Entwicklungsstörungen und ihre Behandlung Rotenburger Handbuch für Eltern und professionelle Helfer Bernhard Prankel, Bärbel Durmann Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Diakoniekrankenhaus Rotenburg (Wümme) gGmbH März 2007 Inhalt 1. Erfolgreiche Erziehung: Zehn Tipps und Tricks für den Alltag 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7. 1.8. 1.9. 1.10. 2. Familiäre Krisen 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. Wie bereiten wir unser Kind auf die Schule vor? Wer ist für schulische Förderung und Hilfe zuständig? Wie ist das richtige Vorgehen? Anträge formulieren Gesetzliche Vorgaben Hilfe vom Jugendamt 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 6. Drogenmissbrauch Anpassungsstörungen Dissoziative Störungen Psychosen Essstörungen Zwangs- und Ticstörungen Einnässen Einkoten Leistungsschwächen Schulvermeidung Störungen des Sozialverhaltens Kinder die „schwer zu bremsen sind“ Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Bindungsstörungen Suizid und Suizidversuch Hilfe aus der Schule 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 5. Krise und Chance: Hochhängen oder flach halten? Wenn Eltern streiten und sich trennen Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder Alkoholabhängigkeit bei Eltern Störungen bei Kindern und Jugendlichen 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8. 3.9. 3.10. 3.11. 3.12. 3.13. 3.14. 3.15. 4. Durchstarten! Die Hitliste für ein gutes familiäres Miteinander Wie lernen Kinder? Regeln für unser tägliches Miteinander Ernährung Taschengeld Kids vor der Kiste Tipps für die Hausaufgaben Ein spannend-entspanntes Wochenende! Miteinander Reden Zehn Schritte durch den Tag – oder: Wie ist mein Kind organisiert? Was heißt Sorgerecht? Hilfe zur Erziehung Eingliederungshilfe Beteiligung, Mitwirkung und Fristen Inobhutnahme Hilfe von Therapeuten 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. Wie entstehen Störungen? Wie werden die Behandlungsziele bestimmt? Welche Behandlungsmethoden wählen wir aus? Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 1 1 4 5 6 7 8 10 11 12 13 15 15 19 24 26 27 27 30 31 32 33 34 34 34 35 35 35 36 38 40 42 45 45 46 47 47 48 50 50 50 51 51 51 52 52 53 54 55 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG SEITE 1 1. Erfolgreiche Erziehung: Zehn Tipps u n d Tr i c k s f ü r d e n Al l ta g 1.1. Durchstarten! Die Hitliste für ein gutes familiäres Miteinander Kaum sind die Kinder geboren, schon müssen wir „gute“ Eltern sein. Auch das will gelernt sein. Hits, Tipps und Tricks, die sich bewährt haben – bei unseren eigenen Kindern und denjenigen, die Sie uns täglich zur Behandlung anvertrauen –, geben wir Ihnen hier zum Ausprobieren und Anwenden weiter. Damit lösen Sie sicher nicht alle Probleme, aber vieles wird auf Dauer erheblich leichter – probieren Sie’s! Fragen Sie uns, wenn etwas nicht gleich klappt oder Sie gern zusätzliche Hilfe hätten – und denken Sie dran: Üben, üben, üben! Auch in der Erziehung ist noch kein Meister vom Himmel gefallen! Ein Tipp schon einmal vorab: Ihre Kinder lernen am besten am Vorbild! Viel Erfolg! Erfolge trainieren Erfolgstagebuch: Kaufen Sie ein schönes Heft, in das Sie und Ihr Kind allabendlich die gemeinsamen Erfolge des Tages schreiben – drei oder vier Zeilen, das genügt schon. So trainiert Ihr Kind, zu reflektieren, d.h. darüber nachzudenken, was es geäußert oder getan hat. Je regelmäßiger, desto eher wird Ihr Kind schon morgens darüber nachdenken, was abends ins Tagebuch soll! Führen Sie das Erfolgstagebuch täglich, auch Samstag und Sonntag – oder lassen Sie Zähneputzen an Feiertagen aus? Erfolgsplan: Geht es um konkrete Dinge, dann wirkt ein Erfolgsplan Wunder: Erfolgsplan (Beispiel) Selbständig aufstehen Zähne putzen Mo, Di, Mi, Do, Fr, Sa, So, Mo, 1.3. 2.3. 3.3. 4.3. 5.3. 6.3. 7.3. 8.3. Hausaufgaben in max. ¾-Std. erledigen Müll wegbringen Die Aufgaben, die Sie in die erste Spalte eintragen, besprechen Sie vorher mit Ihrem Kind. Wenn Sie mit maximal fünf einfachen Aufgaben beginnen, sieht Ihr Kind von Anfang an auch Erfolge. Sprechen Sie allabendlich darüber, wie Ihr Kind seine Erfolge selbst einschätzt – auch das muss es lernen. 14-mal gut bedeutet: „Klappt gut, Belohnung fällig!“ Ersetzen Sie diese Aufgabe dann durch eine neue. Halten Sie den Plan mindestens vier Monate durch. Belohnen Sie eher mit gemeinsamen Aktivitäten, nicht mit Süßigkeiten oder Geld – oder wollen Sie bald feilschen wie auf einem Basar? Das Erfolgstagebuch sollten Sie besonders dann zur Hand nehmen, wenn Sie das Gefühl haben, mit den üblichen Erziehungsmethoden nicht mehr klar zu kommen. 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG SEITE 2 Regeln lernen Haushaltsplan: Legen Sie im Rahmen eines „Familienrates“ fest, wer welche Haushaltsaufgaben verlässlich übernimmt. Hängen Sie diesen Plan gut sichtbar auf. Erwarten Sie besonders am Anfang nicht zu viel – nobody is perfect. Schlaf’ gut! Ihre Kinder schlafen besser ein, wenn Sie vorher zur Ruhe kommen – Vorlesen ja, Aufregung oder Flimmerkiste nein! Erinnern Sie Ihr Kind dann nicht mehr an eine Aufgabe, sondern nur noch an den Plan! Legen Sie Streit vor der Nacht bei! Keiner schläft gut, wenn er noch „eine Rechnung offen hat“. Familienregeln: In einem nächsten „Familienrat“ besprechen Sie Regeln für das Miteinander in der Familie. Formulieren Sie positiv, meiden Sie das Wort „nicht“. Guten Appetit! Mit einem gemeinsamen Frühstück startet die ganze Familie gut in den Tag. Drei Hauptmahlzeiten, und Ihre Kinder wachsen und gedeihen gut. Schneiden Sie für Zwischenmahlzeiten Obst und rohes Gemüse auf! Süßigkeiten sollten nicht frei zugänglich sein – und die Kinder sollten auch nicht das ganze Taschengeld dafür ausgeben. Übrigens: Eine gute Stimmung am Tisch macht Appetit! Eine besonders wichtige Regel: „Wir schauen einander an, wenn wir miteinander sprechen! Wir grüßen einander, wir sagen ‚bitte’ und ‚danke’, und nach Fehlern entschuldigen wir uns!“ Wenn Ihre Kinder selbst auf Ideen kommen, halten sie sich eher dran! Kinder haben Spaß beim Auswählen, Einkaufen und Mitkochen – lassen Sie sie mitmachen! Gesundheit im Blick Vorsorge: Stehen Vorsorgeuntersuchungen („Gelbes Heft“) oder Impfungen an? Alle zwei Jahre ist ein Sehtest und ggf. auch ein Hörtest fällig. Haus- bzw. Kinderärzte erledigen das. Nichts verschleppen – gehen Sie vorher zum Arzt! Rauchen und Alkohol: Kinder von Eltern, die in der Wohnung rauchen, haben zehnmal häufiger Bronchitis! Alkoholisierte Eltern sind kaum mehr sensibel für Bedürfnisse oder Gefühle anderer. Die Folge sind mehr Missverständnisse, Streit und Frust. Ohne Suchtverhalten werden Sie von Ihren Kindern ernster genommen! Glotze oder Kumpels? Fernsehen oder Verein? Gameboy oder Lego? Playstation oder Hausaufgaben? Internet oder echte Freunde? Mord und Totschlag vom Sessel aus oder Spannung im Verein und auf dem Sportplatz? Zuviel Fernsehen, Playstation, Gameboy und Computerspiele zerstören Konzentration, Aufmerksamkeit und Bewegungsfreude. Das Ergebnis? Die Noten werden schlechter, Freunde bleiben weg, das Kind nimmt an Gewicht zu – und zuletzt fühlt sich das Kind abhängig von Fernsehserien, Chat und Gameboy. In unserer Klinik sehen wir diese Folgen täglich! Also: „Glotze“ und „Daddelei“ sind nichts für unter 6Jährige! Bis 16 Jahre durchschnittlich nicht mehr als eine Stunde Fernsehen und Computerspiele am Tag! Wählen Sie kindertaugliche Fernsehsendungen und Spiele möglichst gemeinsam aus S.8. Glotze im Kinderzimmer verdoppelt den Fernsehkonsum – also ´raus damit! 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG SEITE 3 In der Chefetage Elternrat: Egal, wer von Ihnen Kapitän und wer Steuermann/frau ist: Alle Eltern – ob verheiratet oder nicht, getrennt oder geschieden – müssen sich darüber austauschen, was sie sich für Ihr Kind wünschen, und wie sie selbst dazu beitragen wollen. Nehmen Sie sich ab und zu dafür Zeit! Fragen und Kritik an sich selbst, Lob und Anerkennung für Ihr Gegenüber – so werden Sie sich immer einig! Und – eigentlich Ehrensache: Die Käpt’ns streiten sich nie vor der „Mannschaft“! Wertvolle Zeit: Verbringen Sie regelmäßig wertvolle Zeit miteinander, in der Sie sich ganz aufeinander einstimmen. Geschichten lesen, Spiele spielen, basteln oder kochen, in die freie Natur gehen, Gedanken austauschen – das können Sie sowohl mit Ihren Kindern als auch mit Ihren Partnern. Wertvolle Zeit braucht jeder, auch Sie! Reden Sie mit Ihren Partnern darüber. Alleinerziehende haben es da schwerer, aber Freunde – echte Freunde! – helfen da sicher gern weiter! Unter „Kollegen“: So wie Sie Experten für Ihre Kinder sind, so sind es ErzieherInnen und LehrerInnen für den Kindergarten und die Schule. Was liegt näher, als sich zusammen zu tun? Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass ErzieherInnen und LehrerInnen zwanzig bis dreißig Schüler gleichzeitig betreuen! Keiner muss „besser“ als der andere sein! In respektvoller Weise Fragen stellen, Tipps und Tricks austauschen, das kann Ihrem Kind auf lange Sicht nur nützen! Organisation ist (fast) alles Kinderordner: Mal ehrlich: Wo liegen die Zeugnisse, der Impfpass, das gelbe Vorsorgeheft oder Krankenberichte für Ihr Kind? Führen Sie für jedes Ihrer Kinder und auch für Sie als Eltern einen Ordner. Lassen Sie sich alle wichtigen Behandlungsberichte aushändigen. Auf diese Weise haben Sie alle Informationen parat und können Sie bei Bedarf auch weitergeben – natürlich nur in Kopie! Rechtsfragen: Jede Menge Paragraphen! Schule, Jugend- und Sozialhilfe und auch die Krankenbehandlung unterliegen Gesetzen. Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte kennen ihren jeweiligen Rechtsrahmen meist sehr gut – fragen Sie nach! Rechtsberatung, etwa zum Sorgerecht, zum Strafrecht oder zum Sozialgesetzbuch, geben Ihnen Rechtsberatungsstellen und natürlich die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt Ihres Vertrauens. Ordnung kostet ein wenig Zeit – Unordnung aber viele Nerven! Paragraphen sind „trockene Kost“! Aber Wissen ist Macht! Zu guter Letzt Haben Sie eigene erfolgreiche Ideen, Tipps und Tricks? Gleich notieren! Tauschen Sie sich darüber mit Ihren Partnern und Nachbarn und auch unseren BetreuerInnen und TherapeutInnen aus! Gute Elternratgeber gibt es von Remo Largo („Babyjahre“; „Kinderjahre“), von der Stiftung Warentest und vielen weiteren Autoren. Besonders freundlich, lebendig und klar schreibt die Psychologin Annette Kast-Zahn: „Jedes Kind kann Regeln lernen“. 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.2. SEITE 4 Wie lernen Kinder? Eltern bringen – meist durch ihre gute Intuition – ihre Kinder auf natürliche Art zum Lernen. Machen wir uns diese Fähigkeit einmal bewusst, dann können wir die Fähigkeiten und Fertigkeiten unserer Kinder noch systematischer fördern. Es gibt sechs unterschiedliche Arten zu lernen – und damit auch die gleiche Anzahl an Methoden, Kindern etwas beizubringen: 1. Lernen durch Übung 4. Lernen am Vorbild Beispiele: Beispiele: Greifübungen des Babys, Malen oder Fahrradfahren beim Kleinkind, Sport, Musik beim Schulkind oder Jugendlichen. Eltern grüßen einander, bedanken sich, bitten um etwas, entschuldigen sich, schauen einander im Gespräch an, freuen sich gemeinsam über den Erfolg des Anderen oder helfen einander nach einem Missgeschick. 2. 5. Lernen durch Assoziation (Verknüpfung von Signalen zu neuartigen Bedeutungen) Lernen durch die Übermittlung von Ausdrücken (Gestik, Mimik, Sprache) Beispiele: Beispiel: Wenn optische Signale nicht nur auf ein sondern auf zwei Augen treffen, dann ist das Gehirn in der Lage, durch die Verbindung der geringfügig unterschiedlichen Informationen die Entfernung zu errechnen. „Ziehe deine Jacke an, wenn du nach draußen gehst, sonst erkältest du dich“ und jedwede durch Worte, Mimik oder Gestik vermittelte Erklärung. Die Nähe der Mutter oder des Vaters während des Fütterns und das gleichzeitige Verschwinden des Hungergefühls vermitteln dem Baby, was Zuwendung, Versorgung und Zufriedenheit bedeuten. 3. Lernen, unterstützt durch Zuwendung 6. Lernen mithilfe der Schriftsprache Beispiele: Beispiele: Äußerung von Zutrauen: „Du schaffst das!“; Angebot von Hilfe, wenn ein Kind etwas absehbar noch nicht ganz alleine schafft: „Das machen wir besser gemeinsam!“. Lernen aus einem Lehrbuch oder Information aus der Zeitung. Die Lerntechniken kommen auf S.19 noch einmal ausführlicher zur Sprache. 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.3. SEITE 5 Regeln für unser tägliches Miteinander Nehmen Sie sich Zeit, um Ihre Regeln für das tägliche Miteinander zu diskutieren und niederzuschreiben. Gewinnen Sie Klarheit, welche Regeln in Ihrer Familie gelten bzw. welche Regeln Sie einführen möchten. Dabei können Ihnen, die folgenden Fragen hilfreich sein: Unsere fünf wichtigsten Regeln: Wie zeigen wir Anerkennung – und wie Kritik? Warum sind uns diese Regeln wichtig? Mit wem können wir uns ggf. beraten? Verändern wir Regeln, wenn nötig? Was müssen wir selbst noch besser vormachen? 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.4. SEITE 6 Ernährung Nahrung als Baustoff- und Energielieferant Nahrung liefert Energie. Sie dient darüber hinaus dem Körperaufbau – Wachsen ist Schwerarbeit! dabei keine Kunst. Es kommt auf die gesunde Mischung der folgenden Nahrungsmittelgruppen an: Ausgewogene Ernährung bedeutet: Energiezufuhr zu 50-60% aus Mehrfachzuckern (Kohlenhydraten), zu 10-20% aus Eiweiß und zu 30% aus Fetten. Jeder weiß, dass auch Mineralien (Kalzium für die Knochen, Jod für die Schilddrüse etc.), Vitamine und Ballaststoffe (in Getreide, Obst, Gemüse) wichtig sind. 1. Getreideprodukte und Kartoffeln Drei Haupt- und ein bis zwei Zwischenmahlzeiten sind sinnvoll. Sich abwechslungsreich zu ernähren ist 6. Fette und Öle 2. Gemüse und Hülsenfrüchte 3. Obst 4. Milch und Milchprodukte 5. Fisch, Fleisch, Eier 7. Getränke Flüssigkeit für den Stoffwechsel Kinder benötigen je nach Alter 1-2 Liter Flüssigkeit. An heißen Tagen, beim Sport oder sonstigen Anstrengungen benötigen alle mehr. Milch, (Mineral-) Wasser, Früchtetee, Saft (oder besser Schorle – wegen der Zähne!) sind Getränke, die Kinder mögen. Vielleicht unnötig zu sagen: Hände weg von Koffein (z.B. in Kaffee und Cola: macht nervös und stört den Schlaf) und Alkohol (beeinflusst die Reaktionen und macht abhängig)! Ernährungs-Hits für Kinder Stellen Sie täglich frisches Obst und rohes Gemüse dorthin, wo Ihre Kinder häufig vorbeikommen. Wussten Sie’s? Ein 54g-Schokoriegel enthält 37g (8 Teelöffel!) reinen Zucker und ein Sechstel der nötigen Tagesenergie! Weniger ist mehr: Vor allem bei Fett, Zucker und Salz. Wussten Sie’s? Eine Chipstüte (100 g) enthält ein Drittel der nötigen Tagesenergie! „Kombi-Produkte“ enthalten viele unnötige Stoffe. Warum nicht Naturjogurt mit frischen Früchten? Lassen Sie doch Bindemittel, Farbe, Aromastoffe und löffelweise Zucker im Regal! Fastfood und Süßigkeiten: In Maßen erlaubt. Einmal am Tag – und gleich hinterher die Zahnbürste zur Hand! Wenn Eltern selbst Diät machen, dann möglichst ohne viel Aufhebens. Manche Kinder machen das sonst nach und werden ggf. magersüchtig. Alle müssen mitmachen – denn vor allem Essen läuft über Lernen am Vorbild! Tischregeln Ihre fünf wichtigsten Tischregeln: Ideen von uns: Möglichst gemeinsam beginnen und beenden! Einkaufen, Kochen, Tischdecken und Spülen – das kann auch gemeinsam Spaß machen! Fernsehen und Radio sind Gesprächskiller! Streit am Tisch verdirbt den Appetit. Buchempfehlung: Annette Nagel: Ernährungs-Hits für Kids. 6,95 € 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.5. SEITE 7 Taschengeld Durch den Umgang mit Taschengeld lernen Kinder, Geld einzuteilen, zu sparen, aus eigener Entscheidung auch einmal zu verzichten und später mit den Eltern über finanzielles Planen und Wirtschaften zu sprechen, sich eigene Wünsche zu erfüllen und anderen eine Freude zu bereiten, Die Eltern können sich an den Beträgen orientieren, die bei Freunden oder Bekannten üblich sind, oder an Empfehlungen des Landesjugendamtes. (Tabelle 1 S.7). Tabelle 1: Empfehlungen für Taschengeld (Landesjugendamt Hannover, Juli 2005) Alter (Jahre) selbstbestimmt handeln. und eigenverantwortlich Euro zu Schon Vorschulkinder finden Geld spannend. Mit etwas Unterstützung können Sie abzählen und den Wert von Waren kennen lernen. Taschengeld liegt im Ermessen der Eltern. Kinder haben keinen gesetzlich geregelten Anspruch darauf. Eltern sollten dabei an ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten denken. Taschengeld sollte regelmäßig ausgezahlt werden und nicht als Erziehungsmaßnahme verwendet werden. Die Kinder sollten aber im Umgang mit Taschengeld angeleitet werden. Gefährliche, illegale oder ungesunde Artikel dürfen nicht gekauft werden. Einige Eltern lassen die Kinder ein Eingabe-AusgabeHeft führen oder machen das Taschengeld von Gegenleistungen abhängig, etwa der Mitarbeit im Haushalt. Einige Eltern erhöhen das Taschengeld, damit die Jugendlichen Schulsachen, Grundbekleidung oder Fahrgeld selbst bezahlen können. Jüngere Kinder sollten wöchentlich Taschengeld bekommen, weil sie kürzere Zeiträume besser überblicken. Ab etwa 10 Jahren kann es monatlich ausgezahlt oder auf ein Sparkonto überwiesen werden. Spart ein Kind für einen bestimmten Wunsch, dann können die Eltern ihm helfen, andere altersgemäße Einnahmequellen zu finden, z.B. Ferienjobs oder besondere Haushaltsarbeiten. Taschengeld sollte nicht mit Geldgeschenken verrechnet werden. Schon für kleine Kinder kann man dafür ein Sparkonto anlegen. Vereinbaren Sie mit der Bank, dass ein Kinderkonto nicht überzogen werden darf. Kinder lernen den Umgang mit Geld auch daran, wie die Eltern mit Wünschen, Notwendigkeiten und finanziellen Möglichkeiten umgehen und darüber sprechen. 4 4,70 monatlich 5 4,70 6 8,20 7 9,20 8 10,30 9 12,70 10 15,50 11 19,50 12 23,40 13 27,40 14 31,50 15 39,30 bzw. 58,80* 16 46,80 bzw. 70,20* 17 58,50 bzw. 87.75* * Jugendliche und junge Volljährige, die nach der regulären Schulzeit die Haupt- oder Sonderschule weiter besuchen, um den Schulabschluss zu erwerben, eine weiterführende Schule besuchen, an einer berufsvorbereitenden Maßnahme teilnehmen oder Einkommen aus Ausbildungs- und Arbeitsvergütung erzielen, sollen einen erhöhten Betrag erhalten. 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.6. SEITE 8 Kids vor der Kiste Gut zu wissen... Ob Spaß und Freude, Wut oder Frust, Trauer oder Angst: Kein Möbel im Haushalt, das so viele Gefühle auslöst wie der Fernseher. Die „Kiste“ als heimliches Familienmitglied? Kinder nennen den Fernseher im Schnitt mehr als zehn Stunden in der Woche ihr Gegenüber – nicht selten auch doppelt so lange. Das sind bis zu drei Arbeitstage vor dem Bildschirm! Schon Vorschulkinder sitzen in der Mehrheit über eine Stunde am Tag vor der „Kiste“, obwohl sie eigentlich von den raschen Bildfolgen, den Zeitsprüngen und der künstlichen Welt völlig überfordert sind. Aufmerksamkeit und Konzentration nehmen Schaden, und mit der Zeit verlieren sie ihre eigene kindliche Phantasie. Sie kommen weniger mit Spielkameraden zusammen, und sie bewegen sich zu wenig. Viel Fernsehen macht Kinder „sesshaft“! Ältere Schulkinder, die im Mittel zwei Stunden täglich vor dem Fernseher sitzen, sind handwerklich ungeschickter, wenig kreativ und unsportlich. Sie sind dicker als andere, weil sie sich zu wenig bewegen und viel naschen. Sie sind in der Schule durchschnittlich eine Note schlechter, weil sie weniger aufmerksam sind, länger für ihre Hausaufgaben brauchen und sich sprachlich nicht so gut ausdrücken können. Sie sind weniger verträglich und haben weniger Freunde als Kinder, die ihre Zeit besser nutzen, indem sie Hobbys nachgehen, z.B. Sport, Musik etc., sich mit Freunden treffen und mit ihnen spielen. Welche Bedeutung hat das Fernsehen in Ihrer Familie? Nutzen oder Schaden? Mit einer richtigen Anleitung können Ihre Kinder den sinnvollen Umgang mit diesem Medium erlernen. Kinder orientieren sich dabei vor allem am Vorbild ihrer Eltern! Für die Fähigkeiten und Fertigkeiten Ihrer Kinder sind nicht nur der Kindergarten und die Schule zuständig. Wenn Ihre Kinder in ihrer Freizeit mit Freunden spielen, sich einem Verein oder anderen angeleiteten Gruppen anschließen, dann profitieren sie vor allem vom Miteinander. Die „Kiste“ vermittelt nur eine eingeschränkte und weltfremde Sicht. Ihre Kinder sollen etwas erleben! Fernsehfilme können heftige Gefühle auslösen. Wählen Sie besonders für junge Kinder die Sendungen sorgfältig aus und schauen Sie sich die Filme auf jeden Fall gemeinsam an! Sie haben dann einen Blick auf das, was Ihre Kinder bewegt, und Sie können eingreifen, wenn das Kind etwas nicht versteht oder Angst bekommt. Begleiten Sie Ihr Kind! Ältere Kinder und Jugendliche sollten einen Wochenplan aufstellen und ihn mit ihren Eltern abstimmen. Sendungen mit Gewalt sind generell nichts für Kinder, denn bedrohliche Szenen können Angst machen, aber auch aggressives Verhalten verstärken. Planen statt Zappen! Hängt der Familienfrieden häufig von der „Kiste“ ab? Manche Kinder vergeuden auch viel Zeit vor dem Computer oder elektronischen Spielen. Allmählich vernachlässigen sie die Schule, ihre Hobbys und ihre Freunde. Sie bleiben bis tief in die Nacht wach und schlafen bis weit in den Tag hinein. Das sind Zeichen von Abhängigkeit. Diese Kinder müssen behandelt werden. Wie geht Ihre Familie mit dem Fernseher um? 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG SEITE 9 Tipps! Kinder im Vorschulalter sollten höchstens 30 Minuten täglich fernsehen, um Folgeschäden zu vermeiden. Sendungen für jüngere Kinder müssen ein „Happy End“ haben, da die Kinder sonst die Anspannung und möglicherweise ihre Ängste nicht verarbeiten können. Schauen Sie ausgewählte Sendungen gemeinsam an und sprechen Sie darüber! Schulkinder sollen nicht mehr als eine Stunde am Tag vor dem Fernseher verbringen. Gameboy und Computerspiele gehören auch dazu! Leiten Sie Ihre Kinder an, aus der breiten Programmvielfalt passende Sendungen auszuwählen. Dies beugt auch dem „Zappen“ vor. Bettzeit: Eine halbe Stunde davor ist Schluss mit Fernsehen, sonst droht eine unruhige Nacht. Kids vor der Kiste: Ein Fernseher im Kinderzimmer verdoppelt den Fernsehkonsum! Kindertaugliche Fernsehsendungen finden Sie in FLIMMO, einer Zeitschrift zur Programmberatung von Eltern. Sie kann für nur 6,14 € (3 Hefte im Jahr) abonniert werden: Programmberatung für Eltern, Postfach 600319, 81203 München, Tel.: 089/45066215, Mail: [email protected], Internet: www.flimmo.tv/bestellung Erziehung: Fernseher sind keine „Beschäftigungstherapie“ und schon gar kein „Babysitter“! Auch als Strafe oder Belohnung ist das Fernsehen ungeeignet. Jugendgefährdende Medien Eltern müssen ihre Kinder vor jugendgefährdenden Einflüssen schützen. Diese sind zuhauf in Zeitschriften, Filmen, DVDs oder CDs zu finden. Besonders attraktiv und überdies mitunter gefährlich ist außerdem die Welt des Internet. So findet man etwa in unmoderierten Chat-Räumen nicht selten sexuelle Belästigung, Verführung und Missbrauch. Gefährdet sind alle Kinder, besonders aber Jugendliche, die unter schwierigen Lebensumständen aufwachsen. Gemäß Jugendschutzgesetz führt die Bundesprüfstelle zu diesem Thema eine Liste, die ständig auf den neuesten Stand gebracht wird. Auf den Index kommen die ausschweifende Darstellung von Gewalt als vorrangiges Konfliktlösungsmittel (ggf. sogar im Namen des Gesetzes), Selbstjustiz als probates Mittel, Mord und Metzelszenen, das Anreizen zum Rassenhass und NS-Verherrlichung, die Darstellung von Sexualität mit ethisch nicht vertretbarer Einstellung, Entwürdigung, diskriminierende Praktiken und Sadismus. Schwer jugendgefährdend gemäß Strafgesetzbuch (§§130, 131 und 184b StGB) sind Propaganda verfassungswidriger Organisationen, Leugnung des Holocaust und Volksverhetzung, Anleitung zu schweren Straftaten, verherrlichende, verharmlosende oder unwürdige Schilderung von Grausamkeiten, Verherrlichung des Krieges, Pornographie, d.h. Missachtung menschlicher Bezüge und aufdringliches InVordergrund-Stellen sexueller Vorgänge, ggf. mit Gewalt oder Missbrauch von Kindern, Darstellung leidender Menschen ohne berechtigtes Interesse an dieser Darstellungsform, Darstellung von Kindern oder Jugendlichen in unnatürlich geschlechtbetonter Körperhaltung, offensichtliche schwere Gefährdung der Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihrer Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Medien, die auf dem Index stehen, dürfen Minderjährigen nicht angeboten oder zugänglich gemacht werden und auch nicht öffentlich beworben werden. Kostenlose oder kostengünstige Informationen bekommen Sie unter den folgenden Adressen: Spiel- und Lernsoftware pädagogisch beurteilt: Mail [email protected] Internet www.bmfsfj.de Chatten ohne Risiko? Zwischen fettem Grinsen und Cybersex: Internet www.jugendschutz.net Ein Netz für Kinder. Surfen ohne Risiko. Ein praktischer Leitfaden für Eltern und Pädagogen (4 €): Mail [email protected] Internet www.jukebox.de/~Jugendamt 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.7. 1. SEITE 10 Tipps für die Hausaufgaben Wie lange soll mein Kind an den Hausaufgaben sitzen? 4. Organisation ist alles! Darüber sprechen Sie am besten mit den Lehrern. Wann? Das eine Kind erledigt sie gleich nach der Schule oder dem Mittagessen, das andere benötigt erst eine Pause. Aber: Die Zeit sollte festgelegt sein! Übrigens: Hausaufgaben müssen richtig und sauber sein! Das sollten Sie Ihren Kindern auch beibringen: Womit fangen wir an, was machen wir am Schluss, wie lange wollen wir dafür verwenden? Es sollte eine Uhr auf dem Arbeitspatz stehen. Auch Pausen sind hilfreich. Die Schultasche richten gehört ebenfalls dazu. Wenn Sie Ihr Kind fördern und fordern, wird Ihr Kind schrittweise selbstständiger. 2. 5. Welche Hausaufgaben sind zu erledigen? Schlafenszeiten einhalten! Bleibt Ihnen unklar, ob oder welche Hausaufgaben Ihr Kind aufhat, dann hilft ein Hausaufgabenheft, das von den Lehrern täglich abgezeichnet wird. Kinder, die morgens frisch und wach aufstehen, kommen am Vormittag gut mit und erledigen die Hausaufgaben am Nachmittag zügig. 3. 6. Hausaufgabenzeit ist Arbeitszeit! Ruhe und wenig Ablenkung sind oberstes Gebot – egal ob in der Küche, im Wohnzimmer oder im Kinderzimmer. Am Arbeitsplatz müssen alle benötigten Materialien bereit liegen. Fernsehen und Radio sind tabu, solange die Hausaufgaben nicht erledigt sind. Spielsachen sollten sich möglichst nicht im Blickfeld befinden. Nachhilfe Häufige Vierer oder Fünfer sollten rasch durch Nachhilfe beseitigt werden. Ältere Schüler können durchaus genauso gut sein wie Nachhilfelehrer! 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.8. SEITE 11 Ein spannend-entspanntes Wochenende! Wenn Sie Ihr Wochenende gemeinschaftlich planen und am Ende noch einmal darüber sprechen, wird Ihr Wochenende erfolgreich sein! Am besten kopieren Sie sich diese Seite, um Sie für mehrere Wochenenden nutzen zu können! Planung Reflexion Was wollen wir gemeinsam unternehmen – und welche Pflichten gilt es noch zu erledigen? Was waren die Highlights – und was war sonst noch erfolgreich? Wer macht was? Was können wir üben, vertiefen, verbessern? Wann haben wir Zeit für die gemeinsame Aktivität? Wie beurteilen Eltern und Kinder das Wochenende insgesamt? 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.9. SEITE 12 Miteinander Reden Warum und worüber reden? Wie miteinander reden? Es macht Spaß, an dem Wissen, den Gefühlen und den Ansichten des Anderen teilzuhaben. Es tut auch gut, sich selbst einmal auszusprechen. Dadurch entstehen Freundschaften und Bindungen. Manchmal ist der Anfang schwer, besonders wenn es nicht um Smalltalk, sondern um offene und dringliche Fragen oder Probleme geht. Gefühle und Unsicherheiten kommen einem in die Quere. Worüber sind Sie neugierig, von wem mögen Sie etwas lernen? Wäre es nicht sinnvoll, die eigene Unsicherheit (Sorge, Angst...) offen anzusprechen? Gibt es Themen, über die Sie schon immer einmal sprechen wollten – und mit wem? Wenn sich alle verstehen sollen, muss jeder gehört werden. Was könnten Sie selbst dafür tun? Aufeinander neugierig sein eröffnet neue Welten und stärkt den Zusammenhalt! Unsichersein ist erlaubt! Meist sind Sie nicht die bzw. der Einzige! Sich zusammensetzen! Sich auseinandersetzen! Jeder in der Familie kann und weiß etwas. Daran teilhaben macht Spaß und bringt alle voran. Bestimmte Anliegen erfordern, dass wir vorher über das Wann und Wie nachdenken, bevor wir sie ansprechen. Wenn unterschiedliche Ansichten, Bedürfnisse und Haltungen bestehen, dann sollte ein faires Vorgehen selbstverständlich sein: Zunächst die bestehenden Meinungen verstehen! Dann konkrete Themen aufgreifen statt Personen angreifen! Wann setzen Sie sich zusammen? Wann setzen Sie sich auseinander? Wie gelingt es am besten? Wo lauern Gefahren? Wie gelingt es am besten? Wo lauern Gefahren? Alle haben etwas zu erzählen! Manchmal sind Meinungen aufeinander abzustimmen. Dafür sollte vereinbarte Zeit vorhanden sein, und die Gesprächspartner sollten bereit sein, einander zuzuhören! „Immer“ und „Nie“, „Du bist“ statt „Ich könnte“, „Ja, aber...“, Rückfragen, Ironie oder Gehässigkeiten bringen auseinander! Humor ebnet häufig den Weg! 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 1.10. SEITE 13 Zehn Schritte durch den Tag – oder: Wie ist mein Kind organisiert? Mit Hilfe dieser Liste können Sie einschätzen, welche Entwicklungsziele demnächst anstehen. Auch Probleme oder Störungen können daran deutlich werden. Fragen 1. Ein neuer Tag! Ist das Kind ausgeschlafen? Steht es selbständig mit Wecker auf? Wie ist die Grundstimmung am Morgen? 2. Die Morgentoilette! Toilette, Waschen, Zähneputzen: Was erledigt Ihr Kind schon selbständig? 3. Gut gefrühstückt in den Tag! Wird gemeinsam gefrühstückt? Was und wie viel wird gegessen? Welche Tischregeln gibt es? 4. Lernen! Wie sind die Leistungen? Wie ist das Kind organisiert (Schulweg, Schulsachen, Hausaufgaben)? Wie ist das Verhältnis zu Mitschülern und Lehrern (in der Klasse, in der Pause)? 5. Hungrige Kids! Wird gemeinsam zu Mittag gegessen? Was und wie viel wird gegessen? Welche Tischregeln gibt es? Uhrzeit/ Ablauf und Ziele bzw. Veränderungswünsche 1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG 6. Hausaufgabenzeit! Arbeitet Ihr sorgfältig? Kind konzentriert und Ist es neugierig, arbeitet es zügig, kann es mit Fehlern umgehen? Holt es sich bei Bedarf Hilfe, und wer kann sie geben? 7. Bewegung und Freizeit! Spielt Ihr Kind allein oder mit Freunden? Hat Ihr Kind Hobbys oder besondere Interessen (Sport, Musik, ...)? Ist es in einer Jugendgruppe oder im Verein? Was kann es besonders gut? An einem normalen Tag: Wie viel Fernsehen und Computerspielen? Hat das Kind einen eigenen Fernseher im Zimmer? 8. Nach getaner Arbeit... Essen Sie gemeinsam zu Abend? Was und wie viel wird gegessen? Welche Tischregeln gibt es? 9. Waschen und ab ins Bett! Toilette, Waschen, Zähneputzen: Was erledigt Ihr Kind schon selbständig? Wird vorgelesen? 10. Gute Nacht! Was weiß Ihr Kind über den Ablauf beim Schlafengehen? Wird gemeinsam gespielt? Ist Streit zum Schlafengehen beigelegt? Wie schläft Ihr Kind ein, durch, aus? Schnarcht Ihr Kind, träumt es häufig schlecht oder schlafwandelt es? SEITE 14 SEITE 15 2. Familiäre Krisen 2.1. Krise und Chance: Hochhängen oder flach halten? Was heißt hier „Krise“? Crisis kommt aus dem Lateinischen und bedeutet "entscheidende Wendung". Hier geht es nicht mehr weiter, das Fass läuft über, irgend etwas muss passieren, oder man sitzt ganz tief im Keller. Eine Zuspitzung, die einen an den Rand seiner Handlungs- und Problemlösefähigkeit bringt, kann jeden Menschen in jeder Lebensphase treffen. Wenn man die Umstände eines Menschen analysiert, der gefährdet ist, in eine Krise zu geraten, oder der sich gerade in einer Krise befindet, dann wird man das drohende Heraufziehen einer dunklen Wolke frühzeitig wahrnehmen bzw. besonnen reagieren. Eine Krise braut sich nicht von allein... Eine Krise lässt sich als eine Häufung gravierender Risiken vor dem Hintergrund versiegender Fähigkeiten und Möglichkeiten (Ressourcen) verstehen, und diese explosive Mischung kann die normale Handlungsfähigkeit eines Einzelnen oder eines sozialen Verbundes (z.B. der Familie, einer Heimgruppe, eines Kollegiums...) kritisch blockieren: Während etwa die tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz eine Routineaufgabe ist, nimmt einen die Vorbereitung und Durchführung eines Umzugs mehr in Anspruch, und wenn plötzlich noch der zugesagte Arbeitsplatz verloren geht, dann ist Holland in Not. Typische Beispiele für Risiken und Ressourcen finden sich in Tabelle 2. fehlende Tabelle 2: Beispiele für kritische Lebensbedingungen Eigene Umstände Äußere Umstände Entdeckung einer schweren körperlichen Unvermittelte Bloßstellung, z.B. Erkrankung, einem Delikt oder einer Kränkung, Akut Suchtkrankheit mit Stimmungswechseln, nach unvorhersehbaren (scheinbar) unlösbarer Streit, krankhafte Bindung, z.B. durch Sekten. Verlust einer wichtigen Beziehung, Entdeckung der eigenen Adoption. Geringe Fertigkeit, Konflikte reif zu lösen Ein grundlegend ablehnendes und aboder einer Enttäuschung stand zu halten, wertendes Klima in der Familie, Chronisch fehlende Selbstachtung, eigene Schuldzu- Misshandlung und Missbrauch, weisung oder Scham, statusverschlechternde oder isolierende Ausweglosigkeit angesichts langer schwe- Umstände, etwa lange vergebliche Arrer Krankheit, beitssuche, fehlende Sprachkenntnisse. seelische Erkrankung, z.B. Depression mit mangelnder Bereitschaft, sich mitzuteilen und Hilfe zu suchen. 2 FAMILIÄRE KRISEN SEITE 16 Krise – und dann? „So kann es nicht weitergehen“, diese Aussage ist häufig die entscheidende Wendung. Wer dann noch zögert, weil er noch nicht verstanden hat oder sich gegen notwendige Konsequenzen sperrt, dem wird die Entscheidung aus der Hand genommen: durch Klassen- und Schulkonferenzen; möglicherweise droht dann der Schulverweis; durch Konferenzen im Jugendamt; möglicherweise droht eine Inobhutnahme; durch Anzeigen bei der Polizei; möglicherweise droht eine Verurteilung vor Gericht; durch erheblichen Streit; möglicherweise droht eine eine Trennung. Diese möglichen Konsequenzen und der drohende Verlust der Selbstbestimmung – wenn andere einem das Heft aus der Hand nehmen – tragen zur Verunsicherung, Angst und Zuspitzung bei. durch eine Vorstellung beim Facharzt; möglicherweise ist die stationäre Aufnahme notwendig; Kritische Lage – persönliche Krise? Während das eine Kind schon anlässlich einer Einschulung Unsicherheit, Alleinsein und Bedrohung empfindet und sich zurückzieht, leben andere Familien mit einer Anhäufung von erheblichen Belastungen, ohne dass sie erkennbar unter Druck geraten, etwas ändern zu müssen. Was eint sie dennoch, ob sie es wahrnehmen oder nicht? Eine Sackgasse mit Unsicherheit, Hilflosigkeit, Unruhe, Angst vor dem Alleinsein, Leistungsabfall und Selbstzweifel: Die Betroffenen beginnen in ihrem Denken und ihren Gefühlen tranceartig zu kreisen oder begeben sich gemeinsam in eine „pathologische Schleife“. Nach außen hin kann so etwas sehr unterschiedlich aussehen: Der Eine wird „plötzlich ganz ruhig“, der Andere „rastet aus“, ein Dritter „schlägt um sich“, ein Vierter „sagt gar nichts mehr“, ein Fünfter „haut ab“, ein Sechster „erwacht erst aus seinem Dornröschenschlaf“, ein Siebenter „bringt gar nichts mehr“, ein Achter „sendet Signale“, ein Neunter „wirkt chaotisch“, ein Zehnter „geht zu seinem Kumpel“, ein Elfter „greift zur Flasche“, einem Zwölften „ist alles egal“. Unmittelbar gefährlich sind nur Selbst- und Fremdgefährdungsfantasien. Diese kommen fast nie unvorbereitet, sondern treten nur auf, wenn bestimmte typische Bedingungen zusammentreffen S. 44. Krisen umgehen... Erfahrene und präventiv denkende Helfer sehen nicht nur den Betroffenen, sondern sie „scannen“ auch sein Umfeld und den Erfahrungshorizont des Betroffenen auf Risiken und Ressourcen. Sodann stimmen sie ihre Hilfe auf das unmittelbar Notwendige ab. Einige Beispiele: Weiß ein Versetzungsgefährdeter, dass er sein Zeugnis gefahrlos zeigen kann und nötigenfalls Hilfe bekommt? Ist bei einem Heimkind das Weihnachtsfest schon vier Wochen vorher geregelt? Stehen angesichts des bevorstehenden Todes der kranken Mutter auch für das Kind Trost und Unterstützung bereit? Hat ein Süchtiger trotz seines sozialen Abstiegs und seiner Delikte vernünftige Gesprächspartner? Weiß die Familie, die Arbeit und Wohnung verloren hat, wo sie unterkommen kann? Hat ein Körperbehinderter gelernt, mit dem Spott umzugehen, der ihn zuweilen trifft? Ist das Verbrechensopfer nachhaltig vor dem Täter geschützt, und hat es das Gefühl eigener Sicherheit? Verfügt ein Jugendlicher nach mehreren Suizidversuchen nun über alternative Konfliktlösungen? Weiß eine Magersüchtige, dass auch bei einem Rückfall wieder Helfer bereit stehen? Darf ein Kind geschiedener Eltern gefahrlos den Wunsch äußern, seinen Vater zu sehen? Nähert sich der Jahrestag des Selbstmordes des Freundes, an dem der Betroffene möglichst nicht alleine sein sollte? 2 FAMILIÄRE KRISEN SEITE 17 Mit Krisen umgehen... Krisen gehören zur Entwicklung; sie sind gemeistert, wenn sich Spannung und Angst lösen und die Betroffenen davon überzeugt sind, etwas bewältigt und dabei gelernt zu haben. Dagegen hinterlassen ineffektiv oder unvollständig gelöste Krisen chronische Hilflosigkeit. Wiederholung übt – das gilt für Erfolge ebenso wie für Fehlschläge: Man erlernt wirksame Methoden, um Krisen zu bewältigen, oder man gewöhnt sich an das vergebliche Zappeln auf dem Trockenen – und fühlt sich entsprechend. Jacobson (1974) nennt sechs Schritte auf dem Weg aus der Krise: 1. Den Krisenanlass verstehen. 2. Eine gemeinsame "Krisendefinition" erarbeiten. 3. Gefühle ausdrücken bzw. entlasten. 4. Bekannte Lösungsmöglichkeiten reaktivieren, in der Realität bleiben. 5. Nach neuen Lösungen suchen. 6. Abschließender Rückblick und Bilanz. Es geht also darum, die vorhandenen Risiken zu minimieren und die Ressourcen zu stärken. In Tabelle 3 sind einige Ideen skizziert. Tabelle 3: Risiken minimieren, Ressourcen stärken Eigene Umstände Akut Äußere Umstände Krankheit: Trost hält nicht lange an. Klare Infor- Kränkung: Erklärungen wirken fade. Neue mation hilft bei der Verarbeitung und löst Erfolgserfahrungen sind wertvoller. Ängste. Streit: Konfliktlösen üben, Nachgeben lernen, Sucht: Liebevolle Begleitung reicht nicht aus. flexibel ausweichen, sicher mit Nähe und DisWohnung, Nahrung, Schlaf und Therapie sind tanz umgehen lernen. konkret sicherzustellen. Verlust eines nahen Menschen: Einen Verlust Sekten: Information ist meist unzureichend. Eine verkraftet man besser, wenn man einen Menklare Loslösung muss notfalls erzwungen schen um sich hat, der das Gefühl für Verständwerden. nis, Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Ein Kind erfährt von seiner Adoption: Familiengeheimnisse kommen immer ans Tageslicht. Offenheit und Klarheit sind besser als „mit verdeckten Karten spielen“. Frustration: Der Versuch, Frustrationen zu mei- Abwertung: Ein (trennendes) Ende mit Schreden, schlägt immer fehl. Es müssen kleine Lö- cken ist manchmal besser als ein (bindender) sungen für kleine Probleme trainiert werden, Schrecken ohne Ende. dann können Erfolge gefeiert werden. Missbrauch: Kompromissloses Einschreiten siScham: Aus „Fehlern“ kann man lernen, wäh- chert zukünftigen Opfern ihre Unversehrtheit rend „Schuld“ auf Dauer verdammt. und ermutigt weitere Opfer. Chronisch Ausweglosigkeit: Manchmal muss auch sie (an-) Sozialer Abstieg: Fürsprache ersetzt nicht die erkannt werden. konkrete Hilfe, z.B. Suche nach Job, Wohnung, Sprachkurs, Rechtsbeistand. Depression: Langwieriges Verstehenwollen kann fatal enden. Manchmal müssen anderweitige Hilfen (stationärer Aufenthalt, Medikamente) her. 2 FAMILIÄRE KRISEN In einer Krise muss Hilfe rasch und effektiv greifen: 1. Verlässliche Bindung: In Krisen sind Vertrauenspersonen hilfreich, mit denen der Betroffene frei sprechen kann, ohne dass die Gefahr von Verletzungen und Kränkungen entstehen. Er sollte über Gefühle, Meinungen und Handlungen offen sprechen können, auch um einen Abgleich mit der Realität zu schaffen. Bei diesen Gesprächen kann eine verständliche und lebendigbildhafte Sprache selbst in scheinbar ausweglosen Fragen einmal entspanntes Lachen aufkommen lassen. Verträge können die Verlässlichkeit von Absprachen betonen. 2. Ressourcen: Kommt die Frage nach einer Lebensverneinung auf, dann sollte sie in einfachen Worten angesprochen werden. Dies löst keine Selbstmordgefährdung (Suizidalität) aus, sondern es entlastet und ist der erste Behandlungsschritt. Hilfreiche weitere Fragen: Wer würde als erster erkennen, dass das Problem beseitigt ist – und woran würde man dies erkennen? Was wäre der erste Schritt – und wann wärest du bereit, ihn zu gehen? Was hat schon einmal geholfen? Sollte das weiter geübt werden? Gibt es Ausnahmen vom „Nichts geht mehr“? Was würde passieren, wenn alles noch schlimmer würde? Wie, wo und bei wem kannst du Atem holen? SEITE 18 Gespräche allein sind unzureichend. Auf lange Sicht geht es darum, konkret Entspannung und Lösungswege auszuprobieren und zu üben, aufkommende Spannungen bzw. Konflikte früh zu erkennen und die eigenen kreativen Lösungsansätze im Alltag zu erkennen und zu mobilisieren. 3. Verantwortung: Ist jemand in eine Krise geraten, dann sollten die Vertrauenspersonen und ggf. professionelle Helfer ihre Rollen verteilen: Jeder muss wissen, wer für wen und was wann konkret verantwortlich ist. Bleibende Unsicherheit oder Angst bei den Vertrauenspersonen ist ein Alarmzeichen dafür, dass dringend professionelle Helfer gerufen werden müssen. Diese sind erfahren im Umgang mit Risiken, sie kennen Techniken, um Ressourcen zu mobilisieren, und sie sind in der Lage, komplexere Bedingungen zu erkennen. 2 FAMILIÄRE KRISEN 2.2. SEITE 19 Wenn Eltern streiten und sich trennen Die Zahlen sprechen für sich... In der Mitte des 20. Jahrhunderts wuchsen noch 90% der Kinder gemeinsam mit ihren verheirateten biologischen Eltern auf. Heute, ein halbes Jahrhundert später, kann dies nur noch jedes zweite Kind erwarten. Durch Abschnittspartnerschaft, Alleinerziehung und Wiederverheiratung erfahren die betroffenen Kinder Trennung und Verlust, und sie verstehen dabei nicht, warum ihr Kontakt zu einem der Elternteile und dessen Verwandten eingeschränkt wird. Sie müssen sich neuen Beziehungen in ihrem Haushalt stellen, häufig ohne es zu wollen. Hinzu kommen unvermittelte Umzüge, Schulwechsel und der Verlust von Freunden. Durch eine Trennung wird fast jede zweite Mutter zur Sozialhilfeempfängerin, so dass die Kinder zudem einen sinkenden Lebensstandard verkraften müssen. Jahrelanger Streit und die Trennung der Eltern mit den beschriebenen Folgen können die kindliche Entwicklung erheblich stören: Jedes vierte Trennungskind leidet offensichtlich unter sozialen, emotionalen oder Lernstörungen. Kinder- und Familientherapeuten wissen, dass 70% ihrer ambulanten und 90% ihrer stationären jungen Klienten aus Trennungsfamilien stammen. Störung der Eltern – Störung der Kinder Schon Eltern, die sich nur kurzfristig uneinig sind (das kommt in den besten Familien vor...), merken wie dies Aufmerksamkeit und Konzentration bindet. Stockt die Abstimmung über die täglichen Erziehungs- und Versorgungsmaßnahmen, dann stellen sich auch erzieherische Misserfolge ein. Allzu oft werden diese dann den Kindern angelastet. In ihrem familiären Umfeld erfahren Kinder üblicherweise ihre primären Bindungen, sie bilden ihre Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten) aus und bereiten sich auf eine reife Verantwortungsübernahme in der Gesellschaft vor. Während des langanhaltenden und unversöhnlichen Streites, der einer elterlichen Trennung vorausgeht, lernen die Kinder stattdessen etwas ganz anderes: Bindungen werden geschwächt und zerstört, auch die zwischen Eltern und Kind, denn die Eltern verlieren durch den Streit das Kind aus den Augen oder gehen voreingenommen auf ihr Kind zu. Die Ausbildung der Ressourcen des Kindes, z.B. die Gesundheit, der Umgang mit Bedürfnissen, das Lernen und die sinnvolle Freizeitgestaltung, geraten aus dem Blickfeld der Eltern. Die Eltern leben mangelnde Verantwortlichkeit vor: Ich bin das Opfer, Fehler macht nur der andere. So kommt die Familie aber nicht zusammen, sondern auseinander. Psychische Erkrankungen von Vätern oder Müttern – etwa eine Depression, eine Psychose mit Ängsten und Wahnwahrnehmungen oder eine Suchterkrankung – schaden der seelischen Entwicklung der Kinder, weil die betroffenen Elternteile ihre Kinder häufig nicht angemessen ansprechen und versorgen. Dauerhafte Spannungen, offene Konflikte und Feindschaft zwischen Mutter und Vater sind faktisch nichts ande- res: eine seelische Störung der Elterneinheit. Es verwundert daher nicht, dass dies für die Kinder grundsätzlich die gleichen Folgen haben kann wie die Erkrankung eines der Elternteile: Die betroffenen Kinder leiden unterschwellig oder offensichtlich unter 1. Lernstörungen (Kognition), 2. Störungen ihres Gefühlslebens (Emotionen), 3. Störungen im Umgang mit Anderen (Sozialverhalten) 4. Entfremdung zwischen Kindern und Eltern. 1. Lernstörungen Zum Aufbau von Fertigkeiten und Fähigkeiten gehört ein im Laufe der Entwicklung immer feiner abgestimmtes Lehr-Lern-Verhältnis zwischen den Eltern und ihrem Kind. Die Eltern können die sechs Lehrund Lerntechniken optimieren, indem sie sich in ihrer Methodik (Art und Weise, jemandem etwas beizubringen) ständig abstimmen und von einander lernen S. 4. a. Lernen durch Übung: Die Eltern gestalten einen anregenden, aber auch sinnvoll begrenzten und geschützten Entwicklungsraum. Dadurch erlernen Kinder rasch Bedeutungen und eignen sich Fertigkeiten an. Fehlt es an Begrenzungen und Schutz, etwa wenn Eltern sich mehr mit ihrer Auseinandersetzung als mit ihren Kindern befassen, dann werden Kinder auf lange Sicht mehr Fehler machen. Sie werden mühseliger lernen, mehr Leid und Versagensgefühle empfinden. Sie werden ihre gesunde Neugier verlieren, denn Lernen bereitet ihnen keine Freude. 2 FAMILIÄRE KRISEN SEITE 20 b. Lernen durch Verknüpfung (Assoziation): Wenn die Eltern ihre Meinungen, Wünsche und Absichten den Kindern präzise, differenziert (sichtbar, hörbar, ggf. auch durch Berührung) und zuverlässig nahe bringen, und wenn die Eltern umgekehrt auch die Ausdrucksweisen ihrer Kinder bald immer besser verstehen, dann bleiben Missverständnisse weitgehend aus, und es entstehen verlässliche gegenseitige Erwartungen. Anderen wirksam auszutauschen: Neben einer guten Sprachfähigkeit sind dies Muster und Rituale wie Begrüßung und Abschied, Zustimmung und Ablehnung, Entschuldigung und Abgrenzung, Bitten und Danken etc.. Kleinkinder geben dabei noch stark zu erkennen, welchen Stil die Familie im alltäglichen Miteinander pflegt. Je älter das Kind, desto vielfältiger und allgemeingültiger werden die Ausdrucksformen und Formulierungen; Jugendliche und später Erwachsene benötigen für ihre reife Bindungsfähigkeit eine reichhaltige und bunte Palette von Ausdrucksmöglichkeiten, damit sie sich auf die vielfältigen menschlichen Eigenarten und Launen einstimmen können. Zerstrittene Eltern, die sich ihren Kindern gegenüber eher launig-sprunghaft, unsicher und weniger konsequent verhalten, wirken aus kindlicher Sicht unvorhersehbar. Frustriert müssen die Kinder erkennen, dass Gewesenes nicht verlässlich und die Zukunft kaum einschätzbar ist. Somit scheint es sich nicht zu lohnen, die Vergangenheit zu reflektieren und vorausschauend zu planen. Folgerichtig beschränken sie sich darauf, für ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu sorgen. Von außen gesehen wirken solche Kinder impulsiv, aufmerksamkeits- und konzentrationsgestört. c. Lernen durch Zuwendung: Was immer Kinder tun – wenn sie dabei die Aufmerksamkeit und das Interesse ihrer Eltern spüren, wenn sie von ihnen Zuversicht, angemessene Rückmeldung und Wertschätzung erfahren, dann werden die Kinder auf lange Sicht deutlich mehr Erfolge als Misserfolge erwarten können. Kinder lernen aus dieser positiven Erfolgsbilanz, dass es nützlich ist, neugierig zu sein, neue Fertigkeiten zu erlernen und sich dabei der Beteiligung seiner Eltern oder anderer erfahrener Personen zu versichern. Kinder, die von ihren Eltern eher Desinteresse oder gar Ablehnung erfahren, machen ohne die Rückmeldungen zwangsläufig mehr Fehler, und sie gehen infolgedessen dem Kontakt zu anderen eher aus dem Weg. d. Lernen am Modell: Kinder, die sich Handlungsund Ausdrucksweisen von überzeugenden Vorbildern abschauen können, sparen sich viel eigenes Üben und legen dadurch insgesamt ein hohes Lerntempo vor. Sie begreifen darüber hinaus intuitiv, dass es sich lohnt, Beziehungen zu Personen zu pflegen, die gültige Muster vorleben. Sind Eltern ihren Kindern überwiegend negative oder unklare (ambivalente) Vorbilder, dann werden die Kinder mit den elterlichen Fehlern, die sie gutgläubig nachahmen, andernorts scheitern. Dies wird die Beziehung zu den Eltern – und letztlich auch die allgemeine Beziehungsfähigkeit der Kinder – beeinträchtigen. e. Lernen durch Übermittlung von Ausdrücken: Die Kinder erlernen mit der Zeit ein vielfältiges Spektrum von Ausdrucksweisen, um Wünsche und Absichten, Meinungen und Erfahrungen mit Andererseits gibt es Eltern, die sich selbst kaum mitteilen, sich nur wenig differenziert ausdrücken oder einander nach einem Streit nicht wieder die Hand reichen. Deren Kinder verfügen mangels Training nur über wenige eher einförmige Handlungsmuster und Vereinbarungen dafür, wie man aufeinander zugeht und sich benimmt. Sie sind in ihrer Kontaktaufnahme, der Gestaltung ihrer Beziehungen und der Lösung unweigerlich auftretender Meinungsverschiedenheiten wenig flexibel. Sie reagieren vielfach pauschal (Angriff – Gekränktsein – Angriff – Rückzug) und isolieren sich damit auch von denjenigen Gleichaltrigen oder Erwachsenen, von denen sie noch lernen könnten. f. Lernen mittels der Schriftsprache: Die hohe gesellschaftliche Bedeutung von Lesen und Schreiben erfahren die Kinder vor allem von ihren Eltern: Wenn Eltern selbst lesen, wenn sie ihren Kindern vorlesen oder sich gemeinsam ein Buch vornehmen, wenn sie ihre Kinder zum Malen und später zum Schreiben anregen, dann gewinnen Kinder später als Jugendliche und Erwachsene einen höheren Grad an Selbständigkeit und Unabhängigkeit (Autonomie), egal ob es um die Aneignung oder das Weitergeben von Wissen und Erfahrung geht. Werden Kinder in der Informationsvermittlung nicht angeleitet, dann werden sie rasch anfällig für „Berieselung“: In den Zeichentrickfilmen des Fernsehprogramms folgen spannende Höhepunkte Schlag auf Schlag; Computerspiele halten die Kinder durch immer neue Qualifikationsstufen im Bann, sie spiegeln scheinbare Lernerfolge vor und stiften dazu an, immer mehr Zeit von anderen sozialeren Beschäftigungen abzuziehen. Im Internet-Chat bahnen professionelle „Teilnehmer“ systematisch künstliche Beziehungsflirts an und halten eine „verführerische Beziehung“ am Laufen. 2 FAMILIÄRE KRISEN Fernsehen und Computerspiele sind mittlerweile derart gut auf die (meist kurze) kindliche Konzentrationsspanne abgestimmt, dass es die Kinder rasch aufgeben, sich selbst zu beschäftigen, von sich aus Interessen zu entwickeln oder auf Andere zuzugehen. Viele Kinder sind stattdessen physisch und psychisch abhängig von durch Medien gesteuerter Beschäftigung, die ihre Lebens-, Erlebnis- und Lernzeit regelrecht verschlingen. Extreme Fälle – Kinder und Jugendliche mit Schulunlust, verschobenem Tag-Nacht-Rhythmus und durch chronischen Schlafmangel bedingte depressionsähnliche Symptome – werden immer häufiger. Die hier aufgeführten sechs Lehr- und Lern-Methoden verwenden alle Eltern, gleichwohl mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die einen bewusster, die anderen eher intuitiv. Eltern, die ihre sehr verantwortungsvolle Aufgabe ernst nehmen, fördern in ihrer Familie eine Haltung der Begegnung und des Zuvorkommens: „Am Familienleben sind wir alle gleichermaßen beteiligt. Aus Erfolgen wie aus Fehlern können wir gemeinsam lernen. Es geht uns um ein nachhaltig gutes Miteinander“. Wenn Eltern diesen Grundsatz verlassen und Begegnung als „Gegnerschaft“ und Zuvorkommen als „Gewinn auf Kosten des Anderen“ missverstehen, dann streben sie unweigerlich auseinander. Dies verunsichert neben den Eltern alsbald auch die Kinder. Kaum ein Kind kommt umhin, in seinen Leistungen nachzulassen, wenn seine Eltern sich lange streiten oder sich gerade getrennt haben. 2. Emotionale Störungen Jüngere Kinder sind, wenn die Familie auseinandergeht, häufig trennungsängstlich und gehen allgemein weniger offen auf andere zu. Wird noch lange über den Umgang (d.h. den Kontakt mit dem Elternteil, bei dem die Kinder nicht dauerhaft leben) gestritten, dann kommen viele von ihnen in Not, wenn sie vom einen zum anderen Elternteil gehen wollen oder sollen. Sie fühlen sich zerrissen zwischen ihren eigenen Gefühlen gegenüber beiden Eltern und der Wahrnehmung, dass die Eltern einander nicht mehr mögen. Wenn Eltern dies bemerken, sollten Sie den Umgang flüssiger gestalten, vor allem indem sie dafür sorgen, dass die Eltern einander zumindest wieder die Hand geben, sich über ihre Kinder austauschen und gemeinsam über sie freuen können. Die Kinder verstehen dadurch, dass sie beide Eltern weiter lieben und unbeschwert besuchen dürfen. In der Tat haben manche Kinder Mühe mit dem Umgang. In aller Regel sind sie aber, sobald sie sich SEITE 21 beim anderen Elternteil befinden, glücklich, zufrieden und entspannt. Das Aussetzen des Umgangs, das meist vordergründig mit diesen vorübergehenden Anpassungsstörungen der Kinder begründet wird, ist nicht selten nur eine weitere Eskalation zwischen den zerstrittenen Eltern. (Über ähnliche kurzzeitige Irritationen berichten auch Erzieherinnen oder Lehrer, wenn Kinder sich am Eingangstor des Kindergartens oder der Schule nur widerstrebend trennen. Würden Eltern den Besuch des Kindergartens oder der Schule deshalb aussetzen?) Die Trennung und die damit verbundenen starken Gefühlsausbrüche der Eltern – Wut, Verzweiflung, Trauer, Angst – beziehen v.a. jüngere Kinder immer wieder auch auf sich selbst. Sie fragen sich, ob sie Schuld haben, werden traurig und ziehen sich zurück. Wieder andere orientieren sich im ständigen familiären Spannungsfeld besser, indem sie ihren Eltern gegenüber extrem zurückhaltend bis nichtssagend und gefühlsarm auftreten. Auch diese Haltung kann sich verfestigen und andere Beziehungen stören. 3. Störungen im Sozialverhalten Besonders Jungen nehmen die durch die Eltern vorgelebte Streitbarkeit leicht selbst an und agieren gleichzeitig ihre Frustration über die tagtägliche „dicke Luft“ aus; sie können innerhalb wie außerhalb der Familie aggressiv und verletzend werden. Kein Wunder: Auf Dauer misstrauen Kinder Erwachsenen, wenn diese ihre erzieherischen Vorgaben, Strukturen, Grenzen und Umgangsregeln selbst nicht einhalten. Manche Kinder versuchen immer wieder, es jedem der elterlichen Gegner recht zu machen. Sie erweitern dies auch auf die Schule und andere soziale Bezüge, und der ständige Versuch, Erwachsenen gefällig zu sein, isoliert sie rasch in ihrer Altersgruppe. Zerstrittene Eltern tauschen sich meist wenig über erzieherische Belange aus. Einige Kinder fangen dann an, ihre Eltern gegen einander auszuspielen. Sind sie erfolgreich, dann probieren sie Unehrlichsein und Manipulation alsbald auch anderweitig aus. Eltern, die mit hoher Energie nach Fehlern beim anderen Elternteil suchen, forschen zu diesem Zweck nicht selten auch ihre Kinder aus – und stellen ihnen damit eine Falle: Die Kinder können es drehen wie sie wollen, eine Seite „verraten“ sie immer. Durch Antworten – diese mögen wahr sein oder nicht, das spielt in diesem Augenblick keine große Rolle – können sich die Kinder kurzfristig von diesem erheblichen Druck entlasten, und sie werden für Schein-Loyalitäten häufig auch direkt oder mittelbar belohnt. Unter diesen Umständen lernen Kinder zu übertreiben, „misszuverstehen“ oder selbst mehrdeutig zu antworten, wenn es um familiäre Geschehnisse geht. In der kindlichen Entwicklung ist jede Wiederholung eine 2 FAMILIÄRE KRISEN Lernübung – auf diese Weise kann auch hinterhältiges bzw. intrigantes Doppelspiel antrainiert werden. 4. Entfremdung Die meisten Kinder zerstrittener Eltern geraten in einen Loyalitätskonflikt: Ihrer Mutter gegenüber dürfen sie nicht zeigen, dass sie ihren Vater lieben und umgekehrt. Manche Kinder halten diese Belastung nicht aus und meiden von sich aus lieber den Kontakt zu einem der beiden Elternteile. Diese quasi erzwungene einseitige Loyalität kann ein Kind emotional dauerhaft verunsichern, etwa wenn in ihm ein tieferes Gefühl von Unehrlichkeit, Schuld und mangelndem Vertrauen verbleibt. Ungenügender Umgang sowie offene und systematische Abwertung des umgangsberechtigten Elternteils durch den Elternteil, bei dem das Kind wohnt (selten umgekehrt) kann zu erschreckenden Symptomen führen, die auch Sozialarbeiter und Therapeuten, Anwälte und Richter nicht unberührt lassen: Das Kind lehnt und wertet den entsprechenden Elternteil von sich aus ab und greift ihn spontan an. Es relativiert nicht, es bezieht sich nicht auf überprüfbare Tatsachen, es ist unbeirrbar. Absurde Rechtfertigungen müssen dafür herhalten, und das Kind behauptet gleichzeitig, seine Sicht sei unbeeinflusst. Das Kind benimmt sich so rüde, verletzend und abweisend wie keinem anderen Erwachsenen gegenüber, und es sieht darin keinen Fehler. Es weitet seine Ablehnung auch auf Freunde und Verwandte des betroffenen Elternteils aus. SEITE 22 Im Kontrast dazu stimmt es dem anderen Elternteil (meist demjenigen, beim dem das Kind wohnt) in allen Belangen zu, egal worum es geht. Das Kind stellt „ausgeliehene Szenarien“ nach, d.h. zu Hause häufig verwendete bzw. eingeübte Ausdrücke und Verhaltensweisen. Einzelne Facetten dieses Verhaltens sind häufig zu sehen. Es kann je nach Zeit, Ort und Kind (auch unter Geschwistern!) rasch wechseln, und Verleumdungen können zu erheblichen Angst- und Hassgefühlen führen. Eine derartige kaum zu korrigierende Entfremdung eines Kindes gegenüber einem seiner Elternteile (Sturge, Glaser 2000) tritt nur unter den Umständen einer chronisch feindseligen Trennung seiner Eltern auf. Ende der neunziger Jahre kam hierfür der Begriff des „Elterlichen Entfremdungssyndroms“ auf („Parental Alienation Syndrome“; Gardner 1998), von dem man sich aus unterschiedlichen Gründen wieder abwandte. Heute gilt als gesichert, dass zur schweren kindlichen Entfremdung beide Eltern beitragen, und dass dieses Verhalten auch mit der vorherigen Entwicklung des Kindes zusammenhängt. Kinder, die ihren Vater oder ihre Mutter nicht mögen, können im Einzelfall dafür auch gute Gründe haben, etwa wenn ein Kind erhebliche Auseinandersetzungen, Gewalt oder Missbrauch sieht oder an sich selbst erfahren musste. Elterlicher Streit: Ein Behandlungsfall Die weitaus meisten Kinder wünschen sich inständig, dass ihre Eltern zusammen bleiben und sich einigen, notfalls indem sie Hilfe annehmen. Sie fühlen, dass dies eigentlich ihr gutes Recht ist, zumal neben den unweigerlich eintretenden Risiken einer Trennung (S. 19) ihre Entwicklung nun in besonderem Maße von den Fähigkeiten desjenigen Elternteils abhängt, bei dem das Kind verbleibt. Manche Mutter und mancher Vater gewinnen deutlich an Erziehungskompetenz, wenn sie bzw. er die Anspannung und den Streit ihrer unglücklichen Beziehung los sind. Verbleibt ein Kind aber bei einer bzw. einem dauerhaft unglücklichen, unterversorgten oder gesundheitlich beeinträchtigten Alleinerziehenden, dann gehen dem Kind mehr Unterstützung, Struktur, Aufsicht und Fürsorge verloren, als wenn das – nicht eben glückliche – Paar zusammen geblieben wäre. Eltern, die sich chronisch streiten, können daher ihre Kinder in bestimmten Fällen immer noch fördern, wenn sie – aufgrund minimaler Einigkeit zugunsten ihrer gemeinsamen Kinder – wenigstens zusammenbleiben. Internationale Studien zum Schutz vor seelischen Störungen bei Kindern empfehlen heute dringend, schon vorsorglich auf streitende oder gerade getrennte Eltern zuzugehen. Eine verpflichtende Beratung ließe sich nur durchsetzen, wenn Gesetze verändert werden. Für die Klientengruppe der Scheidungsfamilien sollten flächendeckende regionale Beratungsstrukturen mit den folgenden Aufgaben geschaffen werden: Die Berater sollten Wegweiser zu unterschiedlichen Hilfeangeboten anbieten: Beratung, Mediation (professionelle Vermittlung), Familien- oder Paartherapie, Antiaggressionstraining bis hin zur Tätertherapie, Kognitive Verhaltenstherapie oder psychiatrische Behandlung von Mitgliedern der Familie. 2 FAMILIÄRE KRISEN Ein Wegweiser muss auch über den Zugang und ggf. Wartezeiten Auskunft geben. Die Eltern sollten gleich zu Anfang nach ihrem Veränderungswillen befragt werden und dazu angehalten werden, an den Expartner realistische Erwartungen zu stellen. Die Eltern müssen sich zudem über die Behandlungsdauer einigen. Kinder verstehen häufig nicht, was sie mit dem Konflikt ihrer Eltern zu tun haben – zu Recht: Solange Elternthemen behandelt werden, sollten Kinder außen vor bleiben. Nach einer Trennung, so verlässliche Forschungsergebnisse, tragen getrennte Ex-Partner zur guten Entwicklung ihrer Kinder weiter bei, wenn sie den alleinerziehenden Elternteil unterstützen. Die professionelle Behandlung sollte im Konkreten bleiben, damit sie allen Beteiligten auch unmittelbar hilft. Die Empfehlungen für das Miteinander nach der Trennung sollten sich in der Regel auf beide Parteien gleichermaßen beziehen. SEITE 23 Im Gestrüpp von chronischem Streit sind Tipps oder Hilfen von außen nicht immer vorbehaltlos willkommen, denn Fragen der Parteilichkeit und der Kränkbarkeit stehen immer mit im Raum. Ernsthaft gefährdet sind indes diejenigen Kinder, die schwere Feindschaft und Hass, Vernachlässigung oder Gewalt ertragen müssen, die sich selbst als Auslöser der Auseinandersetzung sehen, oder deren Eltern nach ihrer Trennung mit hoher Energie weiter streiten. Diesen meist schwer leidenden Kindern hilft die Trennung der Eltern und manchmal auch eine Aussetzung des Umgangs (Dunn 2004). Wenn – vor allem auch bei der Übergabe – Spannungen und Streit entstehen, dann helfen manchmal längere Umgangszeiten. Entfremdung spricht teilweise auf Mediation (professionelle Vermittlung zwischen den zerstrittenen Eltern) und Familienberatung an. In extremer Form ist Entfremdung manchmal unheilbar. Elterlicher Streit vor Gericht In besonders schweren Fällen, die vor Gericht verhandelt werden, bittet das Gericht fachlich versierte Therapeuten hinzu, welche die betroffenen Familien begutachten sollen. Das Gericht wünscht sich fachlichen Rat bei der Frage, wer das Sorgerecht ausüben soll, wie das Umgangsrecht gestaltet werden soll und ob möglicherweise das Kindeswohl gefährdet ist. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Rotenburg stellt in diesem Falle fachlich versierte und renommierte Fachgutachter zur Verfügung. Diese befragen beide Elternteile und widmen sich intensiv der Entwicklung der betroffenen Kinder. 2 FAMILIÄRE KRISEN 2.3. SEITE 24 Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder Vorkommen Reifungsdynamik Mit psychisch kranken Eltern sind unterschiedliche Institutionen befasst: Kinder übernehmen früh Verantwortung für familiäre Belange, und sie dienen manchmal ohne es zu wollen auch als Partnerersatz. In der Familie werden zudem Konflikte weniger offen und konstruktiv ausgetragen, so dass rasch Krisenstimmungen entstehen. In der Psychiatrie hat jeder fünfte Erwachsene Kinder. (Jeder zweite von ihnen lebt getrennt vom anderen Elternteil.) Nach verschiedenen Schätzungen sind in Deutschland 2-500.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Bei mehr als jedem fünften betroffenen Kind sind neben Eltern auch die Großeltern erkrankt. Im Jugendamt hat jedes zehnte Kind, das Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz bekommt, eine Mutter oder einen Vater mit einer psychischen Störung oder Erkrankung. Die Dunkelziffer wird als hoch eingeschätzt. Familienrichter haben mindestens in einem Viertel aller Sorgerechtsverfahren mit psychisch kranken Eltern zu tun. Typische Risiken Elementare Lebensgrundlagen (Ressourcen): Familien mit psychisch kranken Eltern verfügen über knappe Finanzen, die Eltern sind häufig arbeitslos. Beeinträchtigte Bindungen: Streit und Trennung sind einerseits eine Ursache für Störungen, sie können aber auch eine Folge der psychischen Erkrankung sein. Die Kinder alleinerziehender psychisch kranker Elternteile sind besonders gefährdet. Eingeschränkte Verantwortlichkeit: Psychisch kranke Eltern verletzen teilweise gesellschaftliche Normen (z.B. Straftaten, Drogenkonsum). Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Kindern psychisch kranker Eltern Individuelle psychobiologische Ressourcen: Kinder psychisch erkrankter Eltern ziehen sich häufiger zurück und tauschen sich weniger aus. Sie sind besonders sensibel für Spannungen und Störungen. Sie übernehmen schon früh familiäre Aufgaben. Bindungsfunktionen: Die betroffenen Kinder erleben häufiger unklare Bindungsangebote. Da psychisch kranke Eltern Wahrnehmungen, Äußerungen und Handlungen teilweise nicht angemessen regulieren, verfügen sie häufig über ein geringeres Einfühlungsvermögen; im schlimmsten Fall wird ein Kind vernachlässigt. Bewusstsein und Verantwortung: Kinder weisen sich häufig die Schuld für familiäre Störungen zu. Allgemeines Vorgehen Die erkrankten Mütter bzw. Väter, die Kinder selbst, die Angehörigen und auch die Behandelnden sollten einige Richtlinien und allgemeine Ziele beachten: Die betroffene Mutter bzw. der betroffene Vater begibt sich rasch und zuverlässig in Behandlung und sorgt damit für sich selbst. Er bleibt für seine Kinder verlässlich, und er stellt seine Fähigkeiten und Stärken so weit wie möglich zur Verfügung. Der Blick auf die kindliche Entwicklung muss durch die eigene psychische Erkrankung nicht verstellt sein. Die Angehörigen stärken die Beziehungen der Kernfamilie, solange dies dem Kind nicht schadet. Wenn der zweite Elternteil nicht zur Verfügung steht, sollte dem Kind für die Dauer des Ausfalls seiner Hauptbezugsperson ein Pate zur Verfügung stehen. Die Angehörigen erklären dem Kind die Krankheit und ermuntern es, seine Fragen und Zweifel, Sorgen und Ängste zu äußern. Sie achten darauf, das Kind im Alltag weder zu über- noch zu unterfordern. Sie beteiligen das Kind an Entscheidungen. Sie sorgen für die gewohnten Alltagsstrukturen und setzen wie gewohnt klar und konsequent Grenzen. Nachlässiges oder mitleidvolles Gewähren lassen setzt falsche Signale für die Entwicklung von Eigenverantwortung. Die Kinder bzw. Jugendlichen selbst haben normale Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, die sie trotz der familiären Belastung nicht vernachlässigen dürfen. Sie sind weder „Therapeuten“ der Eltern noch deren „einzige Vertrauensperson“. Sie suchen sich Familienangehörige oder Bekannte, bei denen sie Anerkennung und Trost, Hilfe und Information finden, und der durch die Erkrankung betroffene Elternteil muss dabei nicht ausgespart werden. Gleichzeitig sollten gemeinsam bessere Bewältigungsmöglichkeiten gefunden werden. Wenn ein Kind Hilfe benötigt, sollte mit der Behandlung nicht lange gewartet werden. 2 FAMILIÄRE KRISEN SEITE 25 Behandlungsziele Behandlungsmittel Die professionellen Helfer bewahren familiäre und außerfamiliäre Bindungen, begrenzen Eltern-KindTrennungen auf das notwendige Ausmaß und sorgen ggf. für Paten. Das therapeutische und pflegerische Personal der Erwachsenenpsychiatrien sollte für die Lage der Kinder sensibilisiert werden. Sie sind neugierig auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten (Ressourcen) und die individuellen Bewältigungsformen des Kindes und seiner Familie; die Stärken können besser für die Gesundung genutzt werden als etwaige Mängel. Die Behandlungsziele müssen gegliedert werden in Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Erkrankten, der Angehörigen, der Professionellen (Schule, Jugendhilfe, Therapie) und der Kinder. Die Eltern werden dazu angehalten, die Kinder über die Störung aufzuklären und zu unterstützen. Elterngruppen sind hierfür sehr förderlich. Familiengespräche dienen u.a. zur Information und zur Öffnung von Tabufragen. Die Kinder sollten wöchentlich separat einzeln und möglichst auch in Gruppen betreut werden. Eine offene Sprechstunde und ein regelmäßiger telefonischer Kontakt sollten das Angebot ergänzen. 2 FAMILIÄRE KRISEN 2.4. SEITE 26 Alkoholabhängigkeit bei Eltern Alkohol verursacht schon rascher, als die meisten denken, gesundheitliche Schäden. Bei Männern gilt dies schon ab einem Konsum von über 30g Alkohol täglich, für Frauen gilt ein Grenzwert von 20g. Durch fehlendes Zuhören, falsche Wortwahl und Provokation kommt es zwischen den Eltern zu mangelhafter Abstimmung oder Streit über die Erziehung. Getränkeart Alkoholgehalt Mindestmenge Alkohol Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen beeinträchtigen die Verfassung des alkoholabhängigen Elternteils. Spirituosen 40% und mehr Wein 12-13% Bier 4% und mehr an 20g Alkohol in 50ml-Glas 90g Alkohol in 750ml-Flasche Mind. 20g Alkohol in 500ml-Flasche Die schwere Alkoholerkrankung mit häufiger Vergiftung ist von außen auf den ersten Blick zu erkennen. Häufige Trunkenheit schlägt direkt auf die Erziehungsmethoden durch; sie beeinträchtigt zudem die Gefühlswelt der Familie und verhindert die Reifung des alkoholabhängigen Elternteils. Indirekt wirken auch die zugehörige Depression, die wirtschaftlichen Belastungen und die schlechte körperliche Verfassung des betroffenen Elternteils. Viel häufiger kommt aber der schädliche Gebrauch von Alkohol vor, d.h. das verdeckte Trinken im Übermaß. Daher treten die Folgeprobleme dieser nicht offensichtlichen (subklinischen) Alkoholerkrankung viel häufiger auf: Durch offensive Handlungen, z.B. Flirten mit anderen, unangenehme, peinliche oder verbal bzw. tätlich aggressive Äußerungen oder Handlungen sowie durch kriminelles Verhalten entstehen häufig Familienkrisen. Auf diese Weise entstehen auf indirektem Wege chronische Missstimmungen, die sich krisenhaft ausweiten können und die Familie als Ganzes in Gefahr bringen können. Trinken wird nicht durch Konflikte ausgelöst, sondern die Konflikte sind eine Folge des Trinkens. Ein kurzer Test mit drei Fragen hilft einzuschätzen, ob ein Elternteil gefährdet ist und deshalb professioneller Hilfe bedarf: Tabelle 4: AUDIT-C-Screening-Test 1. Wie oft trinken Sie Alkohol? Nie Einmal im Monat oder seltener Zwei- bis viermal im Monat Zwei- bis dreimal die Woche Viermal die Woche oder öfter 0 1 2 3 4 3. Wenn Sie Alkohol trinken, wie viele Gläser trinken Sie dann üblicherweise an einem Tag? (Ein Glas entspricht 0,33 l Bier, 0,25 l Wein/Sekt, 0,02 l Spirituosen.) 1 bis 2 Gläser pro Tag 3 bis 4 Gläser pro Tag 5 bis 6 Gläser pro Tag 7 bis 9 Gläser pro Tag 10 oder mehr Gläser pro Tag 0 1 2 3 4 4. Wie oft trinken Sie sechs oder mehr Gläser alkoholischer Getränke bei einer Gelegenheit (zum Beispiel beim Abendessen, auf einer Party)? (Ein Glas entspricht 0,33 l Bier, 0,25 l Wein/Sekt, 0,02 l Spirituosen.) Nie Seltener als einmal im Monat Jeden Monat Jede Woche Jeden Tag oder fast jeden Tag 0 1 2 3 4 Ein erhöhtes Risiko und daher die Notwendigkeit unmittelbar zu handeln besteht ab einem Gesamtpunktewert von 4 bei Männern und 3 bei Frauen. SEITE 27 3. Störungen bei Kindern und Jugendlichen Krankheiten werden nach einer international gebräuchlichen Klassifikation (ICD 10) eingeteilt. Die psychiatrischen Störungen beginnen mit dem Buchstaben F, gefolgt von Ziffern. 3.1. Drogenmissbrauch Was bedeutet Sucht? Bedingungen und Ursachen Sucht (ICD 10: F1x) ist eine komplexe körperliche, psychische und soziale Erkrankung, welche die Persönlichkeit des Menschen und sein soziales Netzwerk betrifft, beschädigt und, wenn sie lange genug wirkt, zerstört (WHO). Sie entsteht im Zusammenspiel Drogenmissbrauch geschieht nie ohne drogenmissbrauchende Freunde und “Abhängen“! des Betroffenen mit seinen Risikofaktoren und seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Ressourcenstatus) Weitere Risiken sind Beziehungsstörungen und Trennungen, Leistungs-, Verhaltens- und emotionale Störungen. mit den Drogen, welche Unlust rasch in Lust und Befriedigung verwandeln können und der Umwelt bzw. der Gesellschaft mit ihren Angeboten und Normen. Definition: Nach ICD10 wird neben der konsumierten Substanz weiter unterschieden (x steht für die jeweilige Substanz; s. S.28): F1x.0 Akute Vergiftung: Akuter Rausch mit Beeinträchtigung des Bewusstseins. Hochriskant sind (a) eine frühe Störung des Sozialverhaltens, (b) süchtige Familienangehörige und (c) eine leichte Zugänglichkeit von Drogen. An Drogen kommt man nie ohne entsprechende „Freunde“ und „Abhängen“! Erst der Drogenkonsum, dann depressive oder psychotische Symptome, in aller Regel nicht umgekehrt! Diagnostik mit Die Behandelnden widmen sich zunächst den nachfolgend beschriebenen diagnostischen Fragen und Aufgaben. Es geht auch darum, die Motivation zur Veränderung zu klären. F1x.2 Abhängigkeit: Toleranzentwicklung (Gewöhnung an immer höhere Drogendosen), beruflicher und sozialer Abstieg (Desintegration). Erhebung des üblichen Tagesablaufs mit Handlungen, Stimmungen und Gefühlen. F1x.1 Schädlicher Gebrauch: Gesundheitsschädigung. Konsum Weitere Störungen umfassen das Entzugssyndrom, das Delir, die Psychose, den Gedächtnisverlust (Amnesie) sowie Restzustände. Vorkommen Die Häufigkeit Abhängiger in Deutschland gibt die folgende Tabelle wieder: Droge Nikotin Alkohol Cannabis (THC) Medikamente Weitere Drogen Mio. Abhängige in BRD 4 1,5 2-4 1,1-1,4 0,1-0,3 Drogenanamnese: Fragen nach Beginn und Verlauf des Konsums, nach Stoffen, Menge, Art der Gabe, Wirkung und Clean-Phasen. Befindet sich der Patient bei der Vorstellung beim Arzt unter Drogeneinfluss? Gibt es körperliche Folgeerkrankungen, z.B. Krampfanfälle, Hepatitis, HIV und Tuberkulose, Vergiftungen. Sucht, psychiatrische und körperliche Erkrankungen der übrigen Familie. Auch die Vorbehandlungen und vorbestehende oder aktuelle Strafverfahren sind zu erheben. Häufig führen diese erst zur Behandlung. Untersuchung: Allgemeinzustand und Ernährung, Einstichstellen, Gynäkologie, Neurologie, psychischer Befund. Labor: Drogenscreening, HIV- und Hepatitisstatus, Geschlechtskrankheiten. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN SEITE 28 Tabelle 5: Drogen Substanz Wirkung F10 Alkohol angstlösend, euphorisierend, erhöhte Unfallgefahr, oder traurig machend, ent- tung mit Todesfolge hemmend (kontaktfreudig bis aggressiv), Sprachverlust F11 Opiate: Opium, Morphin, Heroin, Codein, Methadon, Fentanyl Gesteigertes Selbstbewusst- hohes Risiko der Überdosiesein, Schmerztoleranz, tiefe rung bei intravenösem Konsum unbeschwerte innere Ruhe, "orgiastische" Glückseligkeit Konzentrationsstörung, Abstumpfung, Verlust des Selbstvertrauens mit Isolation und Suizidgefahr, HIV- und Hepatitis, Straffälligkeit, Prostitution, Verwahrlosung F12 Cannabinoide individuell unterschiedlich, zu- Unfallgefahr, Angst- und Paniknächst meist Wohlbefinden, zustände bis hin zu HorrorvisiOffenheit, Euphorie, Gesprä- onen, Psychose chigkeit, später Antriebsverlust, Stimmungsumschwung, Sinnestäuschungen, Veränderung des Raumgefühls Siehe Nikotin, Nachlassen der Konzentrationsund Leistungsfähigkeit, Lethargie, seelische Entwicklungsstörungen, Depression, Flashbacks (Nachhallerinnerungen) F13 Analgetika (Schmerzmittel) Beruhigend (sedierend) F13 Barbiturate (Schlafmittel) dämpfend und euphorisierend, Unfallgefahr; s. Analgetika "Sorgenbrecher" F13 Benzodiazepine dämpfend und euphorisierend, Gleichgewichtsstörungen, Ver- s. Analgetika angstlösend lust der Bewegungskontrolle, s. Analgetika (Beruhigungsmittel) F14 Kokain: Derivate: Crack, Freebase; Amphetamine: Speed, Glass akute Gefahren Langzeitfolgen Vergif- Organschäden (Leber, Herz, Pankreas, Nerven, Gehirn), Depressionen Koordinationsstörungen, Risiko Bewusstseinstrübung der Überdosis, v.a. mit Alkohol Abstumpfung, Depressionen, Wahnvorstellungen, lebensgefährliche Entzugssymptomatik Wohlbefinden, Größenfanta- Risiko der Überdosierung mit Nasenschleimhautschädigung, sien, gesteigerte Leistungsfä- Kreislaufkollaps und Herzstill- Depressionen, Ängste bis zur higkeit, Steigerung der Libido stand, Schlaganfall, Psychose, Psychose Panikattacken F15 Entaktogene: Stimulierend, seelisch ausglei- Risiko durch Unkenntnis der Ecstasy (XTC, chend, Kontaktfreude, Halluzi- Dosis und Zusammensetzung, MDMA) nationen, erhöhte Ausdauer Muskelkrämpfe, Fieber, Wasserverlust; Diabetiker und Epileptiker sind besonders gefährdet Beeinträchtigung der Nervenleitung, Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit, Depressionen, Suizidalität, Gewichtsverlust, verringerte seelische und körperliche Leistungsfähigkeit F16 HalluzinoHalluzinationen, Entpersonali- Unfallgefahr, Allmachtsillusio- Apathie, gene: LSD, Mesierung, "Bewusstseinserwei- nen, Fehlhandlungen (Glaube, verlust scalin, Psilocybin terung", Horrortrips, langanhal- fliegen zu können), Psychose tende Flashbacks (Nachhallerinnerungen) Isolation, Realitäts- F17 Nikotin Verengung der Blutgefäße; be- Übelkeit, Schwächegefühl, ruhigend, entspannend, anre- Schweißausbrüche, Blutdruckgend, erhöhte Konzentration, krise angst- und spannungslösend F18 Lösungsmittel dämpfend und euphorisierend, Übelkeit, Erbrechen, Tod durch Schläfrigkeit, Psychose, Koorpränarkotisch Herz- oder Atemstillstand dinations- und Sehstörungen, Angstzustände, neurologischpsychiatrische und internistische Sekundärerkrankungen Verringerte Leistungsfähigkeit, Schäden an Herz, Kreislauf, Atmungsorganen, Lungen-, Kehlkopf- und Mundhöhlenkrebs 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN SEITE 29 Therapie Behandlungsziele: Es geht darum, körperliche Schäden zu mindern oder zu heilen, eine soziale Umgebung wieder aufzubauen und zu sichern, Abstinenzphasen zu verlängern, mit Suchtdruck („Craving“) umgehen zu lernen und riskanten Umständen aus dem Weg zu gehen. Behandlungsschritte: 1. Bindung: Abhängige fassen eher Vertrauen, wenn sie Bedenkzeiten bekommen und gut informiert werden. Wertungen und moralische Appelle sind unnötig, denn diese werden den Süchtigen von allen Seiten vorgehalten. Rückfälle dürfen die Behandelnden nicht enttäuschen – sie gehören zum Krankheitsbild! Gruppen- und Familientherapie sind sehr hilfreiche Ansätze. 2. Ressourcen: Der Therapeut sollte die Bemühungen und Erfolge des Patienten anerkennen und mit ihm gemeinsam weitere Lösungsschritte erarbeiten. Die Reintegration in die Gesellschaft (Ausbildung, Arbeit, Freunde, Partnerschaft, Ausbildung von Interessen) ist das wichtige Fernziel, dem vielfach zunächst unmittelbar gesundheitssichernde Maßnahmen vorangehen. 3. Verantwortung: Primär ist die Arbeit an der Motivation (die häufig durch drogenbedingt kreisendes Denken stark beeinträchtigt ist). Später müssen gemeinsame konkrete und machbare Ziele vereinbart werden. Selbststeuerung und Selbstverstärkung sind wichtige Techniken. Behandlungsphasen: Zunächst geht es um eine Verringerung der akuten sozialen und gesundheitlichen Risiken, später folgt eine Motivationsphase, die Entgiftung, die Entwöhnung, die Rückfallprophylaxe bzw. –behandlung sowie die Miteinbeziehung bzw. Behandlung der Beteiligten im Umfeld des direkt Betroffenen. Vorbeugung: Nur Kampagnen, die in die Breite gehen, sind wirksam, v.a. in der Schule und im Kindesalter. Jeder Konsum muss ernst genommen werden! Eine verringerte Leistungsfähigkeit und ein gestörtes Gefühlsleben (kognitive und eine emotionale Störung) sind bei Drogenabhängigen immer vorhanden! Cannabis erhöht das Psychoserisiko um das Sechsfache! Durch Drogenkonsum bzw. Missbrauch egal welcher Substanz steigt die Sterblichkeit erheblich! 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.2. SEITE 30 Anpassungsstörungen Bedeutende Entwicklungsschritte (der Schulanfang, ein Umzug) oder kritische Entwicklungsphasen (das Ende einer Freundschaft, ein herber Misserfolg) können das Leben des Betroffenen entscheidend verändern. Viel einschneidender aber wirken so katastrophale Ereignisse wie der Tod der Mutter, Kriegserlebnisse, schwere Verletzungen, die Trennung der Eltern oder Gewalterfahrungen. Diese Vorkommnisse greifen tief in den Entwicklungsraum des Betroffenen ein, sie beeinträchtigen meist alle drei grundlegenden Entwicklungsstrukturen gleichzeitig: Bindungen gehen verloren, Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten) werden beeinträchtigt und das Empfinden eigener Verantwortlichkeit wird gestört (z.B. geben sich Kinder die Schuld für derartige Ereignisse). Die Diagnose einer Anpassungsstörung (ICD10: F43) bezieht sich vor allem auf die Ursache, weniger auf die Symptome. Sie wird gestellt, wenn als sicher gilt, dass die Symptome durch ein zeitlich umschriebenes Ereignis ausgelöst worden sind. D.h. diagnostisch ist immer zu klären, ob die auffälligen Symptome, Verhaltens- und Handlungsweisen schon vor dem fraglichen Ereignis bestanden haben. Die Reaktion des Einzelnen auf derartige Ereignisse hängt ab 1. von der Art, vom Ausmaß und der Nähe sowie der Anschlussfähigkeit bzw. der Vermittelbarkeit des Ereignisses, 2. von den sonstigen Entwicklungs- und Lebensbedingungen sowie den erworbenen Ressourcen und Bewältigungsstrategien des individuellen Betroffenen, 3. von der Fähigkeit der Bezugspersonen und ggf. der Helfer, dem Betroffenen rasch wieder Sicherheit zu geben. Die objektive oder subjektive Bedrängnis, unter der die Betroffenen leiden, die körperliche oder emotionale Beeinträchtigung und die verringerte Leistungsfähigkeit äußern sich in einem Gefühl der „Betäubung“, in eingeschränkter Reaktionsfähigkeit, Desorientiertheit, Unruhe, Angstzuständen, Stimmungsschwankungen, Albträumen, Flashbacks (Nachhallerinnerungen: die Betroffenen werden durch die Erinnerung an das Ereignis tranceartig überwältigt), Traurigkeit, Sorge, Mutlosigkeit oder Rückzug, Wut und Aggressivität. Anpassungsstörungen sind die Folge schwerer (akuter) kritischer Lebensereignisse bzw. Traumata. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.3. SEITE 31 Dissoziative Störungen Eine Dissoziation (ICD10: F44) ist eine Wahrnehmungsstörung, bei der Realität und Fiktion ineinander übergehen. Die betroffene Person lebt ihr Gefühl bzw. ihre Vorstellung aus, dass sich ein schweres Lebensereignis oder ein Trauma, das ihr soeben widerfahren ist, äußerlich (im Sinne einer wahnähnlichen Wahrnehmung) oder körperlich manifestieren müsste. Sie berichtet z.B. „ich sehe einen schwarzen Mann in der Tür“, „ich habe Bauchschmerzen“, „ich kann mich an nichts mehr erinnern“, „ich kann nicht mehr laufen“. Die betroffene Person möchte oder kann sich von diesem Glauben nicht lösen, und ihr Leidensdruck ist offensichtlich. Früher wurde dieses Symptom „hysterisch“ genannt, und in der Tat haftet dieser Störung etwas Vorgeblich-Inszeniertes an, ohne dass darüber immer ganz sicher zu entscheiden ist. Viele Betroffene haben vorher erhebliche objektive Bedrohung bzw. subjektive Angst erfahren, etwa durch psychisch gestörte oder süchtige Eltern, Gewalterlebnisse oder gestörte familiäre Bindungen. So wird ein Kind z.B. grundlegend verunsichert, wenn es von seinen Bezugspersonen teils liebevolle Zuwendung und Wohlwollen, teils plötzlich und ohne erkennbaren Anlass erhebliche Abwertung erfährt (Ambivalenz). Am ehesten wird über „innere Stimmen“ berichtet, die zu Aggressivität gegenüber sich selbst oder anderen drängen, die warnen oder die wohlwollend sind. Sie kommen vor allem im Zustand gelockerter Assoziation auf, d.h. um die Zeit des Zubettgehens oder beim Aufwachen in der Nacht. Diese subjektiv bedrohlichen Zustände können bis hin zu Suizidideen eskalieren. Abgrenzung zu ähnlichen Störungen: Die Halluzination bei einer Psychose lässt sich dadurch abgrenzen, dass der Betroffene an das glaubt, was er angeblich hört oder sieht. Demgegenüber weiß bei einer Dissoziation der Betroffene, dass ihn seine Wahrnehmung trügt. Ein nächtlicher oder Tagtraum grenzt sich dadurch ab, dass man sich von einem Albtraum rasch lösen möchte und auch kann. Dies ist bei einer Dissoziation anders. Therapie: Werden akut oder chronisch bedrohliche oder unauflösbar zweideutige (hochambivalente) Zustände von der Familie konsequent therapeutisch in Angriff genommen, dann lässt sich die Dissoziation mit Hilfe von Gesprächen und Entspannung rasch beseitigen. Eine Therapie, welche die Belastungen des Umfelds außer acht lässt, ist in der Regel erfolglos. Die Fähigkeit zu bewusster Kontrolle der Dissoziation schwankt stark (täglich, stündlich). 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.4. SEITE 32 Psychosen Definition und Entstehung Über Halluzination und Wahn, die Hauptsymptome der Psychose (ICD10: F20), wurde schon viel spekuliert: Ist der Betroffene „besessen“? Liegt eine Gehirnerkrankung vor, oder lösen eingenommene Substanzen diese Symptome aus? Wird diese Erkrankung vererbt, oder liegt eine Fehlentwicklung vor? Liegt es an der familiären Kommunikation? Die Psychose ist bis heute eine Störung, deren Ursache im Einzelfall häufig unklar bleibt, deren Behandlung vielfach Unzufriedenheit hinterlässt, und deren Prognose nicht selten ungewiss ist. Nicht nur das soziale Umfeld, sondern auch die Betroffenen selbst sind in der Regel zutiefst verunsichert darüber, dass ihre Wahrnehmung verzerrt ist, ihr Denken nicht mehr verlässlich ist und ihre Ausdrucksformen demzufolge grundlegend gestört sind. Psychosen werden bei den Betroffenen und ihren Angehörigen sehr bedrohlich erlebt. Vorkommen Nicht jeder Wahn und jede Halluzination sind auf eine Psychose im engeren Sinne zurück zu führen. Im Kindesalter, d.h. vor dem 14. Lebensjahr, ist die Erwachsenenform der Psychose mit Wahn und Halluzination sehr selten. Am ehesten vergleichbar sind Formen der tiefgreifenden Entwicklungsstörung sowie der frühen Bindungsstörung S.35. Im Jugendalter kommt als weitere Ursache für psychotische Symptome der schädliche Gebrauch von legalen oder illegalen Drogen hinzu S.27. Psychose-ähnliche Symptome treten auch bei einer Dissoziation auf S.31. Die Psychose im engeren Sinne (sog. „schizophrene“ Psychose) ist im Kindesalter eine seltene Ausschluss-Diagnose. Symptome und Diagnostik 1. Formale und inhaltliche Denkstörungen: Ängste (Phobien; „paranoid“), Gedankenlautwerden, Eingebung bzw. Entzug von Gedanken, Gedankenausbreitung, Zwänge; überwertige Ideen (Größenideen) bis hin zum Wahn: Verfolgungswahn, Beziehungswahn (die betroffene Person bezieht objektiv unabhängige Ereignisse fälschlich auf sich), Sendungswahn (andere bekehren wollen), Eifersuchtswahn. 2. Quantitative und qualitative Wahrnehmungsstörungen: Illusion, Halluzination, v.a. akustisch: Stimmenhören (handlungsbegleitende, teilweise befehlende Stimmen); Geruchs-, Geschmacks-, optische und Körperhalluzinationen. Wahn und Halluzinationen werden auch als produktive oder „Plus“-Symptome bezeichnet. 3. Verändertes Ich-Erleben: Isolationsgefühl, Entfremdung; Beeinflussungsgefühl. 4. Veränderungen der Stimmung und des Antriebs: „Negative“ oder „Minus“-Symptome sind Schüchternheit, Einzelgängertum, Regression (Rückentwicklung in kindliche Verhaltensweisen), geringe Motivation und Lebensdynamik, unpassende Stimmung, bizarre Verhaltensweisen. In der Vorphase kann der Jugendliche traurig und antriebsgemindert wirken, sich zurückziehen und seine Leistungsfähigkeit in der Schule verlieren. 5. Vegetative Störungen: Schlaf-, Appetitmangel, sexuelle Funktionsstörungen, v.a. verschobener Tag-Nacht-Rhythmus. Kataton wird eine Psychose genannt, bei der die Betroffenen schwer erregt und hoch angespannt sind, unter Bewegungs- und Sprech-Automatismen bzw. Zwangshandlungen leiden und teilweise auch aufhören zu sprechen (Mutismus). Hebephren wird eine ungenau definierte Form der Psychose im Jugendalter genannt, in der Minussymptome im Vordergrund stehen. Abgrenzung zu ähnlichen Störungen: Die folgenden schweren Störungen müssen durch Laboruntersuchungen (Blutwerte, Urin auf Drogen, MRT, Liquor, EEG) ausgeschlossen werden: Enzephalitis (Entzündung des Gehirngewebes), Hirntumor, Stoffwechselstörung (z.B. Über- oder Unterzuckerung, Schilddrüsenfehlfunktion), Drogen, Infektionen (Salmonellen). Behandlung Patienten mit einer Psychose werden so gut wie immer medikamentös behandelt (z.B mit Haloperidol, Risperidon, Olanzapin, Amisulpirid, Clozapin). Parallel dazu müssen sie vor Selbst- und Fremdgefährdung geschützt werden, sie benötigen Ruhe, Sicherheit und realitätsnahe Angebote. Neben den Patienten müssen auch die Bezugspersonen über den Verlauf der Erkrankung aufgeklärt werden. Familientherapie hat sich als sehr nützlich erwiesen. Je früher das erste Auftreten, desto ungünstiger der Verlauf. Je akuter, desto rascher bildet sich eine Psychose zurück. Je konsequenter die Medikation, desto besser ist die Prognose. Ungünstig ist eine Psychose zusammen mit einer Störung im Sozialverhalten und Drogenmissbrauch. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.5. SEITE 33 Essstörungen Menschen, die unter einer Magersucht leiden (ICD10: F50), nehmen rasch und nicht selten bis weit unter die kritische Gewichtsgrenze ab. Die Betroffenen bleiben dennoch davon überzeugt, dass sie zu dick seien und weiter abnehmen sollten. Die intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen verringert sich dabei dramatisch bis hin zu lebensbedrohlichen Stoffwechsel- oder Kreislaufkrisen. Woran erkennt man ein kritisches Untergewicht? Der Body-Mass-Index errechnet sich aus dem Gewicht und der Körperlänge: BMI = Körpergewicht : (Körperlänge in Metern) Zur Diagnostik gehören eine gründliche körperlichneurologische Untersuchung, die regelmäßige Kontrolle des Körpergewichts (in Unterwäsche und ohne Ankündigung, da vielfach betrogen wird, etwa durch vorheriges exzessives Trinken, Gewichte in der Kleidung), die Messung von Puls, Blutdruck und Temperatur (Untertemperatur ist ein wichtiges Zeichen für eine bedrohliche Verschlechterung), EKG, Blutbild und Blutchemie einschl. Schilddrüsenhormon, Urin auf Drogen; bei Bedarf Leistungstestung, Ultraschall der Bauchorgane, Echokardiographie des Herzens, MRT des Gehirns, EEG. 2 Die kritische Grenze ist altersabhängig. Man arbeitet mit sog. Perzentilenkurven, die für jedes Alter angeben, wo der Mittelwert und die kritische Grenze liegen. Neben dem BMI ist immer zu berücksichtigen, wie rasch jemand abgenommen hat und wie die gegenwärtigen Ernährungsgewohnheiten sind. Magersüchtige verhalten sich bei der Nahrungsaufnahme auffällig (Diät, langsames, ritualisiertes Essen, Weglassen bestimmter Nahrungsmittel, Verstecken von Essensresten), sie beschäftigen sich ständig mit Figur und Aussehen (Kalorienzählen, häufiges Wiegen), und sie treiben oft auch übermäßig Sport. Einige nehmen Abführmittel ein oder erbrechen, um nicht zuzunehmen. Oft vermeiden sie gemeinsame Mahlzeiten und diskutieren um das Essen. Die Unterernährung kann auch die Körperfunktionen beeinträchtigen: Ausbleiben der Monatsblutung, Störungen des Herz-Kreislaufsystems, z.B. Schwindel und Frieren, Verdauungsstörungen, Haarausfall, trockene Haut, Schlafstörungen, Konzentrationsmangel, Unruhe, Nervosität, Antriebslosigkeit, rasche Ermüdung. Auf Dauer können Folgeschäden wie Unfruchtbarkeit und Osteoporose auftreten. Magersüchtige sind auch psychisch beeinträchtigt: Sie isolieren sich von Freunden, sie vernachlässigen ihre Freizeitinteressen, sind lustlos und traurig, grübeln, lehnen ihr eigenes Aussehen ab, schwanken in ihrer Stimmungslage, sind gereizt, fühlen sich ohnmächtig und entwickeln zuweilen zwanghafte Verhaltensweisen. Bei der Entstehung der Magersucht wirken verschiedene (Risiko-) Faktoren zusammen. In aller Regel entsteht eine Essstörung durch ein Zusammenwirken aus Vorbildern (in der Familie, in der Klasse, aus den Medien), Gehänselt werden (bei vorbestehendem leichten Übergewicht), Diätessen in der näheren Umgebung (z.B. Mutter, Schwester) und weiteren Nahfaktoren. Je kürzer die Essstörung, desto besser die Prognose. Je nach Schweregrad der Erkrankung wird ambulant oder stationär behandelt. Magersüchtige müssen regelmäßig und zuverlässig medizinisch begleitet werden. Es geht zunächst um eine körperliche Stabilisierung und Gewichtszunahme, später um ein normales Essverhalten, eine verbesserte Körperwahrnehmung sowie um alltagsnahe Themen, etwa das familiäre Klima, die Lösung von familiären oder außerfamiliären Konflikten und die Pubertät. In der Psychotherapie der Jugendlichen bewährt es sich, verhaltens- und familientherapeutische Elemente miteinander zu verbinden. Ergänzend zu Einzel- und Familiengesprächen sind Gruppen für Betroffene und Angehörigengruppen notwendig und hilfreich. Anorexie: Gewichtsabnahme bis unter die 10. BMI-Perzentile, Schlanksein als überwertige Idee, Rigide Diät, Vermeiden gemeinsamer Mahlzeiten, absichtliches Erbrechen, Abführmittel, übermäßiger Sport. Bulimie: Heisshungerattacken, absichtliches Erbrechen, meist normales Körpergewicht. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.6. SEITE 34 Zwangs- und Ticstörungen Zwangsstörungen (ICD10: F42, F95) beruhen meist auf wiederkehrenden Gedanken, die den Betroffenen beunruhigen und ängstigen, die ihn zu Äußerungen oder Handlungen (Tics) drängen und ihn dadurch in der Bewältigung des Alltags erheblich beeinträchtigen können. 50% der Störungen beginnen bis zum 15. Lebensjahr. Es geht um vier Themengruppen: 6. Zwangsgedanken (oft Verseuchungs- bzw. Verschmutzungsideen) und Kontrollzwänge, 7. Symmetrie und Ordnen, Abzugrenzen sind Rituale und Stereotypien v.a. bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, geistiger Behinderung und reaktiven Bindungsstörungen. Behandlung: Die Symptome können sich stark auf das Familienleben auswirken. Bestrafung oder ein „Mitspielen“ bei den Zwängen sollten vermieden werden. Wirksam sind Kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstraining und bisweilen auch Medikamente. Zwangserkrankungen werden häufig durch andere emotionale Störungen begleitet. 8. Sauberkeit und Waschen (Waschzwänge), 9. Horten und Sammeln. 3.7. Einnässen Ein Kind, das einnässt (Enuresis, ICD10: F98.0), entleert zwar in der Regel die Harnblase normal und vollständig, aber am falschen Platz und zur falschen Zeit. Dies tritt überwiegend nachts auf. Die Diagnose wird erst gestellt, wenn ein körperlich und geistig normal entwickeltes Kind nach dem 6. Lebensjahr noch regelmäßig (und nicht nur gelegentlich) einnässt. Beim Einnässen unterscheidet man zwei Formen: Beim primären Einnässen ist das Kind seit der Geburt nie vollständig trocken gewesen. Beim sekundären Einnässen ist das Kind zwischenzeitlich mindestens für ein halbes Jahr vollständig trocken gewesen. Vor der verhaltenstherapeutischen (z.B. Klingelmatratze, Klingelhose) bzw. medikamentösen Behandlung müssen körperliche Ursachen (Infektion, Fehlbildungen der Harnwege) ausgeschlossen werden. Einnässen beruht in der Regel auf einer verzögerten Reifung derjenigen Nerven, die den Verschlussmechanismus der Harnblase (Sphinkter) kontrollieren. Psychische Störungen, die mit dem Einnässen einhergehen, sind – bis auf seltene Ausnahmen – die Folge, nicht die Ursache der Störung. Des weiteren wird unterschieden, ob es tagsüber (diurna), nachts (nocturna) oder sowohl tagsüber als auch nachts (diurna et nocturna) auftritt. 3.8. Einkoten Einkoten (Enkopresis, ICD10: F98.1) tritt v.a. bei Jungen und in der Regel tagsüber auf. Es ist in über 90% der Fälle auf eine ballaststoff- und flüssigkeitsarme Ernährung sowie mangelnde Bewegung zurückzuführen. Traurigkeit oder soziale Beziehungsschwierigkeiten, latente Aggressivität, Verstecken der schmutzigen Wäsche sind häufige zusätzliche Symptome. Auf den ersten Blick sieht es häufig so aus, als störe die Kinder das Einkoten nicht; fragt man aber vorsichtig und genauer nach, dann leiden diese Kinder erheblich. Die Eltern neigen häufig dazu, ärgerlich oder mit Strafen oder Vorwürfen zu reagieren. Einkoten wird in aller Regel vollständig behoben, indem das Kind zunächst gut abgeführt wird (notfalls auch stationär), anschließend eine ausgewogene Ernährung, eine ausreichende Trinkmenge und ein Toilettenplan eingeführt und eine zeitlang protokolliert wird. Verhaltensauffälligkeiten, die parallel zum Einkoten auftreten, sind fast immer die Folge und nicht die Ursache! 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.9. Leistungsschwächen Die Lern- und Leistungsfähigkeit (ICD10: F70, F71 bzw. F81.0) wird wie folgt klassifiziert: IQ > 130 IQ 115-129 IQ 85-114 IQ 70-84 IQ < 69 SEITE 35 Überdurchschnittliche Intelligenz Hohe Intelligenz Durchschnittliche Intelligenz Lernbehinderung (Sonderschule L) Intelligenzminderung (Sonderschule GB) Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS, „Legasthenie“, ICD10: F81.0): Bei sonst reifer Entwicklung und normalen Lern- und Leistungsmöglichkeiten wird für die LRS eine neurologische Reifungsstörung verantwortlich gemacht. Betroffen sind in unterschiedlicher Ausprägung sowohl das Lesen (Umsetzung von Buchstaben in Sprache) als auch das Schreiben (Umsetzung von akustischen Reizen in Schrift): Die 3.10. Kinder können das Alphabet nicht richtig, sie erkennen keine Reime, Laute oder Buchstaben, sie lesen langsam oder nur buchstabenweise, sie verwechseln, vertauschen, verändern oder lassen Buchstaben, Wortteile oder ganze Wörter aus, machen Regelfehler (Dehnungs-H, Konsonanten-Verdoppelung bei kurzen Vokalen, Groß- Kleinschreibung), verstehen den Sinn des Geschriebenen nicht, lernen selbst bei wiederholtem Üben nicht ausreichend und machen unterschiedliche Fehler bei gleichen Wörtern. Diese Schwäche besteht häufig bis ins Erwachsenenalter fort. Statt von „Intelligenz“ sollte heute besser von „gegenwärtigen Lern- und Leistungsmöglichkeiten“ gesprochen werden. Schulvermeidung Es gibt drei Grundformen der Schulvermeidung, die sich durch den ursächlichen Zusammenhang und teilweise die Begleitsymptome unterscheiden Tabelle 6. Bei allen Formen kommt es relativ häufig mittelfristig zu einem verschobenen Tag-NachtRhythmus, zu suchtartigem Fernseh-, Computerspiele- und Internetkonsum und durch den chroni- schen Schlafmangel Symptomen. zu depressionsartigen Meist findet sich bei einer Schulvermeidung eine Mischung aus Schulphobie (sehr enge familiäre Bindung) und Schulangst (subjektive Bedrohung, die mit dem Schulbesuch zusammenhängt). Tabelle 6: Schulvermeidung Typ Ursächlicher Zusammenhang Altersuntypisch enge Eltern-Kind-Bindung Schulphobie Schulangst Schulschwänzen 3.11. Reaktion auf eine reale Bedrohung oder subjektiv nachvollziehbare Angst Dissoziale Leistungs- und Mitarbeitsverweigerung Symptome Wenige Kontakte zu Gleichaltrigen, soziale Unsicherheit, Scheu, Ängstlichkeit, meist auch schon im Kindergarten. Körperliche Beschwerden ohne Befund wie Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen. Die Symptome werden von der Familie sehr ernst genommen; das Fehlen des Kindes wird durch Entschuldigungen legitimiert. Kopf- oder Magenschmerzen, Schwindel vor Schulantritt, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Ängste, Hoffnungslosigkeit, Rückzug, Aggression. Regelverstöße, Verspätungen, Schwänzen bis hin zum Schulabbruch. Störungen des Sozialverhaltens Kinder, die sich dissozial verhalten, verletzen altersentsprechende soziale Erwartungen und Normen (ICD10: F91). Hierzu gehören: Regelverletzungen, Ungehorsam, Streiten, Weigerung, Verantwortung für eigenes Fehlverhalten zu übernehmen, Weglaufen, Schuleschwänzen, Wutausbrüche, Gewalt gegen Gegenstände und Personen, Gebrauch von Waffen, Ärgern, Kränken und Tyrannisieren, Lügen, Stehlen, Zündeln, Quälen von Tieren bzw. Menschen, Nötigung anderer zu sexuellen Handlungen und weitere Straftaten. Kinder bzw. Jugendliche mit einer reinen Störung des Sozialverhaltens bedürfen der Jugendhilfe, nicht der Krankenbehandlung. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.12. SEITE 36 Kinder die „schwer zu bremsen sind“ Anstrengende Kinder... Keine Frage – es gibt Kinder mit einem ruhigen und ausgeglichenen Temperament und andere, die lebendiger und immer aktiv sind, ihre Beschäftigung rasch wechseln und schwierig bei einer Sache zu halten sind. Für diese Kinder brauchen die Eltern mehr Geduld und Nerven, und sie fühlen sich eher einmal am Ende ihrer Kräfte. Wenn diese Kinder in den Kindergarten und später in die Schule kommen, müssen sie – wie alle anderen Kinder auch – mit Ruhe und Konzentration bei der Sache bleiben und Leistung erbringen, egal ob sie fit oder müde sind, Durst haben oder auf Toilette müssen, sie Spaß am Lernstoff haben, sich überfordert fühlen oder es ihnen einfach nur langweilig ist, sie gut auf andere zugehen und sich mit ihnen verständigen können oder provokativ streiten, Wenn ein Kind – aus welchen Gründen auch immer – bis zum Schulalter nicht gelernt hat, seine Bedürfnisse zeitweise zurückzustellen, sich selbst zu motivieren und Freude am Lernen zu haben, Ablenkung auszublenden, Freunde zu gewinnen und zu halten, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten und sowohl Lob als auch Tadel anzunehmen, dann wird es in der Klasse als dem ersten verpflichtenden sozialen Verband um seine Position kämpfen müssen oder den Rückzug antreten. Dies werden dann nach den Eltern rasch auch die Erzieherinnen und die Lehrer daran merken, dass dieses Kind anstrengend im Umgang ist, weil die üblichen Methoden der Lenkung von Kindern nicht greifen. Hüten muss man sich dann vor allem, „Schuldige“ zu suchen, etwa die Lehrer, die Eltern oder das Kind. Soll das Kind profitieren, dann müssen alle gut zusammenarbeiten. sie auf das Einvernehmen mit Freunden rechnen dürfen oder ob Rivalität und Neid vorherrschen, sie Freude und Lob bekommen oder ihnen Tadel, Gleichgültigkeit und Ignoranz entgegenschlägt. Entwicklung – ein weites Feld Wenn Eltern, die völlig fertig sind, etwas über ihre anstrengenden Kinder erzählen, dann müssen Therapeuten und Erzieher zunächst von außen genau hinschauen und sich ein eigenes Bild machen, um der Familie wirksam helfen zu können. Erfahrene Therapeuten benötigen Zeit, wenn sie sich ein fachlich gutes und verlässliches Bild über die Entwicklung des Kindes machen wollen. Sie erheben Entwicklungsrisiken, sie beobachten die Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten) des Kindes und leiten daraus eine Reifungsdynamik ab. Dabei sind die Bedingungen für die kindliche Entwicklung von enormer Vielfalt: 1. Entwicklungsaufgaben und Lösungen: Kinder lernen etliche Lösungen für ihre natürlichen Entwicklungsaufgaben kennen, z.B. für die Fragen, wie man Beziehungen eingeht und hält, wie man Wissen erwirbt und anwendet, wie man Unsicherheit spürt und aushält, wie man Konflikte fair und dauerhaft löst, wie man Verantwortung selbständig und erfolgreich übernimmt. Dabei sind viele dieser Lösungen durchaus gleichwertig, während andere nur zu bestimmten Alltags- oder Lebensaufgaben passen. 2. Lebensbedingungen und Lebensstile: Die Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, unterscheiden sich mitunter stark, und auch die familiären Lebensstile sind vielfältig. Zudem können sich die Lebensbedingungen mit der Zeit verbessern oder verschlechtern, und nicht jeder Lebensstil passt zu jeder Lebensbedingung. 3. Lebensäußerungen und Toleranz der Umwelt: Die Kinder gestalten ihren Alltag spontan und vielfältig. Sie stoßen dabei auf tolerantere oder rigidere Mitmenschen und müssen mit deren unterschiedlichen Reaktionen fertig werden. 4. Grenzen der Belastung und Bewältigungsmuster: Wird die individuelle Belastungsgrenze eines Kindes überschritten, dann verschlechtert sich dessen gesamte Leistungsfähigkeit: Es lernt schlechter, es kann seine Gefühle weniger ausdrücken, und es behauptet sich in Auseinandersetzungen zu wenig. Infolgedessen zieht es sich zurück, läuft weg, verweigert sich oder gerät in aggressive Auseinandersetzungen. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN SEITE 37 Aufmerksamkeit: Der Teufel steckt im Detail ... Der Rhythmus der menschlichen Aktivität wird viele Stunden täglich von außen getaktet. Die eine Mutter lässt sich jeden Tag ausführlich auf das Kind ein, die andere kann das Kind wegen Arbeit, Sorgen oder Krankheit kaum unterhalten, so dass es rasch lernt, sich alleine zu beschäftigen. Eine Familie geht viel in der Natur spazieren, und jeder Zweig und jeder Käfer wird ausgiebig betrachtet, während im Wohnzimmer einer weiteren Familie ein Zeichentrickfilm alle dreißig Sekunden einen spannenden Höhepunkt bringt. In der einen Klasse fasziniert die Lehrerin die Kinder eine Stunde lang im Frontalunterricht, während der Lehrer der Nachbarklasse mit Kleingruppen arbeitet und alle zehn Minuten etwas Neues anbietet. D.h. die Aktivität eines Kindes, sein gesamter Ausdruck in Wahrnehmung, Denken und Handeln, wird nicht nur in dessen Kopf geplant und gesteuert, sondern hat viel eher damit zu tun, wer sich für das Kind interessiert und wie er ihm diese Neugier zeigt. Was ist Aufmerksamkeit? Aufmerksam nenne ich denjenigen, der an einem Geschehen teil hat. Dies wird daran erkennbar, dass ein Kind 1. eine Information wahrnimmt: 2. diese verarbeitet: 3. danach handelt: „Hör’ zu!“, „Denk’ mit!“, „Mach’ mit!“. Als aufmerksam gilt, wer erfolgreich wahrnimmt, denkt und sich äußert bzw. handelt. Sprechen wir einem Kind also eine „Aufmerksamkeitsstörung“ zu, dann geben wir damit einen allgemeinen und intuitiven Eindruck über einen Mangel (1) der Wahrnehmung, (2) des Denkens und Fühlens und (3) der Äußerung bzw. Handlung wieder. Befragen wir die Eltern, dann bekommen wir keine objektiven Daten, sondern wir erfahren stattdessen mehr über die elterliche Belastung. Wir sind also unbedingt darauf angewiesen, das Kind unmittelbar zu beobachten und die Ergebnisse richtig zu bewerten: Schwankungen sind normal: Wahrnehmung, Denken, Meinungsäußerung und Handeln sind von vielen äußeren und inneren natürlichen Faktoren abhängig. Alle diese Faktoren, mithin auch Aufmerksamkeit, können durch mangelnden Schlaf, Hunger, Erkrankungen, Medikamente oder Alkohol, Angst sowie Stress in Familie oder Schule beeinträchtigt werden. Störungen abgrenzen: Seh- und Hörstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Minderbegabung, motorische, emotionale und Sprachstörungen. Zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten beachten: Ängste, Traurigkeit, Tics, Antriebsstörungen, körperliche Symptome und Drogenmissbrauch. Soziale Bedingungen und familiäres Klima prüfen: Familiäre Strukturen (materiell: Arbeit, Geld, Wohnung; zeitlich: Tag-Nacht-Rhythmus, gemeinsame Mahlzeiten, Zeiten der Zuwendung und des gemeinsamen Spiels; Beziehungen: eindeutige Rollen, Grenzen und Kontrollen) können in aller Regel verbessert werden. Einem Kind, das viele Stunden täglich den Fernseher, den Gameboy und die Playstation sein persönliches Gegenüber nennt, werden Anspannung und Aufregung regelrecht einprogrammiert. Aufmerksamkeit kann hinsichtlich (1) Wahrnehmung, (2) Denken und Fühlen sowie (3) sich Äußern und Handeln (d.h. im Verhalten) trainiert werden, indem man den Beziehungsraum sorgfältig gestaltet, individuell anpasst und dabei Phantasie, Selbstbestimmung, Spontaneität und prosoziale familiäre Stile fördert. Die Behandlung Neben den o.g. Maßnahmen, die in der Regel ambulant und familientherapeutisch angewandt werden, können auch Medikamente eingesetzt werden. Einige wichtige Einschränkungen sind dabei zu beachten: Die Medikamente (Methylphenidat, Amphetamin, Amoxetin) wirken nicht bei jedem Kind. Bei 25% der Kinder kann sich die Symptomatik unter Medikation auch verschlechtern. Die genannten Arzneimittel wirken nur auf Hyperaktivität, nicht auf Impulsivität oder Konzentrationsschwächen. Medikamente ohne weitere pädagogischtherapeutische Maßnahmen sind ungenügend. In 85% der Fälle findet man bei sorgfältiger Diagnostik weitere behandlungsbedürftige Störungen beim Kind oder in der Familie, die ebenfalls behandelt werden müssen und die nicht auf das Medikament ansprechen. Auf die relativ häufigen Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit (die ebenfalls zu mangelnder Konzentration führen kann!), Appetitmangel, Wachstumsstopp und Traurigkeit muss verlässlich geachtet werden. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.13. SEITE 38 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Symptome Die Diagnose einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung („Autismus“, ICD10: F84) wird gestellt, wenn eine Reihe von Symptomen zusammentreffen: 10. Mangelndes Einfühlungsvermögen, 11. eingeschränkte Interessen und Wiederholungsverhalten, 12. intellektuelle Schwächen, 13. ggf. epileptische Anfälle. 1. Fehlendes Einfühlungsvermögen (Empathie) ist ein besonderes Kennzeichen der tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Es findet sich aber auch bei anderen Störungen, etwa einer Bindungsstörung, einer geistigen Behinderung und weiteren psychischen Störungen. 2. Mangelndes Einfühlungsvermögen Menschen planen ihre Handlungen (Aktion) gemäß ihren Vorstellungen, Wünschen und Absichten. Wenn es darum geht, gemeinsam zu handeln (Interaktion), dann versuchen wir, uns die Vorstellungen, Wünsche und Absichten unseres Gegenübers vorzustellen, ihn zu verstehen und die eigenen Handlungen darauf abzustimmen. Dies gelingt uns mehr oder weniger gut, je nach Training, Tagesform und Gegenüber. Menschen, die sich nicht einfühlen können, nehmen dieses Miteinander nicht wahr, und dies behindert ihr soziales Handeln. Äußerlich wirken sie in Mimik und Gestik stereotyp, der Gesprächsverlauf wirkt wenig flüssig, und die üblichen Zeichen einer gelungenen Interaktion fehlen, etwa der Blickkontakt, die Reaktion auf persönliche Ansprache, das Zeigen, das Nicken, die Verwendung von Pronomen (‚er’/’sie’ statt ‚ich’), das Frage-Antwort-Spiel. Stattdessen finden sich eine auffällig monotone Sprachmelodie, Monologe und Wiederholungen (Echolalie), Wortneubildungen oder eine sehr sparsam eingesetzte Sprache. Kinder äußern dann Wünsche durch Schreien oder führen die Hand des Gegenübers zum gewünschten Objekt. Imitation und spontanes Rollen- bzw. Puppenspiel gelingen ihnen schlechter. Diese Kinder wirken unruhig, wenig bei der Sache, sozial unreif und wenig emotional. Sie kümmern sich wenig um andere, meiden den Kontakt zu Gleichaltrigen und nehmen deren Bedürfnisse – und teilweise auch persönliche Grenzen – kaum wahr. „Stellen Sie sich vor, wie irritierend und erschreckend eine Welt wäre, wenn Sie andere Menschen nicht als geistvolle Menschen, sondern als fremdartige Hautsäcke wahrnähmen, die sich zufällig und unvorhersehbar bewegen“ (Gopnik et al. 1999). Eingeschränkte Interessen und Wiederholungsverhalten Betroffene Kinder zeigen die folgenden Symptome: Sonderinteressen (Straßennamen, Staubsaugen, Geburtstage); die Interessen können durchaus altersangemessen sein, unterscheiden sich jedoch durch die Intensität, die Aufmerksamkeit für Details von Objekten und ein geringes Interesse an Personen. Wiederholungsverhalten, etwa Stereotypien (sich andauernd wiederholende Bewegungsmuster) mit Fingern, Händen, Armen, Beinen, Springen, sich Wiegen, gleichförmig-wiederholten Gebrauch von Gegenständen; diese Rituale sind keine Zwänge, welche die Betroffenen beunruhigen würden, und die Betroffenen wollen damit auch nicht aufhören; Zwangsstörungen (Wasch-, Zähl- und Kontrollzwänge) sind bei Autisten nicht üblich, können sich aber zusätzlich entwickeln. Außergewöhnliche Reaktionen auf Sinnesreize, etwa Gerüche, Berührungen, optische oder akustische Reize. Geringe Flexibilität für Veränderungen oder Unvorhergesehenes; geistig behinderten Kindern geht dies allerdings häufig auch so. 3. Leistungsschwächen Kinder mit diesen außergewöhnlich schwerwiegenden sozialen Schwächen sind regelmäßig auch in Aufmerksamkeit, Konzentration und Sprachentwicklung eingeschränkt und in der folge häufig auch geistig behindert. Sie sind nicht nicht selten selbst- oder fremdaggressiv. 4. Epileptische Anfälle Häufiger als bei anderen Kindern können – vor allem im Jugendalter – epileptische Anfälle auftreten. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN SEITE 39 Vorkommen Die Diagnose einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung wird dann gestellt, wenn die genannten vier Symptomkomplexe zusammentreffen (mangelnde Empathie, Wiederholungsverhalten, variable intellektuelle Beeinträchtigung, ggf. EEG-Auffälligkeiten). Dieses Symptommuster gibt es aber auch bei schweren Hör- und Sehstörungen, bestimmten Stoffwechselstörungen, chromosomalen Störungen, der Neurofibromatose Recklinghausen oder der tuberösen Hirnsklerose. Ein Großteil dieser Erkrankungen beruht auf einem krankhaft veränderten Erbgut. (Die Eltern die- ser Kinder müssen dabei nicht unbedingt betroffen sein!) Abgrenzung von weiteren Störungen: Ähnliche Symptome finden sich auch bei Bindungsstörungen aufgrund schwerer Vernachlässigung, schweren Eltern-Kind-Interaktionsstörungen, elektivem Mutismus (das Kind redet nur mit wenigen Personen und schweigt bei allen anderen), geistiger Behinderung, Fragilem X-Syndrom, Rett-Syndrom, den Spätfolgen einer Frühgeburt und Sonderbegabungen. Behandlung Integrativer Ansatz: Autistische und normale Kinder werden unter fachlicher Anleitung von mehreren Berufsgruppen gemeinsam betreut. Intensivtraining mit den Themen Einfühlungsvermögen und Interaktion, Initiative und Kreativität, Kommunikation und Sprache. Familienarbeit: Klare Strukturen, Kontrollen, Absprachen, Sicherheit geben, mit unvermeidlichen Misserfolgen umgehen lernen, Selbsthilfegruppen, Sozialmanagement (Wohnen, Beschäftigung, Arbeit etc.). Ggf. Medikation. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.14. SEITE 40 Bindungsstörungen Lebewesen sind auf den Austausch von Materie (z.B. Luft, Wasser, Nahrungsmittel), Energie und Information mit ihrer unmittelbaren Umwelt angewiesen. Der Mensch verfügt über sehr differenzierte Sinnesorgane (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen) und Ausdrucksmöglichkeiten (Mimik, Gestik, Sprache). Den Umgang mit diesen „Instrumenten“ erlernt das Kind über viele Jahre im geschützten Raum der Familie. Die Eltern können die bekannten Lehr- und Lerntechniken gestalten S.52. Je besser sich Eltern und Kinder verstehen, desto wirksamer lernen Kinder, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und die anstehenden Aufgaben zu meistern. Die Bindung zu den Eltern ist viel mehr als eine unverbindliche Beziehung: In einer guten Eltern-KindBindung findet eine besondere Form von gemeinschaftlicher Aufmerksamkeit statt, zu der auch eine angemessene körperliche und seelische Versorgung gehört. Das Kind lernt damit schon als Baby: „Wir sehen dasselbe, wir verstehen uns, wir handeln gemeinschaftlich und erkennen dabei die gegenseitigen Bedürfnisse und Notwendigkeiten an“. Unter bestimmten Bedingungen wird die wichtige Erkenntnis, für einander da zu sein, nicht erlernt: "Neben dem Bad und der Milchküche standen Arbeitstische. Auf dem ersten trocknete die erste Betreuerin [...] das vom Bad herausgereichte Kind ab, reichte es weiter auf den nächsten Tisch. Dort wurde gepudert [...]. Am dritten Tisch wurde gewogen, [...] Am vierten Tisch gab es frische Schlafkleider. Sogar eine fünfte, wieder von einer anderen Person durch- geführte Handhabung war zu beobachten: das InsBett-legen selbst." (Mehringer 1985, S.20-21, zit. nach Unzner 1999, über Heime der fünfziger Jahre). Im Extremfall existieren keine für das Baby erkennbaren Bindungspersonen, etwa bei einer massiven Unterversorgung (zu Hause, im Heim, in Pflege- oder in Adoptivfamilien) oder gar Misshandlung; dadurch entstehen keine familiären Bindungen, und das Kind lernt auch nicht, von sich aus verlässliche Bindungen einzugehen und individuell zu gestalten. Engagierte Bezugspersonen können dies später meist nur noch teilweise ausgleichen. Derart sozioemotional unterversorgte Kinder gehen dann unterschiedslos auf Bekannte wie Fremde zu (Bindungsstörung mit Enthemmung, ICD10: F94.2). Diejenigen Kinder, die zudem schwer misshandelt wurden, entwickeln eine extreme Scheu und Angst vor Fremden oder wirken beziehungslosgleichgültig (Bindungsstörung mit Hemmung, ICD10: F94.1). Bei allen diesen Kindern kann man das Fehlen zwischenmenschlicher Fähigkeiten beobachten: die persönliche Neugier und Kontaktaufnahme, die Feinabstimmung von Nähe, Distanz und Vertrauen sowie die Bewältigung unsicherer Ereignisse, etwa durch Vorsicht, Rückversicherung, Hilfesuchen. Da die höheren Lernformen stark von diesen zwischenmenschlichen Fähigkeiten abhängen (s.S.52), entwickelt ein bindungsgestörtes Kind zwangsläufig Lern- und Leistungsstörungen. Weitere psychosoziale Störungen können hinzukommen. Symptome Stereotype Interaktion, d.h. geringe Mimik und Gestik, fehlender Blickkontakt, mangelnde Reaktion auf Ansprache, kein Zeigen oder Nicken, Verwechslung von Pronomen, eingeschränktes Frage-Antwort-Spiel. Auffällige Sprachmelodie, Monologe, Echo-Sprechen, Erfinden neuer Worte, wenig Sprechen. Fehlendes Miteinander und mangelndes Einfühlungsvermögen; stattdessen werden Wünsche geschrieen, oder die Hand des Gegenübers wird geführt (Autismus-ähnliches Verhalten). Fehlende Vorstellungskraft und Nachahmung. Unruhe, mangelnde Konzentration, einförmiger Gefühlsausdruck. Symptom im Umfeld: Die Sorge- oder Erziehungsberechtigten sind frustriert darüber, dass sie dauerhaft mit ihren Versuchen scheitern, eine Verbindung zu dem Kind aufzunehmen. Das Bindungsverhalten wird durch die primäre Interaktion des Babys mit den versorgenden Personen eingeübt. Im Extremfall existieren keine für das Baby identifizierbaren Bindungspersonen, so dass das Kind nicht lernt, Bindungen aufzunehmen und individuell zu gestalten. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN SEITE 41 Behandlung Im Rahmen einer Behandlung werden die folgenden Inhalte vermittelt: Was können wir realistischerweise von unserem Kind erwarten (was versteht es, was kann es)? 1. Beziehungsfähigkeit des Kindes: Welches sind die Bedürfnisse, Stimmungen, Impulse, Meinungen und Gefühle der Kinder, und welches die der Eltern? Dies ist nicht immer einfach zu unterscheiden. Wie gehe ich auf jemanden zu? Training von Neugier und Kontaktaufnahme. Wie motiviere ich den Anderen? Training von Nähe und Distanz, Vertrauen. Wie gehe ich mit Macht und Konflikten um? Training von Rückversicherung, Hilfesuchen, fairer Auseinandersetzung. 2. Elternkompetenz: Wie bekommen wir die kindliche Entwicklung wieder in den Vordergrund? Wie können wir die kindlichen Bedürfnisse nach Ernährung, Pflege, Schutz, Zuwendung, Anerkennung, Strukturen und Grenzen wahrnehmen und auf sinnvolle Art befriedigen? Wie können wir eine tragfähiges Familienkonzept entwickeln, d.h. erzieherische und familiäre Ziele, und welche Mittel setzen wir dafür ein? 3. Sozialmanagement: Wie müssen wir die Möglichkeiten und Angebote der Schule bzw. der Arbeit, die Wohnverhältnisse und möglicherweise auch die ärztliche oder psychologische Behandlung aufeinander abstimmen? 4. Ggf. bedarf es auch einer Medikation. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3.15. SEITE 42 Suizid und Suizidversuch Ein Selbstmord oder der Versuch sich zu töten sind für Außenstehende dramatische Zeichen individueller Krisen. Die Hilflosigkeit der Opfer überträgt sich häufig auf die Menschen im Umfeld. Die Verarbeitung des Vorfalls bleibt häufig bei den beiden Fragen stehen, ob ein Suizidversuch ernst zu nehmen ist oder nicht und wer möglicherweise Schuld hat. aller vollendeten Suizide gehen Suizidversuche voraus. Jeder zweite Betroffene sprach innerhalb von 24 Stunden vor seinem Selbstmord davon. Jede Ankündigung und jeder Suizidversuch sind ernst zu nehmen! Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch und aggressive Verhaltensstörungen sind weitere Selbstmordgefahren. 50% der Fälle und zwei Drittel aller männlichen 17-19Jährigen konsumierten übermäßig Alkohol. Suizid und Selbstverletzung bzw. Suizidversuch sind heute gut erforscht. Mit dem zur Verfügung stehenden Wissen darüber lassen sich Suizide weitgehend verhindern und die Anzahl von Selbstverletzungen bzw. Suizidversuchen deutlich verringern. Die Hälfte der Selbstmörder hat Verwandte ersten Grades, die sich umgebracht hatten. In der Umgebung von immer noch 4% der Selbstmörder gab es nicht näher bekannte Selbstmordopfer. Häufigkeit Kinder unter 14 Jahren bringen sich selten um, und auch Suizidversuche gibt es vor der Pubertät nur selten. Bis zum Alter von 20 Jahren steigt diese Rate auf ca. 10/100.000 an, weil bis dahin Risikofaktoren zu wirken beginnen und sich soziale bzw. emotionale Störungen manifestieren. Ohne eine psychische Störung kommen Suizide selten vor. Bei zwei Dritteln der Betroffenen findet sich eine psychiatrische Hauptdiagnose, beim letzten Drittel Symptome; die Hälfte hatte vorher Kontakt zu einem professionellen Helfer. Ein Drittel hat Angststörungen. Depressionen haben jedes dritte Mädchen und jeder sechste Junge. Für letztere sind Verhaltensstörungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch typischer. Die meisten Suizidopfer sind irritierbar, impulsiv, flüchtig, kränkbar oder zukunftsängstlich, perfektionistisch oder depressiv (meist schon behandelt). Weibliche Suizide werden meist durch eine Überdosis von Medikamenten oder Drogen oder Sprung aus großer Höhe begangen, während männliche eher durch Erhängen oder Feuerwaffen geschehen. Suizid und Suizidversuch sind nicht immer klar abzugrenzen. Über ein Viertel der 15- bis 19Jährigen nehmen in verstärkender oder enthemmender Absicht neben anderen Suizidmitteln Alkohol oder illegale Drogen ein, davon sind unter 5% abhängig. Mädchen begehen 1,6 bis dreimal so viele Versuche wie Jungen. Von der Methode her können etwa 5% der Suizidversuche tödlich ausgehen. Risikofaktoren 1. Mangelnde Ressourcen: Materielle Organisation: Bislang wurde nicht systematisch untersucht, in welcher Weise die Suizidrate durch finanzielle Mängel, unzureichende Wohnverhältnisse oder mangelnde Arbeit der Eltern beeinflusst wird. Zugang zu Information: Sprach- und milieubedingte sowie mit mangelnder Bildung zusammenhängende Risiken werden angenommen. Die Suizidrate bei Jugendlichen steigt kurzzeitig an, wenn in Medien (Nachrichten, Büchern, Filmen) ein Selbstmord dramatisiert wird. Gesundheit der Familie: Schwangerschafts- und Geburtsrisiken des späteren Selbstmordopfers können das Risiko erhöhen. Depressivität erhöht die Häufigkeit um das Zwanzigfache. Einem Drittel 2. Beeinträchtigte Bindungen: Eine schlechte Eltern-Kind-Kommunikation und elterliche Trennung sind erhebliche Risikofaktoren. Beziehungsabbrüche sowie der Tod von Bezugspersonen lassen die Rate der Suizidversuche ansteigen. Bei drei von vier Suizidversuchen sind persönliche Konflikte und Zurückweisung sowie Schulprobleme die akuten Auslöser. Unvermittelte sog. terminale Ereignisse erhöhen das Suizidrisiko: Eine disziplinarische Maßnahme (Strafe, Information der Eltern nach einer Straftat, häufig im Zusammenhang mit der Schule) stand kurz bevor oder fand erst kürzlich statt. Die Person wurde öffentlich erniedrigt, z.B. durch Ausschluss von einer Party wegen Trunkenheit. Es drohte die Trennung einer Beziehung. Der Tod eines Freundes jährte sich. Über ein Viertel aller Selbstmörder starben innerhalb von zwei Wochen um ihren Geburtstag. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN 3. Eingeschränkte Verantwortung: Die Suizidrate steigt durch die Zugänglichkeit zu Suizidmitteln (Suchtmittel, Waffen, Medikamente etc.) erheblich. Eingeschränkte Konflikt- und Problemlösefähigkeiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuchs. 85-90% der Jugendlichen dachten erstmals am Tag des Suizidversuches an einen Selbstmord. D.h. Impulsivität und unmittelbare Ereignisse spielen eine wesentliche Rolle. Gleichgültiges und feindliches, bestrafendes und wenig sensibles Elternverhalten, hohe Erwartungen und Überkontrolle sowie wiederkehrende Konflikte steigern die Rate der Selbstmordversuche. Hoffnungslosigkeit, d.h. das Gefühl, nichts bewirken zu können oder gut zu machen, löst Selbstmordideen aus. Psychodynamik 1. Entwicklungskonflikte: Die meisten Suizid-Versucher verneinen eine dauerhafte Todesabsicht und sind froh über die Entdeckung. Zwei Drittel nennen Gründe für ihren Selbstmordversuch. 2. Emotionale Bedingungen: Bis zu ein Drittel kann keinen genauen Auslöser äußern, diese Menschen bewegen sich häufiger in einem depressiven Kontext. 3. Kognitive Bedingungen: Wenn andauernde Suizidgedanken bestehen bzw. der Planungsgrad weit fortgeschritten ist, entsteht durch Grübeln und gedankliche Verstrickungen ein Teufelskreis. Symptome Zeichen für Selbstgefährdung (präsuizidales Syndrom) sind Einengung des Denkens und der Gefühle: Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzerrung der Wahrnehmung („ich bin an allem Schlechten dieser Welt schuld“), Grübelzwänge, starre Verhaltensmuster, Versagen wirksamer Beruhigungsmöglichkeiten, Kontaktvermeidung (häufig bis auf eine einzige Person mit starkem Abhängigkeitsgefühl), Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Weglaufen, Leistungsabfall, gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression, Selbstmordphantasien als „Ausweg“ und „Entlastung“, konkrete Gedanken über die Durchführung und das „Leben danach“. SEITE 43 Wenn die Sorge aufkommt, dass sich jemand umbringen will, dann sollte die Frage nach einer Lebensverneinung in einfachen Worten angesprochen werden. Dies löst keine Suizidalität (Selbstmordgefährdung aus, sondern entlastet und ist der erste Behandlungsschritt. Eine Suizidhandlung ist „die Spitze des Eisbergs“. Die häufigsten Symptome nach einem Suizidversuch (besonders bei einer Vergiftung) sind Schläfrigkeit, Bewusstlosigkeit, unkoordinierte Bewegungen (Ataxie), Zittern (Tremor), Unruhe, Erregung, Übelkeit und zentrale Krämpfe. Erstversorgung Jeder Suizidversuch ist ein medizinischer Notfall. Der Betroffene wird immer sofort und persönlich durch einen Arzt beurteilt. Der Arzt wird telefonisch vorinformiert über Alter und Gewicht, Gesundheitszustand, Methode oder eingenommene Substanz (Art und Menge), Zeitpunkt der Einnahme sowie Symptome. Suizidmittel, ihre Beschreibung und ggf. leere Behälter werden mitgebracht, soweit sie bekannt sind. Alkohol- und Drogenkonsum kann Suizidmethoden gefährlich verstärken. Angaben des Betroffenen sind nicht als zuverlässig zu betrachten. Auch die Darstellung der Ernsthaftigkeit verändert sich häufig mit der Zeit. Nach der Erstversorgung wird nach weiteren Suizid-Mitteln im Umfeld des Betroffenen gesucht. Anfangsbewertung Eine stationäre Aufnahme wird für folgende Gruppen empfohlen: Methode: Wenn die Betroffenen andere Methoden anwenden als geringe Dosen von Medikamenten oder Drogen einzunehmen oder nur oberflächlich schneiden, dann müssen sie stationär behandelt werden. Verlauf: Andauernde Selbstmordideen oder wiederholte Versuche lösen ebenfalls eine stationäre Behandlung aus. Psychische Störungen: Auch depressive und psychotische Symptome oder Substanzmissbrauch gehören dazu. Bezugssystem: Wenn dem Betroffenen keine Erwachsenen mit Vertrauensstatus zur Seite stehen, die den Jugendlichen bis zur nächsten Vorstellung überwachen und Medikamente und Waffen entfernen können, dann muss der Betroffene durch eine stationäre Behandlung geschützt werden. 3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN SEITE 44 Behandlung Vorbeugung Die Betroffenen brauchen einen verlässlichen therapeutischen Bezug. Familiäre Bindungen müssen geklärt werden. Es muss klare Entlassungsempfehlungen geben, ggf. einen Vertrag: „Ich komme wieder und unternehme zwischenzeitlich keinen weiteren Selbstmordversuch. Wenn ich Hilfe benötige, wende ich mich zuverlässig an meine Bezugspersonen oder die vereinbarte Notfallstelle.“ Pädagogische (edukative) Programme zum Erkennen einer Selbstmordgefährdung für Schüler, Lehrer und Familien. (Lehrer sind wegen der Klassengrößen nicht immer in der Lage, psychische Probleme ihrer Schüler zuverlässig zu erkennen.) Die Familie und das Helfersystem werden in die Behandlungsziele einbezogen: Gefühle und Meinungen dürfen und sollen offen geäußert werden. Unterschiedliche Lösungswege sind gleichwertig, dürfen ausprobiert und geübt werden. Schlechte Stimmungen (Schuldgefühle Negativismus) werden ernst genommen. und Medikamente und ggf. auch eine geschützte Unterbringung können bei psychischen Störungen mit chronischer Suizidalität notwendig werden. Bei Psychopharmaka ist zu beachten, dass diese auch zum Suizid geeignet sein können. Verlauf und Prognose Viele Jugendliche, die einmal versucht haben sich umzubringen, sind später auch auffällig. Sie finden später schlechter Partner, lassen sich eher wieder scheiden, werden eher kriminell, alkoholabhängig oder bekommen eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Jeder Zweite versucht es erneut, teilweise auch mit fatalem Ausgang. Gefährdete Jugendliche können durch die Erhebung des allgemeinen Risikostatus identifiziert werden. Die Telefonseelsorge ist für viele Fragen hilfreich, sie vermindert die Suizidrate aber nicht. Viele Suizide geschehen dann, wenn das Opfer nicht mehr so klar organisiert denkt oder handelt, dass es noch in der Lage ist, Hilfe zu suchen bzw. zu finden. Der Zugang zu Suizid-Mitteln muss begrenzt werden. Die Nachsorge in der Umgebung des Betroffenen, etwa in der Schule, zielt auf das Verstehen des Suizidversuchs und auf eine Vorbeugung gegen Schuld und Isolation. Sie muss zudem die Nachahmungsgefahr beachten und helfen, sie zu verringern. Professionelle Helfer, in deren Einrichtung ein Selbstmord passiert, müssen unterstützt werden, um dieses tragische Ereignis selbst gut zu verarbeiten und um andere Nutzer oder Bewohner der Einrichtung angemessen zu begleiten. Information: Menschen mit einem hohen Suizidrisiko (Alkoholmissbrauch, Depression und Angststörungen sowie Aggressivität) wissen meist wenig über eine gute Behandlung und sind nur wenig motiviert. Bei einem Suizidversuch treffen häufig (1) ein soziales Milieu (hohe oder niedrige Tabus, Medien) und (2) ein akuter Auslöser (kritische Belastung) mit (3) einer psychischen Störung (Depression, Impulsivität und Aggressivität, Perfektionismus und Rigidität, Alkohol) zusammen. Die Selbstmord-Idee entsteht (a) entweder nach einem akuten Ereignis in Verbindung mit impulsiver Eigenaggression (Vorbilder für diese „Konfliktlösung“ steigern das Risiko erheblich) oder (b) über einen langen Zeitraum, der sich tranceartig zu einer wachsenden Hoffnungslosigkeit und Isolation verdichtet. SEITE 45 4. Hilfe aus der Schule 4.1. Wie bereiten wir unser Kind auf die Schule vor? Wenn ein Kind bis zum 30. Juni eines Jahres sechs Jahre alt wird, gilt es als schulpflichtig. Meist ist das Kind in diesem Alter auch so weit entwickelt, dass es den geistigen, sozialen und körperlichen Anforderungen der Schule gerecht wird. Gespräche mit den Erziehern, den zukünftigen Lehrern, dem Kinderarzt und dem Gesundheitsamt sowie ggf. die Beobachtungen zur Schulfähigkeit können offene Fragen klären, etwa zu einer früheren Einschulung oder einer Rückstellung Tabelle 7. Tabelle 7: Schulfähigkeit beobachten und fördern Funktionen Untersuchung Förderung im Vorschulalter Sehen und Hören Seh- und Hörtest beim Kinderarzt, der ggf. zum Augen- und HNO-Arzt überweist. Optische und akustische Angebote unterschiedlicher Art. Das Kind sollte dabei nicht überfordert werden. (Fernsehen nicht vor dem 4. Geburtstag; Fernsehen, Gameboy und Playstation zusammen nicht über 30 Minuten am Tag.) Abstimmung zwischen Auge und Hand, Handmotorik Bei Beidhändigkeit oder unklarer Händigkeit evtl. testen. Ausmalen und freies Malen fördert die Stifthaltung und bereitet das Schreibenlernen vor. Heutzutage werden viele Kinder auch schon vor der Schule spielerisch an Buchstaben herangeführt. Grobmotorik, Geschicklichkeit Beobachtung in den Bewegungen im Alltag; z.B. Treppenlaufen, Anziehen, Dreirad- und Fahrradfahren, Ballspiel. Sport, Spiele draußen mit Bällen, Geräten (Federball, Fahrrad etc.). Sprechen und Sprache Verstehen, Erzählen, Wortschatz und Grammatik. Vorlesen, miteinander Reden, alltägliches Erklären und Erklärenlassen, Sprech- und Sprachspiele, Wiedergabe von Erlebnissen, Sprechen über Gefühle. Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Konzentration Beobachtung der Erledigung von Aufgaben. Aufgaben im Haushalt übernehmen und dabei bleiben; Musik und Sport fördern dies besonders und motivieren durch einen raschen Erfolg; Erfolge herausstellen, Schule als spannend darstellen. Umgang mit Spannungen Beobachten, Fragen und Streit Bewusstsein und Verantwortung Klären der Fragen: Grüßen, „Bitte“ und „Danke“, sich entschuldigen, im Gespräch einander ansehen, Mimik und Gestik vormachen; Unternehmungen und Spiele in der Familie und in Gruppen; Reden über Gefühle, Einfühlen und Respektieren, Streit lösen lernen. Anwendung aller Lernmethoden: Lernen durch Übung, Lernen durch Assoziation, Lernen durch Zuwendung (1) Fühlt sich das Kind am (Ermutigung und Anerkennung), Lernen am Vorbild, LerGeschehen beteiligt? nen durch Übermittlung von Symbolen, Lernen durch (2) Nimmt es Fehler als An- Schriftsprache. sporn oder als Kränkung? Angemessene Ansprüche und lösbare Aufgaben stellen, (3) Geht es dem Kind nur Kinder um Rat fragen, Abwerten anderer Personen oder um sich selbst oder auch Einrichtungen (Kindergarten, Schule...) meiden. um ein gutes Miteinander? 4 HILFE AUS DER SCHULE 4.2. SEITE 46 Wer ist für schulische Förderung und Hilfe zuständig? Für die Reifung der Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Kinder sind die Eltern (bzw. Sorgeberechtigten) zuständig und verantwortlich. Hilfe zur Erziehung bietet von staatlicher Seite das Jugendamt an, die Lehrer der Schule sorgen sich um die Bildung der Kinder und Jugendlichen, Kinderärzte kümmern sich v.a. um die körperliche Gesundheit, und für psychosoziale Störungen und Erkrankungen sind Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychiater zuständig. Nobody ist perfect! Eltern, Erzieherinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen, Therapeuten und Ärzte versuchen ihren Auftrag so gut wie möglich zu erfüllen. Aber keiner verfügt über endlos Energie, Zeit und Geld. Anstatt zu stöhnen (meist über die eigene Belastung...) und zu klagen (vorzugsweise über andere und vor allem die Politik...), sollten wir uns möglichst auf die unmittelbar lösbaren Aufgaben kümmern. Zusammenarbeit will gelernt sein! Die Kinder danken es ihren Eltern und ihren Helfern, wenn sich alle gut miteinander abstimmen. Das fängt schon bei Mutter und Vater an: Wenn sich die Eltern vertragen, dann haben sie den Kopf freier dafür, sich einfühlsam um ihre Kinder zu kümmern S.19. Hinzu kommen die Großeltern, die Erzieherinnen im Kindergarten, die Lehrer. Und auch die Sozialarbeiter des Jugendamtes, die Therapeuten und die Ärzte sind „nur“ Menschen, und es dauert seine Zeit, um sich aufeinander einzustellen. Störungen lösen Spannungen aus! Kinder mit Schulschwierigkeiten sind ein Anlass für Unruhe und Sorge. Eltern, Erzieherinnen Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Therapeuten müssen mehr als sonst darauf achten, sich zusammen und nicht auseinander zu setzen. Wer ist zuständig? Keine Frage: alle zusammen! Finden Sie gemeinsam heraus, was am besten hilft Tabelle 8. Alle Schritte werden anschließend noch genauer erläutert. Fragen Sie im Zweifel nach: Es gibt leider durchaus auch Hilfeangebote, die viel Zeit und Geld kosten und wenig Qualität bieten. Tabelle 8: Kinder mit schulischen Leistungs- und Verhaltensschwächen fördern Auffälligkeiten Hilfebedarf durch Eltern, Lehrer, Jugendhilfe, Therapeuten 1. Leichte Leistungs- oder Verhaltensschwächen Motivation und Hilfe bei Hausaufgaben S.10, bei Lerntechniken S.4. Regeln, Strukturen und familiäres Klima im Alltag prüfen und ggf. verändern S.1. Verlässlicher Austausch von Eltern, Kind und Lehrern. 2. Mittelschwere Lernschwächen, z.B. im Rechnen oder im Lesen und Rechtschreiben Förderung durch Nachhilfe S.10. 3. Mittelschwere Verhaltensauffälligkeiten, z.B. Aggression oder Rückzug Ggf. disziplinarische Maßnahmen (Aufgabe der Eltern und ggf. der Schule). 4. Deutliche Leistungsstörungen Die Eltern beantragen bei der Schule eine Überprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf 4.4.1 Antrag auf Feststellung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs S.47. Die Schule bietet ggf. eine besondere Förderung an oder empfiehlt den Wechsel auf eine Förderschule. 5. Deutliche Verhaltensstörungen, z.B. anhaltender Streit, Schulstrafen, auch Schulvermeidung Die Eltern beantragen beim Jugendamt Erziehungshilfe oder bei seelischer Behinderung eine Eingliederungshilfe gem. § 35a KJHG 5.3 Eingliederungshilfe S.51. Klärung einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche 4.4.2 Antrag auf Überprüfung einer Lese- und Rechtschreibschwäche S.47 (Aufgabe der Lehrer), ggf. Förderunterricht, Nachteilsausgleich S.48 etc. Die Eltern lassen sich beim Jugendamt beraten und beantragen Erziehungshilfe 4.4.3 Antrag auf Erziehungshilfe S.47. Der Kinder- bzw. Hausarzt überweist zur kinder- bzw. jugendpsychiatrischen Diagnostik, Begutachtung und ggf. Behandlung S.52. 4 HILFE AUS DER SCHULE 4.3. Wie ist das richtige Vorgehen? Ihr erster Ansprechpartner – egal ob Schule, Jugendamt oder Therapeut – muss Ihnen unmittelbar und kompetent helfen. Damit alle möglichst gut zusammenarbeiten können, sollten Sie sie von der Schweigepflicht entbinden. Eine schwache Schulleistung geht meistens auf fehlende Lerntechniken zurück S.4 und ist nur selten eine Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche im eigentlichen Sinn. Beachten Sie hier unsere Tipps für die Hausaufgaben und für die Nachhilfe S.10. Beantragen Sie ggf. in Absprache mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer eine sonderpädagogische Überprüfung S.47. Eine Lese-, Rechtschreib- bzw. eine Rechenschwäche müssen durch die Schule frühzeitig festgestellt werden, und die Lehrer müssen rasch, ausreichend und nach klaren Vorgaben S.35 helfen. Eine Förderstunde reicht pro Woche nicht aus! Nur in Ausnahmen gibt es noch Aufgaben für das Jugendamt 4.4. oder Therapeuten, denn die echte Lese-, Rechtschreib- oder die Rechenschwäche sind an sich weder ein Erziehungsmangel, noch führen sie unmittelbar zu einer psychischen Erkrankung. Auch (seelisch) behindert sind die Kinder in aller Regel nicht, so dass sie keine Eingliederungshilfe S.51 bekommen.. Für Erziehungshilfen ist das Jugendamt zuständig. Die Hilfeformen finden Sie auf S.50. Wenn Sie das Gefühl haben, Hilfe zu benötigen, lassen Sie sich ausführlich beraten. Erst wenn Sie einen schriftlichen Antrag stellen, wird der Bedarf detailliert geprüft. Auch die Sozialarbeiter des Jugendamtes haben es lieber, wenn Sie früh und mit kleinen Sorgen kommen, anstatt Jahre später mit erheblichen Störungen! Für psychosoziale Störungen sind Therapeuten S.52 zuständig. Sie können sich entweder an niedergelassene Psychotherapeuten oder Ihre nächste Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie wenden. Sie benötigen dafür einen Überweisungsschein des Haus- oder Kinderarztes. Anträge formulieren Wir zeigen Ihnen hier, wie Sie die Anträge formulieren können. In der Schule Ihres Kindes liegen teilweise auch Antragsformulare für Sie bereit. Dort hilft man Ihnen auch gerne. 1. SEITE 47 Antrag auf Feststellung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs Antrag an die XYZ-Schule Sehr geehrte Damen und Herren, bitte überprüfen Sie, ob mein Kind ... gemäß Verordnung vom 1.11.1997 sonderpädagogisch gefördert werden muss, und berufen Sie dafür eine Förderkommission ein. 2. Antrag auf Überprüfung einer Lese- und Rechtschreibschwäche Antrag an die XYZ-Schule Sehr geehrte Damen und Herren, bitte überprüfen Sie, ob mein Kind ... eine Lese- und Rechtschreibschwäche hat. Leiten Sie bitte ggf. entsprechende Maßnahmen gemäß Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 4.10.2005 ein. Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen (Unterschriften der Sorgeberechtigten) 3. Antrag auf Erziehungshilfe Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen Antrag an das Jugendamt ... (Unterschriften der Sorgeberechtigten) Sehr geehrte Damen und Herren, als Sorgeberechtigte/r beantrage ich für mein Kind ... Erziehungshilfen nach dem KJHG. Mit freundlichen Grüßen (Unterschriften der Sorgeberechtigten) 4 HILFE AUS DER SCHULE 4.5. SEITE 48 Gesetzliche Vorgaben Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs (1.11.1997) § 1: Sonderpädagogischer Förderbedarf Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist festzustellen, wenn eine körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung oder eine Beeinträchtigung des sozialen Verhaltens bei der Schulanmeldung bekannt ist oder vermutet wird, während des Schulbesuchs auffällig wird und das Erreichen der Bildungsziele der betreffenden allgemeinbildenden Schule nicht oder nur durch sonderpädagogische Förderung möglich erscheint, oder wenn eine bereits eingeleitete sonderpädagogische Förderung nicht mehr als ausreichend erscheint. § 2: Verfahren Das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs wird eingeleitet: durch die zuständige Schule; die Erziehungsberechtigten sind unverzüglich zu unterrichten, bei einzuschulenden Kindern ist ihre Zustimmung erforderlich, oder durch einen Antrag der Erziehungsberechtigten bei der zuständigen Schule. Die Leiterin oder der Leiter der zuständigen Schule beauftragt eine Lehrkraft, die die Schülerin oder den Schüler unterrichtet oder voraussichtlich unterrichten wird, mit der Erstellung eines Berichts und holt ein Beratungsgutachten einer Sonderschule ein. Auf Antrag der Erziehungsberechtigten beruft die Leiterin oder der Leiter der zuständigen Schule eine Förderkommission ein. Diese gibt Empfehlungen zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förder- bedarfs und zum weiteren Schulbesuch. Sie stützt sich hierbei auf den Bericht der Schule und das Beratungsgutachten der Sonderschule; sie kann weitere Unterlagen hinzuziehen oder Auskünfte einholen. Der Förderkommission gehören an: die Leiterin oder der Leiter der zuständigen Schule als vorsitzendes Mitglied, die beiden Lehrkräfte, die den Bericht und das Beratungsgutachten erstellt haben, die Erziehungsberechtigten. Gibt es keine einvernehmliche Empfehlung, sind die verschiedenen Auffassungen der Schulbehörde mitzuteilen. In den Sitzungen der Förderkommission können sich die Erziehungsberechtigten vertreten lassen oder eine Person ihres Vertrauens hinzuziehen. Kosten werden nicht erstattet. Das vorsitzende Mitglied kann weitere Personen hinzuziehen. Wird keine Förderkommission berufen, so erarbeiten die genannten Lehrkräfte die Empfehlungen. § 3: Entscheidungsgrundlagen Die Schulbehörde berücksichtigt bei der Entscheidung über eine sonderpädagogische Förderung den Bericht der Schule, das Beratungsgutachten der Sonderschule und die Empfehlungen nach § 2 Abs. 3 oder 6. 4 HILFE AUS DER SCHULE SEITE 49 Erlass zur Förderung von SchülerInnen mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen (4.10.2005; Zusammenfassung) 1. Lesen, Rechtschreiben und Rechnen lernen Die Organisation dieser besonderen Förderung gehört zum Förderkonzept der Schule. Voraussetzung ist eine guten Zusammenarbeit innerhalb der Schule und mit den Gesundheits-, Sozial- und Jugendämtern, den schulpsychologischen, schulund fachärztlichen Diensten, der Frühförderung, weiteren Fachinstitutionen, Arbeitsämtern, Kammern, Betrieben und Erziehungsberatungsstellen. Beobachtungen aller Lehrer, systematische Analysen und Tests durch die Schule sollen helfen, Schwierigkeiten zu erkennen und Hilfestellungen zu entwickeln. Dies wird individuell dokumentiert. Ggf. bezieht die Schule außerschulische Helfer mit ein, z.B. Schulpsychologen, Beratungslehrkräfte und Mobile Dienste der Förderschulen und Fachärzte. Bei der Einschulung werden die Voraussetzungen für Lesen, Schreiben und Rechnen festgestellt. Erkenntnisse aus der Vorschulzeit werden einbezogen. Fehlende Vorkenntnisse müssen systematisch entwickelt werden. Anfangs muss besonders sorgfältig beobachtet und dokumentiert werden, um Schwierigkeiten rasch zu erkennen und vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen. Besonders beachtet werden Schüler mit ausländischer Erstsprache. 2. Lesen, Rechtschreiben und Rechnen lehren 3. Bewertung des Förderergebnisses: Die Wirksamkeit der Fördermaßnahmen wird regelmäßig überprüft und ggf. angepasst. Lernfortschritte werden konsequent rückgemeldet. 4. 1. Grundsätze: Auf Antrag der Lehrer entscheidet die Klassenkonferenz, Schüler ausnahmsweise anders als üblich zu bewerten. Beim Rechnen gilt dies nur in der Grundschule und im Primarbereich der Förderschule. Dies kann folgendermaßen geschehen: Lesen, Rechtschreiben und Rechnen werden in allen Fächern unterrichtet, und zwar gemäß dem Lernstand und der Lerngeschwindigkeit der einzelnen Schüler. Die Lehrer stellen unterschiedliche Lernwege dar und sichern die Lernergebnisse. Schwierigkeiten werden spezifisch gefördert. 3. Stärkere Gewichtung mündlicher Leistungen, Zeitweiliges Nicht-Benoten der Lese- und Rechtschreibleistung oder des Rechnens, Nachteilsausgleich: längere Arbeitszeit z.B. bei Klassenarbeiten, Hilfsmittel (z.B. Zehnermaterial), besondere Aufgaben und pädagogische Würdigung des individuellen Fortschritts. Förderung Die Klassenkonferenz entscheidet aufgrund der Dokumentation der individuellen Fortschritte über Notwendigkeit, Art und Umfang der Förderung. Die Schüler werden ggf. im Sekundarbereich 1 und an den berufsbildenden Schulen weiter gefördert. Ggf. wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf geprüft. 1. Allgemeine Förderung: Psychosozialen Auffälligkeiten durch Über- bzw. Unterforderung soll vorgebeugt werden. Bei ersten bzw. leichten Schwierigkeiten bekommen die Schüler spezielle Aufgaben innerhalb ihrer Klasse, auch um sich gegenseitig zu unterstützen (Binnendifferenzierung). 2. Besondere Förderung: Schüler, die davon aktuell oder voraussichtlich nicht ausreichend profitieren, werden besonders gefördert (Klassen 1-10), z.B. durch ein Training der phonologischen Bewusstheit (die Fähigkeit, den Klang eines Wortes mit der Rechtschreibung und der Bedeutung zusammenzubringen), spezifische Rechtschreibprogramme, Vorkurse zur Entwicklung des Zahlbegriffs, handlungsorientierte Mathematikförderprogramme, elektronische Medien, ggf. auch durch gezielte regelmäßige klassen-, jahrgangsund schulübergreifende Maßnahmen. Leistungsfeststellung und –bewertung 2. Zeugnisse: Abweichende Bewertungen der Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistung werden in den Zeugnissen vermerkt. Ausnahme sind Abgangsund Abschlusszeugnisse, dort muss der allgemein übliche Leistungsstand zugrunde gelegt werden; auf besondere Schwierigkeiten im Rechtschreiben wird aber hingewiesen, wenn dies die Erziehungsberechtigten oder die volljährigen Schüler wünschen. Eine Rechtschreibschwäche allein ist kein Grund, Schüler nicht zu versetzen bzw. sie nicht in eine weiterführende Schule wechseln zu lassen. 5. Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten Die Lehrer müssen mit den Eltern den Verlauf der Fördermaßnahmen erörtern und sie darauf hinweisen, wie sie selbst ihr Kind unterstützen können. Interessante Informationen zum Lesen und Rechtschreiben finden Sie auch unter www.duden.de. SEITE 50 5. Hilfe vom Jugendamt 5.1. Was heißt Sorgerecht? § 1631 BGB: Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig. Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen. § 1631b BGB: „Eine Unterbringung ... mit Freiheitsentziehung ist nur mit Genehmigung des Familiengerichts zulässig. ... Das Gericht hat die Genehmigung zurückzunehmen, wenn (es) das Wohl des Kindes ... nicht mehr erfordert.“ Wenn Ihr Kind selbst- bzw. fremdgefährdet ist, muss es besonders geschützt werden. Es darf z.B. nicht weglaufen können. Da die Freiheit des Kindes vorübergehend eingeschränkt werden muss, beantragen die Eltern die Genehmigung dazu bei Gericht. Der Beschluss wird aufgehoben, sobald das Kind nicht mehr gefährdet ist. § 1671 BGB: Bei einer Scheidung behalten die Eltern grundsätzlich das gemeinsame Personensorgerecht für ihre Kinder. Nur auf Antrag bestimmt das Familiengericht über das Sorgerecht, und zwar unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der Bindungen. Ein übereinstimmender Vorschlag bzw. auch der Vorschlag des Kindes sollen möglichst übernommen werden. Die Vermögenssorge kann auch teilweise dem anderen Elternteil, einem Vormund oder Pfleger 5.2. übertragen werden. Für die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen soll erforderlichenfalls ein Pfleger gestellt werden. § 1666 BGB: Sorgerechtsentzug wegen Gefährdung des Kindeswohls: Wenn das Kindeswohl durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung, durch unverschuldetes elterliches Versagen oder durch Gefahr durch einen Dritten gefährdet ist, dann muss das Gericht die entsprechenden Maßnahmen zur Gefahrenabwendung treffen, wenn dies die Eltern nicht können oder wollen. § 7 KJHG: Personensorgeberechtigter ist derjenige, dem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches die Personensorge zusteht. Erziehungsberechtigter ist der Personensorgeberechtigte und jede sonstige Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Sorgerecht ist gleichzeitig Sorgepflicht! Hilfe zur Erziehung Wem hilft das Jugendamt? Das Jugendamt hilft Familien, die so weit belastet sind, dass die Erziehung der Kinder leidet (Sozialgesetzbuch 8, „Kinder- und Jugendhilfegesetz“). Die Hilfe umfasst vor allem pädagogische (erzieherische) Maßnahmen. In besonderen Fällen werden auch therapeutische, Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sowie Eingliederungshilfen (analog zu Behindertenhilfe; §35a S.51) gewährt. In den §§ 27 bis 35 werden die Hilfearten näher beschrieben: Erziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer, Sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppe, Pflegefamilie, Heimerziehung, Betreutes Wohnen, Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung. Ggf. können auch junge Volljährige bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und ggf. auch darüber hinaus Erziehungshilfen bekommen (§ 41). 5 HILFE VOM JUGENDAMT SEITE 51 Wie ist das Vorgehen zur Erlangung der Hilfen? 1. Beratung und Mitwirkung der Betroffenen: Zu Beginn berät ein/e SozialarbeiterIn des Jugendamtes die Sorgeberechtigten und die Betroffenen über Hilfen zur Entwicklung des Kindes. Die Sorgeberechtigten besprechen die notwendigen Förderhilfen mit dem Jugendamt und ggf. anderen Fachkräften. 2. Dann stellen die Sorgeberechtigten oder die Sozialarbeiter einen Hilfeantrag an das Jugendamt. 3. Die Sozialarbeiter bereiten eine Hilfekonferenz unter Teilnahme der erforderlichen Fachkräfte vor. Die Entscheidung über Art und Umfang der Hilfe wird protokolliert. Die verschiedenen Ansprechpartner werden im Hilfeplangespräch beteiligt, aber nicht unbedingt in der Hilfekonferenz. 4. Am Hilfeplangespräch nehmen grundsätzlich die betroffenen Kinder und Jugendlichen, die Sorgeberechtigten, die evtl. schon beteiligten Hilfeeinrichtungen und ggf. weitere Fachkräfte teil, z.B. Therapeuten oder Ärzte. Unter Federführung des Jugendamtes werden zunächst die Risiken, die Ressourcen, die Ziele, die Art und der Umfang der 5.3. 6. Hilfeplan-Fortschreibung: Das Jugendamt muss regelmäßig prüfen, ob die gewährte Hilfe weiterhin geeignet und notwendig ist. Das nächste Hilfeplangespräch sollte nach ca. sechs bis zwölf Wochen stattfinden, weitere Termine sollen je nach Einzelfall alle sechs bis zwölf Monate stattfinden. am Leben in der Gesellschaft bereits beeinträchtigt ist oder dies zu erwarten ist. Bei der Planung und Ausgestaltung der Maßnahme sind fachlich versierte Ärzte oder Psychotherapeuten zu beteiligen. Beteiligung, Mitwirkung und Fristen Beteiligung (§ 8): Die betroffenen Kinder und Jugendlichen werden entsprechend ihrem Entwicklungsstand beteiligt. Sie haben das Recht, sich auch selbständig an das Jugendamt zu wenden, in akuten Krisen auch ohne das Wissen der Sorgeberechtigten. Mitwirkung (§ 36): Im Fall einer anstehenden außerhäuslichen Unterbringung steht den Sorgeberechtigten und den Betroffenen Kindern bzw. Jugendlichen ein Wunsch- und Wahlrecht zu, wenn damit nicht unverhältnismäßige Mehrkosten verbunden sind. Zu den Jugendhilfemaßnahmen gehört ein Hilfeplan, der im 5.5. 5. Der Hilfeplan bereitet die Jugendhilfemaßnahme vor. Dann ergeht durch die Wirtschaftliche Jugendhilfe der Bescheid über die Leistungsgewährung und Kostenübernahme. Gegen den Leistungsbescheid können Rechtsmittel eingelegt werden (§ 31, § 78 SGB 10). Eingliederungshilfe § 35a: Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn zu erwarten ist, dass ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe 5.4. Hilfe erörtert und festgelegt. Die Ziele werden verständlich, realistisch, zeitorientiert und konkret überprüfbar formuliert, und es wird geklärt, wer für welche Aufgabe die Verantwortung übernimmt. Das Ergebnis ist ein Hilfeplan, der zur Selbstkontrolle des Jugendamtes und zur Abstimmung aller Beteiligter dient. Er wird den weiteren Teilnehmern zugeschickt. Die Mitarbeiter der beauftragten Jugendhilfe-Einrichtung haben dann die Aufgabe, zusammen mit allen Betroffenen einen Behandlungs- und Therapieplan aufzustellen. Rahmen eines durch das Jugendamt zu organisierenden Hilfeplangesprächs (HPG) gemeinsam besprochen wird. Hierzu können auch weitere Institutionen wie z.B. die Klinik hinzugezogen werden. Fristen: Über die Zuständigkeit und die konkreten Hilfemaßnahmen muss innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang entschieden werden (§ 14 Abs. 2 (4) Sozialgesetzbuch 9). Inobhutnahme Die Inobhutnahme ist die vorläufige Unterbringung des Kindes bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform. Der Unterhalt während der Inobhutnahme wird vom Jugendamt sichergestellt. Zur Inobhutnahme gehört auch die Beratung und das Aufzeigen von Hilfen. Ein Kind wird in Obhut genommen, wenn die Sorgeberechtigten das Kindeswohl nicht mehr gewährleisten können. Die Gründe dafür können bei den Eltern oder dem Kind liegen. SEITE 52 6. Hilfe von Therapeuten Eine erfolgreiche Entwicklung zielt darauf, den Anforderungen der Umwelt möglichst wirkungsvoll gerecht zu werden. Äußere Risikofaktoren oder mangelhaft ausgebildete persönliche Ressourcen können die Anpassung beeinträchtigen. So kann zum Beispiel ein langjähriger Streit zwischen Eltern zur Trennung führen. Die Mutter muss mit den Kindern in eine kleinere Wohnung umziehen, und die Kinder müssen die Schule wechseln. Die Mutter bezieht nun Sozialhilfe, so dass sich die Familie einschränken muss und hat weniger Geld zur Verfügung. Durch dieses kritische Ereignis können die Schulleistungen der Kinder leiden, und dies beeinträchtigt die psychische Stabilität der Kinder. die betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen und ihre Eltern offen und zuverlässig über den Alltag des Kindes und seine Entwicklungsgeschichte berichten. Auch die Risiken müssen zur Sprache kommen. Gleichzeitig wird beobachtet, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten (Ressourcen) das Kind verfügt. Daraus wird der aktuelle Entwicklungsstand abgeleitet. Die Therapeuten vereinbaren sodann mit der Familie die anstehenden Entwicklungsaufgaben bzw. Behandlungsziele und die Behandlungsmethoden. Wir erklären in diesem Abschnitt, welche Informationen die Therapeuten erheben, und wie sie vorgehen, um zu sinnvollen Behandlungszielen und -methoden zu gelangen. Vor jeder Behandlung steht eine gute Diagnostik. Die Therapeuten sind darauf angewiesen, dass ihnen 6.1. Wie entstehen Störungen? Entwicklungsrisiken Ressourcen Wächst das betroffene Kind oder seine Familie unter riskanten Bedingungen auf? Bestimmte Lebensbedingungen erfordern beträchtliche Anpassungsleistungen, die nicht mehr zu bewältigen sind: Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten (individuellen Ressourcen) lassen sich beim Kind und in seiner Umgebung konkret beobachten? 1. Mangelnde Ressourcen: Materielle Organisation: Finanzielle Not, Arbeitslosigkeit, unzureichender Wohnraum. Zugang zu Information: Geringe Sprachkenntnisse, geringer Bildungsstand, Isolation. Gesundheit der Familie: Behinderungen, somatische oder psychische Störungen, Suchterkrankungen und Traumata. 2. Beeinträchtigte Bindungen: Entwicklungssprünge: Einschulung, Umzug, Schul-, Ausbildungs-, Arbeitsplatzwechsel. Instabile Beziehungen und Brüche: Streit und Trennung, Todesfälle. 1. Elementare Ressourcen: Stoffwechsel: Atmung, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Schlaf, körperliche Krankheiten. Regulation von Wahrnehmung und Handlung: Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konzentration, Grob- und Feinmotorik, Sprech- und Sprachfähigkeit. Lernen: Neugier und Motivation, Problemlösen, Orientierung und Wissen, besondere Fähigkeiten und Interessen, Zugehörigkeit zu Vereinen und Gruppen, Umgang mit Geld. Ausgleich von Spannungen: Umgang mit Frustration, Unsicherheit und Angst, Trauer und Schmerz, Freude und Wut. 3. Eingeschränkte Verantwortung: Unzureichende elterliche Funktionen (d.h. Versorgung, Pflege, Schutz, Förderung), z.B. nach früher Schwangerschaft (< 21 Jahre). Jugendhilfemaßnahmen schon bei den Eltern des betroffenen Kindes. Straffälligkeit im näheren Umfeld. 2. Bindung: Beziehungsfähigkeit des Kindes. Anerkennende und förderliche Umgebung: Eltern, Geschwister, Nachbarn, Freunde, Schule. Häufen sich Entwicklungsrisiken, dann leidet die kindliche Entwicklung. Zur Behandlung der Familien benötigen wir vor allem deren Fähigkeiten und Fertigkeiten! 3. Bewusstsein und Verantwortlichkeit: Erkennen die Betroffenen, wie sie am Geschehen um sich herum beteiligt sind? Nutzen sie Erfolge wie Irrtümer zum Lernen? Gehen Sie altersangemessen auf andere zu und beteiligen sich auf sinnvolle Weise am gesellschaftlichen Leben? 6 HILFE VON THERAPEUTEN 6.2. SEITE 53 Wie werden die Behandlungsziele bestimmt? Die Behandlungsziele werden in vier Schritten bestimmt: vor (d.h. das Kind kann diese aufholen), oder handelt es sich um eine Behinderung? Von dieser Entscheidung, die auch im Sozialrecht verankert ist, hängen Hilfemaßnahmen ab, etwa eine Frühförderung, eine Erziehungshilfe durch das Jugendamt, der Förderbedarf in der Schule, eine Integrationshilfe für Behinderte oder eine medizinische oder psychologische Therapie. 1. Über die Entwicklungsgeschichte des Kindes (Eigenanamnese) und der Familie (Familienanamnese) entsteht ein Bild über mögliche Entwicklungsrisiken (s.S.52). Die Therapeuten machen sich zudem ein Bild über die familiären Beziehungen (Genogramm). 2. Die Familie, die behandelnden Therapeuten und Betreuer beobachten das Kind und seine aktuellen Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten; s.S.52). 3. Nach der Datenerhebung gilt es, Entwicklungszusammenhänge und einen Entwicklungstrend abzuleiten (Reifungsdynamik): Beispiel für Entwicklungszusammenhänge (Verbindung zwischen äußeren Risiken und kindlicher Fehlentwicklung): Nach der elterlichen Trennung fallen die Mutter und ihre Kinder finanziell in die Sozialhilfe. Sie müssen in einen sozialen Brennpunkt mit geringen Bildungsanreizen, drogenkonsumierenden und straffälligen Jugendlichen ziehen. Da die Mutter nun arbeiten geht, werden die Kinder weniger beaufsichtigt. Das jüngste Kind fällt im Kindergarten durch Konzentrationsmängel auf, und der ältere Bruder wendet sich in der Schule aggressiv gegen die Lehrer. Entwicklungstrend: Bewegt sich die kindliche Auffälligkeit im Rahmen der akzeptierten Entwicklungstoleranz, liegt eine Entwicklungsverzögerung 4. Mit (1) der Vor-Einschätzung der Entwicklungsrisiken, (2) der aktuellen Sicht auf die Ressourcen und (3) der Interpretation von Reifungszusammenhängen und des Entwicklungstrends können die Therapeuten die individuellen Behandlungsziele bestimmen. Allgemein widmen sich Pädagogik und Therapie den folgenden drei Aufgaben: Förderung einer sicheren Bindung zu den Bezugspersonen bzw. Helfern, Aufbau strukturierter biologischer, psychischer und sozialer Ressourcen, Entwicklung von Verantwortlichkeit gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen. für Reife und selbständige Verantwortlichkeit – das heißt, ich bin mir über die folgenden gesellschaftlichen Funktionsprinzipien bewusst: 1. Ich bin beteiligt. 2. Ich kann mich irren. 3. Es geht um ein sinnvolles Miteinander. 6 HILFE VON THERAPEUTEN 6.3. SEITE 54 Welche Behandlungsmethoden wählen wir aus? Therapeuten, Pflege- und Erziehungspersonal betreten im Rahmen einer Behandlung das „System Familie“; die Professionellen tun gut daran, sich darüber bewusst zu werden, dass sie dadurch ein neues Element im Regelkreis der Klientenfamilie werden. Dies erfordert neue Anpassungsleistungen der Familie wie auch der Professionellen: Bindung: Das Einvernehmen mit den Betroffenen über die Behandlungsziele und -mittel sichert eine produktive gemeinschaftliche Haltung. Ressourcen: Eine wirksame Behandlung bezieht sich auf verlässliche Beobachtungen und die o.g. sechs Lehr- bzw. Lerntechniken. Unterschiedliche Therapiestile und -schulen (z.B. Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie, Systemische Therapie) unterscheiden sich in der Gewichtung dieser Lerntechniken. Der flexible Einsatz verspricht besonders hohen Erfolg. Reines Reden reicht nicht aus, auch die praktische Selbstsicherheit des Systems muss gestärkt werden, etwa durch aufsuchende Familienarbeit, Patienten- oder Elterngruppentraining, Video-Feedback und Multifamilientherapie. Verantwortung: Wenn die Aufgaben nach Zuständigkeit aufgeteilt sind (z.B. Betroffene, Eltern, Schule, Jugendamt, Haus- bzw. Kinderarzt) und sich die Behandlung nach den unmittelbaren Lebensumständen der Klienten ausrichtet, wird die Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein. Bleibt der Erfolg aus, so finden sich Schwächen in mindestens einer der drei genannten Kategorien, etwa unzureichende oder missverständliche Absprachen, mangelhafte Abstimmung der Behandlungsschritte auf die Möglichkeiten des Betroffenen oder Zuständigkeitsgerangel zwischen Eltern und Helfern. Die Kinder werden auf drei Ebenen individuell und möglichst auch im Rahmen einer Gruppenbehandlung gefördert Tabelle 9. Tabelle 9: Förderschritte Förderschritte 1. Stufe: Unterstützung 2. Stufe: Training 3. Stufe: Reife Regulation Die Kinder bzw. Jugendlichen bearbeiten kurze, schrittweise strukturierte Aufgaben und werden dabei eng begleitet und angeleitet. Fortgeschrittene bearbeiten Aufgaben, bei denen es unterschiedliche Lösungswege und ggf. auch verschiedene gleichwertige Ergebnisse gibt. Sie werden dabei nur noch phasenweise begleitet. Reife Kinder und Jugendliche nehmen die Entwicklung, die Planung, die Entscheidung, die Durchführung und die Ergebniskontrolle ihrer Vorhaben und Aufgaben weitgehend selbst in die Hand. Aufgaben zum Thema „Beziehung und Bindung“ Äußere Zuwendung (Aufmerksamkeit und Versorgung) durch Helfer. Aufbau direkter und offener Beziehungen innerhalb des vorhandenen Bezugssystems mit klar definierten Rollen, Strukturen und Regeln. Aktive, selbständige, differenzierte und flexible Regulation von Beziehungen. Aufgaben zum Aufbau von Ressourcen Unterstützung durch die Helfer bei der Anpassung, v.a. der Regulation von Wahrnehmung, Äußerung und Handlung. Schrittweises Training der selbständigen Regulation materiell-biologischer und psychosozialer Bedürfnisse. Kontinuierliche Aneignung von Techniken zur Eigenmotivation, zur besseren Problemlösung und ständige Verbesserung der Lerntechniken. Aufgaben um das Thema Verantwortung Eltern, Pädagogen und TheEltern und Helfer unterstützen rapeuten melden den Kindern das Kind bei der Ausbildung ihre Beteiligung am äußeren praktischer Verantwortung: Geschehen zurück. Sie geIch bin beteiligt. stalten einen fordernden und fördernden Lernraum, in welIch kann mich irren. chem Erfolge wahrscheinliEs geht um ein sinnvolles cher als Misserfolge sind. Miteinander. Die Kinder und Jugendlichen verfügen über ein konstruktives soziales Bewusstsein, so dass sie aktiv und erfolgreich gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen übernehmen können, mithilfe derer sie weiter reifen. 6 HILFE VON THERAPEUTEN 6.4. SEITE 55 Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ambulante und stationäre Hilfe Menschen mit seelischen Belastungen besitzen durchaus eigene Möglichkeiten, ihre Probleme zu lösen. In besonders schwierigen Situationen fällt es jedoch oft schwer, dies zu erkennen und die entsprechenden Hilfsquellen zu nutzen. Mit Hilfe ambulanter und klinischer Therapeuten sollen die Stärken und die gesunden Fähigkeiten wiederentdeckt und respekt- und verantwortungsvoll gefördert werden. Eine entsprechende Klinik bietet fachliche Hilfe für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bis zum 21. Lebensjahr sowie für ihr familiäres und soziales Umfeld an, die unter akuten oder länger andauernden psychischen, psychosomatischen und neuropsychiatrischen Störungen und Erkrankungen leiden oder von seelischer Behinderung bedroht sind. Dorthin können sich alle diejenigen wenden, die bei sich selbst oder anderen derartige Auffälligkeiten, Probleme oder Störungen vermuten oder entdeckt haben, d.h. die Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden selbst, deren Eltern, Bezugspersonen, Verwandte oder Bekannte ebenso wie professionelle Helfer (Ärzte, Psychologen, Lehrer, Erzieherinnen, Sozialarbeiter etc.). Die Aufgaben eines Klinikteams Die in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik tätigen Ärzte, Psychologen, Erzieher, Sozialpädagogen, Pflegekräfte und Fachtherapeuten beteiligen sich von therapeutischer Seite an der Aufgabe, die körperliche, die emotionale und die intellektuelle Entwicklung der jungen Menschen zu erkunden, zu begleiten und zu fördern. Das Klinikteam widmet sich den folgenden Aufgaben: Es erkennt die Stärken der Kinder, der Jugendlichen und ihrer Familien sowie ihre Fähigkeiten zur Selbsthilfe. Es unterstützt ihre Entwicklung, ihre schulische und berufliche Bildung sowie ihre Verselbständigung. Es weist auf Entwicklungs- oder Beziehungsstörungen hin, erkundet Spannungsquellen im Umfeld und stärkt die Eltern bei der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder. Es behandelt Kinder und Jugendliche mit seelischen Krisen, psychischen Störungen oder Suchterkrankungen, verhilft den erkrankten Kindern und Jugendlichen wieder zu Selbständigkeit und fördert ihre Wiedereingliederung. Es versorgt ihre Klienten möglichst ambulant, bei Bedarf auch tagesklinisch und stationär. Es fördert die gemeindenahe Zusammenarbeit zwischen der Familie und öffentlichen Hilfen (Ärzten, Schule, Erziehungsberatung, Jugendhilfe etc.) und beteiligt sich verantwortlich an der regionalen Weiterbildung. Es steht Jugendämtern und Fachgutachter zur Verfügung. Gerichten als Unterschiedliche Berufsgruppen vereinigen ihr Wissen und Können mit dem Ziel, die Entwicklung der ihnen anvertrauten Kinder bzw. Jugendlichen und ihrer Familien zu fördern. Schweigepflicht Ärzte, Therapeuten und ihre Mitarbeiter sind gemäß §§ 203, 204 StGB zur Verschwiegenheit über alle Informationen verpflichtet, die ihnen während ihrer Arbeit anvertraut worden sind. Dies ist eine wichtige Arbeitsgrundlage, auf die sich die Patienten bzw. ihre Angehörigen verlassen können müssen. Patientenbezogene Informationen dürfen an Fremde nur weitergegeben werden, wenn sie schriftlich von dieser Schweigepflicht entbunden worden sind. Wenn Therapeuten allerdings konkret von erheblichen Gefahren für das Leben und die Gesundheit Einzelner oder der Allgemeinheit erfahren, etwa von der Planung einer schweren Straftat, eines Selbstmords oder einer Infektionsgefahr, dann sind sie dazu verpflichtet, sich Dritten gegenüber zu offenbaren. Psychiatrische Patienten offenbaren meist viel persönlichere Daten als körperlich erkrankte Patienten. Ihre Daten müssen daher besonders geschützt werden. 2 FAMILIÄRE KRISEN SEITE 56