung der
Ribavirin-induzierten Anämie sowie generalisierte Hautausschläge (RASH) und das
Analekzem.
Unerwünschte Begleiteffekte (Nebenwirkungen) und Interaktionen
In den Zulassungsstudien für die beiden Protease-Inhibitoren sind schwere Nebenwirkungen wie Anämie < 10 g/dl in bis zu 50% der Patienten beschrieben. Ein Therapieabbruch war bei 11% der Patienten erforderlich, was sich nicht von der dualen
Standardbehandlung unterschied. Mittlerweile sind zwei Todesfälle durch ein generalisiertes Arzneimittelexanthem (Telaprivir-assoziierte exfoliative Dermatitis: StevensJohnson-Syndrom, DRESS-Syndrom) dokumentiert. In beiden Fällen hat möglicherweise
ein zu spätes Absetzen der antiviralen Medikation die letale Komplikation begünstigt.
Da Boceprevir und Telaprevir eine starke Hemmung des für die Metabolisierung
von zahlreichen Arzneistoffen wichtigsten P-450-Isoenzyms CYP 3A4/5 auslösen,
sollte eine behandlungsbedürftige HIV-Koinfektion am besten in einem darin erfahrenen Infektionszentrum behandelt werden.
Für das Therapieziel einer anhaltenden Viruseradikation ist eine hohe Adhärenz
des Patienten im Behandlungsverlauf erforderlich. Einnahmefehler bergen das
Risiko viraler Resistenzen. Versäumnisse im Monitoring beinhalten das Risiko vital
bedrohlicher Therapienebenwirkungen.
Diskussion
Die Therapie wird komplexer und nebenwirkungsreicher und muss in vielen Fällen
weiterhin über 48 Wochen durchgeführt werden. Die Problematik des Nonresponse
ist geblieben. Für Patienten mit fortgeschrittener Leberzirrhose, Genotyp 4, ältere
Patienten und für Patienten mit schwerwiegender Komorbidität besteht auch weiterhin keine befriedigende Therapieoption.
Neu ist ein erhebliches Interaktionspotential der Proteaseninhibitoren mit gängigen Medikamenten durch einen gemeinsamen Metabolismus im Cytochrom P450
System (CYP 3A4/5, siehe oben). Neu ist zudem die Gefahr rascher Resistenzentwicklungen, vor allem bei Nichtbeachtung der rigiden Einnahmevorschriften.
Therapieziel ist die Senkung der leberbezogenen Mortalität
Ist die anhaltende Viruseradikation (Sustained Virological Response: SVR) ein geeigneter Surrogatmarker für das verlängerte Überleben bei chronischer Hepatitis C?
Die Daten hierzu sind aufgrund der langen Progressionszeiträume noch spärlich.
Die Abteilung für Hepatologie am Erasmus Medical Center in Rotterdam, Niederlande, hat eine Langzeitstudie mit Patientengruppen aus 5 europäischen und
kanadischen Krankenhäusern vorgelegt. Diese 530 Patienten wurden im Median
über 5 Jahre beobachtet. Die kumulative Mortalität nach zehn Jahren betrug 9% für
Patienten mit SVR und 26% für Patienten ohne SVR. Die SVR reduzierte das Risiko
leberbedingter Mortalität (Leberzellkarzinom oder Leberversagen) signifikant [3].
Viruseradikation erreicht. Sorglos für immer?
Die anhaltende virologische Remission (SVR) kann nach den bislang vorliegenden
Langzeitdaten als dauerhafte Virusfreiheit angesehen werden. Bei Patienten mit
fortgeschrittener Leberfibrose und Zirrhose besteht aufgrund des strukturellen
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Leberumbaus auch nach Eradikation des Erregers ein erhöhtes Leberzellkarzinomrisiko. Es werden daher jährliche Nachsorgeuntersuchungen der Lebermorphologie mittels Ultraschall auch bei erfolgreich behandelten, virusfreien Patienten
empfohlen.
Indikation erfordert umfangreiche Prüfung
Mit der Dreifach-Kombinationsbehandlung kommt es nicht nur zu einer signifikanten Verbesserung des dauerhaften virologischen Ansprechens in der Behandlung
bei chronischer Hepatitis C. Ein weiterer Vorteil besteht in der häufig möglichen
Therapieverkürzung auf 24 bis 28 Wochen.
Die Indikationsstellung zu einer antiviralen Therapie ist entscheidend. Sie
umfasst die sorgfältige Evaluation zahlreicher individueller Einflussfaktoren wie
Patientenwunsch, Begleiterkrankungen, antivirale Vortherapie, soziale Einbindung
und Adhärenzvermögen sowie prognostisch relevante Virusfaktoren. Kurz: Ist der
Patient nach detaillierter und exakter Aufklärung therapiefähig?
Bei der Behandlungsführung stehen anspruchsvolle Einnahmevorschriften sowie
das engmaschige Monitoring von neuen und potentiell vital bedrohlichen unerwünschten Begleiteffekten im Vordergrund. Es bestehen eine Vielzahl relevanter
pharmakologischer Interaktionen.
Zusammengefasst spricht die Vielschichtigkeit der Einflussfaktoren für
Indikationsstellung, Aufklärungskaskade und Behandlungsüberwachung
in einem hepatologischen Zentrum.
Die Zukunft
Die Zukunft jenseits von 2013 stellt neue direkt antivirale Substanzen entweder in
Kombination mit Interferon oder auch als sogenannte interferonfreie Therapie für
anvisierte Zeiträume von maximal 24 Wochen in Aussicht. Diese kommenden Optionen werden nicht vor 2015 verfügbar sein, beinflussen schon jetzt aber unsere
Indikationsfindung. Wen behandeln wir jetzt? Wen später? Und womit?
Die Komplexität von Therapieentscheidung und Behandlungsdurchführung wird
sich weiter steigern mit dem Ziel, nahezu allen Patienten mit Hepatitis C zur Virusfreiheit zu verhelfen.
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Die beste Lösung:
Jeder Infizierte
sollte in einem
hepatologischen
Zentrum vorgestellt
werden.
Literatur:
1
Deuffic-Burban et al.: Predicted effects of treatment for HCV infection vary among European countries. Gastroenterology 2012; 143 (4); 974
2
Sarrazin et al.: Update der S3-Leitlinie Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Hepatitis C-Virus (HCV)-Infektion, AWMF-Register-Nr.: 021/012. Z Gastroenterologie 2010; 48 (2):289
3
van der Meer et al.: Association between sustained virological response and all-cause mortality among patients
with chronic hepatitis c and advanced hepatic fibrosis. JAMA 2012 26;308(24):2584
Erratum
Der Artikel „Zweckmäßige medikamentöse Therapie der Osteoporose“ in unserem Heft Nr. 2/2013
beinhaltet leider auf der Seite 31 zwei falsche Zahlen, die durch datentechnische Fehler entstanden.
Wir bitten für die Irritation um Entschuldigung und korrigieren die Fehler hier:
Für den Wirkstoff Denosumab des Fertigarzneimittels Prolia® wurden Jahrestherapiekosten von
2.622,82 € genannt. Tatsächlich entstehen für Prolia® Jahrestherapiekosten in Höhe von 622,82 €
entsprechend der Datenquelle Lauer-Taxe vom 1.12.2012.
Für den Wirkstoff Risedronsäure des Fertigarzneimittels Actonel® 5 mg wurden Jahrestherapiekosten von 1.331,52 € genannt. Tatsächlich entstehen für Actonel® 5 mg Jahrestherapiekosten in
Höhe von 331,52 € entsprechend der Datenquelle Lauer-Taxe vom 1.12.2012.
Seite 18
Kurze
Meldung
KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
Verordnung von Cilostazol/Pletal®
Europäische Arzneimittelagentur
schränkt Indikation ein
Pletal® ist zur Verlängerung der maximalen und schmerzfreien Gehstrecke bei
Patienten mit Claudicatio intermittens ohne Ruheschmerz oder Anzeichen von
peripheren Gewebsnekrosen/pAVK – Fontaine Stadium II einzusetzen.
Neue Kontraindikationen, wie
die Einnahme von zwei oder mehr zusätzlichen Thrombozytenaggregationsoder Gerinnungshemmern,
das Vorliegen einer instabilen Angina pectoris oder einer Koronarintervention
bzw. einem Myokardinfarkt in den letzten 6 Monaten,
eine starke Tachyarrhythmie in der Vorgeschichte
führen zu nachfolgenden Einschränkungen der Anwendung von Pletal®:
Behandlung nur bei Patienten, bei denen Änderungen des Lebensstils, wie
Einstellung des Rauchens, Bewegung und andere entsprechende Interventionen keine ausreichende Verbesserung der Symptome der Claudicatio intermittens ergaben.
Eine Therapieüberprüfung ist nach 3 Monaten erforderlich. Die Behandlung
sollte dann beendet werden, es sei denn, der Patient zeigt klinisch eine relevante Verbesserung der Gehstrecke/Lebensqualität.
Die Cilostazol/Pletal®-Dosis ist auf zweimal täglich 50 mg zu reduzieren,
wenn Patienten mit anderen Medikamenten behandelt werden, die starke
Inhibitoren von CYP3A4 oder CYP2C19 sind. Die normale Dosis beträgt zweimal 100 mg täglich.
LH
Kurze
Meldung
Anwendung von Protelos® bei
der Osteoporose eingeschränkt
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft informiert darüber,
dass nach einem Rote-Hand-Brief des Herstellers die Indikation zum Einsatz von
Protelos® zur Behandlung der Osteoporose eingeschränkt wird, weil neue Kontraindikationen und Warnhinweise vorliegen. Dies, um das Risiko für unerwünschte
kardiale Ereignisse zu reduzieren. Daten zur kardialen Sicherheit aus randomisierten klinischen Studien zur Behandlung der Osteoporose mit Strontiumranelat haben
ein erhöhtes Risiko für Myokardinfarkte gezeigt, jedoch kein erhöhtes Risiko
bezüglich der Mortalität. In den nächsten Monaten wird die europäische Arzneimittelagentur eine umfassende Nutzen-Risiko-Bewertung von Protelos® durchführen.
Die Anwendung von Protelos® ist nun beschränkt auf die Behandlung der
schweren Osteoporose bei postmenopausalen Frauen mit hohem Frakturrisiko
und bei Männern mit erhöhtem Frakturrisiko. Es sollte nicht eingesetzt werden bei
Patienten mit der Anamnese einer ischämischen Herzkrankheit, einer peripheren
arteriellen Verschlusskrankheit und/oder einer zerebrovaskulären Erkrankung sowie
bei Patienten mit unkontrollierter Hypertonie. Die Behandlung sollte nur von Ärzten
mit Erfahrung in der Osteoporosetherapie unter Berücksichtigung des individuellen
Patientenrisikos begonnen werden.
LH
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
Seite 19
Einschränkungen für die
Behandlung mit Flupirtin
Kurze
Meldung
Flupirtin – Katadolon®, Trancolong®, Trancopal® u. a. – ist ein zentral wirksames,
nicht opioides Analgetikum. Es ist zugelassen zur Behandlung von akuten und
chronischen Schmerzen, wie schmerzhafte Muskelverspannungen der Halte- und
Bewegungsmuskulatur, Spannungskopfschmerz, Tumorschmerzen, Dysmenorrhoe sowie Schmerzen nach traumatologischen/orthopädischen Operationen und
Verletzungen. Nach der nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz soll
Flupirtin nicht zur Behandlung von akuten und chronischen nicht spezifischen
Kreuzschmerzen angewendet werden, da die Datenlage für eine Wirksamkeit in
dieser Indikation unzureichend ist.
In Abstimmung mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und dem Bundesinstitut für Arz-neimittel und Medizinprodukte (BfArM) wird von den Herstellern in
einem Rote-Hand-Brief über die Einschränkung der therapeutischen Zielgruppe
und Begrenzung der Behandlungsdauer für Flupirtin-haltige Arzneimittel
nach Bewertung des Lebertoxizitätsrisiko informiert.
Die Beurteilung der Spontanberichte zu Lebererkrankungen unter der Anwendung von Flupirtin, die von einem asymptomatischen Anstieg der Leberenzyme bis zu Leberversagen reichten, hat zu einer Aktualisierung der Fachinformation für Flupirtin-haltige Arzneimittel geführt.
Flupirtin ist nun für die Behandlung von akuten Schmerzen bei Erwachsenen indiziert und darf nur angewendet werden, wenn eine Behandlung mit
anderen Analgetika (z.B. nicht-steroidale Antirheumatika, schwache Opioide)
kontraindiziert ist.
Flupirtin-Lösung zur Injektion (i.m.) ist als Einzeldosis zur Anwendung bei
Erwachsenen mit postoperativen Schmerzen indiziert. Ist eine längere Anwendung erforderlich, stehen andere Darreichungsformen zur Verfügung. Die
Anwendung darf nur erfolgen, wenn eine Behandlung mit anderen Analgetika
(z.B. nicht-steroidalen Antirheumatika, schwachen Opioiden) kontraindiziert ist.
Die Dauer der Behandlung für orale Darreichungsformen und Zäpfchen darf
zwei Wochen nicht überschreiten.
Die Kontraindikationen umfassen nun auch Patienten mit vorbestehenden
Lebererkrankungen oder Alkoholmissbrauch sowie die gleichzeitige Anwendung von Flupirtin mit anderen Medikamenten mit bekannter, klinisch relevanter Hepatotoxizität.
Leberwertmessungen müssen in wöchentlichen Abständen während der
Behandlung durchgeführt werden. Falls abnorme Leberwerte oder klinische
Symptome einer Lebererkrankung auftreten, muss die Behandlung abgebrochen werden.
Die Therapie von Flupirtin-Patienten sollte beim nächsten Arzttermin gemäß
diesen Empfehlungen überprüft werden.
LH
So oft wird Flupirtin in Deutschland derzeit verordnet:
Substanz
Fertigarzneimittel
Flupirtin
Katadolon®, Flupirtinmaleat
Winthrop®, Trancolong®, Trancopal Dolo®, Flupigil®, Flupirtinmaleat Hormosan®
Verordnungen
Umsatz (AVP) in €
2012 Deutschlad
2012 Deutschland
1.304.742
101.812.134
Quelle: Insight health
KVH • aktuell
Seite 20
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Nr. 3 / 2013
Schwierige Einschätzung
des Blutungsrisikos
bei antikoagulierten Patienten
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Wie kann bei oral antikoagulierten Patienten das Blutungsrisiko zuverlässig eingeschätzt werden? Dieser Frage gingen angesichts der zunehmenden Zahl von
betroffenen Patienten und den neuesten Entwicklungen zu antikoagulierenden
Medikamenten die Autoren Donzé J, Rodondi N, Waeber G, et al. am Universitätsspital Lausanne in einer prospektiven Kohortenstudie an 515 antikoagulierten
Patienten nach [1].
Derzeit wird immer häufiger die Indikation zur oralen Antikoagulation (oAK)
gestellt. In den USA nahm die Therapie mit oraler Antikoagulation zwischen 1998
und 2004 um das 1,45-fache zu – von 21 Millionen auf 31 Millionen [2].
Dabei müssen der Nutzen einer oAK einerseits und das Risiko einer schwerwiegenden Blutung andererseits mit möglichst zuverlässiger Vorhersage abgewogen
werden. Donzé et al. verglichen jetzt das durch das „Bauchgefühl der beteiligten
Ärzte“ geschätzte Blutungsrisiko mit den Vorhersagewerten nach der Anwendung
von 7 bekannten Risiko-Scores [1].
Vorgehensweise:
Aus 650 mit Phenprocoumon oder einem analogen Medikament oral antikoagulierten, nicht näher selektionierten Patienten des Universitätsspitals Lausanne, die
fortlaufend zwischen dem 01.01.2008 und dem 31.03.2009 ambulant oder stationär dort behandelt wurden, konnten sie für die Studie insgesamt 515 Patienten
(alle über 18 Jahre alt, 65% Männer, mittleres Alter 71 Jahre) auswählen. 96% der
Fälle waren bei Studienbeginn stationär behandelt worden, 64% standen dabei
bereits bis zu drei Monate unter oralen Antikoagulantien. Ausschlusskriterium war
mangelndes Einverständnis zur Studienteilnahme. Die Studienpatienten wurden ein
Jahr lang nachkontrolliert und durch Telefoninterviews und mittels klinischer Daten
auf Blutungskomplikationen überwacht.
12% verstarben während der 12-monatigen Beobachtungszeit aus Gründen,
die nicht mit einer Blutung zu tun hatten. Als primärer Endpunkt der Studie galten
größere Blutungen innerhalb von 12 Monaten, definiert als tödlich verlaufende
Blutung, als symptomatische Blutung in kritischen Arealen, als Blutung mit einem
Hgb-Abfall von 2 g/l oder mehr sowie als transfusionsbedürftige Blutung. Nach
statistischer Aufarbeitung der in dieser Zeit eingetretenen Blutungen wurde der
Vorhersagewert von 7 Risikoscores mit der Einschätzung der behandelnden Ärzte
verglichen.
Ergebnisse
Bei 7% der 515 Studienpatienten trat innerhalb des Jahres eine größere Blutung
auf, 1% erlitten eine tödliche Blutung.
Bei 26% der Blutungen lag der INR-Wert über dem Zielgebiet, bei 23% war zusätzlich ein Thrombozytenaggregationshemmer verordnet worden. Gastrointestinale
Blutungen waren mit 38% am häufigsten, intrazerebrale Blutungen folgten mit
17%, urogenitale mit 14%.
Die tatsächlich eingetretenen Blutungen wurden mit den Risiko-Abschätzungen
der behandelnden Ärzte und nach Anwendung von 7 Risikoscores verglichen.
Die Untersuchung der Vorhersagewerte der Risiko-Abschätzungen der Ärzte
(sogenanntes „Bauchgefühl“) und der verschiedenen Scores bezog sich auf die
ursprünglichen Krankheitsbilder, in denen die verschiedenen Scores validiert
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
Seite 21
worden waren. Allerdings waren bei den verschiedenen Scores sehr unterschiedliche
Validierungen und Ausgangssituationen sowie auch verschiedene Laborbefunde zur
Bewertung herangezogen worden (z.B. unterschiedliche INR-Labilität und -Zielwerte, CYP 2C9-Werte). Insgesamt konnten die ausgewählten 7 Scores wegen ihrer
unterschiedlichen Validierungen teilweise nur eingeschränkt angewendet werden.
Die Anwendung der 7 Scores bezog sich meist auf eine Antikoagulation bei Vorhofflimmern.
Die Vergleiche der eingetretenen mit den erwarteten Blutungsereignissen des
spontanen „Bauchgefühls“ der Behandler und mit den angewandten Risikoscores
(OBRI [3], Kuijer et al. [4], Shireman et al. [5], HEMORR2HAGES [6], RIETE [7], HASBLED [8], ATRIA [9]) zeigten, dass lediglich der ATRIA-Score (für oAK bei Vorhofflimmern) einen wahrscheinlich richtigen, etwas besseren Vorhersagewert für das
Eintreten einer Blutung erkennen ließ. Auch die behandelnden Ärzte (mit durchschnittlich 3-jähriger Berufserfahrung) konnten keine besseren Vorhersagewerte bei
der Beurteilung des Blutungsrisiko durch orale Antikoagulation erbringen.
Auch Risikoscores erlauben keine zuverlässige Vorhersage
Bei der oralen Antikoagulation bleibt eine bedrohliche Blutung als chwer vorhersagbares Risiko.
Sowohl die ärztliche Einschätzung als auch die Anwendung verschiedener Risikoscores erlauben keine zuverlässige Risikovorhersage. Die Vorhersagewerte
von Risikoscores sind nicht ausreichend sicher.
Lediglich der ATRIA-Score (für die Gabe von oAK bei Vorhofflimmern) erlaubt
eine gering verbesserte, vorsichtige Risikoeinschätzung für eine Blutung.
Engmaschige Überwachungen, besonders auf gastroenterale Blutungen hin
und genaues Einhalten der Therapieplanung sind erforderlich.
INR-Kontrollen müssen bei schwankenden Werten zeitlich angepasst werden,
besonders auch unter Beachtung interkurrenter Erkrankungen und veränderter Komedikation.
Dass unter den neuen oralen Antikoagulantien INR-Gerinnungskontrollen bisher
nicht möglich sind, darf nicht dazu führen, dass das Blutungsrisiko verharmlost
und unterschätzt wird. Auch mit diesen neuen oAK behandelte Patienten sollten
engmaschig vom Arzt gesehen und auf Blutverluste und Blutungen (besonders
gastroentestinal, neurologisch, urologisch) hin kontrolliert werden.
Literatur:
1
Donzé J, Rodondi N, Waeber G, et al.: Scores to Predict Major Bleeding Risk During Oral Anitkoagulation
Therapy: A Prospective Validation Study. Amer J Med. Nov 2012;125(11):1095-1102, doi: org/10.1016/j.
amjmed.2012.04.005
2
Wysowski DK, Nourjah P, Swartz L, : Bleeding complications with warfarin use: a prevalent adverse effect
resulting in regulatory action. Arch Intern Med. 2007;167:1414-1419
3
Beyth RJ, Quinn LM, Landefeld CS: Prospective evaluation of an index for predicting the risk of major bleeding
in outpatients treated with warfarin. Am J Med. 1998;105:91-99
4
Kuijer PM, Hutten BA, Prins MH, Buller HR: Prediction of the risk of bleeding during anticoagulant treatment
for venous thromboembolism. Arch Intern Med. 1999;159:457-460
5
Shireman TI, Mahnken JD, Howard PA, et al.: Development of a contemporary bleeding risk model for elderly
warfarin recipients. Chest. 2006;130:1390-1396
6
Gage BF, Yan Y, Milligan PE, et al.: Clinical classification schemes for predicting hemorrhage: results from the
National Registry of Atrial Fibrillation (NRAF), HEMORRHAG2HAGES. Am Heart J. 2006;M151:713-719
7
Ruiz-Gimenez N, Suarez C, Gonzalez R, et al.; Predictive variables for major bleeding events in patients presenting with documented acute venous thromboembolism. Findings from the RIETE Registry. Thromb Haemost.
2008;100:26-31
8
Pisters R, Lane DA, Niewlaat R, et al.: A novel user-friendly score (HAS-BLED) to assess 1-year-risk of major
bleeding in patients with atrial fibrillation: the Euro Heart Survey. Chest. 1020;138:1093-110
9
Fang MC, Go AS, Chang Y, et al.; A new risk scheme to predict warfarin-associated hemorrhage. The ATRIA
(Anticoagulation and Risk Factors in Atrial Fibrillation)-Study. J Am Coll Cardiol. 2011;58:395-401
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Auch unter
den neuen
Antikoagulanzien
müssen Patienten
engmaschig
kontrolliert werden.
Praxis-Tipp
In der Praxis
beobachtet
man ein
GerinnungsChaos in der
Spargelzeit:
Dann ist besondere Vorsicht
geboten – der
INR-Wert gerät
in dieser Zeit
durcheinander..
Seite 22
Beiträge
der
Redaktion
KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
Das Schmerzmittel-Dilemma
Dr. med. Joachim Seffrin
Da haben wir‘s: Eine große Metaanalyse zeigt uns, dass die Behandlung mit NSAR
(NichtSteroidale AntiRheumatika, dazu zählen auch Coxibe) eine ganze Reihe von
Risiken für unsere Patienten bereithält (siehe Kasten auf der gegenüberliegenden
Seite). Eigentlich nichts Neues, aber so komprimiert und deutlich?
Schmerzen sind ein außerordentlich häufiges Problem, mit dem uns unsere Patienten konfrontieren. Also müssen wir Wege kennen, um den Bedürfnissen der
Patienten gerecht zu werden bei gleichzeitig verantwortbarem Schadpotenzial.
Aber Alternativen in der Schmerztherapie sind relativ rar. Was bedeutet dies für
unseren Berufsalltag?
Vor Beginn einer Schmerztherapie würde ich zuallererst die Indikation prüfen. Diese
sollte immer, und dies gilt letztlich für alle Medikamente, streng gestellt werden.
Nicht jede Fragestellung muss mit einem Medikament beantwortet werden. Also
sind immer auch die Patientenpräferenzen zu eruieren. Nicht selten erhält man die
Antwort, dass ein Schmerzmittel momentan gar nicht gewünscht ist. Oftmals ist
dem Patienten die Beratung viel wichtiger und er ist schon zufrieden, wenn keine
schlimme Ursache dahinter steckt. Fragen Sie ruhig öfter nach!
Simple Maßnahmen wie Lagerung und Kühlung reichen auch manchmal aus. Als
nächstes würde ich schauen, ob nun eine länger dauernde Therapie erforderlich
wird oder lediglich kurzzeitiger Bedarf besteht. Für eine länger dauernde oder gar
Langzeittherapie scheiden NSAR aus meiner Sicht weitestgehend aus. Auch bei sonst
gesunden, jüngeren Menschen sind Risiken für den Magen-Darm-Trakt und die Nierenfunktion zu bedenken. Prinzipiell ist die Dosis der NSAR so niedrig wie möglich
anzusetzen und immer zeitlich begrenzt anzuwenden. Bei Patienten, die älter als
65 Jahre sind, sollte man besonders kritisch hinschauen. Ältere nehmen oft weitere
Medikamente ein und haben eine oder mehrere Grunderkrankungen. Im Zweifelsfall
ist nur ein kurzer Einsatz zu erwägen oder auf das NSAR ganz zu verzichten.
So berücksichtige ich die Nebenwirkungen
Bei Niereninsuffizienz
ganz auf NSAR
verzichten.
Falls eine Kurzzeittherapie geplant ist, müssen die spezifischen Nebenwirkungsrisiken des NSAR auf den Patienten mit seinen konkreten Gegebenheiten hin überprüft werden: Liegt eine Herzinsuffizienz vor, eine Gefäßerkrankung, Hypertonie,
oder werden Begleitmedikamente (danach fragen) eingenommen, mit denen (z.B.
ACE-Hemmer, Lithium) Schwierigkeiten zu erwarten sind? Je nach Ausmaß der
Herzinsuffizienz kann es sein, dass NSAR absolut kontraindiziert sind; für Diclofenac
haben die Hersteller jetzt per Rote-Hand-Brief die Herzinsuffizienz NYHA II - IV zur
Kontraindikation erklärt (siehe dazu auch Kasten auf Seite 24). Bei einer leichteren,
stabilen Herzinsuffizienz kann unter Überwachung (Gewicht) eventuell ein Einsatz
gewagt werden.
Bei Niereninsuffizienz würde ich auf NSAR gänzlich verzichten, da der potenzielle
Schaden für die Nieren nicht berechenbar ist.
Bei Vorliegen einer KHK bietet sich unter den NSAR Naproxen an, das nach der
Datenlage offensichtlich in dieser Konstellation unproblematisch ist. Hinsichtlich
der Nebenwirkungsrisiken im Magen-Darm-Trakt (auch im Dünn- und Dickdarm!
Protonenpumpenhemmer schützen hier auch nicht) sind alle NSAR (inklusive der
Coxibe) mehr oder weniger kritisch. Naproxen ist aber in Bezug auf Magen-DarmBlutungen unter den NSAR in der Metaanalyse am ungünstigsten. Unter dem Aspekt
der gastrointestinalen Verträglichkeit stünde Ibuprofen oder Diclofenac zur Wahl.
Wenn man trotz einer KHK ein NSAR benutzt, muss der Einnahmezeitpunkt von
ASS mehrere Stunden vor der NSAR-Einnahme liegen, um die Wirkung des ASS
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
an den Thrombozyten nicht zu beeinträchtigen. Bei Ulkus- bzw. Blutungsanamnese
sollten NSAR entweder gänzlich vermieden oder in Kombination mit einem Protonenpumpenhemmer eingesetzt werden. Diese Kombination würde ich persönlich
gegenüber einem Coxib bevorzugen, auch wegen der erhöhten Gesamtsterblichkeit,
die die Metaanalyse für Coxibe gezeigt hat.
Andere Untersuchungen haben erwiesen, dass die Nebenwirkungen inklusive
Blutungen im Magen durch Beseitigung einer Helicobacterinfektion erheblich
reduziert werden können. Somit kann eine Untersuchung auf den Keim und eine
Eradikation sinnvoll sein.
Eine Therapie mit oralen Antikoagulanzien ist für mich eine absolute Kontraindikation für den Einsatz von NSAR, die ich strikt zu vermeiden suche. Hier entscheide
ich mich konsequent für Opioide oder unter Umständen Novaminsulfon.
Wenn bei starken Schmerzen eine längere Behandlung absehbar ist, greife ich oft
gleich zu Opioiden, gegebenenfalls in Kombination mit Novaminsulfon, evtl. mit
Therapieeskalation gemäß der WHO-Stufentherapie.
Paracetamol scheint nach meinem Eindruck bei starken Schmerzen selten einen
nennenswerten Zusatznutzen zu bringen. Ein Versuch kann sich dennoch lohnen,
wobei die Tagesdosis dann bei 3 bis 4 Gramm liegen sollte. Flupirtin, das wenig im
Gebrauch ist und für das relativ wenig Daten für eine Nutzenbeurteilung vorliegen,
ist wegen des Abhängigkeitsrisikos und teils tödlicher Leberkomplikationen im Visier
der AkdÄ, vom BfArM und der EMA und könnte vom Markt genommen werden.
Das arznei-telegramm bescheinigt ihm nur schwache Wirkung. Der Wirkstoff ist
somit aus meiner Sicht wegen der potenziellen Risiken für meine Patienten
Seite 23
Keine NSAR,
wenn schon
Antikoagulanzien
gegeben werdn!
Nebenwirkungen der NSAR – Ergebnisse einer neuen Metaanalyse
Am 30. Mai 2013 wurde bei Lancet Online eine umfangreiche Metaanalyse zu den Nebenwirkungen
der nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) am Herz-Kreislauf-System und am Magen veröffentlicht.
Sie bestätigt die im Prinzip schon bekannten Risiken, erweitert aber unser Wissen über die Nebenwirkungshäufigkeit der einzelnen Substanzen und verbreitert damit die Basis für differentialtherapeutische Überlegungen, inbesondere bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen.
Nebenwirkungen am Herz-Kreislauf-System
Die Analyse zeigt, dass hochdosiertes Diclofenac ebenso wie Coxibe drei zusätzliche schwere kardiovaskuläre Ereignisse pro 1000 Patienten und Jahr verursachen können – einer davon mit tödlichem
Ausgang. Die Situation bei Ibuprofen ist nicht ganz so gut durch Studiendaten untermauert, aber
auch hier ist mit einem erheblichen kardiovaskulären Risiko zu rechnen. Zweimal 500 mg Naproxen
pro Tag scheinen dagegen keinen Einfluss auf das kardiovaskuläre Risiko zu haben – allerdings weisen
die Autoren darauf hin, dass dies für niedrigere Dosen und eine Langzeitbehandlung nicht gesichert
ist. Alle NSAR, auch Naproxen, erhöhen das Risiko einer Herzinsuffizienz: Die Wahrscheinlichkeit,
wegen einer Herzinsuffizienz stationär aufgenommen zu werden, verdoppelt sich. Bitte beachten Sie
hierzu auch den Kasten auf Seite 24 (Rote Hand zu Diclofenac: Bei Herzinsuffizienz kontraindiziert).
Nebenwirkungen am Magen-Darm-Trakt
Alle NSAR erhöhen das Risiko für Komplikationen im Gastrointestialtrakt um das zwei- bis vierfache,
wobei Naproxen am ungünstigsten erscheint.
Wie sich die Studienergebnisse in die praktische Arbeit integrieren lassen, zeigt
der nebenstehende Beitrag.
red
Literatur:
1
Coxib and traditional NSAID Trialists’ (CNT) Collaboration: Vasular and upper gastrointestinal effects of non-steroidal anti-inflammatory drugs:
meta-analyses of individual participant data from randomised trials; Lancet, Online Publication: http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(13)60900-9
Seite 24
KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
nicht erwägenswert bzw. nicht zumutbar. (Siehe hierzu auch Seite 19).
Beim Einsatz von Novaminsulfon sollte der Patient über die bekannten spezifischen
Risiken entsprechend informiert und gegebenenfalls Blutbildkontrollen vereinbart
werden.
Fazit: Aufgrund der kleinen Zahl der Wirkprinzipien, der vielen Nebenwirkungsrisiken und Interaktionsmöglichkeiten gibt es leider keinen idealen Weg in der Schmerztherapie. Durch Beachten des Alters, der Begleiterkrankungen des Patienten und
seiner Medikamente können die Gefahren bei größtmöglichem Nutzen immerhin
vermindert werden. Bei kritischer Anwendung sind die Gefahren der NSAR damit
überschaubar und verantwortbar.
Diclofenac und Piroxicam nie in den Muskel spritzen!
Ach ja, eins wollte ich im Zusammenhang mit NSAR noch anmerken, da leider immer
noch medizinischer Alltag. Intramuskuläre Spritzen mit Diclofenac und Piroxicam sind
schon lange obsolet und sollten ausnahmslos nicht mehr verabreicht werden. Oral
wirken diese Medikamente genauso gut, wenn auch vielleicht 30 Minuten später.
Alternativ nimmt man für den erwünschten Placeboeffekt die Gefahr schlimmster
Nebenwirkungen bis zum Tod des Patienten nebst Rechtsfolgen in Kauf.
Rote Hand: Diclofenac
bei Herzinsuffizienz kontraindiziert!
Aufgrund neuerer Daten zu Diclofenac haben die Hersteller Diclofenac-haltiger
Präparate nun einen Rote-Hand-Brief verschickt. Hier die von den Herstellern
selbst verfasste Zusammenfassung:
Der Nutzen von Diclofenac überwiegt die Risiken. Allerdings weisen die
derzeit verfügbaren Daten darauf hin, dass die Therapie mit Diclofenac
mit einem erhöhten Risiko arterieller thrombotischer Ereignisse, vergleichbar mit dem von selektiven COX-2-Hemmern, assoziiert ist.
Diclofenac ist jetzt kontraindiziert bei Patienten mit bestehender Herzinsuffizienz (New York Heart Association, NYHA, Stadien II-IV), ischämischer
Herzerkrankung, peripherer Arterienerkrankung oder zerebrovaskulärer
Erkrankung. Bei Patienten mit diesen Erkrankungen sollte die Behandlung
überprüft werden.
Die Behandlung mit Diclofenac sollte bei Patienten mit signifikanten
Risikofaktoren für kardiovaskuläre Ereignisse (z.B. Hypertonie, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus, Rauchen) nur nach sorgfältiger Abwägung begonnen werden.
Bei allen Patienten sollte die niedrigste wirksame Dosis über den kürzesten, zur Symptomkontrolle erforderlichen Zeitraum angewendet werden.
red
Quelle: Rote-Hand-Brief zu Diclofenac vom 15.7.2013 (einsehbar auf der Website
der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft unter
http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/DSM/Archiv/2013-36.html)
Bitte beachten Sie zum Thema NSAR auch unseren Beitrag auf Seite 33
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
CK-Bestimmung bei Therapie
mit Lipidsenkern
Folgende Frage erreichte uns aus der Praxis: Muss ich die Creatinphosphokinase(CK-)Serumaktivität bei Patienten mit lipidsenkender Therapie bestimmen?
Die Antwort gibt der Pharmakotherapie-Informationsdienst in Tübingen
Diese Frage erhält vor dem Hintergrund des Risikos einer Myopathie – deren
schwerste Form die Rhabdomyolyse ist – durch lipidsenkende Arzneimittel praktische
Relevanz. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) nimmt dazu in ihren
Leitlinien [1] Stellung und gibt in einer Frage-Antwort-Form nützliche Hinweise.
Wie oft sollte die CK bei Patienten mit lipidsenkender Arzneimitteltherapie
bestimmt werden?
Vor der Behandlung: Wenn vor Behandlungsbeginn die CK mehr als das
Fünffache der oberen Normgrenze beträgt, soll die Therapie nicht begonnen
werden. In diesem Fall soll die CK erneut kontrolliert werden.
Während der Behandlung ist ein routinemäßiges Monitoring der CK nicht
erforderlich. Wenn der Patient eine Myalgie entwickelt, soll die CK bestimmt
werden.
Erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich Myopathie und CK-Erhöhung soll den Risikopatienten gelten: höheres Alter, gleichzeitige Therapie mit interagierenden Wirkstoffen,
Multimedikation, Leber- oder Nierenerkrankung.
Was soll ich tun, wenn die CK bei Personen mit lipidsenkender Arzneimitteltherapie erhöht ist?
Bei CK über dem Fünffachen der oberen Normgrenze:
Behandlung stoppen, Nierenfunktion prüfen, Monitoring der CK alle 2 Wochen,
Möglichkeit anderer Ursachen einer vorübergehenden CK-Erhöhung (zum
Beispiel Muskelarbeit) in Betracht ziehen,
sekundäre Myopathie-Ursachen in Betracht ziehen, wenn die CK erhöht
bleibt.
Bei CK unterhalb des Fünffachen der oberen Normgrenze:
Falls keine Muskelsymptome bestehen, Statin-Therapie fortsetzen (die Patienten sollten darauf aufmerksam gemacht werden, Symptome zu berichten;
weitere CK-Kontrollen in Betracht ziehen).
Falls Muskelsymptome bestehen, regelmäßig Symptome und CK überwachen.
Literatur:
1
European Association for Cardiovascular Prevention & Rehabilitation, Reiner Z, Catapano AL, De Backer G et
al.; ESC Committee for Practice Guidelines (CPG) 2008-2010 and 2010-2012 Committees: ESC/EAS Guidelines
for the management of dyslipidaemias: the Task Force for the management of dyslipidaemias of the European
Society of Cardiology (ESC) and the European Atherosclerosis Society (EAS). Eur Heart J 2011; 32: 1769-818.
Seite 25
Der
Gastbeitrag
Druck mit
freundlicher
Genehmigung
der KV BadenWürttemberg
Aus: KVBW
Verordnungsforum
25; Februar 2013
Seite 26
Der
Gastbeitrag
Druck mit
freundlicher
Genehmigung
der KV BadenWürttemberg
Aus: KVBW
Verordnungsforum
25; Februar 2013
KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
Der Nocebo-Effekt
Nocebo-Effekte – Gegenteil der bekannteren Placebo-Effekte – sind
bislang wenig erforscht, spielen jedoch im ärztlichen Alltag eine offensichtlich nicht zu unterschätzende Rolle. Der folgende Artikel liefert
Ihnen eine aktuelle Übersicht – insbesondere zur Frage der ärztlichen
Aufklärung über medikamentöse Nebenwirkungen.
Fallbeispiel: Ein 26-jähriger Proband einer Antidepressiva-Studie hatte zu Hause
ein Behältnis mit der täglich einzunehmenden Studienmedikation. Weil seine
Freundin ihn verlassen hatte, wollte er sich umbringen und schluckte die verbleibenden 29 Tabletten auf einmal. Daraufhin bekam er Todesangst; der Blutdruck
sackte ab und konnte auch in der Klinik zunächst nicht stabilisiert werden. Was
er nicht wusste: Die eingenommenen Tabletten waren alle wirkstofffrei. Als
sich dies im Krankenhaus herausstellte, hatte er innerhalb kürzester Zeit keine
Beschwerden mehr und war – zumindest körperlich – kerngesund [1]. Ein klassischer Nocebo-Effekt.
Das Wort „nocebo“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „ich werde
schaden“. Auch in Wörtern anderer Sprachen findet sich der Wortstamm wieder:
Im Englischen bedeutet „innocent“ unschuldig, unschädlich.
Während das Wissen um Placebo-Effekte fast schon zur Allgemeinbildung zählt,
fristen Nocebo-Phänomene bislang ein Schattendasein. Dies lässt sich auch an
der Menge der publizierten Arbeiten ablesen:
Bei einer Medline-Recherche stößt man auf cirPlacebo-Effekt
ca 180 Treffer zu „Nocebo“, während es zum
Placebo-Effekt 2.000 Publikationen sind – nicht
„Placebo“ = ich werden gefallen (lat.). Placebomitgerechnet die über 150.000 Treffer, in denen
Effekte sind nichtspezifische Effekte einer Benur der Begriff „Placebo-kontrollierte Studie“ vorhandlung, die für den Patienten mit positiven
kommt. Beiden Phänomenen ist gemeinsam, dass
körperlichen Reaktionen einhergehen. Eine Wirksich Erwartungen und Gedanken eines Menschen
samkeit von Placebo ist für subjektive Beschwer(zum Beispiel als Folge verbaler Suggestion) auf
den wie Schmerzen und Übelkeit nachgewiesen
seine körperlichen Reaktionen oder auf den Ver[2]. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundeslauf einer medizinischen Behandlung niederschlaärztekammer hat 2010 eine Stellungnahme zu
gen können. Auf positive oder negative Weise [4].
Placebo in der Medizin verfasst [3].
Definitionsgemäß versteht man unter NoceboEffekten nichtspezifische Effekte einer Behandlung,
die für den Patienten mit negativen körperlichen Reaktionen einhergehen [5]. Bei der
medikamentösen Behandlung eines Patienten muss das Auftreten solcher Effekte
prinzipiell gegenüber tatsächlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen sowie
gegenüber möglichen Symptomen einer (weiteren) Erkrankung abgegrenzt werden,
was in vielen Fällen nicht ohne Weiteres möglich ist.
Auf Neurotransmitter-Ebene laufen bei Nocebo-Effekten vermutlich ähnliche Vorgänge ab, die auch bei Panik und Furcht eine Rolle spielen. So wird beispielsweise
die Ausschüttung von Dopamin, welches eine positiv motivierende Grundstimmung
bewirkt, gehemmt.
Die Wahl der Worte spielt auch im modernen Medizinbetrieb eine immense Rolle bei
der Auslösung von Nocebo-Effekten. So kann sich die Nennung negativ besetzter
Worte wie „Angst“ oder „Schmerz“ ungünstig auf den Patienten auswirken, auch
wenn die Aussage positiv gedacht ist („Sie brauchen keine Angst zu haben.“).
Bestimmte Formulierungen sollten Sie deshalb vermeiden („Ich hole noch schnell
etwas aus dem Giftschrank.“). Und positiv formulieren: Statt der Aussage, dass fünf
Prozent der Patienten über Nebenwirkungen berichten, ist es besser zu sagen:
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
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„Die meisten Patienten vertragen das Mittel gut.“ [5]
Neben dem „Schreckgespenst“ Beipackzettel, darf in der heutigen Zeit nicht
der Einfluss des Internets unterschätzt werden. Viele Patienten informieren sich in
Online-Foren über Wirkungen und Nebenwirkungen eines Medikaments. Dies kann
gefährlich sein, weil hier mögliche Wirkungen von Therapien unkontrolliert und
ohne rationales Abwägen diskutiert oder in Frage gestellt werden. Es fehlt nicht
viel, dass sich entsprechende Erwartungen auch bestätigen – der Patient beobachtet körperliche Symptome und nimmt ein für die Therapie nützliches Arzneimittel
möglicherweise gar nicht ein.
Für die Neueinstellung auf ein Medikament wurde gezeigt, dass mögliche Nebenwirkungen umso häufiger auftreten, je genauer diese vom verordnenden Arzt im
Vorfeld angesprochen worden sind. Beispielsweise wurden Patienten, die wegen
einer Prostatahyperplasie Finasterid einnahmen, darüber informiert, dass das Arzneimittel die Erektionsfähigkeit schwächen und die Libido mindern kann. Danach
hatten 43 Prozent der Patienten entsprechende Symptome. Wurde dies den Patienten nicht gesagt, traten solche Nebenwirkungen nur bei rund 15 Prozent auf.
Ähnliche Beobachtungen zu sexueller Dysfunktion traten auch bei Patienten mit
Betablocker-Einnahme auf [6].
Auch an
Nebenwirkungen
aus dem Internet
denken!
Informieren Sie ohne Nocebo-Effekt
Für den verordnenden Arzt ergibt sich daraus das ethische
Dilemma, wie detailliert er den Patienten über mögliche Nebenwirkungen einer Behandlung informieren soll. Einerseits
muss der Patient eine informierte Entscheidung über medizinische Behandlungsoptionen treffen können, andererseits
kann ein Aufklärungsgespräch insbesondere bei ängstlichen
Patienten oder in Extremsituationen Nocebo-Effekte hervorrufen [5].
Neben der oben erwähnten Lösungsstrategie, dass Sachverhalte möglichst mit positiven Worten formuliert werden sollen,
wurde von einigen Autoren die Vorgehensweise des „erlaubten
Verschweigens“ vorgeschlagen: Demnach wird der Patient
vor der Verschreibung eines Medikaments gefragt, ob er damit einverstanden ist, keine Informationen über milde und/
oder passagere Nebenwirkungen zu erhalten. Über mögliche
schwerwiegende und/oder irreversible Nebenwirkungen muss
der Patient in jedem Fall aufgeklärt werden [5, 7].
Auf jeden Fall bestätigt sich die alte Weisheit, dass ein
pessimistisch dreinschauender Arzt grundsätzlich weniger
Erfolg haben wird als einer mit positiver, optimistischer Ausstrahlung [6].
Erlaubtes Verschweigen
Vorschlag für den Beginn eines
ärztlichen Aufklärungsgesprächs
über unerwünschte Arzneimittelwirkungen: „Eine relativ geringe
Zahl von Patienten erfährt lästige,
aber ungefährliche Nebenwirkungen der Behandlung. Aus der Forschung weiß man, dass Patienten,
die über diese Art von Nebenwirkungen informiert werden, häufiger diese Nebenwirkungen erleben
als Patienten, die nicht über diese
Nebenwirkungen aufgeklärt wurden. Möchten Sie, dass ich Sie über
diese Nebenwirkungen aufkläre
oder nicht?“ [7]
Spielen Nocebo-Effekte eine Rolle
beim Austausch von Medikamenten?
Ein weiteres Problemfeld von Nocebo-Effekten im Verordnungsalltag hängt mit
der Aut-idem-Regelung zusammen. Die meisten Ärzte sehen sich mit Patienten
konfrontiert, die unter Verweis auf angebliche Nebenwirkungen bestimmte Präparate (meist günstige Generika oder Rabattpräparate) ablehnen und stattdessen
auf die Verordnung des teureren Originals drängen. Eine qualitative systematische
Übersichtsarbeit hat gezeigt, dass Patienten mit vermehrter Angst, Depressivität und
Somatisierungsneigung tatsächlich ein höheres Risiko für unerwünschte Wirkungen
nach Umsetzen auf Generika haben [8]. In dem Zusammenhang müsste diskutiert
werden, ob beispielsweise medizinische Meinungsbildner von PatientenselbsthilfeOrganisationen durch kritische Stellungnahmen Nocebo-Effekte triggern kön-
Ängstliche und
depressive Patienten
vertragen das
Umsetzen auf ein
Generikum am
schlechtesten.
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Nr. 3 / 2013
nen, die ansonsten vermeidbar wären (zum Beispiel bezogen auf das Umsetzen von
starken Opioiden auf entsprechende Generika) [5].
Es wäre daher wünschenswert, wenn Nocebo-Effekte minimiert würden,
indem den Patienten in der ärztlichen Aufklärung nahegebracht wird, dass
Generika gleich gut und gleich wirksam sind wie das entsprechende Original.
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Fazit:
Der Nocebo-Effekt – das Gegenteil des Placebo-Effektes – muss bei jeder
Form der Behandlung, beispielsweise in Bezug auf unerwünschte subjektive
Arzneimittelwirkungen, mit einkalkuliert werden.
Nocebo-Effekte können durch unbeabsichtigte negative Suggestionen von
Ärzten und Pflegepersonal hervorgerufen werden.
Hinsichtlich der Induktion von Nocebo-Effekten befinden sich verschreibende
Ärzte in einem ethischen Dilemma, wie ausführlich sie ihre Patienten über
mögliche Nebenwirkungen eines Arzneimittels aufklären sollen.
Auch im Zusammenhang mit dem Aut-idem-Austausch können NoceboEffekte eine Rolle spielen. Wir verweisen auf die Möglichkeit der Mehrkostenregelung bei Wunschverordnungen.
Literatur:
1
Czycholl H. Eingebildet krank – Die dunkle Seite der Placebos.
www.welt.de/gesundheit/article4951876/Eingebildet-krank-Die-dunkle-Seite-der-Placebos.html,
letzter Zugriff am 31.01.2013
2
Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Placebo interventions for all clinical conditions. Cochrane Database Syst Rev
2010; (1): CD003974
3
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Bundes­
ärztekammer „Placebo in der Medizin“. www.bundesaerztekammer.de/downloads/StellPlacebo2010.
pdf, letzter Zugriff am 31.01.2013
4
Colloca L, Finniss D. Nocebo effects, patient-clinician communication, and therapeutic outcomes. JAMA 2012; 307: 567-8
5
Häuser W, Hansen E, Enck P. Nocebophänomene in der Medizin. Dt Ärztebl 2012; 109(26): 459-65
6
Höffler D. Zum Nocebo-Effekt. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2012; 39(6): 142-3
7
Colloca L, Miller FG. The nocebo effect and its relevance for clinical practice. Psychosom Med 2011; 73: 598-603
8
Weissenfeld J, Stock S, Lüngen M, Gerber A. The nocebo effect: a reason for patients’ non-adherence to generic
substitution? Pharmazie 2010; 65: 451-6
Mehrkostenregelung
Sofern ein Patient ohne ärztliche Indikationsstellung auf „seinem“ nichtrabattierten oder teureren
wirkstoffgleichen Wunschpräparat beharrt, kann er die seit 2011 im Gesetz verankerte Mehrkostenregelung in Anspruch nehmen, ohne dass der verordnende Arzt ein Wirtschaftlichkeitsrisiko trägt.
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KVH • aktuell
Wenn Metformin versagt:
NPH-Insulin dazugeben!
Zur Frage aus Heft 1/2013 „Metformin reicht nicht mehr: wie gehen sie nun vor?“ berichtet hier ein Kollege über eine Untersuchung in seiner Diabetes-Schwerpunkt-Praxis. Ein Paradebeispiel
dafür, dass Fragen aus der Praxis hervorragend durch Untersuchungen in der Praxis beantwortet werden können.
Bei Versagen der Metformin-Monotherapie bessert zusätzliches NPH-Insulin zur
Nacht den HbA1c ohne Gewichtszunahme und ohne Hypoglykämien
Fragestellung
Die Nationale Versorgungsleitlinie empfiehlt nach Versagen der Metformin-Monotherapie die problematische Kombination mit Sulfonylharnstoffen, mit Gliptinen oder
die Einstellung auf konventionelle (CIT) oder supplementäre Insulintherapie (SIT). Die
Kombination NPH-Insulin (NPH) zur Nacht mit Metformin findet dabei keine Erwähnung. Bietet diese einfache Therapie eine Alternative, zumindest für einige Zeit?
Methode
In einer Diabetes-Schwerpunktpraxis wurden 147 Patienten (Alter 59,8 ± 9,6 [Jahre],
bekannte Diabetesdauer 7,3 ± 5,8 [Jahre], Gewicht 92,9 ± 19,5 [kg]) nach Versagen
der Metformin-Monotherapie auf NPH zur Nacht unter Beibehaltung von Metformin
(NPH+Metformin) durch individuelle Schulung eingestellt. Dabei sollte die Injektion
unmittelbar vor dem Schlafengehen vorgenommen werden. Die NPH-Dosis wurde
durch nächtliche Blutzuckermessung individuell ermittelt. Die Metformindosis wurde
nach Verträglichkeit angepasst. Die Häufigkeit von schweren oder nicht-schweren
Hypoglykämien wurde durch Befragung registriert. Die Nachuntersuchung erfolgte
zu dem Zeitpunkt, als das individuelle Therapieziel für HbA1c unter NPH+Metformin
noch erreicht worden war, also vor Umstellung auf CIT oder SIT.
Ergebnisse
Bei 6 Patienten (4%; Gruppe A; Alter 60,8 ± 14,9 [Jahre], Diabetesdauer 4 ± 1,9
Jahre) wurde die Therapie bereits nach 1,9 ± 0,8 Monaten beendet: zwei mussten
auf SIT bzw. einer auf CIT umgestellt werden und bei drei konnte das NPH wieder
abgesetzt und die Metformin-Monotherapie fortgesetzt werden.
66 Patienten (45%; Gruppe B; Alter 59,1 ± 9,4 [Jahre], Diabetesdauer 7,2 ± 5 Jahre)
wurden 6,9 ± 2,7 Monate erfolgreich behandelt:
HbA1c vor NPH 8,5 ± 1 bzw. nachher 7,4 ± 0,9%; p < 0,001
Gewicht vor 93,8 ± 20,5 bzw. nach 93,4 ± 20,5 kg; p ≥ 0,05
75 Patienten (51%; Gruppe C; Alter 60,4 ± 9,1 Jahre und Diabetesdauer 7,7 ± 6,5
Jahre) wurden 29,2 ± 16,5 Monate erfolgreich behandelt:
HbA1c vor 8,2 ± 1,1 bzw. nach 7,0 ± 0,6 [%]; p < 0,001
Gewicht vor 91,6 ± 18,1 bzw. nach 91,6 ± 17,8 [kg]; p ≥ 0,05
Schwere Hypoglykämien kamen nicht vor, die Häufigkeit nicht-schwerer Hypoglykämien war ohne klinische Relevanz.
Diskussion
Bei 4% der Patienten (Gruppe A) ist die Behandlung gescheitert bzw. war nur wenige Wochen notwendig. Aber bei 96% der Patienten konnte durch NPH+Metformin
eine Umstellung auf problematische Medikamenten-Kombinationen bzw. auf CIT
oder SIT für ein halbes (Gruppe B) bis über zwei Jahre (Gruppe C) hinausgezö-
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Briefe an die
Redaktion
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KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
gert werden. Die gefürchtete Gewichtszunahme unter Insulin blieb aus, Hypoglykämien kamen nicht vor. Dies mag daran liegen, dass zur Nacht gespritztes NPH nicht
am Tage wirkt. Der Schulungsaufwand war gering, da bei dieser Therapiestrategie
ein Kostplan mit Berücksichtigung von Kohlenhydrateinheiten nicht erforderlich ist.
Nach Versagen der Metformin-Monotherapie stellt die Kombination NPH + Metformin eine ausgezeichnete Option zur Weiterbehandlung dar.
Dr. med. B. Mertes, CCB Diabetes Centrum
Frankfurt am Main
[email protected]
Briefe an die
Redaktion
Antikoagulation: Auch an Cumarin
mit Selbstkontrolle denken!
In Ihrem Artikel in der „KVH aktuell“ vermisse ich einen Aspekt völlig: Die Patienten unter Cumarinen, die sich in der Selbstkontrolle befinden. Diese Patienten sind
nach verschiedenen europäischen Studien deutlich besser und stabiler eingestellt
als andere Patienten. Ein großer Vorteil, den diese Patienten haben, ist, dass sie in
bestimmten Situationen (z. B. Einnahme von Antibiotika) engmaschiger eine INRWert-Kontrolle durchführen können, was ein Blutungsrisiko deutlich minimiert. Auch
nicht außer Acht lassen sollte man, dass es für die neuen Antikoagulanzien noch kein
Gegenmittel für den Notfall gibt. Dies wirft im chirurgischem Bereich Probleme auf.
Es stellt sich die Frage, ob die Patienten darüber explizit aufgeklärt werden.
Die in Ihrem Artikel angesprochenen wirtschaftlichen Aspekte haben auch keinen
Vergleich zu den Patienten, die in der Selbstkontrolle sind. Nach meinem Wissenstand ist die finanzielle Situation die: Die Verordnung von neuen Antikoagulanzien
kostet das 10-fache einer entsprechenden Versorgung mit einem Gerinnungsmonitor und die sich daraus ergebene Selbstkontrolle. Nach neuesten Leitlinien ist ein
„Bridging“ nicht so oft nötig, wie es durchgeführt wird. Heparine sind ebenfals
kostspielig. Ein Einsatz der neuen Medikamente führt dazu, dass die Nierenfunktion
der Patienten überwacht werden sollte. Ist diese nicht gut, ist die Komplikationsrate
bei den neuen Antikoagulanzien hoch.
Daher sollte immer von Patient zu Patient entschieden werden, welche Antikoagulation die Richtige ist. Die Selbstkontrolle unter Cumarine sollte dabei auch beachtet, und ggf. einen neuen Stellenwert erhalten, gerade im Bezug auf Sicherheit,
Blutungsrisiken und Kostenaufwand.
Dies ist meine Meinung zu dem Thema. Im Kinderherz-Zentrum der Universitätsklinik Gießen schule ich zusammen mit einem Schulungsarzt Eltern, Jugendliche
und Erwachsene, die eine Antikoagulation benötigen. Von Beruf bin ich MTA. Es
würde mich freuen, wenn die oben genannten Argumente ein wenig mehr in den
Blickwinkel derer fielen, die eine Verordnung für Antikoagulanzien ausstellen.
Silvia Possehn , Universitäts-Rhön-Klinikum Gießen, Kinderherz-Zentrum
Anmerkung der Redaktion: Der Gedankengang ist plausibel, allerdings ist die
Selbstkontrolle im hausärztlichen Klientel die große Ausnahme, sie liegt sicher unter
1% der Marcumarpatienten. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Indikation
zur Therapie mit zunehmenden Alter häufiger wird (vor allem absolute Arrythmie).
Damit steigen auch die Schwierigkeiten, mit dem Selbstmessungsverfahren gut klar
zu kommen. Insofern haben wir hierzu keine Ausführungen gemacht.
Das fehlende Gegenmittel ist in der Tat ein großes Problem. Über die Stellung
des Bridging liegen leider keine Studiendaten vor, ob zu häufig oder zu selten angewandt, unterliegt lediglich Vermutungen.
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KVH • aktuell
Tetrazepam: schwere Hautreaktionen
Grundsätzlich sollte das Benzodiazepin und Muskelrelaxans Tetrazepam (Musaril®,
Generika) wegen zentralnervöser UAW (z.B. Benommenheit) und wegen seines
Abhängigkeitspotentials nur zurückhaltend eingesetzt werden. Aufgrund schwerer
Hautreaktionen (Stevens-Johnson-Syndrom (SJS), Toxische epidermale Nekrolyse
(TEN), DRESS-Syndrom) und Kontaktdermatitiden hat nun die französische Überwachungsbehörde ein Verfahren zur Prüfung der Sicherheit dieses Arzneistoffes
bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA beantragt. 11 Todesfälle sind in der
französischen Pharmakovigilanz-Datenbank dokumentiert.
Quelle: Pharm. Ztg. 2013; 158: 119-20
Aktuelle Ergänzung: Zulassung ruht seit 01.08.2013
Das BfArM hat nach einem nicht einstimmigen europäischen Verfahren zur Risikobewertung das Ruhen der Zulassung Tetrazepam-haltiger Arzneimittel (Musaril®,
Generika) zum 1. August 2013 angeordnet. Grund für diese Maßnahme waren
Berichte über schwerwiegende und lebensbedrohliche Hautreaktionen (wie z.B.
Stevens-Johnson-Syndrom) und Kontaktdermatitiden, auftretend zu jedem Zeitpunkt der Therapie und nicht vorhersehbar. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis wird auch
aufgrund eines unsicheren therapeutischen Nutzens negativ beurteilt.
Aufgrund eines strukturellen Unterschiedes von Tetrazepam im Vergleich zu anderen Benzodiazepinen besteht keine Kreuzreaktion, so dass andere Benzodiazepine
weiter eingenommen werden können.
Das Absetzen von Tetrazepam sollte bei Patienten mit bereits länger andauernder Therapie mit Tetrazepam (mehr als eine Woche) schrittweise erfolgen, um
Absetzphänomene zu vermeiden.
Quellen: Bull. AM-Sicherheit 2013 (2), 03-11; Pharm. Ztg. 2013; 158(26): 105
Methotrexat: genaue
Anwendungsempfehlungen erforderlich
Bei rheumatologischen oder dermatologischen Erkrankungen wird Methotrexat
(Generika) einmal wöchentlich appliziert. Nach Warnungen der europäischen Arzneimittelagentur EMA kommt es immer wieder zu Berichten über schwerwiegende
oder tödliche UAW, weil z.B. bei Einweisung in ein Krankenhaus aufgrund von Übermittlungsfehlern und Unkenntnis der Toxizität Methotrexat täglich bereitgestellt und
eingenommen wird. Seit 31.10.2012 sollten Hersteller deutlichere Warnhinweise
zur einmal wöchentlichen Gabe, z.B. auf der äußeren Umhüllung, aufnehmen. Bei
einer Verordnung sollte der geplante Wochentag für die Einnahme auf dem Rezept
vermerkt werden.
Quelle: Dt. Apo. Ztg. 2012(50): 6104-6
Donepezil:
malignes neuroleptisches Syndrom
Unsere Arzneimittelüberwachungsbehörde BfArM hat ein Stufenplanverfahren
zu Donepezil-haltigen Arzneimitteln (Aricept®) eingeleitet: in Zukunft muss in den
Fachinformationen und der Packungsbeilage auf ein mögliches Auftreten eines
malignen neuroleptischen Syndroms hingewiesen werden. Dieses potentiell
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Dr. med.
Günter Hopf
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Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
lebensbedrohliche Syndrom ist charakterisiert durch Hyperthermie, Muskelsteifigkeit, vegetative Instabilität, Bewusstseinsveränderungen und Erhöhung der
Kreatinkinase, sowie nachfolgend Rhabdomyolyse und akutes Nierenversagen.
Bereits bei Auftreten von unklarem hohem Fieber muss die Therapie mit Donepezil
abgebrochen werden. Der Cholinesterasehemmer wird als Antidementivum eingesetzt und ist von umstrittener Wirksamkeit, vor allem von Kombinationen mit
Antipsychotika ist abzuraten.
Quelle: Pharm. Ztg. 2013; 158 (9): 99
Kontrastmittelinduzierte Nephropathie
Neue Empfehlungen zur Therapie einer kontrastmittelinduzierten Nephropathie
(CIN, Anstieg des Serumkreatinins um mehr als 0,5 mg/dl bzw. eine relative Zunahme von über 25 % innerhalb von drei Tagen nach Kontrastmittelgabe) beinhalten
keine Gabe von Acetylcystein (ACC) mehr. Auch hohe ACC-Dosen (1200 mg alle
12 Stunden zweimalig vor und nach der Kontrastmittelgabe) wirkten nach einer
neuen prospektiven und randomisierten Studie weder protektiv auf ein Auftreten
einer CIN noch die Dialysehäufigkeit. Nun werden empfohlen: Gabe einer 0,9 %
NACl-Lösung (1 ml/kg/h) mindestens 6 h vor bis 12 h nach Kontrastmittelgabe,
alternativ auch 0,84 % Natriumbikarbonatlösung 1 h (3 ml/kg/h) vor und bis 6 h
(1 ml/kg/h) nach der Kontrastmittelgabe. Bei Patienten mit einer guten Compliance
kann auch eine orale Hydratation erwogen werden.
Besonders gefährdete Patienten: Alter über 70 Jahre, bekannte Nierenfunktionseinschränkung mit einer berechneten GFR < 60 ml/min.
Quelle: Dtsch.med.Wschr. 2013; 138: 71-8
Kontrastmittel und Nierenfunktion
Eigentlich ein alter Hut, schon längst abgehakt, vielleicht kaum noch im Bewusstsein, aber unter Umständen für den Patienten von allergrößter Bedeutung: Das Risikopotenzial jodhaltiger Kontrastmittel
für die Nierenfunktion. Die Fakten seien hier deshalb kurz in den Fokus gestellt. Für viele radiologische
Untersuchungen (CT, Herzkatheter etc.) werden Kontrastmittel benötigt, um eine vernünftige Aussage treffen zu können. Diese Präparate können eine Reihe ernster Probleme nach sich ziehen. Neben
gelegentlichen Schockreaktionen während der Gabe oder folgender Schilddrüsenüberfunktion ist besonders bedenkenswert, dass eine eingeschränkte Nierenfunktion nach Kontrastmittelgabe zu einem
völligen Funktionsverlust der Nieren und damit unter Umständen zur Dialysebehandlung führen kann.
Bei Untersuchungen mit MRT kommt es seltener ebenfalls zur Notwendigkeit einer Kontrastmittelgabe, hier mit gadoliniumhaltigen Stoffen. Dabei ist die Nierenfunktion ebenfalls von großer Bedeutung, aber mit einem ganz anderen Hintergrund. Bei schwerer Niereninsuffizienz ist die Ausscheidung
des Gadolinium verzögert, so dass eine NSF (eine nephrogene systemische Fibrose) auftreten kann.
Es handelt sich um eine Bindegewebserkrankung, die unbehandelbar ist und zu schwerwiegenden
Nekrosen in Haut, Gelenken und inneren Organen führen und auch tödlich ausgehen kann. Diese
relativ seltene Komplikation ist bisher fast nur bei Dialysepatienten oder Menschen mit einer GFR
unter 30 ml/min aufgetreten, muss aber immer in Betracht gezogen werden.
Auch wenn man sich durch die Kontrolle von Kreatinin und TSH vor der Untersuchung absichert,
sollten diese Fakten uns dazu bewegen, die Indikation zu Kontrastmitteluntersuchungen
weiterhin streng zu stellen.
Dr. med. Joachim Seffrin
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KVH • aktuell
Protonenpumpenhemmer
zur Prophylaxe
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Protonenpumpenhemmer (PPI) werden zunehmend prophylaktisch eingesetzt. Am
bekanntesten scheint die zusätzliche Einnahme eines PPI bei einer Dauertherapie
eines nichtsteroidalen Antiphlogistikums (NSAID) zu sein, um gastrointestinale
unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) dieser Stoffe zu vermeiden. Dieses
Prinzip hat jedoch einen gravierenden Nachteil: zusätzlich zu den UAW eines Arzneistoffes können sich die UAW des anderen addieren. Von PPI ist bekannt, dass
sie u.a. eine Hypomagnesiämie, eine gesteigerte Fraktur- und Pneumonierate und
einen Vitamin-B12-Mangel sowie Interaktionen mit z.B. Thrombozytenaggregationshemmern verursachen können. Dem Autor ist zuzustimmen, dass
das individuelle Risiko für Ulzera, Stressläsionen und Blutungen evaluiert werden muss,
PPI abgesetzt werden, wenn keine Indikation mehr vorliegt,
durch eine versuchsweise Dosisreduktion die niedrigstmögliche wirksame
Dosis angestrebt werden soll,
eine Intervalltherapie entsprechend der Risikosituation (z.B. bei Chemotherapie)
angewandt wird,
eine On-Demand-Therapie grundsätzlich vorzuziehen ist.
Auch wenn der Gemeinsame Bundesausschuss vor Kurzem der Verordnung von
fixen Kombinationen eines NSAID mit einem PPI bei Patienten mit hohem Risiko
gastroduodenaler UAW zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zugestimmt hat,
bleiben Zweifel am medizinischen Sinn dieser Kombination: sowohl die wirksame
Dosis eines NSAID als auch die Dosis eines PPI sind immer individuell festzulegen,
um eine Unter- bzw. Überdosierung einer der beiden Arzneistoffe zu vermeiden.
Derzeit auf dem deutschen Markt: Vimovo®, eine fixe Kombination von 500 mg
Naproxen und 20 mg Esomeprazol.
Quelle: Internist 2013; 54:366 – 371; Dt. Ärztebl. 2013; 110(11): C467
Agomelatin: zu viele UAW
Eine französische kritische Fachzeitschrift bezeichnet das A
­ ntidepressivum Agome®
latin (Val­doxan ), ein Melatonin-Rezeptoragonist, aufgrund seiner unerwünschten
Wirkungen (UAW) und strittigen Wirksamkeit als u
­ nnötig und gefährlich. Unterschiedliche, auch schwere Leberfunktionsstörungen, Hautreaktionen bis hin zum
Stevens-Johnson-Syndrom, muskuläre UAW bis hin zu Rhabdomyolyse, mögliche
Herzfunktionsstörungen, gastro­-intestinale UAW und zentralnervöse UAW (u. a.
Aggression, Schlafstörungen, Tinnitus, Krämpfe, Selbsttötungsgedanken bis hin
zu erfolgreichen Versuchen) lassen das Risikoprofil von Agomelatin wenig positiv
erscheinen. Die Autoren empfehlen, auch vor e­ iner möglichen Marktrücknahme
dieses Antidepressivum nicht zu verordnen.
Quelle: Prescr. Internat. 2013; 22: 70-1
NSAR – UAW auf Dünn- und Dickdarm
Neben den bekannten UAW auf den Magen wirken nicht-steroidale Antiphlogistika
(NSAR) auch auf Dünn- und Dickdarm ulzerogen, beginnend mit einem subklinischen Mukosaschaden bei 60 bis 70 Prozent der Patienten. Im Dünndarm zeigen
sich nach 14-tägiger Einnahme eines NSAR bereits ähnlich häufige Blutungen,
Dr. med.
Günter Hopf
Seite 34
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Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Nr. 3 / 2013
Ulzerationen und konzentrische Diaphragmen mit Stenosen wie nach Langzeiteinnahme. Spezifische COX-2-Inhibitoren zeigen keinen Vorteil, ebenso wie die
­zusätzliche Gabe von H2-Blockern oder Protonenpumpeninhibitoren (PPI). Nur Misoprostol scheint eine Wirkung zu zeigen, ist jedoch aufgrund seiner UAW (Diarrhoe,
Bauchkrämpfe) nur bedingt empfehlenswert. Generell sollte bei g
­ astrointestinalen
UAW ein Präparat abgesetzt werden – mit schnellem Abheilen entzündlicher Prozesse. Diaphragmatische Stenosen und Strikturen bilden sich jedoch nicht zurück
(evtl. Ballondilatation erforderlich).
Am Dickdarm verursachen NSAR bei oraler Gabe nur selten UAW. Grundsätzlich
können jedoch ähnliche UAW wie am Dünndarm auftreten, vor allem am Colon
ascendens.
Cave:
Die Kombination eines NSAR mit ASS erhöht das Risiko, auch die Low-DoseTherapie mit zum Beispiel 100 mg/d.
Fragen nach einer Einnahme von zusätzlichen freiverkäuflichen Präparaten
eines NSAR oder ASS vor einer Verordnung dringend zu empfehlen!
Quelle: Gastroenterol. 2010; 5: 461-72, nachgedruckt in Hess. Ärztebl. 2013; 1: 19 -28
Bitte beachten Sie zum Thema NSAR auch unsere Beiträge
auf den Seiten 22-24
Glukokortikoide: wenig Erfolg
beim Tennisellenbogen
In einer Zusammenfassung e­ iner amerikanischen Studie zur Anwendung von Glukokortikoiden bei chronischer Epicondylalgia lateralis, dem sogenannten Tennisellenbogen, im Vergleich zu Placeboinjektionen und Physiotherapie wird festgestellt, dass
Glukokortikoide in dieser Indikation zu höheren Rezidivraten als Placebo nach
einem Jahr f­ ühren (Kurzzeitergebnisse nach 4 Wochen waren für Glukokortikoide noch positiv).
Physiotherapie die Ergebnisse nicht verschlechtert, aber auch keine objektiven
Vorteile zeigt.
Quelle: Dtsch Med Wschr 2013; 138: 769
Neue Arzneistoffe 2012:
kritische Einschätzungen
In Gegensatz zu oft überschwänglichen Werbeaussagen über die Wirksamkeit
neuer Arzneistoffe bleibt eine französische kritische medizinische Zeitschrift bei
ihrer Einschätzung, dass seit 2008 (!) kein neuer Arzneistoff einen Preis für einen
generellen größeren therapeutischen Fortschritt verdient hat. 82 neue Wirkstoffe
bzw. neue Indikationen alter Wirkstoffe wurden bewertet. Boceprevir (Victrelis®)
bei chronischer Hepatitis C wurde ein wirklicher Vorteil attestiert, ebenso scheinen
Abirateron (Zytiga®) nach Therapieversagen anderer Arzneistoffe bei Prostatakarzinom, Telaprevir (Incivo®) bei chronischer Hepatitis C und Trastuzumab (Abraxane®)
zur adjuvanten Therapie bei Brustkrebs vorteilhaft zu sein.
Nachdenklich stimmen Einschätzungen wie „nichts Neues“ für 42 und „nicht
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akzeptierbar“ für 15 neue Arzneistoffe oder Indikationen. In letztere Gruppe fallen
u.a. Asenapin (Sycrest®) bei manischen Episoden bipolarer Störungen, Bevacizumab
(Avastin®) bei fortgeschrittenem Ovarialkarzinom, Domperidon (Motilium®, Generika) bei gastrointestinalen Störungen, zwei Gliptine zur Therapie eines Diabetes
Typ 2.
Wenn auch die Beurteilungen etwas streng erscheinen, sie sind vergleichbar mit
der Nutzenbewertung des IQWIG, deutlich z.B. bei der Einschätzung von Gliptinen.
Ob es bei der ersten Reaktion des Herstellers von Linagliptin (Trajenta®), das Präparat
in Deutschland nicht anzubieten, bleiben wird?
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Dr. med.
Günter Hopf
Quellen: Prescr. Internat. 2013; 22 (136 und 137): 79 und 105-107
Ein schwarzes Dreieck ...
Ab September dieses Jahres sollen Arzneimittel, die einer zusätzlichen Überwachung
unterliegen, sowohl in der Packungsbeilage als auch in der Fachinformation mit
einem gleichseitigen, auf der Spitze stehenden Dreieck und mit einem zusätzlichen
Text versehen werden. Dies gilt für alle Mittel, die seit 2011 zugelassen wurden und
neue Arzneistoffe enthalten und generell für alle Biologicals.
In anderen europäischen Ländern haben sich diese Warnhinweise bereits bewährt.
Mit der Zulassung ist das Risikoprofil eines neuen Arzneistoffes noch längst
nicht erfasst. Besondere Risikogruppen wie Kinder und alte Menschen können auf einen neuen Arzneistoff sensibler reagieren. Insbesondere medikamentös behandelte chronisch Kranke fallen oft unter die Ausschlusskriterien
einer Zulassungsstudie, sodass zum Beispiel die Frage der Interaktionen mit
anderen Arzneistoffen nur unzureichend geklärt ist.
Offen bleibt, aus welchen Gründen ein Warnhinweis nicht bereits auf der äußeren Verpackung angebracht werden muss. Es soll Patienten geben, die sich die
Gebrauchsinformation nicht ansehen – ebenso wie Ärzte, die einen Blick in die
jeweiligen Fachinformationen nicht für nötig erachten.
Auch sollen zum Stichtag keine Rückrufe aufgrund der geplanten Änderung
erfolgen, noch jahrelang werden sich daher Arzneimittel mit nicht geklärtem Sicherheitsprofil ohne schwarzes Warndreieck im Handel befinden. Für Patienten ist
dies sicher nicht von Vorteil. Es bleibt wenigstens zu hoffen, dass der Warnhinweis
auch bei der Publikation von Werbeanzeigen nicht vergessen wird.
Quelle: Pharm. Ztg. 2013; 158(11):105
Auch Patienten können jetzt
Nebenwirkungen melden
Aufgrund einer Initiative der EU sollen Patienten und Verbraucher die Möglichkeit bekommen, den
Verdacht einer Nebenwirkung direkt der zuständigen Behörde zu melden. In Deutschland sind dies PEI
(Paul-Ehrlich-Institut) und BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinalprodukte). Inzwischen
wurde dafür diese Website eingerichtet: https://verbraucher-uaw.pei.de/. Die Meldung muss nicht
durch Angehörige eines Gesundheitsberufs bestätigt werden, aber das PEI fordert gleich am Seitenkopf
alle Patienten auf, wegen der beobachteten eventuellen Nebenwirkung einen Arzt zu konsultieren.
Das Institut erklärt auch, dass solche Spontanmeldungen nicht geeignet sind, um daraus eine Statistik
über Nebenwirkungen abzuleiten, wohl aber wichtige Signale geben können, um seltene und bisher
unbekannte Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen und weiter zu untersuchen.
red
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Hausärztliche Leitlinie
Multimedikation
Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten
Konsentierung Version 1.00
16.01.2013
Revision bis spätestens
Januar 2016
Version 1.00 vom 16.01.2013
Hausärztliche Leitlinie
Hausärztliche Leitlinie
Multimedikation
Multimedikation
F. W. Bergert
M. Braun
K. Ehrenthal
J. Feßler
J. Gross
U. Hüttner
B. Kluthe
A. Liesenfeld
J. Seffrin
G. Vetter
M. Beyer (DEGAM)
C. Muth (DEGAM)
U. Popert (DEGAM)
S. Harder
(Klin. Pharmakol., Ffm)
H. Kirchner (PMV)
I. Schubert (PMV)
Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation
Empfehlungen
zumund
Umgang
mit Multimedikation
bei Erwachsenen
geriatrischen
Patienten
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten
Anmerkung:
Die Leitlinie
Multimedikation
umfasst
Konsentierung
Version
1.00 insgesamt knapp
100 Seiten. Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs
Konsentierung
Version 1.00
16.01.2013
nur die wichtigsten Aspekte, aufgeteilt auf mehrere Hef16.01.2013
te. In diesem
Heft finden Sie den dritten und letzten Teil.
Revision bis spätestens
Die gesamte Leitlinie einschließlich der im Text erwähnRevision
bis
spätestens
Januar
2016
ten Anhänge
und
Literaturstellen
(Ziffern in eckigen
Klammern),
die hier
Januar
2016nicht abgedruckt sind, finden Sie im
Internet unter www.kvhessen.de/Leitlinie oder www.
pmvforschungsgruppe.de. Auf dieser Webseite bitte
den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite
Version 1.00
vom 16.01.2013
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16.01.2013
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Dann können Sie die
gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDF-Datei auf Ihren
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finden“ klicken, dann links Anbieter auswählen, anschließend führt unter L die „Leitliniengruppe Hessen“ zu den
hausärztlichen Leitlinien.
F. W. Bergert
Braun
F. W.M.Bergert
K. Ehrenthal
M. Braun
J. Feßler
K. Ehrenthal
Gross
J.J.Feßler
U.J.Hüttner
Gross
Kluthe
U.B.Hüttner
A. Liesenfeld
B. Kluthe
J. Seffrin
A. Liesenfeld
G.Seffrin
Vetter
J.
M. Beyer (DEGAM)
G. Vetter
Muth (DEGAM)
(DEGAM)
M.C.Beyer
U.C.Popert
(DEGAM)
Muth (DEGAM)
S. Harder
U. Popert (DEGAM)
(Klin. Pharmakol.,
Ffm)
S. Harder
H.
Kirchner
(PMV)
(Klin. Pharmakol., Ffm)
I. Schubert
(PMV)
H.
Kirchner (PMV)
I. Schubert (PMV)
Nr. 3 / 2013
KVH • aktuell
Seite 37
Studienlage zur Medikationsbewertung
Beschreibung der Studien
Der Prozess der Medikationsbewertung, wie er in
den vorangegangenen Abschnitten beschrieben
wurde, steht im Zentrum eines wirksamen Medikamentenmanagements. Durch die Recherche
sollte geklärt werden, ob die Durchführung eines
Medikamentenreviews positive Effekte auf die Patientenversorgung hat und ob sich dies auch für die
hausärztliche Versorgung in Deutschland zeigt.
Bei einer ersten orientierenden Recherche in der
Cochrane Library fanden sich kontrollierte Studien,
die sich mit verschiedenen Fragestellungen zum
Thema Medikamentenreview beschäftigten. Die
Studien unterschieden sich deutlich hinsichtlich der
untersuchten Endpunkte und des Settings, in dem
die Untersuchungen durchgeführt wurden (Tabellen stehen in der Originalfassung der Leitlinien im
Web – sie sind erreichbar, wie in diesem Heft auf
Seite 36 beschrieben).
Im Verlauf der Leitlinienarbeit erschienen weitere
wichtige Publikationen, in deren Literaturverzeichnissen eine Handsuche durchgeführt wurde.
Insbesondere die Literaturangaben des CochraneReviews »Interventions to improve the appropriate
use of polypharmacy for older people« [111] sowie
der Leitlinie »Multidiciplinaire richtlijn Polyfarmacie
bij ouderen« der Niederländischen Hausärztevereinigung [107], die im Mai 2012 veröffentlicht
wurden, lieferten wichtige Hinweise auf weitere
Publikationen.
In Studien eingeschlossene Patienten
Alle in unserer Übersicht aufgeführten Studien
wurden mit Patienten durchgeführt, die 65 Jahre
oder älter waren und Medikamente einnahmen.
Die Schwere der Erkrankungen und die Anzahl
der eingenommenen Medikamente waren in den
meisten Studien nicht definiert.
Setting
Die Studien wurden in England, Finnland, Dänemark, Irland, Niederlande, Australien und den USA
durchgeführt, nur ein Teil davon in ambulanten
Einrichtungen wie Arztpraxen, ambulante Zentren,
etc..
Intervention
Ausgeschlossen wurden Untersuchungen, bei denen der Arzneimittelreview ohne Patientenkontakt
»nach Aktenlage« oder in Form einer rein telefonischen Kontaktaufnahme erfolgte sowie Studien,
an denen Ärzte im gesamten Review-Prozess und
an der Umsetzung nicht beteiligt waren. In einigen
Studien war der Medikamentenreview Bestandteil
von Versorgungsprogrammen wie z. B. Pharmaceutical Care [115] oder umfassenderen Assessments
[82]. Keine der Studien wurde in einer deutschen
Hausarztpraxis durchgeführt.
Endpunkte
Die Tabelle auf der folgenden Seite gibt einen Überblick über die untersuchten Endpunkte. Überwiegend wurde die Angemessenheit und Sicherheit der
Arzneitherapie z. B. in Form von Dosierungsfehlern,
Veränderungen im Medikamentenmanagement
(Absetzen/Ansetzen von Medikamenten) und die
Anzahl der Medikamente untersucht. Es wurden
auch Studien berücksichtigt, die keine validierten
Messinstrumente eingesetzt haben.
Studiendauer
Die Studiendauer war in fast allen Studien sehr
kurz. Sie variierte zwischen 4 Wochen und 1 Jahr.
Fazit aus der Studienlage
Die Studien sind äußerst heterogen und zeigen
bezogen auf einzelne Endpunkte z. T. widersprüchliche Ergebnisse. Da keine der Studien in einem der
hausärztlichen Versorgung in Deutschland identischen Setting durchgeführt wurde, ist es schwierig,
die Ergebnisse auf unseren Versorgungsbereich zu
übertragen. Die Heterogenität der angewendeten
Methoden zur Medikationsbewertung und der
untersuchten Endpunkte kommen dabei erschwerend hinzu.
Auswirkungen auf die Morbidität konnten in keiner
der Studien nachgewiesen werden und sind bei der
älteren Klientel (> 65 Jahre) aufgrund möglicher
Störfaktoren (Confounder) auch nur schwer auf
die Intervention zurückzuführen. Darüber hinaus
sind die Studien mit Laufzeiten von 4 Wochen bis
zu maximal einem Jahr bei den beschriebenen Interventionen zu kurz, um eine Beeinflussung harter
Endpunkte nachzuweisen oder auszuschließen.
Verbesserungen des Gesundheitszustandes der
Studienteilnehmer sind innerhalb der Studiendauer
daher nicht zu erwarten.
Der Cochrane-Review von Patterson et al.
Seite 38
KVH • aktuell
[111] beschränkte sich von vornherein auf Studien
mit den primären Endpunkten »Angemessenheit
der Arzneimittelverordnung, Prävalenz der angemessenen Arzneimittelverordnungen und Krankenhauseinweisung«. Als sekundäre Outcomes
wurden medikamentenbezogene Probleme wie z.
B. Nebenwirkungen, Medikamenteninteraktionen
oder Medikationsfehler, Adhärenz und Lebensqualität untersucht. Dabei wurden ausschließlich
Studien berücksichtigt, die validierte Instrumente
zur Messung der Outcomes (MAI/Beers Kriterien)
verwendeten. Die Autoren kamen zu folgendem
Schluss: Eine signifikante Verbesserung der Arzneitherapie bei Multimedikation ließ sich nicht nachweisen. Maßnahmen wie z. B. Pharmaceutical Care
[64], bei denen Apotheker mit Ärzten gemeinsam
das Arzneimittelmanagement durchführen, schei-
Endpunkt
Lebensqualität
Nr. 3 / 2013
nen jedoch vorteilhaft zu sein in Bezug auf eine
Reduzierung von unangemessener Verschreibung
und medikamentenbezogenen Problemen.
Vor dem Hintergrund der recherchierten Studien
zum Medikamentenreview und den Ergebnissen
des beschriebenen Cochrane-Reviews kommt die
Leitliniengruppe zu folgender Empfehlung:
Trotz der z. T. widersprüchlichen Evidenz in
Bezug auf einzelne Endpunkte weisen die
meisten Studien auf einen Nutzen hinsichtlich
der Reduktion von Fehlern im Arzneimittelmanagement und der Verbesserung der Lebensqualität hin. Deshalb empfiehlt die Leitliniengruppe, die Durchführung eines strukturierten
Medikamentenreviews (= Medikationsbewertung) bei Patienten mit Multimedikation.
Ergebnis
Kein Effekt
Positiver Trend, nicht signifikant
Signifikante Verbesserung
Leichte Senkung, nicht signifikante Senkung der Krankenhauseinweisungen
Studien
Krska [78], Lisby [91], RESPECT [115]
Lenaghan [89]
Walsh [158]
Krska [78]
Reduzierung der Arzneimittel
Lenaghan [89], Walsh [158]
Keine signifikante Reduzierung
Vinks [155]
Anzahl der DDD
Anzahl der Verordnungsänderungen
Medikamenteninduzierte Probleme
Signifikante Reduzierung der DDD
Pitkala [110]
Mehr Verordnungsänderungen
durch die Intervention
Lampela [82]
Reduzierung
Jameson [72], Vinks [155]
Keine signifikante Reduzierung
Pitkala [110], Vinks [155]
Angemessenheit der Verordnungen
Risikoreduktion für unangemessene
Medikamente und Unterversorgung
Gallagher [50]
Keine signifikante Verbesserung
RESPECT [115]
Patientenzufriedenheit
(Wieder-) Einweisung ins Krankenhaus, Dauer des stationären
Aufenthalts
Anzahl der verordneten Arzneimittel
Aufdecken von Dosierungsfehlern, Positiver Effekt
unangemessenen Arzneimitteln
Inanspruchnahme von Leistungen, Leichter Anstieg nachgewiesen
Anzahl der Arztbesuche
Kein Effekt nachgewiesen
Kein Effekt nachgewiesen
Stürze
Funktionale und kognitive Verbes- Kein Effekt nachgewiesen
serungen
Kein Effekt nachgewiesen
Mortalität
Kosten
Walsh [158]
Krska [78]
Lisby [91]
Gallagher [50]
Williams [161]
Gallagher [50], Lenaghan [89],
Lisby [91],
RESPECT [115]
Kostenreduktion
Williams [161]
Kein Effekt nachgewiesen
Jameson [72], Krska [78]
Tabelle: Übersicht zu den Endpunkten in den herangezogenen Studien.
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KVH • aktuell
Die Leitliniengruppe hält eine regelmäßig
durchgeführte Medikationsbewertung für
eine wirksame Maßnahme, mit der Verordnungs- oder Einnahmefehler aufgedeckt und
die Arzneimittelsicherheit erhöht werden
können. Sie schließt sich damit den Empfehlungen aus anderen Ländern an, wie z. B.
der Royal Society of Physicians und der Royal
Seite 39
Pharmaceutical Society of Great Britain [24,
119], Niederlande [107] oder Neuseeland
[26], in denen Medikamenten-Reviews bereits
Bestandteil nationaler Versorgungsprogramme sind.
Die Tabelle auf Seite 38 zeigt die Studienergebnisse
hinsichtlich der untersuchten Endpunkte.
Schnittstellen
Dem Sozialgesetzbuch zufolge (§11 (4) SGB
V) haben alle Leistungserbringer eine sachgerechte Anschlussversorgung ihrer Versicherten
sicherzustellen. Im Krankenhaus stellt das Entlassungsmanagement einen Teil der Krankenhausbehandlung dar. Hierbei soll der reibungslose
Übergang in die ambulante Versorgung, Reha
oder Pflege gewährleistet werden (zu den Inhalten eines Entlassungsmanagements s. Anhang).
Zum Entlassungsmanagement gehört u.a. auch
der Arztbrief mit Angaben zu Diagnosen und
Therapievorschlägen inkl. der Medikation. Hierbei sollte die Wirkstoffbezeichnung und – sofern
mehrere vergleichbare Wirkstoffe vorhanden sind
– ein preisgünstigerer Therapievorschlag benannt
werden (§11 (5c) SGB V).
Veränderungen der Medikation durch einen Krankenhausaufenthalt sind häufig. Dort wird abgesetzt, umgestellt, neu eingestellt und die Dosis
verändert etc. Diese Änderungen sind anhand des
Entlassungsbriefes oftmals nicht nachvollziehbar.
Somit ist eine Kommunikation mit dem Patienten
über die neue Therapie erschwert, es besteht die
Gefahr, dass die Kenntnis von Unverträglichkeiten
bzw. Interaktionen verloren geht, dass Therapiekonzepte nicht nachvollziehbar sind, dass befristete
Medikationen unbeabsichtigt in eine Dauertherapie
überführt werden oder es zu Akzeptanzproblemen
mit der Entlassungsmedikation bei Arzt und Patient
kommt.
Empfehlungen für ein Entlassungsmanagement
(d. h. Aufgaben des Krankenhauses) sehen in
Bezug auf die Medikamentenversorgung u. a.
folgende Punkte vor (zit. nach Reuss, Deutsche
Krankenhausgesellschaft, 2012 [114]):
Dokumentation der Medikation in Gegenüberstellung zur Medikation bei der Einweisung (Wunsch der einweisenden Ärzte),
Angaben über den Zeitraum der im Entlassungsbrief aufgelisteten Medikation,
Hinweis auf Blutwertkontrollen etc.,
Patientenberatung und -schulung zu bestimmten Medikamenten.
Aus Sicht der Leitliniengruppe ist eine frühzeitige
Information des Hausarztes vor Entlassung und
eine Begründung zur Medikationsumstellung
erforderlich.
Bei der Therapieübernahme ist zu berücksichtigen,
dass die stationären Verweilzeiten oft sehr kurz sind
und ein stabiler Wirkstoffspiegel (steady state) eines
Pharmakons, der sich meist erst nach 4 bis 5 Halbwertszeiten einstellt, dort nicht erreicht wird, d. h.
im Krankenhaus kann Wirksamkeit und Verträglichkeit der Therapie oft nicht beurteilt werden. Bei
Anwendung mehrerer, sich gegenseitig beeinflussender Stoffe verschärft sich diese Situation noch.
Für die Verordnungen nach Krankenhausentlassung trägt der Hausarzt alleine die Verantwortung
(ökonomisch und juristisch). Die Berufung auf die
Empfehlungen des Krankenhauses schützen den
Hausarzt nicht vor Regress- bzw. Schadenersatzansprüchen.
In einem Forschungsvorhaben (HEICare) wurde eine
strukturierte EDV-gestützte Kommunikation (AiD
Praxis) zur Medikation zwischen ambulantem und
stationärem Sektor entwickelt und erprobt. Ziele
waren die Verbesserung der Arzneimittelsicherheit
(Erkennen von Interaktionen, Vermeidung unnötiger Therapieumstellungen zwischen den Sektoren)
sowie der Kommunikation zwischen einweisenden Hausärzten und stationären Behandlern. Die
Evaluation ergab, dass die Zahl der stationären
Therapieumstellungen reduziert werden konnte.
Ein solches System zur Unterstützung der Verordnungsentscheidung zu implementieren und die
Kommunikation zu verbessern, ist – so die Autoren
der Studien – jedoch ein langwieriger und ressourcenintensiver Prozess [92].
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KVH • aktuell
Vor einer Krankenhauseinweisung bzw. Vorstellung bei einem Spezialisten ist zu empfehlen, dem
Patienten wesentliche Vorbefunde, Fragestellung
und Einweisungs-/Überweisungsindikation sowie
den aktuellen Medikationsplan mitzugeben, mit
dem Hinweis, diese Informationen dem behandelnden Arzt persönlich zu übergeben.
Patienten sollte die Wahl einer Stammapotheke
empfohlen werden, in der sie alle Arzneimittel
(verordnet/OTC) dokumentieren lassen können.
Dies erlaubt die Prüfung auf Interaktionen und auf
Doppelverordnungen sowie die Klärung der Medikamenteneinnahme nach Therapieumstellung oder
Austausch durch Rabattvertrag. Außerdem können
die Patienten einen Ausdruck der Medikationsliste
ihrem Hausarzt vorlegen.
Wünschenswert wäre auch eine engere Koope-
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ration zwischen Hausärzten und Apothekern
(s.w.o. zur Arzneimittelabgabe). Klinische Pharmazie ist Bestandteil der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Apothekern. Beispiele für ein Medikationsmanagement werden regelmäßig publiziert (s.
DAZ: Reihe POP – Patientenorientierte Pharmazie).
In verschiedenen Studien (UK, USA, Deutschland
[8, 55, 59, 118, 120, 153]) wurde gezeigt, dass
durch Apotheker/klinische Pharmazeuten arzneimittelbezogene Probleme erkannt und gelöst
werden konnten (s. Arzneimittelabgabe). Ein
Modellprojekt zur Verbesserung der Qualität und
Wirtschaftlichkeit der Arzneitherapie durch ein
Medikationsmanagement, das sich an Patienten
wendet, die mehr als fünf systemisch wirkende
Arzneimittel dauerhaft einnehmen müssen, ist
zur Zeit (2012) von der KBV und ABDA in Vorbereitung.
Qualitätsindikatoren
Eine Reihe der in der Leitlinie genannten Empfehlungen zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei Multimedikation können theoretisch
einem Monitoring mittels Qualitätsindikatoren
unterzogen werden. Da auch die in der Literatur
vorgeschlagenen Indikatoren eine eigene Erfassung vorsehen, die zumindest gegenwärtig nicht
ohne entsprechende Softwareunterstützung
machbar ist, werden im Folgenden nur einige
mögliche Indikatoren (ohne weitere Operationalisierung) benannt:
Der AQUIK-Indikatorensatz führt unter verschiedenen Themen Qualitätsindikatoren auf, die auch
für die Thematik Multimedikation herangezogen
werden können (www.kbv.de/aquik.html).
Arzneimittelsicherheit
Dauermedikation: Anteil der Patienten mit
vier und mehr Dauermedikamenten, deren
Medikation in den letzten 12 Monaten überprüft wurde.
Orale Antikoagulation: Anteil der Patienten
unter dauerhafter oraler Antikoagulation
(Anm. Phenprocoumon, LL-Gruppe), bei
denen mindestens eine INR-Wert-Bestimmung
alle 6 Wochen erfolgte.
Polymedikation: Anteil der Patienten (65 Jahre
und älter) innerhalb der letzten 12 Monate,
die täglich mindestens sechs ärztlich verordnete Medikamente einnehmen. Anmerkung:
Aus Sicht der Leitliniengruppe handelt es sich
hier nicht um einen Qualitätsindikator, sondern um eine Kennziffer zur Darstellung einer
Risikogruppe.
Praxismanagement
Dokumentation von Medikamentenallergien:
Die Dokumentation von Medikamentenallergien und unerwünschten Arzneimittelwirkungen erfolgt nach einem Standardverfahren
und ist klar erkennbar.
Aus dem Set an QISA Indikatoren [142] sind folgende Indikatoren nutzbar:
Interaktionen: Anteil der Arzneimittelpatienten mit Wirkstoffkombinationen, die aufgrund ihres Interaktionspotentials zu vermeiden sind (an allen Arzneimittelpatienten).
Potentiell inadäquate Medikation (PIM) /
PRISCUS: Anteil der älteren Patienten mit potentiell inadäquater Medikation (problematischen Wirkstoffen) an allen älteren Patienten.
(Anmerkung: Die Leitliniengruppe empfiehlt,
diesen Indikator als Risikoindikator einzusetzen und nicht als Qualitätsindikator, da noch
Diskussionbedarf hinsichtlich der möglichen
Alternativen zu einigen hausärztlich relevanten Wirkstoffgruppen (z. B. Neuroleptika,
Antidepressiva, Nitrofurantoin) besteht.)
Weitere mögliche Indikatoren sind:
Medikationsplan: Anteil der Patienten mit
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Multimedikation und einem aktuellen Medikationsplan.
MAI: Anteil der Risikopatienten mit Multimedikation, bei denen ein jährlicher Arzneimittelcheck erfolgte.
Medikationsreview: Anteil der Patienten, bei
Seite 41
denen für jedes Medikament eine Indikation
dokumentiert wurde.
Monitoring: Verwendet die Praxis ein Verfahren zur Durchführung von empfohlenen
Routinekontrollen und gibt es ein Recallsystem zur Einbestellung des Patienten?
Multimedikation im Alter
Die mit zunehmendem Alter ansteigende Multimorbidität führt häufig zur Multimedikation [1,
20]. Aufgrund der im Alter veränderten Pharmakokinetik und -dynamik [94, 149, 150] sind ältere
Menschen auch besonders anfällig für Arzneimittelnebenwirkungen. Es kann zu einer Wirkverstärkung, aber bei einzelnen Medikamenten auch zu
Wirkabschwächungen kommen.
Typische Veränderungen im Alter sind eine verzögerte renale Elimination und eine höhere Empfindlichkeit auf anticholinerge und sedierende Effekte.
Teilweise wirken Arzneimittel aber auch vermindert
(z. B. Beta-Blocker bei verminderter Ansprechbarkeit der Rezeptoren) oder können paradoxe Reaktionen auslösen.
Arzneimittel können aber auch das Risiko für alterstypische Komplikationen wie z. B. Stürze erhöhen.
Insgesamt haben 70- bis 80-Jährige im Vergleich zu
jüngeren Patienten ein 4- bis 5-mal häufigeres Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen [46].
Wichtigste Risikofaktoren für unerwünschte
Arzneimittelwirkungen (UAW) im Alter sind
[79, 99, 100, 112, 113, 143]
eingeschränkte Nierenfunktion,
Gebrechlichkeit: Physiologische Kompensationsmöglichkeiten sind erschöpft,
niedriges Körpergewicht,
Multimorbidität und Multimedikation
[99, 100].
Die Ausprägung der Veränderungen ist dabei sehr
individuell und lässt sich keiner festen Altersgrenze zuordnen. Mit Ausnahme der Beurteilung der
Nierenfunktion gibt es keine weiteren Tests, die
einfach durchzuführen sind und eine Einschätzung
der altersbedingten Pharmakokinetik und -dynamik
ermöglichen.
Neben physiologischen Veränderungen können
bei einer Multimedikation im Alter arzneimittelbedingte Probleme nicht nur durch Drug-DrugInteraktionen sondern auch durch Drug-DiseaseInteraktionen bedingt sein. Hinzu kommen noch
weitere patientenseitige Gründe wie Anwendungsprobleme und auch Verständnisprobleme für die
Therapie (Compliance/Adhärenz) [58].
Im Laufe des Lebens verändern sich die entscheidenden pharmakologischen Parameter (inter-)
individuell sehr unterschiedlich.
1.Die Resorption von Medikamenten verschlechtert sich im Alter für viele Stoffe,
auch weil Tabletten nicht mit der ausreichenden Trinkmenge zur Auflösung eingenommen
werden [84, 100, 112].
2. Elektrolytverschiebungen (z. B. bei Laxantienabusus, Fehlernährung, Exsikkose) können
die Wirksamkeit wasserlöslicher Medikamente
behindern.
3. Veränderungen der Verteilungsräume [112]:
a) Reduktion des Gesamtkörperwassers von
42% auf 33% des Körpergewichts (KG) sowie
der Extrazellularflüssigkeit, d. h. niedrigeres
Verteilungsvolumen hydrophiler Arzneimittel
wie ACE-Hemmer, Digoxin, Lorazepam, Metronidazol, L-Thyroxin.
Es droht u. U. Kumulation verstärkt durch:
sinkendes Durstgefühl im Alter trotz Flüssigkeitsmangel (sog. »Altersexsikkose«),
Abnahme der Nierenleistung,
nicht altersangepasste Arzneimitteldosen.
b) Zunahme des Körperfetts auf bis zu 30%
des KG, Abnahme der Muskelmasse, d. h.
erhöhtes Verteilungsvolumen und verlängerte Wirkdauer durch vermehrte und längere
Speicherung in den vergrößerten Fettdepots
bei lipophilen Arzneimitteln wie z. B. Amoxicillin, Furosemid, Diazepam, Nitrazepam,
Oxazepam [17].
4. Die renale Elimination nimmt im Alter ab
[112, 146]: Faustregel: Ab dem 30. Le-
Seite 42
KVH • aktuell
bensjahr vermindert sich die Nierenclearance
(Glomeruläre Filtrationsrate: eGFR) jährlich um
1%, bei über 70-Jährigen ist die eGFR um 30
bis 50% vermindert [11, 101]. Renal ausgeschiedene Wirkstoffe müssen im Alter meist
niedriger dosiert werden, z. B. Digoxin, Metronidazol, Theophyllin, Triamteren.
In der Regel wird von den Laborärzten aus
Alter, Geschlecht und Kreatinin entsprechend
der MDRD-Formel der adäquate Clearance
Wert für eingeschränkte Nierenfunktion errechnet (MDRD = modification of diet in renal
disease).
5. Interaktion und Enzyminduktion, z. B. Verdrängung aus der Eiweißbindung (z. B. von
Phenprocoumon durch NSAR) [25]. Körpereigene (z. B. endogene Steroide, Östrogene),
körperfremde Stoffe (Nahrungsmittel, z. B.
Grapefruit, Johanniskraut) und Medikamente
können das Enzymsystem der P-450-Zytochrome bei der Verstoffwechselung hemmen oder
induzieren und den Medikamenten-Wirkspiegel dadurch verändern [84, 85, 96, 112, 131,
143].
6. Veränderung der Pharmakodynamik:
Empfindlichkeitssteigerung oder paradoxe
Wirkung im Alter für zentral wirksame Stoffe
(wie Benzodiazepine, Chlorpromazin) erfordern ggf. eine Dosisreduktion oder eine
Änderung der Therapie.
Individuelle Nutzen-RisikoAbschätzung im Alter
Aufgrund der im Alter veränderten Pharmakokinetik und -dynamik sowie zunehmender Multimorbidität gelten zahlreiche Medikamente wegen ihrer
potenziellen Nebenwirkungen als ungeeignet für
ältere Menschen. Bei diesen Medikamenten kann
das Risiko für Nebenwirkungen bzw. alterstypischer
Komplikationen den klinischen Nutzen überwiegen. Eine Weiterverordnung dieser Medikamente
ist nicht sinnvoll. Dies gilt insbesondere dann,
wenn besser verträgliche Alternativen vorhanden
sind [83].
Vor dem Hintergrund der potentiellen Gefährdung,
die für Ältere durch die Anwendung von unangemessenen Arzneimitteln entsteht, haben sich seit
den 1990er Jahren mehrere Arbeitsgruppen damit
beschäftigt, Informationen über die potenziell
schädigende Wirkungen bei Älteren zusammenzutragen. Dabei wurden einzelne Arzneimittel und
Medikamentengruppen hinsichtlich ihres Gefähr-
Nr. 3 / 2013
dungspotenzials (meist in Konsensusprozessen) systematisch bewertet und gelistet (z. B. Beers-Liste).
Für den deutschen Versorgungsraum wurde im Jahr
2011 die PRISCUS-Liste veröffentlicht.
Die PRISCUS-Liste umfasst 83 Arzneistoffe des
deutschen Arzneimittelmarktes, die im Expertenkonsens als potentiell inadäquate Medikation (PIM)
bei älteren Patienten eingestuft wurden. Grundlage
der Bewertung waren u. a. Studien zu unerwünschten Wirkungen. Im Verordnungsprozess sollte überprüft werden, ob diese Medikation abgesetzt bzw.
durch einen anderen Arzneistoff ersetzt werden
kann. Die Liste nennt auch Therapiealternativen
und beschreibt Maßnahmen (Monitoringparameter, Dosisanpassungen), die erfolgen sollen, falls
die Verordnung eines potenziell ungeeigneten
Medikamentes nicht vermeidbar ist.
Die Entwicklung der Liste war Bestandteil des
Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit des
Bundesministeriums für Gesundheit. Grundlage
war eine Literaturrecherche und eine qualitative
Analyse verschiedener international gebräuchlicher
PIM-Listen wie z. B. von Beers, Laroche, Mc Leod,
Fick [16, 40, 83, 97, 144]. Die Liste kann kostenfrei
unter http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_
PRISCUS-TP3_2011.pdf heruntergeladen werden.
Dort sind auch sogenannte Fast-PIMs aufgeführt,
die nicht von allen Bewertern gleichermaßen als
problematisch eingestuft wurden. Hier sind u. a
Diclofenac, Naproxen und Etoricoxib sowie einige
Chinolone genannt.
PIMs der PRISCUS-Liste werden häufig verordnet:
So ergab eine Auswertung von bundesweiten
AOK-Daten für das Jahr 2010 eine Behandlungsprävalenz bei 65-Jährigen und Älteren von 24%.
Hochgerechnet auf Deutschland erhielten somit 4
Millionen ältere Personen mindestens einmal einen
dieser Wirkstoffe verordnet [147]. Da einige Substanzen der PRISCUS-Liste auch als OTC verfügbar
sind, liegt die PIM-Prävalenz noch höher.
Die PRISCUS-Liste ist in einem DELPHI-Prozess
entstanden und wird zur Zeit validiert. Bei ihrer
Nutzung zur Bewertung der Medikation ist dieser
Entwicklungsprozess zu berücksichtigen. Die Leitliniengruppe versteht die Liste als eine Hilfestellung
zum kritischen Umgang mit Medikamenten und
nicht als eine Verbotsliste. Aus hausärztlicher
Sicht sind einige der gelisteten Wirkstoffe unverzichtbar.
Tischversion
Multimedikation
Leitfragen des MAI
Gibt es eine Indikation für das
Medikament?
Stellen Sie sicher, dass für jedes Medikament noch ein aktueller
Verordnungsanlass vorliegt. Prüfen Sie, ob ggf. eine Verordnung
aufgrund einer Nebenwirkung erfolgte (Cave: Verordnungskaskaden).
Ist das Medikament wirksam für die
Hilfestellung erhalten Sie hier durch die Nationalen VersorgungsIndikation und Patientengruppe?
Leitlinien, hausärztliche Leitlinien, AWMF-Leitlinien, Cochrane
reviews, IQWIG Berichte.
Stimmt die Dosierung?
Prüfen Sie die Nierenwerte des Patienten.
Sind die Einnahmevorschriften
Prüfen Sie das Therapieregime hinsichtlich Tageszeit der Einnahme,
korrekt?
Einnahme zu Mahlzeiten, aktualisieren Sie den Medikationsplan.
Sind Einnahmevorschriften
Fragen Sie den Patienten, ob er mit der Anwendung zurecht kommt,
praktikabel?
lassen Sie sich die Anwendung von Inhalern, Pens etc. vorführen
(Vorsicht: Teilen von Tabletten möglichst vermeiden).
Gibt es klinisch relevante Interaktionen Nach Möglichkeit interaktionsärmere Wirkstoffe auswählen, bei
zu anderen Medikamenten?
elektronischem Interaktionscheck auf klinische Relevanz achten
(s. Tischversion Interaktionen).
Gibt es klinisch relevante Interaktionen Kontraindikationen/Anwendungsbeschränkungen beachten.
zu anderen Krankheiten/Zuständen?
Wurden unnötige DoppelverschreiPrüfen Sie, ob Wirkstoffe aus einer therapeutisch-pharmakolobungen vermieden?
gischen Gruppe indiziert sind.
Ist die Dauer der medikamentösen
Prüfen Sie, seit wann der Patienten das Medikament einnimmt und
Therapie adäquat?
ob für die weitere Einnahme noch Evidenz besteht.
Wurde die kostengünstigste Alternative Wirtschaftlichkeit beachten.
gewählt?
Wird jede behandlungsbedürftige
Auch bei Patienten mit Multimedikation kann Unterversorgung
Indikation therapiert?
vorliegen.
Liegt ein aktueller Einnahmeplan vor? Plan aktualisieren, prüfen, ob Patient oder Angehöriger die Angaben
versteht.
Ist die Nierenfunktion bekannt?
Es wird empfohlen zur Überprüfung der Nierenfunktion die z. B. mit
der Cockcroft-Gault-Formel oder der MDRD-Formel errechnete
glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) heranzuziehen. Prüfen Sie, ob
Ihre Patientenakte aktuelle Angaben zur Nierenfunktion bei Ihren
(älteren) Patienten mit Multimedikation enthält.
Ist die Adhärenz zur Therapie gegeben? Prüfen Sie in festgelegten Intervallen, was der Patient über die
Medikamente weiß, ob Bedenken gegen die Einnahme bestehen und
ob der Patient der Auffassung ist, dass die Medikamente weiterhin
für ihn von Nutzen sind. Fragen Sie den Patienten, wie er die
Medikation für den Tag vorbereitet und was er tut, wenn eine
Einnahme vergessen wurde.
Quelle: Medication Appropriateness Index (MAI); modifiziert nach
Hanlon JT, Schmader K, Samsa GP, Weinberger M, Uttech KM,
Lewis IK, Cohen HJ, Feussner JR. A method for assessing drug
therapy appropriateness. J Clin Epidemiol 1992; 45: 1045-1051
Korrespondenzadresse
Ausführliche Leitlinie im Internet
Hausärztliche Leitlinie
PMV forschungsgruppe
Fax: 0221-478-6766
Email: [email protected]
http:\\www.pmvforschungsgruppe.de
www.pmvforschungsgruppe.de
> publikationen > leitlinien
www.leitlinien.de/mdb/downloads/lghessen/
multimedikation-lang.pdf
»Multimedikation«
Hier MAI
Tischversion 1.0 April 2013
XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden
PVSt Deutsche Post AG,
Entgelt bezahlt,
68689
PH863453V
Hausärztliche Leitlinie
Multimedikation
Tischversion: Bestandsaufnahme/MAI
Medikationsbewertung
Zentraler Bestandteil im Prozess der Verordnungsentscheidung ist die kritische Prüfung und Bewertung
der vorhandenen Medikation. Die Leitliniengruppe
empfiehlt hierzu die Fragen des Medication
Appropriateness Index (MAI) – hier auch als Instrument zur Medikationserfassung als Voraussetzung zur
Bewertung der Angemessenheit für gezielte Intervention bezeichnet.
Umseitig finden Sie die Leitfragen des MAI. Die
Fragen sind generell bei jeder Neuverordnung relevant, vorrangig die Fragen nach der Evidenz für die
Indikation, der Dosierung und Aktualität des Medikationsplanes. Die Leitlinie empfiehlt einen Medikationsplan zum Ausdrucken (siehe: http://www.akdae.de/
AMTS/Massnahmen/docs/Medikationsplan.pdf).
Im Rahmen einer umfassenden Medikationsbewertung
(brown bag) werden diese Fragen. für alle Medikamente, die der Patient zum Beispiel mit in die Praxis
gebracht hat, systematisch durchgegangen.
Fragen Sie immer, ob der Patient einen aktuellen
und gut verständlichen Medikationsplan besitzt!
Darüber hinaus bietet die Bestandsaufnahme die
Möglichkeit festzustellen ob ggf. Anwendungsprobleme bestehen, die dazu führen, dass der Patient die
Medikation nicht wie ursprünglich vorgesehen, einnimmt. Die Anwendungsprobleme können vielfältiger
Art sein. So können Handhabungsprobleme vorliegen
wie unzulängliche Tablettenteilung, falsches Inhalieren
oder inadäquate Anwendung von Augentropfen. Auch
eine Gefahr der Verwechslung von Packungen und
Tabletten ist zu beachten.
Die Bestandaufnahme und – zu einem späteren Zeitpunkt – das Monitoring stellen eine gute Gelegenheit
dar, nach unspezifischen Symptomen zu fragen, da
diese Folgen einer Therapieänderung sein könnten,
wie z. B.:
 Trockener Mund
 Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit oder
reduzierte Wachsamkeit, Schlafstörung
 Schwäche
 Bewegungsstörungen, Tremor, Stürze
 Obstipation, Diarrhoe oder Inkontinenz, Appetitlosigkeit, Übelkeit
 Hautausschläge, Juckreiz
 Depression oder mangelndes Interesse an den
üblichen Aktivitäten
 Verwirrtheit (zeitweise oder dauerhaft)
 Halluzinationen
 Angst und Aufregung
 Nachlassen des sexuellen Interesses
 Schwindel
 Ohrgeräusche
Denken Sie bei unspezifischen Symptomen immer
auch an die Möglichkeit einer Verordnungskaskade,
d. h. ein neu aufgetretenes Symptom wird behandelt,
obwohl es eine Folge der bestehenden Therapie ist.
So können durch die Verordnung von Calciumantagonisten Ödeme auftreten. Daraufhin erfolgt eine
Verordnung von Diuretika mit der möglichen Folge von
Obstipation, Dranginkontinenz, erhöhtem Harnsäurespiegel und Osteoporose. Diese Diagnosen lösen
dann möglicherweise ihrerseits wieder Verordnungen
aus mit dem Risiko weiterer unerwünschter Wirkungen. Je komplexer die Medikation, um so schwieriger ist es, die Ursache einer Beschwerde zu erkennen.
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