Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde Nr. 5 Russlandanalysen 14.11.2003 Inhalt Die Grundlagen des russischen Wahlrechts. Angelika Nußberger, Köln Kasten: Ist das etwa illegal?! Wahr oder falsch 2 4 Die 50 politisch einflussreichsten Personen in Russland im Oktober 2003 6 Perzeption der Bedeutung von Elitegruppen in Russland 2001–2003 8 Chronik vom 5. bis 12. November 2003 9 Die Grundlagen des russischen Wahlrechts Von Angelika Nußberger, Köln Zusammenfassung Die russische Verfassung lässt dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems einen vergleichsweise weiten Spielraum. Für die Wahlen zur Duma hat er ein „Grabensystem“ mit Elementen der Mehrheits- und der Verhältniswahl eingeführt. Das ist im Hinblick auf die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes nicht unproblematisch. Auch andere Regelungen, insbesondere die Einschränkung der Pressefreiheit bei der Berichterstattung über den Wahlkampf, führen zu Konflikten mit allgemeinen Grundrechtsgarantien. Russlandanalysen 5/2003 Seite 2 Die Grundlagen des russischen Wahlrechts Von Angelika Nußberger, Köln Verfassungsrechtliche Vorgaben I n der Russischen Verfassung aus dem Jahr 1993 ist das Demokratieprinzip an prominenter Stelle festgehalten. Nach Art. 1 Abs. 1 der Verfassung ist die Russische Föderation ein demokratischer föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform. Das multinationale Volk wird als „Träger der Souveränität“ und „einzige Quelle der Gewalt“ bezeichnet. Dementsprechend kommt den Wahlen eine Schlüsselfunktion bei der Konstituierung der Macht zu. Sie sind, ebenso wie die Referenden „höchster unmittelbarer Ausdruck der Volksgewalt“ (Art. 3 Abs. 3 der Verfassung). Nun gibt es in der Russischen Föderation aber nicht nur Wahlen zur gesetzgebenden Körperschaft, auch das Staatsoberhaupt, der Präsident, wird unmittelbar vom Volk gewählt. Beide Wahlen stehen, zeitlich nur wenig versetzt, in Kürze bevor: die Parlamentswahlen sind auf den 7. Dezember 2003, die Präsidentenwahlen auf den 18. März 2004 anberaumt. Einzelne der in der Verfassung niedergelegten Wahlgrundsätze betreffen beide Wahlen gleichermaßen. So wird das Recht der Bürger der auf Teilnahme und Kandidatur bei den Wahlen zu den Organen der staatlichen Gewalt im Rahmen des Grundrechtekatalogs allgemein garantiert. Kein Wahlrecht haben die gerichtlich für geschäftsunfähig Erklärten sowie die Inhaftierten. Im Übrigen sind die verfassungsrechtlichen Regelungen zu den Parlaments- und Präsidentenwahlen aber unterschiedlich. Besonders überrascht, dass die Wahlrechtsgrundsätze, die sich im Laufe der Parlamentsgeschichte durchgesetzt haben und die mittlerweile universell anerkannt sind – d.h. die Vorgabe, dass Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim zu sein haben – in der Russischen Verfassung nur im Hinblick auf die Präsidenten- (Art. 81 Abs. 1 der Verfassung), nicht aber im Hinblick auf die Parlamentswahlen explizit normiert worden sind. Eine entsprechende Regelung findet sich nur auf einfachgesetzlicher Ebene im Gesetz „Über die Wahlen der Abgeordneten der Staatlichen Duma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation“ aus dem Jahr 2002 (im Folgenden WahlG). Anders als die Weimarer Reichsverfassung, aber vergleichbar mit dem Grundgesetz regelt die Russische Verfassung nicht, welches Wahlsystem zur Anwendung kommen soll. Dies wird dem Gesetzgeber überlassen (Art. 96 Abs. 2 der Verfassung). Über diese grundlegende Frage ist denn auch heftiger Streit entbrannt: das Gesetzgebungsverfahren bei der Ausarbeitung des ersten Wahlgesetzes 1995 war äußerst kontrovers und konnte nicht zu einer dauerhaft akzeptierten Lösung führen, so dass das Verfassungsgericht mehrfach mit der Problematik befasst wurde. In den Jahren 1999 und 2002 wurden zwei weitere neue Fassungen des Gesetzes ausgearbeitet, die Regelung der hauptsächlich strittigen Punkte allerdings grundsätzlich beibehalten. Neben dem Wahlgesetz ist die gleichermaßen aus dem Jahr 2002 stammende Neufassung des Gesetzes „Über die grundlegenden Garantien der Rechte der Wähler und des Rechts der Bürger der Russischen Föderation auf Teilnahme am Referendum“ (im Folgenden WahlrechtsgarantieG) von Bedeutung. Das gesamte Rechtsgebiet ist stark in Bewegung und erfährt fortlaufend Umgestaltungen. Grundlegende Charakteristika des russischen Wahlsystems D as russische Wahlsystem kombiniert Mehrheitsund Verhältniswahl und ist als so genanntes „duales System“ oder „Grabensystem“ ausgestaltet. Die Wahlberechtigten verfügen über zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme können sie nach dem relativen Mehrheitswahlrecht Einzelkandidaten wählen. Über dieses System wird die eine Hälfte der 450 Parlamentssitze vergeben. Mit der zweiten Stimme wird über die Zuteilung der anderen Hälfte der Sitze entschieden. Sie werden nach einem modifizierten Verhältniswahlrecht über eine föderale Liste an Parteien und Wahlblöcke (freiwillige Zusammenschlüsse von Parteien) vergeben. Der entscheidende Unterschied zum deutschen Wahlsystem ist, dass beide Bestandteile des Gesamtwahlverfahrens unabhängig voneinander bestehen, d.h. die Sitze der direkt gewählten Kandidaten nicht auf den prozentualen Stimmanteil der Partei oder des Wahlblocks, dem sie angehören, angerechnet werden. Dieses System impliziert einen deutlich geringeren Stellenwert der Parteien bei der Entscheidung über die Zusammensetzung der Duma: 225 Sitze werden unmittelbar von Personen, nicht von Parteien errungen. Dies erklärt auch, warum Prominente sowie regional starke Gruppierungen – unabhängig von Parteizugehörigkeit und konsistenten Programmen – vergleichsweise leicht politischen Einfluss in der Duma gewinnen können. Asymmetrien im gemischten Wahlsystem D ie Kombination zweier verschiedener Wahlsysteme in Form eines Grabenwahlsystems erscheint in Russlandanalysen 5/2003 Seite 3 verschiedener Hinsicht als problematisch. Können Wahlbewerber unmittelbar kandidieren und zugleich auch noch von den Parteien bzw. Wahlblöcken aufgestellt werden, so bedeutet dies, dass sie eine zweifache Chance haben, einen Sitz im Parlament zu erringen. Zudem wird die „Zugpferdwirkung“ populärer Kandidaten verdoppelt, da sie sowohl Stimmen für die Partei und als auch für sich selbst erringen können. Als Verstoß gegen den Gleichheitssatz kann auch die Ungleichheit der Vertretungswerte angesehen werden, da durch die Direkt- und Listenkandidaten jeweils unterschiedlich viele Wähler durchschnittlich vertreten werden. Aufgrund dessen wurde die entsprechende Regelung bereits vor sowie unmittelbar nach der zweiten Wahl zum russischen Parlament im Jahr 1995 vor dem russischen Verfassungsgericht angegriffen. Dies verneinte aber eine Verfassungswidrigkeit. Es sah die beiden Teile des kombinierten Wahlsystems als selbständige Säulen an. Den Anforderungen des Gleichheitssatzes müsse nur innerhalb der beiden Säulen, aber nicht im Gesamtsystem entsprochen werden. Einschränkungen des Gleichheitssatzes durch das Föderalismusprinzip F ür die Wahl der Einzelkandidaten wird das gesamte Land in 225 Wahlkreise eingeteilt. Pro Wahlkreis wird jeweils ein Abgeordneter gewählt. Ausreichend ist dabei die relative Mehrheit der Stimmen. Die Wahlkreise umfassen eine jeweils annähernd gleiche Zahl von Wählern; Abweichungen von 10% bzw. 15% in entlegenen Gebieten werden akzeptiert (Art. 19 Abs. 3 WahlgarantienG). Zugunsten der bevölkerungsarmen föderalen Subjekte der insgesamt 89 Subjekte umfassenden Russischen Föderation gibt es eine als „Kleinstaatenklausel“ bezeichnete Sonderregelung: hier können auch dann eigenständige Wahlkreise gebildet werden, wenn die Anzahl der Wähler die vorgegebene Richtzahl nicht erreicht. Im Übrigen aber ist die Bildung der Wahlkreise nicht an die Grenzen der Föderationssubjekte gebunden, sondern subjektübergreifend möglich. Diese Regelung widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz, versteht man ihn streng mathematisch, da Kandidaten aus den bevölkerungsarmen Subjekten weniger Stimmen für einen Sitz in der Duma benötigen als die Kandidaten aus den anderen Wahlkreisen. Das Verfassungsgericht argumentiert aber, die Garantie des gleichen Wahlrechts sei im Lichte des Prinzips des Föderalismus auszulegen. Die Notwendigkeit einer adäquaten Repräsentanz auch der dünn besiedelten Gebiete mache eine Sonderregelung erforderlich. Eine ansonsten bestehende Unterrepräsentation werde auch durch die Zusammensetzung des Föderationsrats als zweiter Kammer nicht ausgeglichen. Voraussetzungen für die Aufstellung von Direktkandidaten D ie Kandidaten für die Direktwahl können sich selbst benennen oder durch eine Partei oder einen Wahlblock aufstellen lassen. Sie müssen sich bei der Zentralen Wahlkommission registrieren lassen. Voraussetzung dafür ist ein Unterschriftenquorum von mindestens einem Prozent der Stimmen der Wähler des jeweiligen Wahlkreises (Art. 42 WahlG) – die Einzelregelungen im neuen Gesetz von 2002 zur Überprüfung der Unterschriftslisten sind sehr detailliert, um Missbräuche zu verhindern. Alternativ sind Sicherheitsleistungen in Höhe von 15 % der maximalen Ausgaben aus dem Wahlfonds zu hinterlegen (Art. 45 Abs. 5 iVm Art. 68 WahlG). Einschränkung der Repräsentanz des Wählerwillens durch die 5%-Klausel D ie 5%-Klausel ist ein allgemein akzeptiertes Instrument zur Verhinderung einer Zersplitterung der Parteien im Parlament, die bei einem Verhältniswahlrecht grundsätzlich zu erwarten ist. Sie soll der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und damit der Stabilisierung der Legislative dienen. Nach einer intensiven Auseinandersetzung in der Gesetzesdebatte wurde sie auch in die erste Fassung des russischen Wahlgesetzes aus dem Jahr 1995 aufgenommen. In der Russischen Föderation führte diese Regelung bei den Wahlen 1995 aber dazu, dass eine große Zahl von Parteien, die insgesamt fast die Hälfte (49,5%) der Wählerstimmen auf sich vereinigten, nicht in die Duma einziehen konnten. Dies wurde durch zwei besondere Faktoren bedingt: zum einen gab es kein historisch gewachsenes und klar strukturiertes Parteiensystem, vielmehr trat eine große Zahl neu gebildeter politischer Formationen zur Wahl an. Zum anderen galt das gesamte Territorium der Russischen Föderation als ein einziger Wahlkreis (Art. 13 WahlG). Auch diese Regelung wurde vor dem Verfassungsgericht angegriffen, gleichermaßen aber nicht für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht argumentierte zum einen rechtsvergleichend und betonte, dass eine derartige Regelung zum Fundus von gemischten Wahlsystemen gehöre. Weder werde das Prinzip der Wahlfreiheit noch das Prinzip der proportionalen Repräsentation verletzt. Allerdings leitete das Gericht aus den „allgemein anerkannten Prinzipien der Volksherrschaft“ ab, dass die Anwendung der 5%-Sperrklausel dann unzulässig wäre, würde sie dazu führen, dass die im Parlament vertretenen Parteien insgesamt weniger als 50% der Wählerstimmen repräsentierten. Eine zweite Grenze ist nach Meinung des Verfassungsgerichts insofern zu ziehen, als mehr Russlandanalysen 5/2003 Seite 4 als eine Partei im Parlament vertreten sein muss. Der Gesetzgeber stellt mit seiner Neuregelung diese beiden Voraussetzungen sicher (Art. 84 Abs. 3 WahlG). Die Wahl ist nur gültig, wenn mindestens 25% der Wahlberechtigten sowohl föderationsweit als auch in den Einzelwahlkreisen zu den Urnen gehen. Angesichts des allgemein zu beobachtenden Desinteresses an den Wahlen in der Russischen Föderation kann auch diese niedrige Quote Probleme bereiten. Zur Erhöhung der Wahlbeteiligung ist es möglich, „gegen alle“ zu stimmen – eine Option, für die die Wähler in der Praxis nicht selten votieren. Regelungen zur Finanzierung der Wahlen D er Finanzierung der Wahlen ist ein ganzes Kapitel des Wahlgesetzes gewidmet. Bemerkenswert ist, dass die Kandidaten ihre Vermögensverhältnisse (Höhe und Quellen des Einkommens, Eigentumsverhältnisse, Bankguthaben und Wertpapiere) durch Vorlage der letzten Steuererklärung offen legen müssen. Als Höchstsumme für die im Wahlkampffonds eines Kandidaten zusammengefassten Gelder wird der Betrag von 6 Millionen Rubel festgelegt. Parteien wird ein Betrag von 250 Millionen Rubeln zugestanden. Höchstbeträge von Spenden werden im prozentualen Verhältnis zu diesen Obergrenzen festgelegt. Inwieweit diese Regelungen die Geldflüsse im Zusammenhang mit den Wahlen beeinflussen können, ist allerdings fraglich. Regelungen zum Einfluss der Medien auf die Wahlen D ie staatlichen und kommunalen Medien haben den registrierten Einzelkandidaten sowie den Listen der politischen Parteien und Wahlblöcke Sendezeit in Rundfunk und Fernsehen sowie in der Druckpresse kostenlos zur Verfügung zu stellen, wobei der Grundsatz der Gleichbehandlung zu beachten ist (Art. 59 Abs. 3 WahlG). In nicht-staatlichen Medien, die mindestens ein Jahr bestehen, kann Sendezeit käuflich erworben werden. Auch hier sind allen Kandidaten die gleichen Konditionen zu gewähren. Die entsprechenden Daten sind vor den Wahlen zu veröffentlichen Diejenigen Parteien, die nicht gewählt werden, müssen die Kosten für die ihnen während des Wahlkampfs vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellten Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen erstatten (Art. 71 Abs. 2 WahlG); die Teilnahme an der Wahl wird damit zu einem finanziellen Risiko. Strenge Regeln wurden getroffen, um einen missbräuchlichen Einsatz der Massenmedien vor den Wahlen zu verhindern – Friktionen mit der Garantie der Mei- nungs- und Pressefreiheit sind hier unverkennbar. Allgemein wird gefordert, dass die Informationen, die über die Massenmedien verbreitet werden, objektiv und verlässlich sein müssen und die Gleichheit der Kandidaten und Parteien nicht verletzen dürfen. Äußerst problematisch sind aber die Regelungen zur „Agitation“ im Wahlkampf im WahlG sowie auch im WahlrechtsgarantieG, mit denen versucht wird, zwischen objektiver Information und Beteiligung am Wahlkampf zu unterscheiden. Letzteres wird für eine Vielzahl gesellschaftlicher Organisationen wie etwa religiöse Vereinigungen und Wohltätigkeitsorganisationen überhaupt untersagt. In den Massenmedien dürfen Informationen über den Wahlkampf der einzelnen Kandidaten nur zusammenhängend und „ohne Kommentare“ gegeben werden. Es erscheint schon als sehr schwierig, objektive Berichte über Wahlkampfauftritte klar von Kommentaren abzugrenzen. In der Sache aber handelt es sich um eine gravierende Einschränkung der in Art. 29 der Verfassung garantierten „Freiheit der Masseninformation“. Einschränkungen sind nach Art. 55 Abs. 3 der Verfassung durch Bundesgesetz nur in dem Maß zulässig, in dem „dies für den Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und der rechtmäßigen Interessen anderer Personen sowie für die Sicherung der Landesverteidigung und der Staatssicherheit notwendig ist“. Nun ist bei der hier vorzunehmenden Rechtsgüterabwägung in Rechnung zu stellen, dass die objektive Information der Wähler einen hohen Stellenwert hat. Allerdings ist es als grundlegende Aufgabe der Massenmedien zu erachten, Informationsvermittlung mit Kommentaren zu verbinden. Der Einzelne kann selbst entscheiden, ob er die Kommentare für sachgerecht hält oder nicht. Hier das Wort zu verbieten kommt einer unsachgemäßen Bevormundung der Wähler gleich und verhindert die Entstehung eines kritisch-offenen Dialogs über die Kandidaten und ihre Programme. Dieser aber ist essentielle Voraussetzung für Wahlen, die ihrer Funktion, der Legitimation der Ausübung staatlicher Macht im demokratischen Staat, gerecht werden. Dennoch hat das russische Verfassungsgericht die fraglichen Regelungen in einer Entscheidung vom 30.10.2003 im Wesentlichen für verfassungsmäßig erklärt und hält es für gerechtfertigt, in den Massenmedien Kommentare nicht allgemein, aber Kommentare, die darauf abzielen, die Wähler in ihrer Entscheidung zu beeinflussen, zu verbieten und Zuwiderhandlungen zu ahnden. Diese Auslegung des Gesetzes durch das Verfassungsgericht zwingt die Medien zu einer Gratwanderung, bei der der Absturz vorprogrammiert ist: Meinungen sind erlaubt, aber nicht, wenn sie mit der Russlandanalysen 5/2003 Seite 5 Intention geäußert werden, andere von etwas zu überzeugen. De facto reduziert das Verfassungsgericht damit die Meinungsfreiheit der Massenmedien im Wahlkampf auf „objektive“ Stellungnahmen und opfert sie einer illusionären „Informationssicherheit von Wahlen“. Dass eine derartige Grundrechtseinschränkung notwendig und verhältnismäßig ist, wird in der Entscheidung vorausgesetzt, nicht aber im Einzelnen geprüft. Die Akribie, mit der in den umfangreichen neuen russischen Wahlgesetzen die Durchführung der Wahlen und die Rechte der Beteiligten in allen kleinsten Details geregelt werden, kann so nicht darüber hinwegtäuschen, dass mehr denn je ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Konstituierung von Macht auf der Grundlage eines freien Meinungsbildungsprozesses besteht. Redaktion: Heiko Pleines / Hans-Henning Schröder Über die Autorin Angelika Nußberger ist Professorin für Öffentliches Recht und Ostrecht an der Universität zu Köln sowie Direktorin des Instituts für Ostrecht. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung des Verfassungsrechts der Staaten Mittel- und Osteuropas, insbesondere der Russischen Föderation. Lesetipps Tigran B. Beknazar, Demokratische Wahlgrundsätze und das russische Wahlsystem. Zum Urteil des russischen Verfassungsgerichts vom 17. November 1998, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2000, S. 803–858. Robert G. Moser, The Impact of Parliamentary Electoral Systems in Russia, in: Archie Brown (Hg.), Contemporary Russian Politics 2001, S. 195 –207. Ist das etwa illegal?! Wahr oder falsch: 1. Der Präsident darf für Kandidaten, die er mag, keinen Wahlkampf führen. 2. Die Parteien dürfen Wähler am Wahltag nicht zur Wahlurne bringen. 3. Am Vorabend des Wahltags und am Wahltag selbst ist der Wahlkampf verboten. 4. Rechtlich gesehen ist fast jede Information über einen Kandidaten „Wahlkampf“. 5. Medien können nach zwei Fällen von „Wahlkampf“ geschlossen werden. 6. Parteien und Kandidaten dürfen zwischen dem 2. September und dem 7. November 2003 im Fernsehen keinen Wahlkampf für die Dumawahlen führen. 7. Der Präsident darf nicht Mitglied einer politischen Partei sein. Die Antworten? Alles ist wahr. Angeblich, um die schmutzigen Wahlkampftaktiken und den Missbrauch der Staatsmacht zu eliminieren, die für die vorherigen Wahlen charakteristisch waren, verbietet ein revidiertes Gesetz über die „Rechte des Wählers“ den Medien Ansichten über die Position oder den Wahlkampf eines Kandidaten zu äußern, verlangt, dass alle Kandidaten gleichermaßen von den Medien behandelt werden, schließt viele hohe Staatsbeamte vom Wahlkampf aus (es sei denn, sie nehmen offiziell Urlaub) und beschränkt den „Vorwahlkampf“ auf einen vorgeschriebenen Zeitraum. Eine subjektive Auslegung von „Berichterstattung“ und „Wahlkampf“ schränkt die Möglichkeiten von Journalisten für grundlegende politische Berichterstattung ein. Einige Abgeordnete, angeführt von der SPS (Union der Rechten Kräfte), haben dieses Gesetz angefochten, mit der Begründung, dass es das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Das Verfassungsgericht soll eine Entscheidung hierzu in diesem Monat [Anmerkung der Redaktion: am 30. Oktober] fällen. Aus: Russian Election Watch, vol. 3, no.1, October 2003, Harvard University – Indiana University Bloomington, S. 2. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Matthias Neumann. (Anmerkung der Redaktion: das Verfassungsgericht hat am 30. Oktober sein Urteil gesprochen und – wie im Beitrag von Angelika Nußberger dargestellt – die unter 4. aufgeführte Regelung in ihrer Gültigkeit nicht wesentlich eingeschränkt.) Russlandanalysen 5/2003 3/2003 Seite 6 Die 50 politisch einflussreichsten Personen in Russland im Oktober 2003 Die russische Tageszeitung „Nezavisimaja gazeta“ veröffentlicht jeden Monat eine Liste der 100 politisch einflussreichsten Russen. Das Ranking wird durch Befragung von Politikwissenschaftlern, Politikberatern und Journalisten ermittelt. Auf den ersten 50 Plätzen rangierten im Oktober folgende Personen: Nr. Name Funktion Mittlere Punktewertung in Moskau in den Regionen 1 Putin, Wladimir Staatspräsident 7,78 6,84 2 Woloschin, Alexander Leiter der Präsidialadministration, Stabschef (bis 30. Oktober), gilt als Vertreter des „Familien“-Clans 6,59 4,21 3 Kasjanow, Michail Ministerpräsident. Wird dem „Familien“-Clan zugerechnet 6,42 4,66 4 Tschubajs, Anatolij Vorstandsvorsitzender des Strommonopolisten EES Rossii 5,69 4,32 5 Chodorkowskij, Michail Finanzmagnat und Großunternehmer, Chef und Anteilseigner der Jukos-Gruppe 5,35 4,07 6-7 Abramowitsch, Roman Gouverneur von Tschukotka, Finanzmagnat, ehemaliger Chef von Sibneft. Wird zum „Familien“-Clan gerechnet 5,30 3,92 6-7 Surkow, Wladislaw Stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, wird dem Clan der „Petersburger Liberalen“ zugerechnet 5,30 2,90 8 Kudrin, Alexej Finanzminister, Stellvertretender Ministerpräsident. „Petersburger“ 5,22 3,83 9-10 Gryslow, Boris Innenminister, einer der Führer der Partei „Einiges Russland“ 5,17 4,14 9-10 Iwanow, Sergej Verteidigungsminister, früherer Geheimdienstler 5,17 3,72 11 Patruschev, Nikolaj Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB 5,08 3,45 12 Deripaska, Oleg Finanzmagnat und Großunternehmer, Aluminiumkonzern „Rusal“ 4,94 3,02 13 Weschnjakow, Alexander Leiter der Zentralen Wahlkommission 4,84 3,94 14 Lushkow, Jurij Bürgermeister von Moskau, einer der Führer der Partei „Einiges Russland“ 4,80 3,97 15 Gref, German Wirtschaftsminister, gilt als „Petersburger Liberaler“ 4,78 3,67 16 Sjuganow, Gennadij Vorsitzender der KPRF, Führer der kommunistischen Fraktion in der Duma 4,69 3,42 17 Potanin, Wladimir Finanzmagnat und Großunternehmer, Buntmetallkonzern „Norilskij Nickel“ 4,54 3,05 18 Alekperow, Wagit Finanzmagnat und Großunternehmer, Chef des Mineralölkonzerns LUKojl 4,51 2,90 19 Ustinow, Wladimir Generalstaatsanwalt 4,49 3,32 20 Pugatschow, Sergej Finanzmagnat und Banker, Meschprombank, Mitglied des Föderationsrates 4,44 2,79 21 Setschin, Igor Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, gilt als einer der Köpfe des „Petersburger Geheimpolizeiclans“ 4,43 2,29 22 Alexij II Patriarch, Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche 4,42 3,71 23 Iwanow, Viktor Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, gilt als einer der Köpfe des „Petersburger Geheimpolizeiclans“ 4,35 2,46 24 Schojgu, Sergej Minister für Katastrophenschutz, einer der Führer der Partei „Einiges Russland“ 4,28 3,77 25 Awen, Pjotr Finanzmagnat und Unternehmer, Präsident der Alfa-Bank 4,19 2,48 26 Mamut, Alexander Finanzmagnat und Banker, Investitionsgesellschaft Trojka-Dialog 4,18 2,13 Russlandanalysen 5/2003 Seite 7 Nr. Name Funktion Mittlere Punktewertung in Moskau in den Regionen 27-28 Beresowskij, Boris Finanzmagnat, derzeit in London, um der Strafverfolgung zu entgehen 4,11 3,39 27-28 Iwanow, Igor Außenminister 4,11 3,43 29 Miller, Alexej Vorstandsvorsitzender des Erdgasmonopolisten Gazprom 4,08 2,95 30-31 Fridman, Michail Finanzmagnat und Großunternehmer, Vorstandsvorsitzender der Alfa-Gruppe 4,00 2,19 30-31 Christenko, Viktor Stellvertretender Ministerpräsident, zuständig für Wirtschaftspolitik 4,00 2,90 32 Mironow, Sergej Vorsitzender des Föderationsrates, Vertreter von St. Petersburg im Föderationsrat 3,95 2,95 33 Kosak, Dmitrij Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung (seit 30. Oktober Erster Stellvertretender Leiter), wird dem Clan der „Petersburger Liberalen“ zugerechnet 3,94 3,16 34 Rajkow, Gennadij Dumaabgeordneter, Führer der Fraktion „Volksdeputierter“ in der Duma, Führer der „Volkspartei“ 3,91 2,55 35-36 Abramow, Alexander Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, zuständig für Beziehung zu den Regionen, wird dem Clan der „Petersburger Liberalen“ zugerechnet 3,88 2,45 35-36 Aljoschin, Boris Vorsitzender von Gossstandart, dem Staatskomitee für Standardisierung 3,88 2,34 Illarionow, Andrej Berater des Präsidenten in Wirtschaftsfragen 3,86 3,08 38-39 Glasjew, Sergej Dumaabgeordneter, ursprünglich Angehöriger der Fraktion der KPRF, Experte für Außenwirtschaft, Mitbegründer der Partei „Vaterland“ 3,84 3,28 38-39 Stepaschin, Sergej Vorsitzender des Rechnungshofs, früherer Innenminister und Ministerpräsident, wird den „Petersburgern“ zugerechnet 3,84 3,00 40 Kwaschnin, Anatolij Armeegeneral, Chef des Generalstabs 3,79 2,48 41 Jawlinskij, Grigorij Dumabgeordneter, Führer der Fraktion von JABLOKO in der Duma, Vorsitzender der Partei JABLOKO 3,75 3,18 42 Lesin, Michail Minister für Massenmedien 3,71 2,72 43 37 Surabow, Michail Vorsitzender des Staatlichen Rentenfonds 3,69 2,89 44-45 Wajnschtok, Semjon Vorsitzender der staatseigenen Gesellschaft „Transneft“, die das russische Pipelinenetz kontrolliert 3,68 2,27 44-45 Kadyrow, Achmad-Chadshi Oberhaupt der offiziellen, russlandtreuen, tschetschenischen Verwaltung, Präsident. Früher islamischer Geistlicher 3,68 3,37 46 Medwedjew, Dmitrij Erster Stellvertretender Leiter der Präsidialadministration (seit 30. Oktober Leiter der Präsidialadministration), wird dem Clan der „Petersburger Liberalen“ zugerechnet 3,66 2,79 47 Selesnjow, Gennadij Vorsitzender der Duma, früher Mitglied der KPRF, heute Führer der „Partei der Wiedergeburt Russlands“ 3,65 3,30 48 Shirinowskij, Wladimir Stellvertretender Vorsitzender der Duma, Führer der LDPR 3,64 2,89 49 Koshin, Wladimir Leiter der Abteilung für Verwaltung für präsidiales Eigentum in der Präsidialverwaltung 3,50 2,35 50 Jelzin, Boris Ehemaliger russischer Präsident 3,49 1,89 Zusammenstellung: Hans-Henning Schröder Russlandanalysen 5/2003 Seite 8 Perzeption der Bedeutung einzelner Elitegruppen in Russland 2001–2003 Okt 2003 Jul 2003 Apr 2003 Dez 2002 Okt 2002 Jul 2002 Apr 2002 Dez 2001 Okt 2001 Jun 2001 0% 10% 20% Präsidialapparat Regionen Medien Banken, Unternehmen 30% 40% Regierung Judikative Wissenschaft, Stiftungen 50% 60% Wirtschaftspolitik Parlament, Parteien Kirche 70% 80% 90% 100% Machtapparate Nicht zugeordnet Wirtschaftsverbände Zur graphischen Auswertung wurden die Rankings vom Juni 2001 bis zum Oktober 2003 herangezogen. Alle im Ranking aufgeführten Politiker werden nach der Herkunft ihrer Macht in Gruppen zusammengefasst. Dabei werden elf Kategorien gebildet, die sich zur Analyse in sechs Gruppen zusammenfassen lassen: • Föderale Exekutive: (Präsident/Präsidialapparat, Regierung, Wirtschaftspolitik, Machtapparate; ; letzteres ist eine Sammelbezeichnung für Innenministerium, Verteidigungsministerium, Geheimdienste und andere Ressorts, die über paramilitärische Verbände verfügen) – Blautöne mit unterschiedlichen Mustern • Regionale Eliten – Gelb • Judikative – Braun • Legislative (Parlament/Parteien) – Grau • Sinnstiftende Eliten (Medien, Wissenschaft/Stiftungen, Kirche) – Grüntöne • Wirtschaft (Wirtschaftsverbände, Banken/ Unternehmen)– Rot. Die Graphik zeigt, wie sich in der Wahrnehmung der befragten Experten die Macht zwischen den Elitegruppen verteilt. Dabei wird deutlich, wie außerordentlich stark die föderale (zentrale) Exekutive in Putins Russland den politischen Prozess dominiert. Ihr folgt in der Bedeutung die Kategorie der Finanzleute und Unternehmer. Legislative und regionale Eliten spielen nur eine untergeordnete Rolle. Grafik: Hans-Henning Schröder Russlandanalysen 3/2003 Seite 9 Chronik vom 5. bis 12. November 2003 5.11.2003 Witalij Artjuchow, der Minister für Bodenschätze, erklärt in der „Rossijskaja gazeta“, dass Jukos die Förderlizenzen entzogen werden könnten: „Der Sinn dieser Aktion liegt auf der Hand: ein Unternehmen, dessen Kontrollaktienpaket beschlagnahmt wurde, ist kaum ein geeigneter Partner für die Zusammenarbeit mit Behörden, die für die Lizenzen zuständig sind“. 6.11.2003 Ein Gericht der Region Krasnojarsk erklärt die Wahl des ehemaligen Chefs des Unternehmens „JUKOSMoskva“, Wasilij Schachnowskij, zum Senator des Autonomen Bezirks der Ewenken für ungültig. 6.11.2003 Zwei russische Bergsteiger erreichen den 7.804 m hohen Nuptse East Peak (Nepal), den höchsten bisher nicht erstiegenen Berg der Welt. 6.11.2003 Der EU-Russlandgipfel in Rom erörtert die Folgen der EU-Erweiterung für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland. 7.11.2003 Offizieller Wahlkampfbeginn. Vom 7. November bis zum 6. Dezember darf Wahlagitation im Fernsehen und Rundfunk sowie in den Printmedien betrieben werden. 7.11.2003 Putin besucht auf der Rückreise vom EU-Russlandgipfel Paris und erörtert mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac die Lage im Nahen Osten. 7.11.2003 Das „Open Society Institute“ der Soros-Stiftung in Moskau wird von maskierten Männern in Uniform besetzt, die angeblich im Auftrag des Gebäudebesitzers handeln. Die Besetzung dauert bis zum 11.11. Der Hintergrund ist unklar. 8.11.2003 Atomminister Alexander Rumjanzew und der U.S. Energieminister Spencer Abraham unterzeichnen in Moskau ein Memorandum, in dem für den Transfer von angereichertem Uran aus Kernkraftwerken von 17 Staaten der GUS und Ostmitteleuropas nach Russland amerikanische Hilfe zugesichert wird. 8.11.2003 Der Erste Stellvertretende Vorsitzende der russischen Zentralbank, Oleg Wjugin, erklärt in der britischen Financial Times, dass der Kapitalabfluss aus Russland in der zweiten Jahreshälfte katastrophal angewachsen sei. Nach seiner Aussage werden Ende des Jahres fast 13 Milliarden Dollar das Land verlassen haben – das Anderthalbfache des Betrags von 2002, als die Kapitalausfuhr mehr als 8 Milliarden US-Dollar betrug. Allein im dritten Quartal 2003 sind 7,7 Mrd. US-Dollar ins Ausland transferiert worden. 10.11.2003 Die Staatsanwaltschaft von Tomsk (Sibirien) erhebt gegen Tomskneft, einem Zweigunternehmen der Holding Jukos, Klage wegen Steuerhinterziehung. 10.11.2003 Otto Lacis, ein namhafter liberaler Journalist, lange Zeit stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Novye izvestija“ und gegenwärtig stellvertretender Chefredakteur von „Russkij kur‘er“, wird vor seinem Haus von Unbekannten zusammengeschlagen. 11.11.2003 Der indische Premierminister Atal Bihari Vajpayee trifft zu einem dreitätigigen Staatsbesuch in Moskau ein. In Gesprächen mit Putin erörtert er Fragen der Rüstungszusammenarbeit. 12.11.2003 In Anwesenheit von Putin und Atal Bihari Vajpayee werden eine Reihe von Vereinbarungen über russischindische Zusammenarbeit u.a. im Bereich der Weltraumforschung unterzeichnet. 12.11.2003 Das Moskauer Stadtgericht weist im Falle Chodorkowskij den Antrag auf Haftentlassung zurück. Die Russlandanalysen werden gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen herausgegeben. Die Meinungen, die in den Russlandanalysen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wider. Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit dem Herausgeber gestattet. Redaktion und technische Gestaltung: Matthias Neumann © 2003 by Forschungsstelle Osteuropa, Bremen Forschungsstelle Osteuropa • Publikationsreferat • Klagenfurter Str. 3 • 28359 Bremen • Telefon: +49 421-218-7891 • Telefax: +49 421-218-3269 e-mail: [email protected] • Internet-Adresse: http://www.forschungsstelle.uni-bremen.de