Elternhandbuch

Werbung
Entwicklungsstörungen und
ihre Behandlung
Rotenburger Handbuch für Eltern und professionelle Helfer
Bernhard Prankel, Bärbel Durmann
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Diakoniekrankenhaus Rotenburg (Wümme) gGmbH
März 2007
Inhalt
1.
Erfolgreiche Erziehung: Zehn Tipps und Tricks für den Alltag
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
1.5.
1.6.
1.7.
1.8.
1.9.
1.10.
2.
Familiäre Krisen
2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
3.
Wie bereiten wir unser Kind auf die Schule vor?
Wer ist für schulische Förderung und Hilfe zuständig?
Wie ist das richtige Vorgehen?
Anträge formulieren
Gesetzliche Vorgaben
Hilfe vom Jugendamt
5.1.
5.2.
5.3.
5.4.
5.5.
6.
Drogenmissbrauch
Anpassungsstörungen
Dissoziative Störungen
Psychosen
Essstörungen
Zwangs- und Ticstörungen
Einnässen
Einkoten
Leistungsschwächen
Schulvermeidung
Störungen des Sozialverhaltens
Kinder die „schwer zu bremsen sind“
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Bindungsstörungen
Suizid und Suizidversuch
Hilfe aus der Schule
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
4.5.
5.
Krise und Chance: Hochhängen oder flach halten?
Wenn Eltern streiten und sich trennen
Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder
Alkoholabhängigkeit bei Eltern
Störungen bei Kindern und Jugendlichen
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
3.5.
3.6.
3.7.
3.8.
3.9.
3.10.
3.11.
3.12.
3.13.
3.14.
3.15.
4.
Durchstarten! Die Hitliste für ein gutes familiäres Miteinander
Wie lernen Kinder?
Regeln für unser tägliches Miteinander
Ernährung
Taschengeld
Kids vor der Kiste
Tipps für die Hausaufgaben
Ein spannend-entspanntes Wochenende!
Miteinander Reden
Zehn Schritte durch den Tag – oder: Wie ist mein Kind organisiert?
Was heißt Sorgerecht?
Hilfe zur Erziehung
Eingliederungshilfe
Beteiligung, Mitwirkung und Fristen
Inobhutnahme
Hilfe von Therapeuten
6.1.
6.2.
6.3.
6.4.
Wie entstehen Störungen?
Wie werden die Behandlungsziele bestimmt?
Welche Behandlungsmethoden wählen wir aus?
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
1
1
4
5
6
7
8
10
11
12
13
15
15
19
24
26
27
27
30
31
32
33
34
34
34
35
35
35
36
38
40
42
45
45
46
47
47
48
50
50
50
51
51
51
52
52
53
54
55
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
SEITE 1
1.
Erfolgreiche Erziehung: Zehn Tipps
u n d Tr i c k s f ü r d e n Al l ta g
1.1.
Durchstarten! Die Hitliste für ein gutes familiäres Miteinander
Kaum sind die Kinder geboren, schon müssen wir
„gute“ Eltern sein. Auch das will gelernt sein.
Hits, Tipps und Tricks, die sich bewährt haben – bei
unseren eigenen Kindern und denjenigen, die Sie uns
täglich zur Behandlung anvertrauen –, geben wir
Ihnen hier zum Ausprobieren und Anwenden weiter.
Damit lösen Sie sicher nicht alle Probleme, aber vieles wird auf Dauer erheblich leichter – probieren
Sie’s!
Fragen Sie uns, wenn etwas nicht gleich klappt oder
Sie gern zusätzliche Hilfe hätten – und denken Sie
dran: Üben, üben, üben! Auch in der Erziehung ist
noch kein Meister vom Himmel gefallen! Ein Tipp
schon einmal vorab:
Ihre Kinder lernen am besten am Vorbild!
Viel Erfolg!
Erfolge trainieren
Erfolgstagebuch: Kaufen Sie ein schönes Heft, in
das Sie und Ihr Kind allabendlich die gemeinsamen
Erfolge des Tages schreiben – drei oder vier Zeilen,
das genügt schon. So trainiert Ihr Kind, zu reflektieren, d.h. darüber nachzudenken, was es geäußert
oder getan hat. Je regelmäßiger, desto eher wird Ihr
Kind schon morgens darüber nachdenken, was
abends ins Tagebuch soll!
Führen Sie das Erfolgstagebuch täglich, auch
Samstag und Sonntag – oder lassen Sie Zähneputzen an Feiertagen aus?
Erfolgsplan: Geht es um konkrete Dinge, dann wirkt
ein Erfolgsplan Wunder:
Erfolgsplan
(Beispiel)
Selbständig
aufstehen
Zähne putzen
Mo, Di, Mi, Do, Fr, Sa, So, Mo,
1.3. 2.3. 3.3. 4.3. 5.3. 6.3. 7.3. 8.3.
☺ ☺ ☺ ☺
☺ ☺ ☺ ☺ ☺
Hausaufgaben
in max. ¾-Std.
erledigen
☺ ☺ ☺ ☺
Müll wegbringen
☺ ☺ ☺ Die Aufgaben, die Sie in die erste Spalte eintragen,
besprechen Sie vorher mit Ihrem Kind. Wenn Sie mit
maximal fünf einfachen Aufgaben beginnen, sieht Ihr
Kind von Anfang an auch Erfolge. Sprechen Sie allabendlich darüber, wie Ihr Kind seine Erfolge selbst
einschätzt – auch das muss es lernen. 14-mal gut
bedeutet: „Klappt gut, Belohnung fällig!“ Ersetzen Sie
diese Aufgabe dann durch eine neue. Halten Sie den
Plan mindestens vier Monate durch.
Belohnen Sie eher mit gemeinsamen Aktivitäten,
nicht mit Süßigkeiten oder Geld – oder wollen Sie
bald feilschen wie auf einem Basar?
Das Erfolgstagebuch sollten Sie besonders dann
zur Hand nehmen, wenn Sie das Gefühl haben,
mit den üblichen Erziehungsmethoden nicht mehr
klar zu kommen.
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
SEITE 2
Regeln lernen
Haushaltsplan: Legen Sie im Rahmen eines „Familienrates“ fest, wer welche Haushaltsaufgaben verlässlich übernimmt. Hängen Sie diesen Plan gut
sichtbar auf. Erwarten Sie besonders am Anfang nicht
zu viel – nobody is perfect.
Schlaf’ gut! Ihre Kinder schlafen besser ein, wenn
Sie vorher zur Ruhe kommen – Vorlesen ja, Aufregung oder Flimmerkiste nein!
Erinnern Sie Ihr Kind dann nicht mehr an eine
Aufgabe, sondern nur noch an den Plan!
Legen Sie Streit vor der Nacht bei! Keiner schläft
gut, wenn er noch „eine Rechnung offen hat“.
Familienregeln: In einem nächsten „Familienrat“ besprechen Sie Regeln für das Miteinander in der Familie. Formulieren Sie positiv, meiden Sie das Wort
„nicht“.
Guten Appetit! Mit einem gemeinsamen Frühstück
startet die ganze Familie gut in den Tag. Drei Hauptmahlzeiten, und Ihre Kinder wachsen und gedeihen
gut. Schneiden Sie für Zwischenmahlzeiten Obst und
rohes Gemüse auf! Süßigkeiten sollten nicht frei zugänglich sein – und die Kinder sollten auch nicht das
ganze Taschengeld dafür ausgeben. Übrigens: Eine
gute Stimmung am Tisch macht Appetit!
Eine besonders wichtige Regel: „Wir schauen einander an, wenn wir miteinander sprechen! Wir grüßen
einander, wir sagen ‚bitte’ und ‚danke’, und nach
Fehlern entschuldigen wir uns!“
Wenn Ihre Kinder selbst auf Ideen kommen,
halten sie sich eher dran!
Kinder haben Spaß beim Auswählen, Einkaufen
und Mitkochen – lassen Sie sie mitmachen!
Gesundheit im Blick
Vorsorge: Stehen Vorsorgeuntersuchungen („Gelbes
Heft“) oder Impfungen an? Alle zwei Jahre ist ein
Sehtest und ggf. auch ein Hörtest fällig. Haus- bzw.
Kinderärzte erledigen das.
Nichts verschleppen – gehen Sie vorher zum Arzt!
Rauchen und Alkohol: Kinder von Eltern, die in der
Wohnung rauchen, haben zehnmal häufiger Bronchitis! Alkoholisierte Eltern sind kaum mehr sensibel für
Bedürfnisse oder Gefühle anderer. Die Folge sind
mehr Missverständnisse, Streit und Frust.
Ohne Suchtverhalten werden Sie von Ihren Kindern ernster genommen!
Glotze oder Kumpels? Fernsehen oder Verein?
Gameboy oder Lego? Playstation oder Hausaufgaben? Internet oder echte Freunde? Mord und Totschlag vom Sessel aus oder Spannung im Verein und
auf dem Sportplatz?
Zuviel Fernsehen, Playstation, Gameboy und Computerspiele zerstören Konzentration, Aufmerksamkeit
und Bewegungsfreude. Das Ergebnis? Die Noten
werden schlechter, Freunde bleiben weg, das Kind
nimmt an Gewicht zu – und zuletzt fühlt sich das Kind
abhängig von Fernsehserien, Chat und Gameboy. In
unserer Klinik sehen wir diese Folgen täglich! Also:
•
„Glotze“ und „Daddelei“ sind nichts für unter 6Jährige!
•
Bis 16 Jahre durchschnittlich nicht mehr als eine
Stunde Fernsehen und Computerspiele am Tag!
•
Wählen Sie kindertaugliche Fernsehsendungen
und Spiele möglichst gemeinsam aus S.8.
Glotze im Kinderzimmer verdoppelt den Fernsehkonsum – also ´raus damit!
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
SEITE 3
In der Chefetage
Elternrat: Egal, wer von Ihnen Kapitän und wer
Steuermann/frau ist: Alle Eltern – ob verheiratet oder
nicht, getrennt oder geschieden – müssen sich darüber austauschen, was sie sich für Ihr Kind wünschen, und wie sie selbst dazu beitragen wollen.
Nehmen Sie sich ab und zu dafür Zeit!
Fragen und Kritik an sich selbst, Lob und Anerkennung für Ihr Gegenüber – so werden Sie sich
immer einig! Und – eigentlich Ehrensache: Die
Käpt’ns streiten sich nie vor der „Mannschaft“!
Wertvolle Zeit: Verbringen Sie regelmäßig wertvolle
Zeit miteinander, in der Sie sich ganz aufeinander
einstimmen. Geschichten lesen, Spiele spielen, basteln oder kochen, in die freie Natur gehen, Gedanken
austauschen – das können Sie sowohl mit Ihren Kindern als auch mit Ihren Partnern.
Wertvolle Zeit braucht jeder, auch Sie! Reden Sie
mit Ihren Partnern darüber. Alleinerziehende
haben es da schwerer, aber Freunde – echte
Freunde! – helfen da sicher gern weiter!
Unter „Kollegen“: So wie Sie Experten für Ihre Kinder sind, so sind es ErzieherInnen und LehrerInnen
für den Kindergarten und die Schule. Was liegt näher,
als sich zusammen zu tun? Wir dürfen dabei nicht
vergessen, dass ErzieherInnen und LehrerInnen
zwanzig bis dreißig Schüler gleichzeitig betreuen!
Keiner muss „besser“ als der andere sein! In
respektvoller Weise Fragen stellen, Tipps und
Tricks austauschen, das kann Ihrem Kind auf
lange Sicht nur nützen!
Organisation ist (fast) alles
Kinderordner: Mal ehrlich: Wo liegen die Zeugnisse,
der Impfpass, das gelbe Vorsorgeheft oder Krankenberichte für Ihr Kind? Führen Sie für jedes Ihrer Kinder und auch für Sie als Eltern einen Ordner. Lassen
Sie sich alle wichtigen Behandlungsberichte aushändigen. Auf diese Weise haben Sie alle Informationen
parat und können Sie bei Bedarf auch weitergeben –
natürlich nur in Kopie!
Rechtsfragen: Jede Menge Paragraphen! Schule,
Jugend- und Sozialhilfe und auch die Krankenbehandlung unterliegen Gesetzen. Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte kennen ihren jeweiligen
Rechtsrahmen meist sehr gut – fragen Sie nach!
Rechtsberatung, etwa zum Sorgerecht, zum Strafrecht oder zum Sozialgesetzbuch, geben Ihnen
Rechtsberatungsstellen und natürlich die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt Ihres Vertrauens.
Ordnung kostet ein wenig Zeit – Unordnung aber
viele Nerven!
Paragraphen sind „trockene Kost“! Aber Wissen
ist Macht!
Zu guter Letzt
Haben Sie eigene erfolgreiche Ideen, Tipps und
Tricks? Gleich notieren! Tauschen Sie sich darüber
mit Ihren Partnern und Nachbarn und auch unseren
BetreuerInnen und TherapeutInnen aus!
Gute Elternratgeber gibt es von Remo Largo
(„Babyjahre“; „Kinderjahre“), von der Stiftung Warentest und vielen weiteren Autoren.
Besonders freundlich, lebendig und klar schreibt
die Psychologin Annette Kast-Zahn: „Jedes Kind
kann Regeln lernen“.
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.2.
SEITE 4
Wie lernen Kinder?
Eltern bringen – meist durch ihre gute Intuition –
ihre Kinder auf natürliche Art zum Lernen. Machen
wir uns diese Fähigkeit einmal bewusst, dann können wir die Fähigkeiten und Fertigkeiten unserer
Kinder noch systematischer fördern.
Es gibt sechs unterschiedliche Arten zu lernen –
und damit auch die gleiche Anzahl an Methoden,
Kindern etwas beizubringen:
1.
Lernen durch Übung
4.
Lernen am Vorbild
Beispiele:
Beispiele:
Greifübungen des Babys, Malen oder Fahrradfahren
beim Kleinkind, Sport, Musik beim Schulkind oder
Jugendlichen.
Eltern grüßen einander, bedanken sich, bitten um
etwas, entschuldigen sich, schauen einander im
Gespräch an, freuen sich gemeinsam über den Erfolg
des Anderen oder helfen einander nach einem
Missgeschick.
2.
5.
Lernen durch Assoziation (Verknüpfung
von Signalen zu neuartigen Bedeutungen)
Lernen durch die Übermittlung von
Ausdrücken (Gestik, Mimik, Sprache)
Beispiele:
Beispiel:
Wenn optische Signale nicht nur auf ein sondern auf
zwei Augen treffen, dann ist das Gehirn in der Lage,
durch die Verbindung der geringfügig unterschiedlichen Informationen die Entfernung zu errechnen.
„Ziehe deine Jacke an, wenn du nach draußen gehst,
sonst erkältest du dich“ und jedwede durch Worte,
Mimik oder Gestik vermittelte Erklärung.
Die Nähe der Mutter oder des Vaters während des
Fütterns und das gleichzeitige Verschwinden des
Hungergefühls vermitteln dem Baby, was Zuwendung, Versorgung und Zufriedenheit bedeuten.
3.
Lernen, unterstützt durch Zuwendung
6.
Lernen mithilfe der Schriftsprache
Beispiele:
Beispiele:
Äußerung von Zutrauen: „Du schaffst das!“; Angebot von Hilfe, wenn ein Kind etwas absehbar noch
nicht ganz alleine schafft: „Das machen wir besser
gemeinsam!“.
Lernen aus einem Lehrbuch oder Information aus der
Zeitung.
Die Lerntechniken kommen auf S.19 noch einmal
ausführlicher zur Sprache.
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.3.
SEITE 5
Regeln für unser tägliches Miteinander
Nehmen Sie sich Zeit, um Ihre Regeln für das tägliche Miteinander zu diskutieren und niederzuschreiben. Gewinnen Sie Klarheit, welche Regeln in Ihrer
Familie gelten bzw. welche Regeln Sie einführen
möchten. Dabei können Ihnen, die folgenden Fragen
hilfreich sein:
Unsere fünf wichtigsten Regeln:
Wie zeigen wir Anerkennung – und wie Kritik?
Warum sind uns diese Regeln wichtig?
Mit wem können wir uns ggf. beraten?
Verändern wir Regeln, wenn nötig?
Was müssen wir selbst noch besser vormachen?
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.4.
SEITE 6
Ernährung
Nahrung als Baustoff- und Energielieferant
Nahrung liefert Energie. Sie dient darüber hinaus dem
Körperaufbau – Wachsen ist Schwerarbeit!
dabei keine Kunst. Es kommt auf die gesunde Mischung der folgenden Nahrungsmittelgruppen an:
Ausgewogene Ernährung bedeutet: Energiezufuhr zu
50-60% aus Mehrfachzuckern (Kohlenhydraten), zu
10-20% aus Eiweiß und zu 30% aus Fetten. Jeder
weiß, dass auch Mineralien (Kalzium für die Knochen,
Jod für die Schilddrüse etc.), Vitamine und Ballaststoffe (in Getreide, Obst, Gemüse) wichtig sind.
1. Getreideprodukte und Kartoffeln
Drei Haupt- und ein bis zwei Zwischenmahlzeiten
sind sinnvoll. Sich abwechslungsreich zu ernähren ist
6. Fette und Öle
2. Gemüse und Hülsenfrüchte
3. Obst
4. Milch und Milchprodukte
5. Fisch, Fleisch, Eier
7. Getränke
Flüssigkeit für den Stoffwechsel
Kinder benötigen je nach Alter 1-2 Liter Flüssigkeit.
An heißen Tagen, beim Sport oder sonstigen Anstrengungen benötigen alle mehr. Milch, (Mineral-)
Wasser, Früchtetee, Saft (oder besser Schorle – wegen der Zähne!) sind Getränke, die Kinder mögen.
Vielleicht unnötig zu sagen: Hände weg von Koffein
(z.B. in Kaffee und Cola: macht nervös und stört den
Schlaf) und Alkohol (beeinflusst die Reaktionen und
macht abhängig)!
Ernährungs-Hits für Kinder
Stellen Sie täglich frisches Obst und rohes Gemüse dorthin, wo Ihre Kinder häufig vorbeikommen. Wussten Sie’s? Ein 54g-Schokoriegel enthält
37g (8 Teelöffel!) reinen Zucker und ein Sechstel der
nötigen Tagesenergie!
Weniger ist mehr: Vor allem bei Fett, Zucker und
Salz. Wussten Sie’s? Eine Chipstüte (100 g) enthält
ein Drittel der nötigen Tagesenergie!
„Kombi-Produkte“ enthalten viele unnötige
Stoffe. Warum nicht Naturjogurt mit frischen Früch-
ten? Lassen Sie doch Bindemittel, Farbe, Aromastoffe und löffelweise Zucker im Regal!
Fastfood und Süßigkeiten: In Maßen erlaubt. Einmal am Tag – und gleich hinterher die Zahnbürste zur
Hand!
Wenn Eltern selbst Diät machen, dann möglichst
ohne viel Aufhebens. Manche Kinder machen das
sonst nach und werden ggf. magersüchtig.
Alle müssen mitmachen – denn vor allem Essen
läuft über Lernen am Vorbild!
Tischregeln
Ihre fünf wichtigsten Tischregeln:
Ideen von uns:
Möglichst gemeinsam beginnen und beenden!
Einkaufen, Kochen, Tischdecken und Spülen – das
kann auch gemeinsam Spaß machen!
Fernsehen und Radio sind Gesprächskiller!
Streit am Tisch verdirbt den Appetit.
Buchempfehlung:
Annette Nagel: Ernährungs-Hits für Kids. 6,95 €
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.5.
Taschengeld
Durch den Umgang mit Taschengeld lernen Kinder,
•
SEITE 7
Geld einzuteilen, zu sparen, aus eigener Entscheidung auch einmal zu verzichten und später mit
den Eltern über finanzielles Planen und Wirtschaften zu sprechen,
•
sich eigene Wünsche zu erfüllen und anderen
eine Freude zu bereiten,
•
selbstbestimmt
handeln.
Die Eltern können sich an den Beträgen orientieren,
die bei Freunden oder Bekannten üblich sind, oder an
Empfehlungen des Landesjugendamtes. (Tabelle 1
S.7).
Tabelle 1: Empfehlungen für Taschengeld
(Landesjugendamt Hannover, Juli 2005)
Alter (Jahre)
und
eigenverantwortlich
Euro
zu
Schon Vorschulkinder finden Geld spannend. Mit
etwas Unterstützung können Sie abzählen und den
Wert von Waren kennen lernen.
Taschengeld liegt im Ermessen der Eltern. Kinder
haben keinen gesetzlich geregelten Anspruch darauf.
Eltern sollten dabei an ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten denken.
Taschengeld sollte regelmäßig ausgezahlt werden
und nicht als Erziehungsmaßnahme verwendet werden. Die Kinder sollten aber im Umgang mit Taschengeld angeleitet werden. Gefährliche, illegale
oder ungesunde Artikel dürfen nicht gekauft werden.
Einige Eltern lassen die Kinder ein Eingabe-AusgabeHeft führen oder machen das Taschengeld von Gegenleistungen abhängig, etwa der Mitarbeit im Haushalt.
Einige Eltern erhöhen das Taschengeld, damit die
Jugendlichen Schulsachen, Grundbekleidung oder
Fahrgeld selbst bezahlen können.
Jüngere Kinder sollten wöchentlich Taschengeld bekommen, weil sie kürzere Zeiträume besser überblicken. Ab etwa 10 Jahren kann es monatlich ausgezahlt oder auf ein Sparkonto überwiesen werden.
Spart ein Kind für einen bestimmten Wunsch, dann
können die Eltern ihm helfen, andere altersgemäße
Einnahmequellen zu finden, z.B. Ferienjobs oder besondere Haushaltsarbeiten.
Taschengeld sollte nicht mit Geldgeschenken verrechnet werden. Schon für kleine Kinder kann man
dafür ein Sparkonto anlegen.
Vereinbaren Sie mit der Bank, dass ein Kinderkonto nicht überzogen werden darf.
Kinder lernen den Umgang mit Geld auch daran, wie
die Eltern mit Wünschen, Notwendigkeiten und finanziellen Möglichkeiten umgehen und darüber
sprechen.
4
4,70 monatlich
5
4,70
6
8,20
7
9,20
8
10,30
9
12,70
10
15,50
11
19,50
12
23,40
13
27,40
14
31,50
15
39,30 bzw. 58,80*
16
46,80 bzw. 70,20*
17
58,50 bzw. 87.75*
* Jugendliche und junge Volljährige, die nach der
regulären Schulzeit die Haupt- oder Sonderschule
weiter besuchen, um den Schulabschluss zu erwerben, eine weiterführende Schule besuchen, an einer
berufsvorbereitenden Maßnahme teilnehmen oder
Einkommen aus Ausbildungs- und Arbeitsvergütung
erzielen, sollen einen erhöhten Betrag erhalten.
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.6.
SEITE 8
Kids vor der Kiste
Gut zu wissen...
Ob Spaß und Freude, Wut oder Frust, Trauer oder
Angst: Kein Möbel im Haushalt, das so viele Gefühle
auslöst wie der Fernseher. Die „Kiste“ als heimliches
Familienmitglied?
Kinder nennen den Fernseher im Schnitt mehr als
zehn Stunden in der Woche ihr Gegenüber – nicht
selten auch doppelt so lange. Das sind bis zu drei
Arbeitstage vor dem Bildschirm!
Schon Vorschulkinder sitzen in der Mehrheit über
eine Stunde am Tag vor der „Kiste“, obwohl sie eigentlich von den raschen Bildfolgen, den Zeitsprüngen und der künstlichen Welt völlig überfordert sind.
Aufmerksamkeit und Konzentration nehmen Schaden, und mit der Zeit verlieren sie ihre eigene kindliche Phantasie. Sie kommen weniger mit Spielkameraden zusammen, und sie bewegen sich zu wenig.
Viel Fernsehen macht Kinder „sesshaft“!
Ältere Schulkinder, die im Mittel zwei Stunden täglich
vor dem Fernseher sitzen, sind handwerklich ungeschickter, wenig kreativ und unsportlich. Sie sind dicker als andere, weil sie sich zu wenig bewegen und
viel naschen. Sie sind in der Schule durchschnittlich
eine Note schlechter, weil sie weniger aufmerksam
sind, länger für ihre Hausaufgaben brauchen und sich
sprachlich nicht so gut ausdrücken können. Sie sind
weniger verträglich und haben weniger Freunde als
Kinder, die ihre Zeit besser nutzen, indem sie Hobbys
nachgehen, z.B. Sport, Musik etc., sich mit Freunden
treffen und mit ihnen spielen.
Welche Bedeutung hat das Fernsehen in Ihrer
Familie?
Nutzen oder Schaden?
Mit einer richtigen Anleitung können Ihre Kinder den
sinnvollen Umgang mit diesem Medium erlernen.
Kinder orientieren sich dabei vor allem am Vorbild
ihrer Eltern!
Für die Fähigkeiten und Fertigkeiten Ihrer Kinder sind
nicht nur der Kindergarten und die Schule zuständig.
Wenn Ihre Kinder in ihrer Freizeit mit Freunden spielen, sich einem Verein oder anderen angeleiteten
Gruppen anschließen, dann profitieren sie vor allem
vom Miteinander. Die „Kiste“ vermittelt nur eine eingeschränkte und weltfremde Sicht. Ihre Kinder sollen
etwas erleben!
Fernsehfilme können heftige Gefühle auslösen.
Wählen Sie besonders für junge Kinder die Sendungen sorgfältig aus und schauen Sie sich die Filme auf
jeden Fall gemeinsam an! Sie haben dann einen Blick
auf das, was Ihre Kinder bewegt, und Sie können ein-
greifen, wenn das Kind etwas nicht versteht oder
Angst bekommt. Begleiten Sie Ihr Kind!
Ältere Kinder und Jugendliche sollten einen Wochenplan aufstellen und ihn mit ihren Eltern abstimmen.
Sendungen mit Gewalt sind generell nichts für Kinder,
denn bedrohliche Szenen können Angst machen,
aber auch aggressives Verhalten verstärken. Planen
statt Zappen!
Hängt der Familienfrieden häufig von der „Kiste“ ab?
Manche Kinder vergeuden auch viel Zeit vor dem
Computer oder elektronischen Spielen. Allmählich
vernachlässigen sie die Schule, ihre Hobbys und ihre
Freunde. Sie bleiben bis tief in die Nacht wach und
schlafen bis weit in den Tag hinein. Das sind Zeichen
von Abhängigkeit. Diese Kinder müssen behandelt
werden.
Wie geht Ihre Familie mit dem Fernseher um?
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
SEITE 9
Tipps!
Kinder im Vorschulalter sollten höchstens 30 Minuten täglich fernsehen, um Folgeschäden zu vermeiden. Sendungen für jüngere Kinder müssen ein
„Happy End“ haben, da die Kinder sonst die Anspannung und möglicherweise ihre Ängste nicht verarbeiten können. Schauen Sie ausgewählte Sendungen
gemeinsam an und sprechen Sie darüber!
Schulkinder sollen nicht mehr als eine Stunde am
Tag vor dem Fernseher verbringen. Gameboy und
Computerspiele gehören auch dazu! Leiten Sie Ihre
Kinder an, aus der breiten Programmvielfalt passende
Sendungen auszuwählen. Dies beugt auch dem
„Zappen“ vor.
Bettzeit: Eine halbe Stunde davor ist Schluss mit
Fernsehen, sonst droht eine unruhige Nacht.
Kids vor der Kiste: Ein Fernseher im Kinderzimmer
verdoppelt den Fernsehkonsum!
Kindertaugliche Fernsehsendungen finden Sie in
FLIMMO, einer Zeitschrift zur Programmberatung von
Eltern. Sie kann für nur 6,14 € (3 Hefte im Jahr) abonniert werden: Programmberatung für Eltern, Postfach
600319, 81203 München, Tel.: 089/45066215, Mail:
[email protected], Internet:
www.flimmo.tv/bestellung
Erziehung: Fernseher sind keine „Beschäftigungstherapie“ und schon gar kein „Babysitter“! Auch als
Strafe oder Belohnung ist das Fernsehen ungeeignet.
Jugendgefährdende Medien
Eltern müssen ihre Kinder vor jugendgefährdenden
Einflüssen schützen. Diese sind zuhauf in Zeitschriften, Filmen, DVDs oder CDs zu finden. Besonders
attraktiv und überdies mitunter gefährlich ist außerdem die Welt des Internet. So findet man etwa in unmoderierten Chat-Räumen nicht selten sexuelle Belästigung, Verführung und Missbrauch. Gefährdet
sind alle Kinder, besonders aber Jugendliche, die
unter schwierigen Lebensumständen aufwachsen.
Gemäß Jugendschutzgesetz führt die Bundesprüfstelle zu diesem Thema eine Liste, die ständig auf
den neuesten Stand gebracht wird. Auf den Index
kommen
•
die ausschweifende Darstellung von Gewalt als
vorrangiges Konfliktlösungsmittel (ggf. sogar im
Namen des Gesetzes), Selbstjustiz als probates
Mittel, Mord und Metzelszenen,
•
das Anreizen zum Rassenhass und NS-Verherrlichung,
•
die Darstellung von Sexualität mit ethisch nicht
vertretbarer Einstellung,
•
Entwürdigung, diskriminierende Praktiken und
Sadismus.
Schwer jugendgefährdend gemäß Strafgesetzbuch
(§§130, 131 und 184b StGB) sind
•
Propaganda verfassungswidriger Organisationen,
Leugnung des Holocaust und Volksverhetzung,
•
Anleitung zu schweren Straftaten,
•
verherrlichende, verharmlosende oder unwürdige
Schilderung von Grausamkeiten, Verherrlichung
des Krieges, Pornographie, d.h. Missachtung
menschlicher Bezüge und aufdringliches InVordergrund-Stellen sexueller Vorgänge, ggf. mit
Gewalt oder Missbrauch von Kindern,
•
Darstellung leidender Menschen ohne berechtigtes Interesse an dieser Darstellungsform,
•
Darstellung von Kindern oder Jugendlichen in unnatürlich geschlechtbetonter Körperhaltung,
•
offensichtliche schwere Gefährdung der Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihrer Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
Medien, die auf dem Index stehen, dürfen Minderjährigen nicht angeboten oder zugänglich gemacht werden und auch nicht öffentlich beworben werden.
Kostenlose oder kostengünstige Informationen
bekommen Sie unter den folgenden Adressen:
•
Spiel- und Lernsoftware pädagogisch beurteilt:
Mail
[email protected]
Internet www.bmfsfj.de
•
Chatten ohne Risiko? Zwischen fettem Grinsen
und Cybersex:
Internet www.jugendschutz.net
•
Ein Netz für Kinder. Surfen ohne Risiko. Ein
praktischer Leitfaden für Eltern und Pädagogen
(4 €):
Mail
[email protected]
Internet www.jukebox.de/~Jugendamt
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.7.
1.
SEITE 10
Tipps für die Hausaufgaben
Wie lange soll mein Kind an den Hausaufgaben sitzen?
4.
Organisation ist alles!
Darüber sprechen Sie am besten mit den Lehrern.
Wann? Das eine Kind erledigt sie gleich nach der
Schule oder dem Mittagessen, das andere benötigt
erst eine Pause. Aber: Die Zeit sollte festgelegt
sein! Übrigens: Hausaufgaben müssen richtig und
sauber sein!
Das sollten Sie Ihren Kindern auch beibringen:
Womit fangen wir an, was machen wir am Schluss,
wie lange wollen wir dafür verwenden? Es sollte
eine Uhr auf dem Arbeitspatz stehen. Auch Pausen
sind hilfreich. Die Schultasche richten gehört ebenfalls dazu. Wenn Sie Ihr Kind fördern und fordern,
wird Ihr Kind schrittweise selbstständiger.
2.
5.
Welche Hausaufgaben sind zu erledigen?
Schlafenszeiten einhalten!
Bleibt Ihnen unklar, ob oder welche Hausaufgaben
Ihr Kind aufhat, dann hilft ein Hausaufgabenheft,
das von den Lehrern täglich abgezeichnet wird.
Kinder, die morgens frisch und wach aufstehen,
kommen am Vormittag gut mit und erledigen die
Hausaufgaben am Nachmittag zügig.
3.
6.
Hausaufgabenzeit ist Arbeitszeit!
Ruhe und wenig Ablenkung sind oberstes Gebot –
egal ob in der Küche, im Wohnzimmer oder im Kinderzimmer. Am Arbeitsplatz müssen alle benötigten
Materialien bereit liegen. Fernsehen und Radio sind
tabu, solange die Hausaufgaben nicht erledigt sind.
Spielsachen sollten sich möglichst nicht im Blickfeld
befinden.
Nachhilfe
Häufige Vierer oder Fünfer sollten rasch durch
Nachhilfe beseitigt werden. Ältere Schüler können
durchaus genauso gut sein wie Nachhilfelehrer!
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.8.
SEITE 11
Ein spannend-entspanntes Wochenende!
Wenn Sie Ihr Wochenende gemeinschaftlich planen
und am Ende noch einmal darüber sprechen, wird
Ihr Wochenende erfolgreich sein!
Am besten kopieren Sie sich diese Seite, um Sie für
mehrere Wochenenden nutzen zu können!
Planung
Reflexion
Was wollen wir gemeinsam unternehmen – und
welche Pflichten gilt es noch zu erledigen?
Was waren die Highlights – und was war sonst
noch erfolgreich?
Wer macht was?
Was können wir üben, vertiefen, verbessern?
Wann haben wir Zeit für die gemeinsame
Aktivität?
Wie beurteilen Eltern und Kinder das Wochenende insgesamt?
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.9.
SEITE 12
Miteinander Reden
Warum und worüber reden?
Wie miteinander reden?
Es macht Spaß, an dem Wissen, den Gefühlen und
den Ansichten des Anderen teilzuhaben. Es tut
auch gut, sich selbst einmal auszusprechen. Dadurch entstehen Freundschaften und Bindungen.
Manchmal ist der Anfang schwer, besonders wenn
es nicht um Smalltalk, sondern um offene und
dringliche Fragen oder Probleme geht. Gefühle und
Unsicherheiten kommen einem in die Quere.
Worüber sind Sie neugierig, von wem mögen Sie
etwas lernen?
Wäre es nicht sinnvoll, die eigene Unsicherheit
(Sorge, Angst...) offen anzusprechen?
Gibt es Themen, über die Sie schon immer einmal sprechen wollten – und mit wem?
Wenn sich alle verstehen sollen, muss jeder gehört werden. Was könnten Sie selbst dafür tun?
Aufeinander neugierig sein eröffnet neue Welten
und stärkt den Zusammenhalt!
Unsichersein ist erlaubt! Meist sind Sie nicht die
bzw. der Einzige!
Sich zusammensetzen!
Sich auseinandersetzen!
Jeder in der Familie kann und weiß etwas. Daran
teilhaben macht Spaß und bringt alle voran. Bestimmte Anliegen erfordern, dass wir vorher über
das Wann und Wie nachdenken, bevor wir sie ansprechen.
Wenn unterschiedliche Ansichten, Bedürfnisse und
Haltungen bestehen, dann sollte ein faires Vorgehen selbstverständlich sein: Zunächst die bestehenden Meinungen verstehen! Dann konkrete Themen aufgreifen statt Personen angreifen!
Wann setzen Sie sich zusammen?
Wann setzen Sie sich auseinander?
Wie gelingt es am besten? Wo lauern Gefahren?
Wie gelingt es am besten? Wo lauern Gefahren?
Alle haben etwas zu erzählen! Manchmal sind
Meinungen aufeinander abzustimmen. Dafür
sollte vereinbarte Zeit vorhanden sein, und die
Gesprächspartner sollten bereit sein, einander
zuzuhören!
„Immer“ und „Nie“, „Du bist“ statt „Ich könnte“,
„Ja, aber...“, Rückfragen, Ironie oder Gehässigkeiten bringen auseinander!
Humor ebnet häufig den Weg!
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
1.10.
SEITE 13
Zehn Schritte durch den Tag – oder: Wie ist mein Kind organisiert?
Mit Hilfe dieser Liste können Sie einschätzen, welche Entwicklungsziele demnächst anstehen. Auch Probleme
oder Störungen können daran deutlich werden.
Fragen
1. Ein neuer Tag!
•
Ist das Kind ausgeschlafen?
•
Steht es selbständig mit Wecker auf?
•
Wie ist die Grundstimmung am Morgen?
2. Die Morgentoilette!
•
Toilette, Waschen, Zähneputzen: Was
erledigt Ihr Kind schon selbständig?
3. Gut gefrühstückt in den Tag!
•
Wird gemeinsam gefrühstückt?
•
Was und wie viel wird gegessen?
•
Welche Tischregeln gibt es?
4. Lernen!
•
Wie sind die Leistungen?
•
Wie ist das Kind organisiert (Schulweg,
Schulsachen, Hausaufgaben)?
•
Wie ist das Verhältnis zu Mitschülern und
Lehrern (in der Klasse, in der Pause)?
5. Hungrige Kids!
•
Wird gemeinsam zu Mittag gegessen?
•
Was und wie viel wird gegessen?
•
Welche Tischregeln gibt es?
Uhrzeit/ Ablauf und Ziele bzw. Veränderungswünsche
1 ERFOLGREICHE ERZIEHUNG: ZEHN TIPPS UND TRICKS FÜR DEN ALLTAG
6. Hausaufgabenzeit!
•
Arbeitet Ihr
sorgfältig?
•
Ist es neugierig, arbeitet es zügig, kann es
mit Fehlern umgehen?
•
Holt es sich bei Bedarf Hilfe, und wer kann
sie geben?
Kind
konzentriert
und
7. Bewegung und Freizeit!
•
Spielt Ihr Kind allein oder mit Freunden?
•
Hat Ihr Kind Hobbys oder besondere Interessen (Sport, Musik, ...)? Ist es in einer
Jugendgruppe oder im Verein? Was kann
es besonders gut?
•
An einem normalen Tag: Wie viel Fernsehen und Computerspielen?
•
Hat das Kind einen eigenen Fernseher im
Zimmer?
8. Nach getaner Arbeit...
•
Essen Sie gemeinsam zu Abend?
•
Was und wie viel wird gegessen?
•
Welche Tischregeln gibt es?
9. Waschen und ab ins Bett!
•
Toilette, Waschen, Zähneputzen: Was
erledigt Ihr Kind schon selbständig?
•
Wird vorgelesen?
10. Gute Nacht!
•
Was weiß Ihr Kind über den Ablauf beim
Schlafengehen?
•
Wird gemeinsam gespielt?
•
Ist Streit zum Schlafengehen beigelegt?
•
Wie schläft Ihr Kind ein, durch, aus?
•
Schnarcht Ihr Kind, träumt es häufig
schlecht oder schlafwandelt es?
SEITE 14
SEITE 15
2.
Familiäre Krisen
2.1.
Krise und Chance: Hochhängen oder flach halten?
Was heißt hier „Krise“?
Crisis kommt aus dem Lateinischen und bedeutet
"entscheidende Wendung". Hier geht es nicht mehr
weiter, das Fass läuft über, irgend etwas muss passieren, oder man sitzt ganz tief im Keller. Eine Zuspitzung, die einen an den Rand seiner Handlungs- und
Problemlösefähigkeit bringt, kann jeden Menschen in
jeder Lebensphase treffen.
Wenn man die Umstände eines Menschen analysiert, der gefährdet ist, in eine Krise zu geraten,
oder der sich gerade in einer Krise befindet, dann
wird man das drohende Heraufziehen einer
dunklen Wolke frühzeitig wahrnehmen bzw.
besonnen reagieren.
Eine Krise braut sich nicht von allein...
Eine Krise lässt sich als eine Häufung gravierender
Risiken vor dem Hintergrund versiegender Fähigkeiten und Möglichkeiten (Ressourcen) verstehen, und
diese explosive Mischung kann die normale Handlungsfähigkeit eines Einzelnen oder eines sozialen
Verbundes (z.B. der Familie, einer Heimgruppe, eines
Kollegiums...) kritisch blockieren: Während etwa die
tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz eine Routineaufgabe
ist, nimmt einen die Vorbereitung und Durchführung
eines Umzugs mehr in Anspruch, und wenn plötzlich
noch der zugesagte Arbeitsplatz verloren geht, dann
ist Holland in Not.
Typische Beispiele für Risiken und
Ressourcen finden sich in Tabelle 2.
fehlende
Tabelle 2: Beispiele für kritische Lebensbedingungen
Eigene Umstände
Äußere Umstände
Entdeckung einer schweren körperlichen Unvermittelte Bloßstellung, z.B.
Erkrankung,
einem Delikt oder einer Kränkung,
Akut
Suchtkrankheit mit
Stimmungswechseln,
nach
unvorhersehbaren (scheinbar) unlösbarer Streit,
krankhafte Bindung, z.B. durch Sekten.
Verlust einer wichtigen Beziehung,
Entdeckung der eigenen Adoption.
Geringe Fertigkeit, Konflikte reif zu lösen Ein grundlegend ablehnendes und aboder einer Enttäuschung stand zu halten, wertendes Klima in der Familie,
Chronisch
fehlende Selbstachtung, eigene Schuldzu- Misshandlung und Missbrauch,
weisung oder Scham,
statusverschlechternde oder isolierende
Ausweglosigkeit angesichts langer schwe- Umstände, etwa lange vergebliche Arrer Krankheit,
beitssuche, fehlende Sprachkenntnisse.
seelische Erkrankung, z.B. Depression mit
mangelnder Bereitschaft, sich mitzuteilen
und Hilfe zu suchen.
2 FAMILIÄRE KRISEN
SEITE 16
Krise – und dann?
„So kann es nicht weitergehen“, diese Aussage ist
häufig die entscheidende Wendung. Wer dann noch
zögert, weil er noch nicht verstanden hat oder sich
gegen notwendige Konsequenzen sperrt, dem wird
die Entscheidung aus der Hand genommen:
•
durch Anzeigen bei der Polizei; möglicherweise
droht eine Verurteilung vor Gericht;
•
durch erheblichen Streit; möglicherweise droht
eine eine Trennung.
•
durch Klassen- und Schulkonferenzen; möglicherweise droht dann der Schulverweis;
•
durch Konferenzen im Jugendamt; möglicherweise droht eine Inobhutnahme;
Diese möglichen Konsequenzen und der drohende
Verlust der Selbstbestimmung – wenn andere einem
das Heft aus der Hand nehmen – tragen zur Verunsicherung, Angst und Zuspitzung bei.
•
durch eine Vorstellung beim Facharzt; möglicherweise ist die stationäre Aufnahme notwendig;
Kritische Lage – persönliche Krise?
Während das eine Kind schon anlässlich einer Einschulung Unsicherheit, Alleinsein und Bedrohung
empfindet und sich zurückzieht, leben andere Familien mit einer Anhäufung von erheblichen Belastungen, ohne dass sie erkennbar unter Druck geraten,
etwas ändern zu müssen.
Was eint sie dennoch, ob sie es wahrnehmen oder
nicht? Eine Sackgasse mit Unsicherheit, Hilflosigkeit,
Unruhe, Angst vor dem Alleinsein, Leistungsabfall
und Selbstzweifel: Die Betroffenen beginnen in ihrem
Denken und ihren Gefühlen tranceartig zu kreisen
oder begeben sich gemeinsam in eine „pathologische
Schleife“.
Nach außen hin kann so etwas sehr unterschiedlich
aussehen: Der Eine wird „plötzlich ganz ruhig“, der
Andere „rastet aus“, ein Dritter „schlägt um sich“, ein
Vierter „sagt gar nichts mehr“, ein Fünfter „haut ab“,
ein Sechster „erwacht erst aus seinem Dornröschenschlaf“, ein Siebenter „bringt gar nichts mehr“, ein
Achter „sendet Signale“, ein Neunter „wirkt chaotisch“, ein Zehnter „geht zu seinem Kumpel“, ein Elfter
„greift zur Flasche“, einem Zwölften „ist alles egal“.
Unmittelbar gefährlich sind nur Selbst- und Fremdgefährdungsfantasien. Diese kommen fast nie unvorbereitet, sondern treten nur auf, wenn bestimmte typische Bedingungen zusammentreffen S. 44.
Krisen umgehen...
•
Weiß die Familie, die Arbeit und Wohnung verloren hat, wo sie unterkommen kann?
•
Hat ein Körperbehinderter gelernt, mit dem Spott
umzugehen, der ihn zuweilen trifft?
•
Weiß ein Versetzungsgefährdeter, dass er sein
Zeugnis gefahrlos zeigen kann und nötigenfalls
Hilfe bekommt?
Ist das Verbrechensopfer nachhaltig vor dem Täter geschützt, und hat es das Gefühl eigener
Sicherheit?
•
Ist bei einem Heimkind das Weihnachtsfest schon
vier Wochen vorher geregelt?
Verfügt ein Jugendlicher nach mehreren Suizidversuchen nun über alternative Konfliktlösungen?
•
Weiß eine Magersüchtige, dass auch bei einem
Rückfall wieder Helfer bereit stehen?
•
Darf ein Kind geschiedener Eltern gefahrlos den
Wunsch äußern, seinen Vater zu sehen?
•
Nähert sich der Jahrestag des Selbstmordes des
Freundes, an dem der Betroffene möglichst nicht
alleine sein sollte?
Erfahrene und präventiv denkende Helfer sehen nicht
nur den Betroffenen, sondern sie „scannen“ auch sein
Umfeld und den Erfahrungshorizont des Betroffenen
auf Risiken und Ressourcen. Sodann stimmen sie
ihre Hilfe auf das unmittelbar Notwendige ab. Einige
Beispiele:
•
•
•
•
Stehen angesichts des bevorstehenden Todes der
kranken Mutter auch für das Kind Trost und Unterstützung bereit?
Hat ein Süchtiger trotz seines sozialen Abstiegs
und seiner Delikte vernünftige Gesprächspartner?
2 FAMILIÄRE KRISEN
SEITE 17
Mit Krisen umgehen...
Krisen gehören zur Entwicklung; sie sind gemeistert,
wenn sich Spannung und Angst lösen und die Betroffenen davon überzeugt sind, etwas bewältigt und
dabei gelernt zu haben. Dagegen hinterlassen ineffektiv oder unvollständig gelöste Krisen chronische
Hilflosigkeit.
Wiederholung übt – das gilt für Erfolge ebenso wie für
Fehlschläge: Man erlernt wirksame Methoden, um
Krisen zu bewältigen, oder man gewöhnt sich an das
vergebliche Zappeln auf dem Trockenen – und fühlt
sich entsprechend.
Jacobson (1974) nennt sechs Schritte auf dem Weg
aus der Krise:
1. Den Krisenanlass verstehen.
2. Eine gemeinsame "Krisendefinition" erarbeiten.
3. Gefühle ausdrücken bzw. entlasten.
4. Bekannte Lösungsmöglichkeiten reaktivieren, in
der Realität bleiben.
5. Nach neuen Lösungen suchen.
6. Abschließender Rückblick und Bilanz.
Es geht also darum, die vorhandenen Risiken zu minimieren und die Ressourcen zu stärken. In Tabelle
3 sind einige Ideen skizziert.
Tabelle 3: Risiken minimieren, Ressourcen stärken
Eigene Umstände
Akut
Äußere Umstände
Krankheit: Trost hält nicht lange an. Klare Infor- Kränkung: Erklärungen wirken fade. Neue
mation hilft bei der Verarbeitung und löst Erfolgserfahrungen sind wertvoller.
Ängste.
Streit: Konfliktlösen üben, Nachgeben lernen,
Sucht: Liebevolle Begleitung reicht nicht aus. flexibel ausweichen, sicher mit Nähe und DisWohnung, Nahrung, Schlaf und Therapie sind tanz umgehen lernen.
konkret sicherzustellen.
Verlust eines nahen Menschen: Einen Verlust
Sekten: Information ist meist unzureichend. Eine verkraftet man besser, wenn man einen Menklare Loslösung muss notfalls erzwungen schen um sich hat, der das Gefühl für Verständnis, Sicherheit und Geborgenheit vermittelt.
werden.
Ein Kind erfährt von seiner Adoption: Familiengeheimnisse kommen immer ans Tageslicht.
Offenheit und Klarheit sind besser als „mit verdeckten Karten spielen“.
Frustration: Der Versuch, Frustrationen zu mei- Abwertung: Ein (trennendes) Ende mit Schreden, schlägt immer fehl. Es müssen kleine Lö- cken ist manchmal besser als ein (bindender)
sungen für kleine Probleme trainiert werden, Schrecken ohne Ende.
dann können Erfolge gefeiert werden.
Missbrauch: Kompromissloses Einschreiten siScham: Aus „Fehlern“ kann man lernen, wäh- chert zukünftigen Opfern ihre Unversehrtheit
rend „Schuld“ auf Dauer verdammt.
und ermutigt weitere Opfer.
Chronisch
Ausweglosigkeit: Manchmal muss auch sie (an-) Sozialer Abstieg: Fürsprache ersetzt nicht die
erkannt werden.
konkrete Hilfe, z.B. Suche nach Job, Wohnung,
Sprachkurs, Rechtsbeistand.
Depression: Langwieriges Verstehenwollen
kann fatal enden. Manchmal müssen anderweitige Hilfen (stationärer Aufenthalt, Medikamente)
her.
2 FAMILIÄRE KRISEN
In einer Krise muss Hilfe rasch und effektiv greifen:
1. Verlässliche Bindung:
In Krisen sind Vertrauenspersonen hilfreich, mit denen der Betroffene frei sprechen kann, ohne dass
die Gefahr von Verletzungen und Kränkungen entstehen. Er sollte über Gefühle, Meinungen und
Handlungen offen sprechen können, auch um einen
Abgleich mit der Realität zu schaffen. Bei diesen
Gesprächen kann eine verständliche und lebendigbildhafte Sprache selbst in scheinbar ausweglosen
Fragen einmal entspanntes Lachen aufkommen
lassen. Verträge können die Verlässlichkeit von Absprachen betonen.
2. Ressourcen:
Kommt die Frage nach einer Lebensverneinung auf,
dann sollte sie in einfachen Worten angesprochen
werden. Dies löst keine Selbstmordgefährdung
(Suizidalität) aus, sondern es entlastet und ist der
erste Behandlungsschritt.
Hilfreiche weitere Fragen:
•
Wer würde als erster erkennen, dass das Problem beseitigt ist – und woran würde man dies
erkennen?
•
Was wäre der erste Schritt – und wann wärest
du bereit, ihn zu gehen?
•
Was hat schon einmal geholfen? Sollte das weiter geübt werden?
•
Gibt es Ausnahmen vom „Nichts geht mehr“?
•
Was würde passieren, wenn alles noch schlimmer würde?
•
Wie, wo und bei wem kannst du Atem holen?
SEITE 18
Gespräche allein sind unzureichend. Auf lange Sicht
geht es darum,
•
konkret Entspannung und Lösungswege auszuprobieren und zu üben,
•
aufkommende Spannungen bzw. Konflikte früh zu
erkennen und
•
die eigenen kreativen Lösungsansätze im Alltag zu
erkennen und zu mobilisieren.
3. Verantwortung:
Ist jemand in eine Krise geraten, dann sollten die
Vertrauenspersonen und ggf. professionelle Helfer ihre
Rollen verteilen: Jeder muss wissen, wer für wen und
was wann konkret verantwortlich ist.
Bleibende Unsicherheit oder Angst bei den Vertrauenspersonen ist ein Alarmzeichen dafür, dass dringend professionelle Helfer gerufen werden müssen.
Diese sind erfahren im Umgang mit Risiken, sie
kennen Techniken, um Ressourcen zu mobilisieren,
und sie sind in der Lage, komplexere Bedingungen
zu erkennen.
2 FAMILIÄRE KRISEN
2.2.
SEITE 19
Wenn Eltern streiten und sich trennen
Die Zahlen sprechen für sich...
In der Mitte des 20. Jahrhunderts wuchsen noch
90% der Kinder gemeinsam mit ihren verheirateten
biologischen Eltern auf. Heute, ein halbes Jahrhundert später, kann dies nur noch jedes zweite Kind
erwarten. Durch Abschnittspartnerschaft, Alleinerziehung und Wiederverheiratung erfahren die betroffenen Kinder Trennung und Verlust, und sie verstehen dabei nicht, warum ihr Kontakt zu einem der
Elternteile und dessen Verwandten eingeschränkt
wird. Sie müssen sich neuen Beziehungen in ihrem
Haushalt stellen, häufig ohne es zu wollen. Hinzu
kommen unvermittelte Umzüge, Schulwechsel und
der Verlust von Freunden. Durch eine Trennung
wird fast jede zweite Mutter zur Sozialhilfeempfängerin, so dass die Kinder zudem einen sinkenden
Lebensstandard verkraften müssen.
Jahrelanger Streit und die Trennung der Eltern mit
den beschriebenen Folgen können die kindliche
Entwicklung erheblich stören: Jedes vierte Trennungskind leidet offensichtlich unter sozialen, emotionalen oder Lernstörungen. Kinder- und Familientherapeuten wissen, dass 70% ihrer ambulanten
und 90% ihrer stationären jungen Klienten aus
Trennungsfamilien stammen.
Störung der Eltern – Störung der Kinder
Schon Eltern, die sich nur kurzfristig uneinig sind (das
kommt in den besten Familien vor...), merken wie
dies Aufmerksamkeit und Konzentration bindet.
Stockt die Abstimmung über die täglichen Erziehungs- und Versorgungsmaßnahmen, dann stellen
sich auch erzieherische Misserfolge ein. Allzu oft
werden diese dann den Kindern angelastet.
In ihrem familiären Umfeld erfahren Kinder üblicherweise ihre primären Bindungen, sie bilden ihre Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten) aus und bereiten sich auf eine reife Verantwortungsübernahme
in der Gesellschaft vor. Während des langanhaltenden und unversöhnlichen Streites, der einer elterlichen Trennung vorausgeht, lernen die Kinder stattdessen etwas ganz anderes:
•
Bindungen werden geschwächt und zerstört, auch
die zwischen Eltern und Kind, denn die Eltern verlieren durch den Streit das Kind aus den Augen
oder gehen voreingenommen auf ihr Kind zu.
•
Die Ausbildung der Ressourcen des Kindes, z.B.
die Gesundheit, der Umgang mit Bedürfnissen,
das Lernen und die sinnvolle Freizeitgestaltung,
geraten aus dem Blickfeld der Eltern.
•
Die Eltern leben mangelnde Verantwortlichkeit
vor: Ich bin das Opfer, Fehler macht nur der andere. So kommt die Familie aber nicht zusammen,
sondern auseinander.
Psychische Erkrankungen von Vätern oder Müttern –
etwa eine Depression, eine Psychose mit Ängsten
und Wahnwahrnehmungen oder eine Suchterkrankung – schaden der seelischen Entwicklung der Kinder, weil die betroffenen Elternteile ihre Kinder häufig
nicht angemessen ansprechen und versorgen. Dauerhafte Spannungen, offene Konflikte und Feindschaft
zwischen Mutter und Vater sind faktisch nichts ande-
res: eine seelische Störung der Elterneinheit. Es
verwundert daher nicht, dass dies für die Kinder
grundsätzlich die gleichen Folgen haben kann wie die
Erkrankung eines der Elternteile:
Die betroffenen Kinder leiden unterschwellig oder
offensichtlich unter
1. Lernstörungen (Kognition),
2. Störungen ihres Gefühlslebens (Emotionen),
3. Störungen im Umgang mit Anderen (Sozialverhalten)
4. Entfremdung zwischen Kindern und Eltern.
1.
Lernstörungen
Zum Aufbau von Fertigkeiten und Fähigkeiten gehört
ein im Laufe der Entwicklung immer feiner abgestimmtes Lehr-Lern-Verhältnis zwischen den Eltern
und ihrem Kind. Die Eltern können die sechs Lehrund Lerntechniken optimieren, indem sie sich in ihrer
Methodik (Art und Weise, jemandem etwas beizubringen) ständig abstimmen und von einander lernen
S. 4.
a. Lernen durch Übung: Die Eltern gestalten einen
anregenden, aber auch sinnvoll begrenzten und
geschützten Entwicklungsraum. Dadurch erlernen
Kinder rasch Bedeutungen und eignen sich Fertigkeiten an.
Fehlt es an Begrenzungen und Schutz, etwa wenn
Eltern sich mehr mit ihrer Auseinandersetzung als
mit ihren Kindern befassen, dann werden Kinder
auf lange Sicht mehr Fehler machen. Sie werden
mühseliger lernen, mehr Leid und Versagensgefühle empfinden. Sie werden ihre gesunde
Neugier verlieren, denn Lernen bereitet ihnen
keine Freude.
2 FAMILIÄRE KRISEN
SEITE 20
b. Lernen durch Verknüpfung (Assoziation):
Wenn die Eltern ihre Meinungen, Wünsche und
Absichten den Kindern präzise, differenziert
(sichtbar, hörbar, ggf. auch durch Berührung) und
zuverlässig nahe bringen, und wenn die Eltern
umgekehrt auch die Ausdrucksweisen ihrer Kinder
bald immer besser verstehen, dann bleiben Missverständnisse weitgehend aus, und es entstehen
verlässliche gegenseitige Erwartungen.
Anderen wirksam auszutauschen: Neben einer
guten Sprachfähigkeit sind dies Muster und Rituale wie Begrüßung und Abschied, Zustimmung
und Ablehnung, Entschuldigung und Abgrenzung,
Bitten und Danken etc.. Kleinkinder geben dabei
noch stark zu erkennen, welchen Stil die Familie
im alltäglichen Miteinander pflegt. Je älter das
Kind, desto vielfältiger und allgemeingültiger werden die Ausdrucksformen und Formulierungen;
Jugendliche und später Erwachsene benötigen für
ihre reife Bindungsfähigkeit eine reichhaltige und
bunte Palette von Ausdrucksmöglichkeiten, damit
sie sich auf die vielfältigen menschlichen Eigenarten und Launen einstimmen können.
Zerstrittene Eltern, die sich ihren Kindern gegenüber eher launig-sprunghaft, unsicher und weniger
konsequent verhalten, wirken aus kindlicher Sicht
unvorhersehbar. Frustriert müssen die Kinder erkennen, dass Gewesenes nicht verlässlich und
die Zukunft kaum einschätzbar ist. Somit scheint
es sich nicht zu lohnen, die Vergangenheit zu reflektieren und vorausschauend zu planen. Folgerichtig beschränken sie sich darauf, für ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu sorgen. Von außen
gesehen wirken solche Kinder impulsiv, aufmerksamkeits- und konzentrationsgestört.
c. Lernen durch Zuwendung: Was immer Kinder
tun – wenn sie dabei die Aufmerksamkeit und das
Interesse ihrer Eltern spüren, wenn sie von ihnen
Zuversicht, angemessene Rückmeldung und
Wertschätzung erfahren, dann werden die Kinder
auf lange Sicht deutlich mehr Erfolge als Misserfolge erwarten können. Kinder lernen aus dieser
positiven Erfolgsbilanz, dass es nützlich ist, neugierig zu sein, neue Fertigkeiten zu erlernen und
sich dabei der Beteiligung seiner Eltern oder anderer erfahrener Personen zu versichern.
Andererseits gibt es Eltern, die sich selbst kaum
mitteilen, sich nur wenig differenziert ausdrücken
oder einander nach einem Streit nicht wieder die
Hand reichen. Deren Kinder verfügen mangels
Training nur über wenige eher einförmige Handlungsmuster und Vereinbarungen dafür, wie man
aufeinander zugeht und sich benimmt. Sie sind in
ihrer Kontaktaufnahme, der Gestaltung ihrer Beziehungen und der Lösung unweigerlich auftretender Meinungsverschiedenheiten wenig flexibel.
Sie reagieren vielfach pauschal (Angriff –
Gekränktsein – Angriff – Rückzug) und isolieren
sich damit auch von denjenigen Gleichaltrigen
oder Erwachsenen, von denen sie noch lernen
könnten.
f.
Kinder, die von ihren Eltern eher Desinteresse
oder gar Ablehnung erfahren, machen ohne die
Rückmeldungen zwangsläufig mehr Fehler, und
sie gehen infolgedessen dem Kontakt zu anderen
eher aus dem Weg.
d. Lernen am Modell: Kinder, die sich Handlungsund Ausdrucksweisen von überzeugenden Vorbildern abschauen können, sparen sich viel eigenes
Üben und legen dadurch insgesamt ein hohes
Lerntempo vor. Sie begreifen darüber hinaus intuitiv, dass es sich lohnt, Beziehungen zu Personen
zu pflegen, die gültige Muster vorleben.
Sind Eltern ihren Kindern überwiegend negative
oder unklare (ambivalente) Vorbilder, dann werden die Kinder mit den elterlichen Fehlern, die sie
gutgläubig nachahmen, andernorts scheitern. Dies
wird die Beziehung zu den Eltern – und letztlich
auch die allgemeine Beziehungsfähigkeit der Kinder – beeinträchtigen.
e. Lernen durch Übermittlung von Ausdrücken:
Die Kinder erlernen mit der Zeit ein vielfältiges
Spektrum von Ausdrucksweisen, um Wünsche
und Absichten, Meinungen und Erfahrungen mit
Lernen mittels der Schriftsprache: Die hohe
gesellschaftliche Bedeutung von Lesen und
Schreiben erfahren die Kinder vor allem von ihren
Eltern: Wenn Eltern selbst lesen, wenn sie ihren
Kindern vorlesen oder sich gemeinsam ein Buch
vornehmen, wenn sie ihre Kinder zum Malen und
später zum Schreiben anregen, dann gewinnen
Kinder später als Jugendliche und Erwachsene
einen höheren Grad an Selbständigkeit und Unabhängigkeit (Autonomie), egal ob es um die Aneignung oder das Weitergeben von Wissen und
Erfahrung geht.
Werden Kinder in der Informationsvermittlung
nicht angeleitet, dann werden sie rasch anfällig für
„Berieselung“:
•
In den Zeichentrickfilmen des Fernsehprogramms
folgen spannende Höhepunkte Schlag auf Schlag;
•
Computerspiele halten die Kinder durch immer
neue Qualifikationsstufen im Bann, sie spiegeln
scheinbare Lernerfolge vor und stiften dazu an,
immer mehr Zeit von anderen sozialeren Beschäftigungen abzuziehen.
•
Im Internet-Chat bahnen professionelle „Teilnehmer“ systematisch künstliche Beziehungsflirts an
und halten eine „verführerische Beziehung“ am
Laufen.
2 FAMILIÄRE KRISEN
•
Fernsehen und Computerspiele sind mittlerweile
derart gut auf die (meist kurze) kindliche Konzentrationsspanne abgestimmt, dass es die Kinder
rasch aufgeben, sich selbst zu beschäftigen, von
sich aus Interessen zu entwickeln oder auf Andere
zuzugehen. Viele Kinder sind stattdessen physisch und psychisch abhängig von durch Medien
gesteuerter Beschäftigung, die ihre Lebens-,
Erlebnis- und Lernzeit regelrecht verschlingen.
Extreme Fälle – Kinder und Jugendliche mit
Schulunlust, verschobenem Tag-Nacht-Rhythmus
und durch chronischen Schlafmangel bedingte
depressionsähnliche Symptome – werden immer
häufiger.
Die hier aufgeführten sechs Lehr- und Lern-Methoden
verwenden alle Eltern, gleichwohl mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die einen bewusster, die anderen eher intuitiv.
Eltern, die ihre sehr verantwortungsvolle Aufgabe
ernst nehmen, fördern in ihrer Familie eine Haltung
der Begegnung und des Zuvorkommens: „Am Familienleben sind wir alle gleichermaßen beteiligt. Aus
Erfolgen wie aus Fehlern können wir gemeinsam lernen. Es geht uns um ein nachhaltig gutes Miteinander“.
Wenn Eltern diesen Grundsatz verlassen und Begegnung als „Gegnerschaft“ und Zuvorkommen als „Gewinn auf Kosten des Anderen“ missverstehen, dann
streben sie unweigerlich auseinander. Dies verunsichert neben den Eltern alsbald auch die Kinder.
Kaum ein Kind kommt umhin, in seinen Leistungen nachzulassen, wenn seine Eltern sich lange
streiten oder sich gerade getrennt haben.
2.
Emotionale Störungen
Jüngere Kinder sind, wenn die Familie auseinandergeht, häufig trennungsängstlich und gehen allgemein
weniger offen auf andere zu. Wird noch lange über
den Umgang (d.h. den Kontakt mit dem Elternteil, bei
dem die Kinder nicht dauerhaft leben) gestritten, dann
kommen viele von ihnen in Not, wenn sie vom einen
zum anderen Elternteil gehen wollen oder sollen. Sie
fühlen sich zerrissen zwischen ihren eigenen Gefühlen gegenüber beiden Eltern und der Wahrnehmung,
dass die Eltern einander nicht mehr mögen.
Wenn Eltern dies bemerken, sollten Sie den Umgang
flüssiger gestalten, vor allem indem sie dafür sorgen,
dass die Eltern einander zumindest wieder die Hand
geben, sich über ihre Kinder austauschen und gemeinsam über sie freuen können. Die Kinder verstehen dadurch, dass sie beide Eltern weiter lieben und
unbeschwert besuchen dürfen.
In der Tat haben manche Kinder Mühe mit dem Umgang. In aller Regel sind sie aber, sobald sie sich
SEITE 21
beim anderen Elternteil befinden, glücklich, zufrieden
und entspannt. Das Aussetzen des Umgangs, das
meist vordergründig mit diesen vorübergehenden Anpassungsstörungen der Kinder begründet wird, ist
nicht selten nur eine weitere Eskalation zwischen den
zerstrittenen Eltern.
(Über ähnliche kurzzeitige Irritationen berichten auch
Erzieherinnen oder Lehrer, wenn Kinder sich am Eingangstor des Kindergartens oder der Schule nur widerstrebend trennen. Würden Eltern den Besuch des
Kindergartens oder der Schule deshalb aussetzen?)
Die Trennung und die damit verbundenen starken
Gefühlsausbrüche der Eltern – Wut, Verzweiflung,
Trauer, Angst – beziehen v.a. jüngere Kinder immer
wieder auch auf sich selbst. Sie fragen sich, ob sie
Schuld haben, werden traurig und ziehen sich zurück.
Wieder andere orientieren sich im ständigen familiären Spannungsfeld besser, indem sie ihren Eltern gegenüber extrem zurückhaltend bis nichtssagend und
gefühlsarm auftreten. Auch diese Haltung kann sich
verfestigen und andere Beziehungen stören.
3.
Störungen im Sozialverhalten
Besonders Jungen nehmen die durch die Eltern vorgelebte Streitbarkeit leicht selbst an und agieren
gleichzeitig ihre Frustration über die tagtägliche „dicke
Luft“ aus; sie können innerhalb wie außerhalb der
Familie aggressiv und verletzend werden. Kein Wunder: Auf Dauer misstrauen Kinder Erwachsenen,
wenn diese ihre erzieherischen Vorgaben, Strukturen,
Grenzen und Umgangsregeln selbst nicht einhalten.
Manche Kinder versuchen immer wieder, es jedem
der elterlichen Gegner recht zu machen. Sie erweitern dies auch auf die Schule und andere soziale Bezüge, und der ständige Versuch, Erwachsenen gefällig zu sein, isoliert sie rasch in ihrer Altersgruppe.
Zerstrittene Eltern tauschen sich meist wenig über
erzieherische Belange aus. Einige Kinder fangen
dann an, ihre Eltern gegen einander auszuspielen.
Sind sie erfolgreich, dann probieren sie Unehrlichsein
und Manipulation alsbald auch anderweitig aus.
Eltern, die mit hoher Energie nach Fehlern beim anderen Elternteil suchen, forschen zu diesem Zweck
nicht selten auch ihre Kinder aus – und stellen ihnen
damit eine Falle: Die Kinder können es drehen wie sie
wollen, eine Seite „verraten“ sie immer. Durch Antworten – diese mögen wahr sein oder nicht, das spielt
in diesem Augenblick keine große Rolle – können
sich die Kinder kurzfristig von diesem erheblichen
Druck entlasten, und sie werden für Schein-Loyalitäten häufig auch direkt oder mittelbar belohnt. Unter
diesen Umständen lernen Kinder zu übertreiben,
„misszuverstehen“ oder selbst mehrdeutig zu antworten, wenn es um familiäre Geschehnisse geht. In
der kindlichen Entwicklung ist jede Wiederholung eine
2 FAMILIÄRE KRISEN
Lernübung – auf diese Weise kann auch hinterhältiges bzw. intrigantes Doppelspiel antrainiert werden.
4.
Entfremdung
Die meisten Kinder zerstrittener Eltern geraten in einen Loyalitätskonflikt: Ihrer Mutter gegenüber dürfen
sie nicht zeigen, dass sie ihren Vater lieben und umgekehrt. Manche Kinder halten diese Belastung nicht
aus und meiden von sich aus lieber den Kontakt zu
einem der beiden Elternteile. Diese quasi erzwungene einseitige Loyalität kann ein Kind emotional
dauerhaft verunsichern, etwa wenn in ihm ein tieferes
Gefühl von Unehrlichkeit, Schuld und mangelndem
Vertrauen verbleibt.
Ungenügender Umgang sowie offene und systematische Abwertung des umgangsberechtigten Elternteils
durch den Elternteil, bei dem das Kind wohnt (selten
umgekehrt) kann zu erschreckenden Symptomen führen, die auch Sozialarbeiter und Therapeuten, Anwälte und Richter nicht unberührt lassen:
•
•
Das Kind lehnt und wertet den entsprechenden
Elternteil von sich aus ab und greift ihn spontan
an. Es relativiert nicht, es bezieht sich nicht auf
überprüfbare Tatsachen, es ist unbeirrbar. Absurde Rechtfertigungen müssen dafür herhalten,
und das Kind behauptet gleichzeitig, seine Sicht
sei unbeeinflusst.
Das Kind benimmt sich so rüde, verletzend und
abweisend wie keinem anderen Erwachsenen gegenüber, und es sieht darin keinen Fehler. Es
weitet seine Ablehnung auch auf Freunde und
Verwandte des betroffenen Elternteils aus.
SEITE 22
•
Im Kontrast dazu stimmt es dem anderen Elternteil (meist demjenigen, beim dem das Kind wohnt)
in allen Belangen zu, egal worum es geht.
•
Das Kind stellt „ausgeliehene Szenarien“ nach,
d.h. zu Hause häufig verwendete bzw. eingeübte
Ausdrücke und Verhaltensweisen.
Einzelne Facetten dieses Verhaltens sind häufig zu
sehen. Es kann je nach Zeit, Ort und Kind (auch unter
Geschwistern!) rasch wechseln, und Verleumdungen
können zu erheblichen Angst- und Hassgefühlen
führen.
Eine derartige kaum zu korrigierende Entfremdung
eines Kindes gegenüber einem seiner Elternteile
(Sturge, Glaser 2000) tritt nur unter den Umständen
einer chronisch feindseligen Trennung seiner Eltern
auf. Ende der neunziger Jahre kam hierfür der Begriff
des
„Elterlichen
Entfremdungssyndroms“
auf
(„Parental Alienation Syndrome“; Gardner 1998), von
dem man sich aus unterschiedlichen Gründen wieder
abwandte.
Heute gilt als gesichert, dass zur schweren kindlichen
Entfremdung beide Eltern beitragen, und dass dieses
Verhalten auch mit der vorherigen Entwicklung des
Kindes zusammenhängt.
Kinder, die ihren Vater oder ihre Mutter nicht mögen,
können im Einzelfall dafür auch gute Gründe haben,
etwa wenn ein Kind erhebliche Auseinandersetzungen, Gewalt oder Missbrauch sieht oder an sich
selbst erfahren musste.
Elterlicher Streit: Ein Behandlungsfall
Die weitaus meisten Kinder wünschen sich inständig,
dass ihre Eltern zusammen bleiben und sich einigen,
notfalls indem sie Hilfe annehmen. Sie fühlen, dass
dies eigentlich ihr gutes Recht ist, zumal neben den
unweigerlich eintretenden Risiken einer Trennung
(
S. 19) ihre Entwicklung nun in besonderem Maße
von den Fähigkeiten desjenigen Elternteils abhängt,
bei dem das Kind verbleibt.
Manche Mutter und mancher Vater gewinnen deutlich
an Erziehungskompetenz, wenn sie bzw. er die Anspannung und den Streit ihrer unglücklichen Beziehung los sind. Verbleibt ein Kind aber bei einer bzw.
einem dauerhaft unglücklichen, unterversorgten oder
gesundheitlich beeinträchtigten Alleinerziehenden,
dann gehen dem Kind mehr Unterstützung, Struktur,
Aufsicht und Fürsorge verloren, als wenn das – nicht
eben glückliche – Paar zusammen geblieben wäre.
Eltern, die sich chronisch streiten, können daher ihre
Kinder in bestimmten Fällen immer noch fördern,
wenn sie – aufgrund minimaler Einigkeit zugunsten
ihrer gemeinsamen Kinder – wenigstens zusammenbleiben.
Internationale Studien zum Schutz vor seelischen
Störungen bei Kindern empfehlen heute dringend,
schon vorsorglich auf streitende oder gerade getrennte Eltern zuzugehen. Eine verpflichtende Beratung ließe sich nur durchsetzen, wenn Gesetze verändert werden.
Für die Klientengruppe der Scheidungsfamilien sollten flächendeckende regionale Beratungsstrukturen
mit den folgenden Aufgaben geschaffen werden:
•
Die Berater sollten Wegweiser zu unterschiedlichen Hilfeangeboten anbieten: Beratung, Mediation (professionelle Vermittlung), Familien- oder
Paartherapie, Antiaggressionstraining bis hin zur
Tätertherapie, Kognitive Verhaltenstherapie oder
psychiatrische Behandlung von Mitgliedern der
Familie.
2 FAMILIÄRE KRISEN
•
Ein Wegweiser muss auch über den Zugang und
ggf. Wartezeiten Auskunft geben.
•
Die Eltern sollten gleich zu Anfang nach ihrem
Veränderungswillen befragt werden und dazu angehalten werden, an den Expartner realistische
Erwartungen zu stellen. Die Eltern müssen sich
zudem über die Behandlungsdauer einigen.
•
Kinder verstehen häufig nicht, was sie mit dem
Konflikt ihrer Eltern zu tun haben – zu Recht: Solange Elternthemen behandelt werden, sollten
Kinder außen vor bleiben.
•
Nach einer Trennung, so verlässliche Forschungsergebnisse, tragen getrennte Ex-Partner zur guten
Entwicklung ihrer Kinder weiter bei, wenn sie den
alleinerziehenden Elternteil unterstützen. Die
professionelle Behandlung sollte im Konkreten
bleiben, damit sie allen Beteiligten auch unmittelbar hilft. Die Empfehlungen für das Miteinander
nach der Trennung sollten sich in der Regel auf
beide Parteien gleichermaßen beziehen.
SEITE 23
Im Gestrüpp von chronischem Streit sind Tipps oder
Hilfen von außen nicht immer vorbehaltlos willkommen, denn Fragen der Parteilichkeit und der Kränkbarkeit stehen immer mit im Raum. Ernsthaft gefährdet sind indes diejenigen Kinder, die schwere Feindschaft und Hass, Vernachlässigung oder Gewalt
ertragen müssen, die sich selbst als Auslöser der
Auseinandersetzung sehen, oder deren Eltern nach
ihrer Trennung mit hoher Energie weiter streiten. Diesen meist schwer leidenden Kindern hilft die Trennung der Eltern und manchmal auch eine Aussetzung
des Umgangs (Dunn 2004). Wenn – vor allem auch
bei der Übergabe – Spannungen und Streit entstehen, dann helfen manchmal längere Umgangszeiten.
Entfremdung spricht teilweise auf Mediation (professionelle Vermittlung zwischen den zerstrittenen
Eltern) und Familienberatung an. In extremer Form ist
Entfremdung manchmal unheilbar.
Elterlicher Streit vor Gericht
In besonders schweren Fällen, die vor Gericht verhandelt werden, bittet das Gericht fachlich versierte
Therapeuten hinzu, welche die betroffenen Familien
begutachten sollen. Das Gericht wünscht sich fachlichen Rat bei der Frage, wer das Sorgerecht ausüben
soll, wie das Umgangsrecht gestaltet werden soll und
ob möglicherweise das Kindeswohl gefährdet ist. Die
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Rotenburg stellt in diesem Falle fachlich
versierte und renommierte Fachgutachter zur Verfügung. Diese befragen beide Elternteile und widmen
sich intensiv der Entwicklung der betroffenen Kinder.
2 FAMILIÄRE KRISEN
2.3.
SEITE 24
Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder
Vorkommen
Reifungsdynamik
Mit psychisch kranken Eltern sind unterschiedliche
Institutionen befasst:
Kinder übernehmen früh Verantwortung für familiäre
Belange, und sie dienen manchmal ohne es zu wollen
auch als Partnerersatz. In der Familie werden zudem
Konflikte weniger offen und konstruktiv ausgetragen,
so dass rasch Krisenstimmungen entstehen.
•
•
•
In der Psychiatrie hat jeder fünfte Erwachsene
Kinder. (Jeder zweite von ihnen lebt getrennt vom
anderen Elternteil.) Nach verschiedenen Schätzungen sind in Deutschland 2-500.000 Kinder und
Jugendliche betroffen. Bei mehr als jedem fünften
betroffenen Kind sind neben Eltern auch die
Großeltern erkrankt.
Im Jugendamt hat jedes zehnte Kind, das Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz bekommt, eine Mutter oder einen Vater mit
einer psychischen Störung oder Erkrankung. Die
Dunkelziffer wird als hoch eingeschätzt.
Familienrichter haben mindestens in einem Viertel aller Sorgerechtsverfahren mit psychisch kranken Eltern zu tun.
Typische Risiken
Elementare Lebensgrundlagen (Ressourcen): Familien mit psychisch kranken Eltern verfügen über
knappe Finanzen, die Eltern sind häufig arbeitslos.
Beeinträchtigte Bindungen: Streit und Trennung sind
einerseits eine Ursache für Störungen, sie können
aber auch eine Folge der psychischen Erkrankung
sein. Die Kinder alleinerziehender psychisch kranker
Elternteile sind besonders gefährdet.
Eingeschränkte Verantwortlichkeit: Psychisch kranke
Eltern verletzen teilweise gesellschaftliche Normen
(z.B. Straftaten, Drogenkonsum).
Fähigkeiten und Fertigkeiten bei
Kindern psychisch kranker Eltern
Individuelle psychobiologische Ressourcen: Kinder
psychisch erkrankter Eltern ziehen sich häufiger zurück und tauschen sich weniger aus. Sie sind besonders sensibel für Spannungen und Störungen. Sie
übernehmen schon früh familiäre Aufgaben.
Bindungsfunktionen: Die betroffenen Kinder erleben
häufiger unklare Bindungsangebote. Da psychisch
kranke Eltern Wahrnehmungen, Äußerungen und
Handlungen teilweise nicht angemessen regulieren,
verfügen sie häufig über ein geringeres Einfühlungsvermögen; im schlimmsten Fall wird ein Kind vernachlässigt.
Bewusstsein und Verantwortung: Kinder weisen sich
häufig die Schuld für familiäre Störungen zu.
Allgemeines Vorgehen
Die erkrankten Mütter bzw. Väter, die Kinder selbst,
die Angehörigen und auch die Behandelnden sollten
einige Richtlinien und allgemeine Ziele beachten:
Die betroffene Mutter bzw. der betroffene Vater
begibt sich rasch und zuverlässig in Behandlung
und sorgt damit für sich selbst.
Er bleibt für seine Kinder verlässlich, und er stellt
seine Fähigkeiten und Stärken so weit wie möglich
zur Verfügung. Der Blick auf die kindliche Entwicklung
muss durch die eigene psychische Erkrankung nicht
verstellt sein.
Die Angehörigen stärken die Beziehungen der
Kernfamilie, solange dies dem Kind nicht schadet.
Wenn der zweite Elternteil nicht zur Verfügung steht,
sollte dem Kind für die Dauer des Ausfalls seiner
Hauptbezugsperson ein Pate zur Verfügung stehen.
Die Angehörigen erklären dem Kind die Krankheit
und ermuntern es, seine Fragen und Zweifel, Sorgen
und Ängste zu äußern. Sie achten darauf, das Kind
im Alltag weder zu über- noch zu unterfordern. Sie
beteiligen das Kind an Entscheidungen. Sie sorgen
für die gewohnten Alltagsstrukturen und setzen wie
gewohnt klar und konsequent Grenzen. Nachlässiges
oder mitleidvolles Gewähren lassen setzt falsche Signale für die Entwicklung von Eigenverantwortung.
Die Kinder bzw. Jugendlichen selbst haben normale Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, die sie
trotz der familiären Belastung nicht vernachlässigen
dürfen. Sie sind weder „Therapeuten“ der Eltern noch
deren „einzige Vertrauensperson“. Sie suchen sich
Familienangehörige oder Bekannte, bei denen sie
Anerkennung und Trost, Hilfe und Information finden,
und der durch die Erkrankung betroffene Elternteil
muss dabei nicht ausgespart werden. Gleichzeitig
sollten gemeinsam bessere Bewältigungsmöglichkeiten gefunden werden.
Wenn ein Kind Hilfe benötigt, sollte mit der
Behandlung nicht lange gewartet werden.
2 FAMILIÄRE KRISEN
SEITE 25
Behandlungsziele
Behandlungsmittel
Die professionellen Helfer bewahren familiäre und
außerfamiliäre Bindungen, begrenzen Eltern-KindTrennungen auf das notwendige Ausmaß und sorgen
ggf. für Paten.
Das therapeutische und pflegerische Personal der
Erwachsenenpsychiatrien sollte für die Lage der Kinder sensibilisiert werden.
Sie sind neugierig auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten (Ressourcen) und die individuellen Bewältigungsformen des Kindes und seiner Familie; die Stärken können besser für die Gesundung genutzt werden als etwaige Mängel.
Die Behandlungsziele müssen gegliedert werden in
Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Erkrankten,
der Angehörigen, der Professionellen (Schule, Jugendhilfe, Therapie) und der Kinder.
Die Eltern werden dazu angehalten, die Kinder über
die Störung aufzuklären und zu unterstützen. Elterngruppen sind hierfür sehr förderlich.
Familiengespräche dienen u.a. zur Information und
zur Öffnung von Tabufragen.
Die Kinder sollten wöchentlich separat einzeln und
möglichst auch in Gruppen betreut werden. Eine offene Sprechstunde und ein regelmäßiger telefonischer Kontakt sollten das Angebot ergänzen.
2 FAMILIÄRE KRISEN
2.4.
SEITE 26
Alkoholabhängigkeit bei Eltern
Alkohol verursacht schon rascher, als die meisten
denken, gesundheitliche Schäden. Bei Männern gilt
dies schon ab einem Konsum von über 30g Alkohol
täglich, für Frauen gilt ein Grenzwert von 20g.
Getränkeart Alkoholgehalt Mindestmenge
Alkohol
Spirituosen 40% und mehr
Wein
12-13%
Bier
4% und mehr
an
20g Alkohol
in 50ml-Glas
90g Alkohol
in 750ml-Flasche
Mind. 20g Alkohol
in 500ml-Flasche
Die schwere Alkoholerkrankung mit häufiger Vergiftung ist von außen auf den ersten Blick zu erkennen. Häufige Trunkenheit schlägt direkt auf die Erziehungsmethoden durch; sie beeinträchtigt zudem die
Gefühlswelt der Familie und verhindert die Reifung
des alkoholabhängigen Elternteils. Indirekt wirken
auch die zugehörige Depression, die wirtschaftlichen
Belastungen und die schlechte körperliche Verfassung des betroffenen Elternteils.
Viel häufiger kommt aber der schädliche
Gebrauch von Alkohol vor, d.h. das verdeckte Trinken im Übermaß. Daher treten die Folgeprobleme
dieser nicht offensichtlichen (subklinischen) Alkoholerkrankung viel häufiger auf:
•
Durch fehlendes Zuhören, falsche Wortwahl und
Provokation kommt es zwischen den Eltern zu
mangelhafter Abstimmung oder Streit über die
Erziehung.
•
Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen
beeinträchtigen die Verfassung des alkoholabhängigen Elternteils.
•
Durch offensive Handlungen, z.B. Flirten mit
anderen, unangenehme, peinliche oder verbal
bzw. tätlich aggressive Äußerungen oder Handlungen sowie durch kriminelles Verhalten entstehen häufig Familienkrisen.
Auf diese Weise entstehen auf indirektem Wege
chronische Missstimmungen, die sich krisenhaft ausweiten können und die Familie als Ganzes in Gefahr
bringen können.
Trinken wird nicht durch Konflikte ausgelöst,
sondern die Konflikte sind eine Folge des
Trinkens.
Ein kurzer Test mit drei Fragen hilft einzuschätzen, ob ein Elternteil gefährdet ist und deshalb
professioneller Hilfe bedarf:
Tabelle 4: AUDIT-C-Screening-Test
1. Wie oft trinken Sie Alkohol?
Nie
Einmal im Monat oder seltener
Zwei- bis viermal im Monat
Zwei- bis dreimal die Woche
Viermal die Woche oder öfter
0
1
2
3
4
3. Wenn Sie Alkohol trinken, wie viele Gläser trinken Sie dann üblicherweise an einem Tag? (Ein Glas
entspricht 0,33 l Bier, 0,25 l Wein/Sekt, 0,02 l Spirituosen.)
1 bis 2 Gläser pro Tag
3 bis 4 Gläser pro Tag
5 bis 6 Gläser pro Tag
7 bis 9 Gläser pro Tag
10 oder mehr Gläser pro Tag
0
1
2
3
4
4. Wie oft trinken Sie sechs oder mehr Gläser alkoholischer Getränke bei einer Gelegenheit (zum Beispiel beim Abendessen, auf einer Party)? (Ein Glas entspricht 0,33 l Bier, 0,25 l Wein/Sekt, 0,02 l
Spirituosen.)
Nie
Seltener als einmal im Monat
Jeden Monat
Jede Woche
Jeden Tag oder fast jeden Tag
0
1
2
3
4
Ein erhöhtes Risiko und daher die Notwendigkeit unmittelbar zu handeln besteht ab einem Gesamtpunktewert
von 4 bei Männern und 3 bei Frauen.
SEITE 27
3.
Störungen bei Kindern und
Jugendlichen
Krankheiten werden nach einer international gebräuchlichen Klassifikation (ICD 10) eingeteilt. Die
psychiatrischen Störungen beginnen mit dem Buchstaben F, gefolgt von Ziffern.
3.1.
Drogenmissbrauch
Was bedeutet Sucht?
Bedingungen und Ursachen
Sucht (ICD 10: F1x) ist eine komplexe körperliche,
psychische und soziale Erkrankung, welche die Persönlichkeit des Menschen und sein soziales Netzwerk
betrifft, beschädigt und, wenn sie lange genug wirkt,
zerstört (WHO). Sie entsteht im Zusammenspiel
Drogenmissbrauch geschieht nie ohne drogenmissbrauchende Freunde und “Abhängen“!
•
des Betroffenen mit seinen Risikofaktoren und
seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Ressourcenstatus)
•
mit den Drogen, welche Unlust rasch in Lust und
Befriedigung verwandeln können
•
und der Umwelt bzw. der Gesellschaft mit ihren
Angeboten und Normen.
Definition: Nach ICD10 wird neben der konsumierten
Substanz weiter unterschieden (x steht für die jeweilige Substanz; s. S.28):
•
F1x.0 Akute Vergiftung: Akuter Rausch mit Beeinträchtigung des Bewusstseins.
Hochriskant sind (a) eine frühe Störung des Sozialverhaltens, (b) süchtige Familienangehörige und
(c) eine leichte Zugänglichkeit von Drogen.
Weitere Risiken sind Beziehungsstörungen und Trennungen, Leistungs-, Verhaltens- und emotionale Störungen.
An Drogen kommt man nie ohne entsprechende
„Freunde“ und „Abhängen“!
Erst der Drogenkonsum, dann depressive oder
psychotische Symptome, in aller Regel nicht umgekehrt!
Diagnostik
•
F1x.1 Schädlicher Gebrauch:
Gesundheitsschädigung.
mit
•
Die Behandelnden widmen sich zunächst den nachfolgend beschriebenen diagnostischen Fragen und
Aufgaben. Es geht auch darum, die Motivation zur
Veränderung zu klären.
F1x.2 Abhängigkeit: Toleranzentwicklung (Gewöhnung an immer höhere Drogendosen), beruflicher
und sozialer Abstieg (Desintegration).
Erhebung des üblichen Tagesablaufs mit Handlungen, Stimmungen und Gefühlen.
•
Konsum
Weitere Störungen umfassen das Entzugssyndrom, das Delir, die Psychose, den Gedächtnisverlust (Amnesie) sowie Restzustände.
Vorkommen
Die Häufigkeit Abhängiger in Deutschland gibt die folgende Tabelle wieder:
Droge
Nikotin
Alkohol
Cannabis (THC)
Medikamente
Weitere Drogen
Mio. Abhängige in BRD
4
1,5
2-4
1,1-1,4
0,1-0,3
Drogenanamnese: Fragen nach Beginn und Verlauf
des Konsums, nach Stoffen, Menge, Art der Gabe,
Wirkung und Clean-Phasen. Befindet sich der Patient
bei der Vorstellung beim Arzt unter Drogeneinfluss?
Gibt es körperliche Folgeerkrankungen, z.B. Krampfanfälle, Hepatitis, HIV und Tuberkulose, Vergiftungen.
Sucht, psychiatrische und körperliche Erkrankungen
der übrigen Familie.
Auch die Vorbehandlungen und vorbestehende oder
aktuelle Strafverfahren sind zu erheben. Häufig führen diese erst zur Behandlung.
Untersuchung: Allgemeinzustand und Ernährung,
Einstichstellen, Gynäkologie, Neurologie, psychischer
Befund.
Labor: Drogenscreening, HIV- und Hepatitisstatus,
Geschlechtskrankheiten.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
SEITE 28
Tabelle 5: Drogen
Substanz
Wirkung
F10 Alkohol
angstlösend,
euphorisierend, erhöhte Unfallgefahr,
oder traurig machend, ent- tung mit Todesfolge
hemmend (kontaktfreudig bis
aggressiv), Sprachverlust
F11 Opiate:
Opium, Morphin,
Heroin, Codein,
Methadon,
Fentanyl
Gesteigertes
Selbstbewusst- hohes Risiko der Überdosiesein, Schmerztoleranz, tiefe rung bei intravenösem Konsum
unbeschwerte innere Ruhe,
"orgiastische" Glückseligkeit
Konzentrationsstörung,
Abstumpfung, Verlust des Selbstvertrauens mit Isolation und
Suizidgefahr, HIV- und Hepatitis, Straffälligkeit, Prostitution,
Verwahrlosung
F12
Cannabinoide
individuell unterschiedlich, zu- Unfallgefahr, Angst- und Paniknächst meist Wohlbefinden, zustände bis hin zu HorrorvisiOffenheit, Euphorie, Gesprä- onen, Psychose
chigkeit, später Antriebsverlust,
Stimmungsumschwung,
Sinnestäuschungen, Veränderung
des Raumgefühls
Siehe Nikotin, Nachlassen der
Konzentrationsund
Leistungsfähigkeit, Lethargie, seelische Entwicklungsstörungen,
Depression,
Flashbacks
(Nachhallerinnerungen)
F13 Analgetika
(Schmerzmittel)
Beruhigend (sedierend)
F13 Barbiturate
(Schlafmittel)
dämpfend und euphorisierend, Unfallgefahr; s. Analgetika
"Sorgenbrecher"
F13
Benzodiazepine
dämpfend und euphorisierend, Gleichgewichtsstörungen, Ver- s. Analgetika
angstlösend
lust der Bewegungskontrolle,
s. Analgetika
(Beruhigungsmittel)
F14 Kokain:
Derivate: Crack,
Freebase; Amphetamine:
Speed, Glass
akute Gefahren
Langzeitfolgen
Vergif- Organschäden (Leber, Herz,
Pankreas, Nerven, Gehirn),
Depressionen
Koordinationsstörungen, Risiko Bewusstseinstrübung
der Überdosis, v.a. mit Alkohol
Abstumpfung, Depressionen,
Wahnvorstellungen, lebensgefährliche Entzugssymptomatik
Wohlbefinden,
Größenfanta- Risiko der Überdosierung mit Nasenschleimhautschädigung,
sien, gesteigerte Leistungsfä- Kreislaufkollaps und Herzstill- Depressionen, Ängste bis zur
higkeit, Steigerung der Libido
stand, Schlaganfall, Psychose, Psychose
Panikattacken
F15 Entaktogene: Stimulierend, seelisch ausglei- Risiko durch Unkenntnis der
Ecstasy (XTC,
chend, Kontaktfreude, Halluzi- Dosis und Zusammensetzung,
MDMA)
nationen, erhöhte Ausdauer
Muskelkrämpfe, Fieber, Wasserverlust; Diabetiker und Epileptiker
sind
besonders
gefährdet
Beeinträchtigung der Nervenleitung, Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit, Depressionen, Suizidalität,
Gewichtsverlust,
verringerte
seelische und körperliche Leistungsfähigkeit
F16 HalluzinoHalluzinationen, Entpersonali- Unfallgefahr, Allmachtsillusio- Apathie,
gene: LSD, Mesierung, "Bewusstseinserwei- nen, Fehlhandlungen (Glaube, verlust
scalin, Psilocybin terung", Horrortrips, langanhal- fliegen zu können), Psychose
tende Flashbacks (Nachhallerinnerungen)
Isolation,
Realitäts-
F17 Nikotin
Verengung der Blutgefäße; be- Übelkeit,
Schwächegefühl,
ruhigend, entspannend, anre- Schweißausbrüche, Blutdruckgend, erhöhte Konzentration, krise
angst- und spannungslösend
F18
Lösungsmittel
dämpfend und euphorisierend, Übelkeit, Erbrechen, Tod durch Schläfrigkeit, Psychose, Koorpränarkotisch
Herz- oder Atemstillstand
dinations- und Sehstörungen,
Angstzustände, neurologischpsychiatrische und internistische Sekundärerkrankungen
Verringerte Leistungsfähigkeit,
Schäden an Herz, Kreislauf, Atmungsorganen, Lungen-, Kehlkopf- und Mundhöhlenkrebs
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
SEITE 29
Therapie
Behandlungsziele: Es geht darum, körperliche
Schäden zu mindern oder zu heilen, eine soziale
Umgebung wieder aufzubauen und zu sichern, Abstinenzphasen zu verlängern, mit Suchtdruck („Craving“) umgehen zu lernen und riskanten Umständen
aus dem Weg zu gehen.
Behandlungsschritte:
1. Bindung: Abhängige fassen eher Vertrauen, wenn
sie Bedenkzeiten bekommen und gut informiert
werden. Wertungen und moralische Appelle sind
unnötig, denn diese werden den Süchtigen von
allen Seiten vorgehalten. Rückfälle dürfen die Behandelnden nicht enttäuschen – sie gehören zum
Krankheitsbild! Gruppen- und Familientherapie
sind sehr hilfreiche Ansätze.
2. Ressourcen: Der Therapeut sollte die Bemühungen und Erfolge des Patienten anerkennen und
mit ihm gemeinsam weitere Lösungsschritte erarbeiten. Die Reintegration in die Gesellschaft (Ausbildung, Arbeit, Freunde, Partnerschaft, Ausbildung von Interessen) ist das wichtige Fernziel,
dem vielfach zunächst unmittelbar gesundheitssichernde Maßnahmen vorangehen.
3. Verantwortung: Primär ist die Arbeit an der
Motivation (die häufig durch drogenbedingt kreisendes Denken stark beeinträchtigt ist). Später
müssen gemeinsame konkrete und machbare
Ziele vereinbart werden. Selbststeuerung und
Selbstverstärkung sind wichtige Techniken.
Behandlungsphasen: Zunächst geht es um eine
Verringerung der akuten sozialen und gesundheitlichen Risiken, später folgt eine Motivationsphase, die
Entgiftung, die Entwöhnung, die Rückfallprophylaxe
bzw. –behandlung sowie die Miteinbeziehung bzw.
Behandlung der Beteiligten im Umfeld des direkt
Betroffenen.
Vorbeugung: Nur Kampagnen, die in die Breite gehen, sind wirksam, v.a. in der Schule und im Kindesalter.
Jeder Konsum muss ernst genommen werden!
Eine verringerte Leistungsfähigkeit und ein gestörtes Gefühlsleben (kognitive und eine emotionale Störung) sind bei Drogenabhängigen immer
vorhanden!
Cannabis erhöht das Psychoserisiko um das
Sechsfache!
Durch Drogenkonsum bzw. Missbrauch egal welcher Substanz steigt die Sterblichkeit erheblich!
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.2.
SEITE 30
Anpassungsstörungen
Bedeutende Entwicklungsschritte (der Schulanfang,
ein Umzug) oder kritische Entwicklungsphasen (das
Ende einer Freundschaft, ein herber Misserfolg) können das Leben des Betroffenen entscheidend
verändern.
Viel einschneidender aber wirken so katastrophale
Ereignisse wie der Tod der Mutter, Kriegserlebnisse,
schwere Verletzungen, die Trennung der Eltern oder
Gewalterfahrungen. Diese Vorkommnisse greifen tief
in den Entwicklungsraum des Betroffenen ein, sie beeinträchtigen meist alle drei grundlegenden Entwicklungsstrukturen gleichzeitig:
•
Bindungen gehen verloren,
•
Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten) werden beeinträchtigt und
•
das Empfinden eigener Verantwortlichkeit wird
gestört (z.B. geben sich Kinder die Schuld für derartige Ereignisse).
Die Diagnose einer Anpassungsstörung (ICD10: F43)
bezieht sich vor allem auf die Ursache, weniger auf
die Symptome. Sie wird gestellt, wenn als sicher gilt,
dass die Symptome durch ein zeitlich umschriebenes
Ereignis ausgelöst worden sind. D.h. diagnostisch ist
immer zu klären, ob die auffälligen Symptome, Verhaltens- und Handlungsweisen schon vor dem fraglichen Ereignis bestanden haben.
Die Reaktion des Einzelnen auf derartige Ereignisse
hängt ab
1. von der Art, vom Ausmaß und der Nähe sowie der
Anschlussfähigkeit bzw. der Vermittelbarkeit des
Ereignisses,
2. von den sonstigen Entwicklungs- und Lebensbedingungen sowie den erworbenen Ressourcen
und Bewältigungsstrategien des individuellen
Betroffenen,
3. von der Fähigkeit der Bezugspersonen und ggf.
der Helfer, dem Betroffenen rasch wieder Sicherheit zu geben.
Die objektive oder subjektive Bedrängnis, unter der
die Betroffenen leiden, die körperliche oder emotionale Beeinträchtigung und die verringerte Leistungsfähigkeit äußern sich in einem Gefühl der „Betäubung“, in eingeschränkter Reaktionsfähigkeit, Desorientiertheit, Unruhe, Angstzuständen, Stimmungsschwankungen, Albträumen, Flashbacks (Nachhallerinnerungen: die Betroffenen werden durch die Erinnerung an das Ereignis tranceartig überwältigt), Traurigkeit, Sorge, Mutlosigkeit oder Rückzug, Wut und
Aggressivität.
Anpassungsstörungen sind die Folge schwerer
(akuter)
kritischer
Lebensereignisse
bzw.
Traumata.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.3.
SEITE 31
Dissoziative Störungen
Eine Dissoziation (ICD10: F44) ist eine Wahrnehmungsstörung, bei der Realität und Fiktion ineinander
übergehen. Die betroffene Person lebt ihr Gefühl bzw.
ihre Vorstellung aus, dass sich ein schweres Lebensereignis oder ein Trauma, das ihr soeben widerfahren
ist, äußerlich (im Sinne einer wahnähnlichen
Wahrnehmung) oder körperlich manifestieren müsste.
Sie berichtet z.B. „ich sehe einen schwarzen Mann in
der Tür“, „ich habe Bauchschmerzen“, „ich kann mich
an nichts mehr erinnern“, „ich kann nicht mehr laufen“. Die betroffene Person möchte oder kann sich
von diesem Glauben nicht lösen, und ihr Leidensdruck ist offensichtlich.
Früher wurde dieses Symptom „hysterisch“ genannt,
und in der Tat haftet dieser Störung etwas Vorgeblich-Inszeniertes an, ohne dass darüber immer ganz
sicher zu entscheiden ist.
Viele Betroffene haben vorher erhebliche objektive
Bedrohung bzw. subjektive Angst erfahren, etwa
durch psychisch gestörte oder süchtige Eltern, Gewalterlebnisse oder gestörte familiäre Bindungen. So
wird ein Kind z.B. grundlegend verunsichert, wenn es
von seinen Bezugspersonen teils liebevolle Zuwendung und Wohlwollen, teils plötzlich und ohne
erkennbaren Anlass erhebliche Abwertung erfährt
(Ambivalenz).
Am ehesten wird über „innere Stimmen“ berichtet, die
zu Aggressivität gegenüber sich selbst oder anderen
drängen, die warnen oder die wohlwollend sind. Sie
kommen vor allem im Zustand gelockerter Assoziation auf, d.h. um die Zeit des Zubettgehens oder beim
Aufwachen in der Nacht. Diese subjektiv bedrohlichen
Zustände können bis hin zu Suizidideen eskalieren.
Abgrenzung zu ähnlichen Störungen:
Die Halluzination bei einer Psychose lässt sich dadurch abgrenzen, dass der Betroffene an das glaubt,
was er angeblich hört oder sieht. Demgegenüber
weiß bei einer Dissoziation der Betroffene, dass ihn
seine Wahrnehmung trügt.
Ein nächtlicher oder Tagtraum grenzt sich dadurch
ab, dass man sich von einem Albtraum rasch lösen
möchte und auch kann. Dies ist bei einer Dissoziation
anders.
Therapie: Werden akut oder chronisch bedrohliche
oder unauflösbar zweideutige (hochambivalente) Zustände von der Familie konsequent therapeutisch in
Angriff genommen, dann lässt sich die Dissoziation
mit Hilfe von Gesprächen und Entspannung rasch
beseitigen. Eine Therapie, welche die Belastungen
des Umfelds außer acht lässt, ist in der Regel erfolglos.
Die Fähigkeit zu bewusster Kontrolle der
Dissoziation schwankt stark (täglich, stündlich).
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.4.
SEITE 32
Psychosen
Definition und Entstehung
Über Halluzination und Wahn, die Hauptsymptome
der Psychose (ICD10: F20), wurde schon viel spekuliert: Ist der Betroffene „besessen“? Liegt eine
Gehirnerkrankung vor, oder lösen eingenommene
Substanzen diese Symptome aus? Wird diese
Erkrankung vererbt, oder liegt eine Fehlentwicklung
vor? Liegt es an der familiären Kommunikation?
Die Psychose ist bis heute eine Störung, deren Ursache im Einzelfall häufig unklar bleibt, deren Behandlung vielfach Unzufriedenheit hinterlässt, und deren
Prognose nicht selten ungewiss ist.
Nicht nur das soziale Umfeld, sondern auch die Betroffenen selbst sind in der Regel zutiefst verunsichert
darüber, dass ihre Wahrnehmung verzerrt ist, ihr
Denken nicht mehr verlässlich ist und ihre Ausdrucksformen demzufolge grundlegend gestört sind.
Psychosen werden bei den Betroffenen und ihren
Angehörigen sehr bedrohlich erlebt.
Vorkommen
Nicht jeder Wahn und jede Halluzination sind auf eine
Psychose im engeren Sinne zurück zu führen.
Im Kindesalter, d.h. vor dem 14. Lebensjahr, ist die
Erwachsenenform der Psychose mit Wahn und Halluzination sehr selten. Am ehesten vergleichbar sind
Formen der tiefgreifenden Entwicklungsstörung sowie
der frühen Bindungsstörung S.35.
Im Jugendalter kommt als weitere Ursache für psychotische Symptome der schädliche Gebrauch von
legalen oder illegalen Drogen hinzu S.27.
Psychose-ähnliche Symptome treten auch bei einer
Dissoziation auf S.31.
Die Psychose im engeren Sinne (sog. „schizophrene“ Psychose) ist im Kindesalter eine seltene
Ausschluss-Diagnose.
Symptome und Diagnostik
1. Formale und inhaltliche Denkstörungen:
Ängste (Phobien; „paranoid“), Gedankenlautwerden, Eingebung bzw. Entzug von Gedanken,
Gedankenausbreitung,
Zwänge;
überwertige
Ideen (Größenideen) bis hin zum Wahn: Verfolgungswahn, Beziehungswahn (die betroffene Person bezieht objektiv unabhängige Ereignisse
fälschlich auf sich), Sendungswahn (andere
bekehren wollen), Eifersuchtswahn.
2. Quantitative und qualitative Wahrnehmungsstörungen: Illusion, Halluzination, v.a. akustisch:
Stimmenhören (handlungsbegleitende, teilweise
befehlende Stimmen); Geruchs-, Geschmacks-,
optische und Körperhalluzinationen. Wahn und
Halluzinationen werden auch als produktive oder
„Plus“-Symptome bezeichnet.
3. Verändertes Ich-Erleben: Isolationsgefühl, Entfremdung; Beeinflussungsgefühl.
4. Veränderungen der Stimmung und des
Antriebs: „Negative“ oder „Minus“-Symptome
sind Schüchternheit, Einzelgängertum, Regression (Rückentwicklung in kindliche Verhaltensweisen), geringe Motivation und Lebensdynamik, unpassende Stimmung, bizarre Verhaltensweisen. In
der Vorphase kann der Jugendliche traurig und
antriebsgemindert wirken, sich zurückziehen und
seine Leistungsfähigkeit in der Schule verlieren.
5. Vegetative Störungen: Schlaf-, Appetitmangel,
sexuelle Funktionsstörungen, v.a. verschobener
Tag-Nacht-Rhythmus.
Kataton wird eine Psychose genannt, bei der die Betroffenen schwer erregt und hoch angespannt sind,
unter Bewegungs- und Sprech-Automatismen bzw.
Zwangshandlungen leiden und teilweise auch aufhören zu sprechen (Mutismus).
Hebephren wird eine ungenau definierte Form der
Psychose im Jugendalter genannt, in der Minussymptome im Vordergrund stehen.
Abgrenzung zu ähnlichen Störungen: Die folgenden schweren Störungen müssen durch Laboruntersuchungen (Blutwerte, Urin auf Drogen, MRT, Liquor,
EEG) ausgeschlossen werden: Enzephalitis (Entzündung des Gehirngewebes), Hirntumor, Stoffwechselstörung (z.B. Über- oder Unterzuckerung, Schilddrüsenfehlfunktion), Drogen, Infektionen (Salmonellen).
Behandlung
Patienten mit einer Psychose werden so gut wie immer medikamentös behandelt (z.B mit Haloperidol,
Risperidon, Olanzapin, Amisulpirid, Clozapin). Parallel dazu müssen sie vor Selbst- und Fremdgefährdung geschützt werden, sie benötigen Ruhe, Sicherheit und realitätsnahe Angebote. Neben den Patienten müssen auch die Bezugspersonen über den Verlauf der Erkrankung aufgeklärt werden. Familientherapie hat sich als sehr nützlich erwiesen.
Je früher das erste Auftreten, desto ungünstiger
der Verlauf. Je akuter, desto rascher bildet sich
eine Psychose zurück. Je konsequenter die Medikation, desto besser ist die Prognose. Ungünstig
ist eine Psychose zusammen mit einer Störung im
Sozialverhalten und Drogenmissbrauch.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.5.
SEITE 33
Essstörungen
Menschen, die unter einer Magersucht leiden
(ICD10: F50), nehmen rasch und nicht selten bis weit
unter die kritische Gewichtsgrenze ab. Die Betroffenen bleiben dennoch davon überzeugt, dass sie zu
dick seien und weiter abnehmen sollten. Die intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen verringert sich dabei dramatisch bis hin zu lebensbedrohlichen Stoffwechsel- oder Kreislaufkrisen.
Woran erkennt man ein kritisches Untergewicht?
Der Body-Mass-Index errechnet sich aus dem Gewicht und der Körperlänge:
BMI = Körpergewicht : (Körperlänge in Metern)
Zur Diagnostik gehören eine gründliche körperlichneurologische Untersuchung, die regelmäßige Kontrolle des Körpergewichts (in Unterwäsche und ohne
Ankündigung, da vielfach betrogen wird, etwa durch
vorheriges exzessives Trinken, Gewichte in der Kleidung), die Messung von Puls, Blutdruck und Temperatur (Untertemperatur ist ein wichtiges Zeichen für
eine bedrohliche Verschlechterung), EKG, Blutbild
und Blutchemie einschl. Schilddrüsenhormon, Urin
auf Drogen; bei Bedarf Leistungstestung, Ultraschall
der Bauchorgane, Echokardiographie des Herzens,
MRT des Gehirns, EEG.
2
Die kritische Grenze ist altersabhängig. Man arbeitet
mit sog. Perzentilenkurven, die für jedes Alter angeben, wo der Mittelwert und die kritische Grenze liegen. Neben dem BMI ist immer zu berücksichtigen,
wie rasch jemand abgenommen hat und wie die gegenwärtigen Ernährungsgewohnheiten sind.
Magersüchtige verhalten sich bei der Nahrungsaufnahme auffällig (Diät, langsames, ritualisiertes Essen,
Weglassen bestimmter Nahrungsmittel, Verstecken
von Essensresten), sie beschäftigen sich ständig mit
Figur und Aussehen (Kalorienzählen, häufiges Wiegen), und sie treiben oft auch übermäßig Sport. Einige nehmen Abführmittel ein oder erbrechen, um
nicht zuzunehmen. Oft vermeiden sie gemeinsame
Mahlzeiten und diskutieren um das Essen.
Die Unterernährung kann auch die Körperfunktionen beeinträchtigen: Ausbleiben der Monatsblutung,
Störungen des Herz-Kreislaufsystems, z.B. Schwindel
und Frieren, Verdauungsstörungen, Haarausfall, trockene Haut, Schlafstörungen, Konzentrationsmangel,
Unruhe, Nervosität, Antriebslosigkeit, rasche Ermüdung. Auf Dauer können Folgeschäden wie Unfruchtbarkeit und Osteoporose auftreten.
Magersüchtige sind auch psychisch beeinträchtigt:
Sie isolieren sich von Freunden, sie vernachlässigen
ihre Freizeitinteressen, sind lustlos und traurig, grübeln, lehnen ihr eigenes Aussehen ab, schwanken in
ihrer Stimmungslage, sind gereizt, fühlen sich ohnmächtig und entwickeln zuweilen zwanghafte Verhaltensweisen.
Bei der Entstehung der Magersucht wirken verschiedene (Risiko-) Faktoren zusammen. In aller Regel
entsteht eine Essstörung durch ein Zusammenwirken
aus Vorbildern (in der Familie, in der Klasse, aus den
Medien), Gehänselt werden (bei vorbestehendem
leichten Übergewicht), Diätessen in der näheren Umgebung (z.B. Mutter, Schwester) und weiteren Nahfaktoren. Je kürzer die Essstörung, desto besser die
Prognose.
Je nach Schweregrad der Erkrankung wird ambulant
oder stationär behandelt. Magersüchtige müssen regelmäßig und zuverlässig medizinisch begleitet werden. Es geht zunächst um eine körperliche Stabilisierung und Gewichtszunahme, später um ein normales
Essverhalten, eine verbesserte Körperwahrnehmung
sowie um alltagsnahe Themen, etwa das familiäre
Klima, die Lösung von familiären oder außerfamiliären Konflikten und die Pubertät.
In der Psychotherapie der Jugendlichen bewährt es
sich, verhaltens- und familientherapeutische Elemente miteinander zu verbinden. Ergänzend zu Einzel- und Familiengesprächen sind Gruppen für Betroffene und Angehörigengruppen notwendig und hilfreich.
Anorexie: Gewichtsabnahme bis unter die
10. BMI-Perzentile, Schlanksein als überwertige
Idee, Rigide Diät, Vermeiden gemeinsamer Mahlzeiten, absichtliches Erbrechen, Abführmittel,
übermäßiger Sport.
Bulimie:
Heisshungerattacken,
absichtliches
Erbrechen, meist normales Körpergewicht.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.6.
SEITE 34
Zwangs- und Ticstörungen
Zwangsstörungen (ICD10: F42, F95) beruhen meist
auf wiederkehrenden Gedanken, die den Betroffenen
beunruhigen und ängstigen, die ihn zu Äußerungen
oder Handlungen (Tics) drängen und ihn dadurch in
der Bewältigung des Alltags erheblich beeinträchtigen
können. 50% der Störungen beginnen bis zum
15. Lebensjahr. Es geht um vier Themengruppen:
6. Zwangsgedanken (oft Verseuchungs- bzw. Verschmutzungsideen) und Kontrollzwänge,
7. Symmetrie und Ordnen,
Abzugrenzen sind Rituale und Stereotypien v.a. bei
tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, geistiger Behinderung und reaktiven Bindungsstörungen.
Behandlung: Die Symptome können sich stark auf
das Familienleben auswirken. Bestrafung oder ein
„Mitspielen“ bei den Zwängen sollten vermieden werden. Wirksam sind Kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstraining und bisweilen auch Medikamente.
Zwangserkrankungen werden häufig durch andere emotionale Störungen begleitet.
8. Sauberkeit und Waschen (Waschzwänge),
9. Horten und Sammeln.
3.7.
Einnässen
Ein Kind, das einnässt (Enuresis, ICD10: F98.0),
entleert zwar in der Regel die Harnblase normal und
vollständig, aber am falschen Platz und zur falschen
Zeit. Dies tritt überwiegend nachts auf. Die Diagnose
wird erst gestellt, wenn ein körperlich und geistig
normal entwickeltes Kind nach dem 6. Lebensjahr
noch regelmäßig (und nicht nur gelegentlich) einnässt.
Beim Einnässen unterscheidet man zwei Formen:
Beim primären Einnässen ist das Kind seit der Geburt nie vollständig trocken gewesen. Beim sekundären Einnässen ist das Kind zwischenzeitlich mindestens für ein halbes Jahr vollständig trocken gewesen.
Vor der verhaltenstherapeutischen (z.B. Klingelmatratze, Klingelhose) bzw. medikamentösen Behandlung
müssen körperliche Ursachen (Infektion, Fehlbildungen der Harnwege) ausgeschlossen werden.
Einnässen beruht in der Regel auf einer verzögerten Reifung derjenigen Nerven, die den Verschlussmechanismus der Harnblase (Sphinkter)
kontrollieren. Psychische Störungen, die mit dem
Einnässen einhergehen, sind – bis auf seltene
Ausnahmen – die Folge, nicht die Ursache der
Störung.
Des weiteren wird unterschieden, ob es tagsüber
(diurna), nachts (nocturna) oder sowohl tagsüber als
auch nachts (diurna et nocturna) auftritt.
3.8.
Einkoten
Einkoten (Enkopresis, ICD10: F98.1) tritt v.a. bei Jungen und in der Regel tagsüber auf. Es ist in über 90%
der Fälle auf eine ballaststoff- und flüssigkeitsarme
Ernährung sowie mangelnde Bewegung zurückzuführen.
Traurigkeit oder soziale Beziehungsschwierigkeiten,
latente Aggressivität, Verstecken der schmutzigen
Wäsche sind häufige zusätzliche Symptome. Auf den
ersten Blick sieht es häufig so aus, als störe die Kinder das Einkoten nicht; fragt man aber vorsichtig und
genauer nach, dann leiden diese Kinder erheblich.
Die Eltern neigen häufig dazu, ärgerlich oder mit
Strafen oder Vorwürfen zu reagieren.
Einkoten wird in aller Regel vollständig behoben, indem das Kind zunächst gut abgeführt wird (notfalls
auch stationär), anschließend eine ausgewogene
Ernährung, eine ausreichende Trinkmenge und ein
Toilettenplan eingeführt und eine zeitlang protokolliert
wird.
Verhaltensauffälligkeiten, die parallel zum Einkoten auftreten, sind fast immer die Folge und nicht
die Ursache!
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.9.
Leistungsschwächen
Die Lern- und Leistungsfähigkeit (ICD10: F70, F71
bzw. F81.0) wird wie folgt klassifiziert:
IQ > 130
IQ 115-129
IQ 85-114
IQ 70-84
IQ < 69
SEITE 35
Überdurchschnittliche Intelligenz
Hohe Intelligenz
Durchschnittliche Intelligenz
Lernbehinderung (Sonderschule L)
Intelligenzminderung (Sonderschule GB)
Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS, „Legasthenie“, ICD10: F81.0): Bei sonst reifer Entwicklung
und normalen Lern- und Leistungsmöglichkeiten wird
für die LRS eine neurologische Reifungsstörung verantwortlich gemacht. Betroffen sind in unterschiedlicher Ausprägung sowohl das Lesen (Umsetzung von
Buchstaben in Sprache) als auch das Schreiben
(Umsetzung von akustischen Reizen in Schrift): Die
3.10.
Kinder können das Alphabet nicht richtig, sie erkennen keine Reime, Laute oder Buchstaben, sie lesen
langsam oder nur buchstabenweise, sie verwechseln,
vertauschen, verändern oder lassen Buchstaben,
Wortteile oder ganze Wörter aus, machen Regelfehler
(Dehnungs-H, Konsonanten-Verdoppelung bei kurzen
Vokalen, Groß- Kleinschreibung), verstehen den Sinn
des Geschriebenen nicht, lernen selbst bei wiederholtem Üben nicht ausreichend und machen unterschiedliche Fehler bei gleichen Wörtern. Diese
Schwäche besteht häufig bis ins Erwachsenenalter
fort.
Statt von „Intelligenz“ sollte heute besser von
„gegenwärtigen Lern- und Leistungsmöglichkeiten“ gesprochen werden.
Schulvermeidung
Es gibt drei Grundformen der Schulvermeidung, die
sich durch den ursächlichen Zusammenhang und
teilweise
die
Begleitsymptome
unterscheiden
Tabelle 6. Bei allen Formen kommt es relativ häufig
mittelfristig zu einem verschobenen Tag-NachtRhythmus, zu suchtartigem Fernseh-, Computerspiele- und Internetkonsum und durch den chroni-
schen
Schlafmangel
Symptomen.
zu
depressionsartigen
Meist findet sich bei einer Schulvermeidung eine
Mischung aus Schulphobie (sehr enge familiäre
Bindung) und Schulangst (subjektive Bedrohung,
die mit dem Schulbesuch zusammenhängt).
Tabelle 6: Schulvermeidung
Typ
Ursächlicher
Zusammenhang
Altersuntypisch enge
Eltern-Kind-Bindung
Schulphobie
Schulangst
Schulschwänzen
3.11.
Reaktion auf eine reale
Bedrohung oder subjektiv
nachvollziehbare Angst
Dissoziale Leistungs- und
Mitarbeitsverweigerung
Symptome
Wenige Kontakte zu Gleichaltrigen, soziale Unsicherheit,
Scheu, Ängstlichkeit, meist auch schon im Kindergarten.
Körperliche Beschwerden ohne Befund wie Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen.
Die Symptome werden von der Familie sehr ernst genommen;
das Fehlen des Kindes wird durch Entschuldigungen
legitimiert.
Kopf- oder Magenschmerzen, Schwindel vor Schulantritt,
Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Ängste, Hoffnungslosigkeit,
Rückzug, Aggression.
Regelverstöße, Verspätungen, Schwänzen bis hin zum Schulabbruch.
Störungen des Sozialverhaltens
Kinder, die sich dissozial verhalten, verletzen altersentsprechende soziale Erwartungen und Normen
(ICD10: F91). Hierzu gehören:
•
•
•
Regelverletzungen, Ungehorsam, Streiten, Weigerung, Verantwortung für eigenes Fehlverhalten zu
übernehmen,
Weglaufen, Schuleschwänzen,
Wutausbrüche, Gewalt gegen Gegenstände und
Personen, Gebrauch von Waffen, Ärgern, Kränken und Tyrannisieren,
•
Lügen, Stehlen, Zündeln, Quälen von Tieren bzw.
Menschen, Nötigung anderer zu sexuellen Handlungen und weitere Straftaten.
Kinder bzw. Jugendliche mit einer reinen Störung
des Sozialverhaltens bedürfen der Jugendhilfe,
nicht der Krankenbehandlung.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.12.
SEITE 36
Kinder die „schwer zu bremsen sind“
Anstrengende Kinder...
Keine Frage – es gibt Kinder mit einem ruhigen und
ausgeglichenen Temperament und andere, die lebendiger und immer aktiv sind, ihre Beschäftigung
rasch wechseln und schwierig bei einer Sache zu
halten sind. Für diese Kinder brauchen die Eltern
mehr Geduld und Nerven, und sie fühlen sich eher
einmal am Ende ihrer Kräfte.
Wenn diese Kinder in den Kindergarten und später in
die Schule kommen, müssen sie – wie alle anderen
Kinder auch – mit Ruhe und Konzentration bei der
Sache bleiben und Leistung erbringen, egal ob
•
sie fit oder müde sind, Durst haben oder auf Toilette müssen,
•
sie Spaß am Lernstoff haben, sich überfordert fühlen oder es ihnen einfach nur langweilig ist,
•
sie gut auf andere zugehen und sich mit ihnen
verständigen können oder provokativ streiten,
•
sie auf das Einvernehmen mit Freunden rechnen
dürfen oder ob Rivalität und Neid vorherrschen,
•
sie Freude und Lob bekommen oder ihnen Tadel,
Gleichgültigkeit und Ignoranz entgegenschlägt.
Wenn ein Kind – aus welchen Gründen auch immer –
bis zum Schulalter nicht gelernt hat, seine Bedürfnisse zeitweise zurückzustellen, sich selbst zu motivieren und Freude am Lernen zu haben, Ablenkung
auszublenden, Freunde zu gewinnen und zu halten,
sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten und sowohl
Lob als auch Tadel anzunehmen, dann wird es in der
Klasse als dem ersten verpflichtenden sozialen Verband um seine Position kämpfen müssen oder den
Rückzug antreten.
Dies werden dann nach den Eltern rasch auch die
Erzieherinnen und die Lehrer daran merken, dass
dieses Kind anstrengend im Umgang ist, weil die üblichen Methoden der Lenkung von Kindern nicht greifen. Hüten muss man sich dann vor allem, „Schuldige“ zu suchen, etwa die Lehrer, die Eltern oder das
Kind. Soll das Kind profitieren, dann müssen alle gut
zusammenarbeiten.
Entwicklung – ein weites Feld
Wenn Eltern, die völlig fertig sind, etwas über ihre
anstrengenden Kinder erzählen, dann müssen Therapeuten und Erzieher zunächst von außen genau
hinschauen und sich ein eigenes Bild machen, um
der Familie wirksam helfen zu können. Erfahrene
Therapeuten benötigen Zeit, wenn sie sich ein fachlich gutes und verlässliches Bild über die Entwicklung
des Kindes machen wollen. Sie erheben Entwicklungsrisiken, sie beobachten die Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten) des Kindes und leiten daraus
eine Reifungsdynamik ab.
Dabei sind die Bedingungen für die kindliche Entwicklung von enormer Vielfalt:
1. Entwicklungsaufgaben und Lösungen: Kinder
lernen etliche Lösungen für ihre natürlichen Entwicklungsaufgaben kennen, z.B. für die Fragen,
wie man Beziehungen eingeht und hält, wie man
Wissen erwirbt und anwendet, wie man Unsicherheit spürt und aushält, wie man Konflikte fair und
dauerhaft löst, wie man Verantwortung selbständig und erfolgreich übernimmt. Dabei sind viele
dieser Lösungen durchaus gleichwertig, während
andere nur zu bestimmten Alltags- oder Lebensaufgaben passen.
2. Lebensbedingungen und Lebensstile: Die Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, unterscheiden sich mitunter stark, und auch die familiären Lebensstile sind vielfältig. Zudem können
sich die Lebensbedingungen mit der Zeit verbessern oder verschlechtern, und nicht jeder Lebensstil passt zu jeder Lebensbedingung.
3. Lebensäußerungen und Toleranz der Umwelt:
Die Kinder gestalten ihren Alltag spontan und
vielfältig. Sie stoßen dabei auf tolerantere oder rigidere Mitmenschen und müssen mit deren unterschiedlichen Reaktionen fertig werden.
4. Grenzen der Belastung und Bewältigungsmuster: Wird die individuelle Belastungsgrenze
eines Kindes überschritten, dann verschlechtert
sich dessen gesamte Leistungsfähigkeit: Es lernt
schlechter, es kann seine Gefühle weniger ausdrücken, und es behauptet sich in Auseinandersetzungen zu wenig. Infolgedessen zieht es sich
zurück, läuft weg, verweigert sich oder gerät in
aggressive Auseinandersetzungen.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
SEITE 37
Aufmerksamkeit: Der Teufel steckt im Detail ...
Der Rhythmus der menschlichen Aktivität wird
viele Stunden täglich von außen getaktet. Die eine
Mutter lässt sich jeden Tag ausführlich auf das Kind
ein, die andere kann das Kind wegen Arbeit, Sorgen
oder Krankheit kaum unterhalten, so dass es rasch
lernt, sich alleine zu beschäftigen. Eine Familie geht
viel in der Natur spazieren, und jeder Zweig und jeder
Käfer wird ausgiebig betrachtet, während im Wohnzimmer einer weiteren Familie ein Zeichentrickfilm
alle dreißig Sekunden einen spannenden Höhepunkt
bringt. In der einen Klasse fasziniert die Lehrerin die
Kinder eine Stunde lang im Frontalunterricht, während der Lehrer der Nachbarklasse mit Kleingruppen
arbeitet und alle zehn Minuten etwas Neues anbietet.
D.h. die Aktivität eines Kindes, sein gesamter Ausdruck in Wahrnehmung, Denken und Handeln, wird
nicht nur in dessen Kopf geplant und gesteuert, sondern hat viel eher damit zu tun, wer sich für das Kind
interessiert und wie er ihm diese Neugier zeigt.
mehr über die elterliche Belastung. Wir sind also unbedingt darauf angewiesen, das Kind unmittelbar zu
beobachten und die Ergebnisse richtig zu bewerten:
•
Schwankungen sind normal: Wahrnehmung, Denken, Meinungsäußerung und Handeln sind von
vielen äußeren und inneren natürlichen Faktoren
abhängig. Alle diese Faktoren, mithin auch Aufmerksamkeit, können durch mangelnden Schlaf,
Hunger, Erkrankungen, Medikamente oder Alkohol, Angst sowie Stress in Familie oder Schule
beeinträchtigt werden.
•
Störungen abgrenzen: Seh- und Hörstörungen,
Entwicklungsverzögerungen,
Minderbegabung,
motorische, emotionale und Sprachstörungen.
•
Zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten beachten:
Ängste, Traurigkeit, Tics, Antriebsstörungen, körperliche Symptome und Drogenmissbrauch.
•
Soziale Bedingungen und familiäres Klima prüfen:
Familiäre Strukturen (materiell: Arbeit, Geld,
Wohnung; zeitlich: Tag-Nacht-Rhythmus, gemeinsame Mahlzeiten, Zeiten der Zuwendung und des
gemeinsamen Spiels; Beziehungen: eindeutige
Rollen, Grenzen und Kontrollen) können in aller
Regel verbessert werden. Einem Kind, das viele
Stunden täglich den Fernseher, den Gameboy
und die Playstation sein persönliches Gegenüber
nennt, werden Anspannung und Aufregung regelrecht einprogrammiert.
Was ist Aufmerksamkeit? Aufmerksam nenne ich
denjenigen, der an einem Geschehen teil hat. Dies
wird daran erkennbar, dass ein Kind
1. eine Information wahrnimmt:
2. diese verarbeitet:
3. danach handelt:
„Hör’ zu!“,
„Denk’ mit!“,
„Mach’ mit!“.
Als aufmerksam gilt, wer erfolgreich wahrnimmt,
denkt und sich äußert bzw. handelt.
Sprechen wir einem Kind also eine „Aufmerksamkeitsstörung“ zu, dann geben wir damit einen allgemeinen und intuitiven Eindruck über einen Mangel
(1) der Wahrnehmung, (2) des Denkens und Fühlens
und (3) der Äußerung bzw. Handlung wieder.
Befragen wir die Eltern, dann bekommen wir keine
objektiven Daten, sondern wir erfahren stattdessen
Aufmerksamkeit kann hinsichtlich (1) Wahrnehmung, (2) Denken und Fühlen sowie (3) sich Äußern und Handeln (d.h. im Verhalten) trainiert werden, indem man den Beziehungsraum sorgfältig
gestaltet, individuell anpasst und dabei Phantasie, Selbstbestimmung, Spontaneität und prosoziale familiäre Stile fördert.
Die Behandlung
Neben den o.g. Maßnahmen, die in der Regel ambulant und familientherapeutisch angewandt werden,
können auch Medikamente eingesetzt werden. Einige
wichtige Einschränkungen sind dabei zu beachten:
•
Die Medikamente (Methylphenidat, Amphetamin,
Amoxetin) wirken nicht bei jedem Kind. Bei 25%
der Kinder kann sich die Symptomatik unter Medikation auch verschlechtern.
•
Die genannten Arzneimittel wirken nur auf Hyperaktivität, nicht auf Impulsivität oder Konzentrationsschwächen.
•
Medikamente
ohne
weitere
pädagogischtherapeutische Maßnahmen sind ungenügend.
•
In 85% der Fälle findet man bei sorgfältiger Diagnostik weitere behandlungsbedürftige Störungen
beim Kind oder in der Familie, die ebenfalls behandelt werden müssen und die nicht auf das Medikament ansprechen.
•
Auf die relativ häufigen Nebenwirkungen wie
Schlaflosigkeit (die ebenfalls zu mangelnder Konzentration führen kann!), Appetitmangel, Wachstumsstopp und Traurigkeit muss verlässlich geachtet werden.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.13.
SEITE 38
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Symptome
Die Diagnose einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung („Autismus“, ICD10: F84) wird gestellt, wenn
eine Reihe von Symptomen zusammentreffen:
10. Mangelndes Einfühlungsvermögen,
11. eingeschränkte Interessen und Wiederholungsverhalten,
12. intellektuelle Schwächen,
13. ggf. epileptische Anfälle.
1.
2.
Betroffene Kinder zeigen die folgenden Symptome:
•
Sonderinteressen (Straßennamen, Staubsaugen,
Geburtstage); die Interessen können durchaus
altersangemessen sein, unterscheiden sich jedoch durch die Intensität, die Aufmerksamkeit für
Details von Objekten und ein geringes Interesse
an Personen.
•
Wiederholungsverhalten, etwa Stereotypien (sich
andauernd wiederholende Bewegungsmuster) mit
Fingern, Händen, Armen, Beinen, Springen, sich
Wiegen, gleichförmig-wiederholten Gebrauch von
Gegenständen; diese Rituale sind keine Zwänge,
welche die Betroffenen beunruhigen würden, und
die Betroffenen wollen damit auch nicht aufhören;
Zwangsstörungen (Wasch-, Zähl- und Kontrollzwänge) sind bei Autisten nicht üblich, können
sich aber zusätzlich entwickeln.
•
Außergewöhnliche Reaktionen auf Sinnesreize,
etwa Gerüche, Berührungen, optische oder akustische Reize.
•
Geringe Flexibilität für Veränderungen oder
Unvorhergesehenes; geistig behinderten Kindern
geht dies allerdings häufig auch so.
Mangelndes Einfühlungsvermögen
Menschen planen ihre Handlungen (Aktion) gemäß
ihren Vorstellungen, Wünschen und Absichten. Wenn
es darum geht, gemeinsam zu handeln (Interaktion),
dann versuchen wir, uns die Vorstellungen, Wünsche
und Absichten unseres Gegenübers vorzustellen, ihn
zu verstehen und die eigenen Handlungen darauf abzustimmen. Dies gelingt uns mehr oder weniger gut,
je nach Training, Tagesform und Gegenüber.
Menschen, die sich nicht einfühlen können, nehmen
dieses Miteinander nicht wahr, und dies behindert ihr
soziales Handeln. Äußerlich wirken sie in Mimik und
Gestik stereotyp, der Gesprächsverlauf wirkt wenig
flüssig, und die üblichen Zeichen einer gelungenen
Interaktion fehlen, etwa der Blickkontakt, die Reaktion
auf persönliche Ansprache, das Zeigen, das Nicken,
die Verwendung von Pronomen (‚er’/’sie’ statt ‚ich’),
das Frage-Antwort-Spiel. Stattdessen finden sich eine
auffällig monotone Sprachmelodie, Monologe und
Wiederholungen (Echolalie), Wortneubildungen oder
eine sehr sparsam eingesetzte Sprache. Kinder äußern dann Wünsche durch Schreien oder führen die
Hand des Gegenübers zum gewünschten Objekt.
Imitation und spontanes Rollen- bzw. Puppenspiel
gelingen ihnen schlechter. Diese Kinder wirken unruhig, wenig bei der Sache, sozial unreif und wenig
emotional. Sie kümmern sich wenig um andere, meiden den Kontakt zu Gleichaltrigen und nehmen deren
Bedürfnisse – und teilweise auch persönliche Grenzen – kaum wahr.
„Stellen Sie sich vor, wie irritierend und erschreckend
eine Welt wäre, wenn Sie andere Menschen nicht als
geistvolle Menschen, sondern als fremdartige Hautsäcke wahrnähmen, die sich zufällig und unvorhersehbar bewegen“ (Gopnik et al. 1999).
Fehlendes Einfühlungsvermögen (Empathie) ist
ein besonderes Kennzeichen der tiefgreifenden
Entwicklungsstörung. Es findet sich aber auch
bei anderen Störungen, etwa einer Bindungsstörung, einer geistigen Behinderung und
weiteren psychischen Störungen.
Eingeschränkte Interessen und Wiederholungsverhalten
3.
Leistungsschwächen
Kinder mit diesen außergewöhnlich schwerwiegenden
sozialen Schwächen sind regelmäßig auch in Aufmerksamkeit, Konzentration und Sprachentwicklung
eingeschränkt und in der folge häufig auch geistig
behindert. Sie sind nicht nicht selten selbst- oder
fremdaggressiv.
4.
Epileptische Anfälle
Häufiger als bei anderen Kindern können – vor allem
im Jugendalter – epileptische Anfälle auftreten.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
SEITE 39
Vorkommen
Die Diagnose einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung wird dann gestellt, wenn die genannten vier
Symptomkomplexe zusammentreffen (mangelnde
Empathie, Wiederholungsverhalten, variable intellektuelle Beeinträchtigung, ggf. EEG-Auffälligkeiten).
Dieses Symptommuster gibt es aber auch bei schweren Hör- und Sehstörungen, bestimmten Stoffwechselstörungen, chromosomalen Störungen, der Neurofibromatose Recklinghausen oder der tuberösen Hirnsklerose. Ein Großteil dieser Erkrankungen beruht auf
einem krankhaft veränderten Erbgut. (Die Eltern die-
ser Kinder müssen dabei nicht unbedingt betroffen
sein!)
Abgrenzung von weiteren Störungen: Ähnliche
Symptome finden sich auch bei Bindungsstörungen
aufgrund schwerer Vernachlässigung, schweren Eltern-Kind-Interaktionsstörungen, elektivem Mutismus
(das Kind redet nur mit wenigen Personen und
schweigt bei allen anderen), geistiger Behinderung,
Fragilem X-Syndrom, Rett-Syndrom, den Spätfolgen
einer Frühgeburt und Sonderbegabungen.
Behandlung
•
Integrativer Ansatz: Autistische und normale Kinder werden unter fachlicher Anleitung von mehreren Berufsgruppen gemeinsam betreut.
•
Intensivtraining mit den Themen Einfühlungsvermögen und Interaktion, Initiative und Kreativität, Kommunikation und Sprache.
•
Familienarbeit: Klare Strukturen, Kontrollen, Absprachen, Sicherheit geben, mit unvermeidlichen
Misserfolgen umgehen lernen, Selbsthilfegruppen,
Sozialmanagement (Wohnen, Beschäftigung,
Arbeit etc.).
•
Ggf. Medikation.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.14.
SEITE 40
Bindungsstörungen
Lebewesen sind auf den Austausch von Materie
(z.B. Luft, Wasser, Nahrungsmittel), Energie und
Information mit ihrer unmittelbaren Umwelt angewiesen. Der Mensch verfügt über sehr differenzierte
Sinnesorgane (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken,
Fühlen) und Ausdrucksmöglichkeiten (Mimik, Gestik,
Sprache). Den Umgang mit diesen „Instrumenten“
erlernt das Kind über viele Jahre im geschützten
Raum der Familie. Die Eltern können die bekannten
Lehr- und Lerntechniken gestalten S.52. Je besser
sich Eltern und Kinder verstehen, desto wirksamer
lernen Kinder, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden
und die anstehenden Aufgaben zu meistern.
Die Bindung zu den Eltern ist viel mehr als eine unverbindliche Beziehung: In einer guten Eltern-KindBindung findet eine besondere Form von gemeinschaftlicher Aufmerksamkeit statt, zu der auch eine
angemessene körperliche und seelische Versorgung
gehört. Das Kind lernt damit schon als Baby: „Wir
sehen dasselbe, wir verstehen uns, wir handeln
gemeinschaftlich und erkennen dabei die gegenseitigen Bedürfnisse und Notwendigkeiten an“.
Unter bestimmten Bedingungen wird die wichtige
Erkenntnis, für einander da zu sein, nicht erlernt:
"Neben dem Bad und der Milchküche standen
Arbeitstische. Auf dem ersten trocknete die erste
Betreuerin [...] das vom Bad herausgereichte Kind ab,
reichte es weiter auf den nächsten Tisch. Dort wurde
gepudert [...]. Am dritten Tisch wurde gewogen, [...]
Am vierten Tisch gab es frische Schlafkleider. Sogar
eine fünfte, wieder von einer anderen Person durch-
geführte Handhabung war zu beobachten: das InsBett-legen selbst." (Mehringer 1985, S.20-21, zit.
nach Unzner 1999, über Heime der fünfziger Jahre).
Im Extremfall existieren keine für das Baby erkennbaren Bindungspersonen, etwa bei einer massiven
Unterversorgung (zu Hause, im Heim, in Pflege- oder
in Adoptivfamilien) oder gar Misshandlung; dadurch
entstehen keine familiären Bindungen, und das Kind
lernt auch nicht, von sich aus verlässliche Bindungen
einzugehen und individuell zu gestalten. Engagierte
Bezugspersonen können dies später meist nur noch
teilweise ausgleichen.
Derart sozioemotional unterversorgte Kinder gehen
dann unterschiedslos auf Bekannte wie Fremde zu
(Bindungsstörung mit Enthemmung, ICD10:
F94.2). Diejenigen Kinder, die zudem schwer misshandelt wurden, entwickeln eine extreme Scheu und
Angst vor Fremden oder wirken beziehungslosgleichgültig (Bindungsstörung mit Hemmung,
ICD10: F94.1).
Bei allen diesen Kindern kann man das Fehlen zwischenmenschlicher Fähigkeiten beobachten: die persönliche Neugier und Kontaktaufnahme, die Feinabstimmung von Nähe, Distanz und Vertrauen sowie die
Bewältigung unsicherer Ereignisse, etwa durch Vorsicht, Rückversicherung, Hilfesuchen.
Da die höheren Lernformen stark von diesen zwischenmenschlichen Fähigkeiten abhängen (s.S.52),
entwickelt ein bindungsgestörtes Kind zwangsläufig
Lern- und Leistungsstörungen. Weitere psychosoziale Störungen können hinzukommen.
Symptome
•
Stereotype Interaktion, d.h. geringe Mimik und
Gestik, fehlender Blickkontakt, mangelnde Reaktion auf Ansprache, kein Zeigen oder Nicken,
Verwechslung von Pronomen, eingeschränktes
Frage-Antwort-Spiel.
•
Auffällige Sprachmelodie, Monologe, Echo-Sprechen, Erfinden neuer Worte, wenig Sprechen.
•
Fehlendes Miteinander und mangelndes Einfühlungsvermögen; stattdessen werden Wünsche
geschrieen, oder die Hand des Gegenübers wird
geführt (Autismus-ähnliches Verhalten).
•
Fehlende Vorstellungskraft und Nachahmung.
•
Unruhe, mangelnde Konzentration, einförmiger
Gefühlsausdruck.
Symptom im Umfeld: Die Sorge- oder Erziehungsberechtigten sind frustriert darüber, dass sie dauerhaft mit ihren Versuchen scheitern, eine Verbindung
zu dem Kind aufzunehmen.
Das Bindungsverhalten wird durch die primäre
Interaktion des Babys mit den versorgenden Personen eingeübt. Im Extremfall existieren keine für
das Baby identifizierbaren Bindungspersonen, so
dass das Kind nicht lernt, Bindungen aufzunehmen und individuell zu gestalten.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
SEITE 41
Behandlung
Im Rahmen einer Behandlung werden die folgenden
Inhalte vermittelt:
Was können wir realistischerweise von unserem
Kind erwarten (was versteht es, was kann es)?
1. Beziehungsfähigkeit des Kindes:
Welches sind die Bedürfnisse, Stimmungen, Impulse, Meinungen und Gefühle der Kinder, und
welches die der Eltern? Dies ist nicht immer einfach zu unterscheiden.
Wie gehe ich auf jemanden zu? Training von
Neugier und Kontaktaufnahme.
Wie motiviere ich den Anderen? Training von
Nähe und Distanz, Vertrauen.
Wie gehe ich mit Macht und Konflikten um? Training von Rückversicherung, Hilfesuchen, fairer
Auseinandersetzung.
2. Elternkompetenz:
Wie bekommen wir die kindliche Entwicklung wieder in den Vordergrund?
Wie können wir die kindlichen Bedürfnisse nach
Ernährung, Pflege, Schutz, Zuwendung, Anerkennung, Strukturen und Grenzen wahrnehmen und
auf sinnvolle Art befriedigen?
Wie können wir eine tragfähiges Familienkonzept
entwickeln, d.h. erzieherische und familiäre Ziele,
und welche Mittel setzen wir dafür ein?
3. Sozialmanagement:
Wie müssen wir die Möglichkeiten und Angebote
der Schule bzw. der Arbeit, die Wohnverhältnisse
und möglicherweise auch die ärztliche oder psychologische Behandlung aufeinander abstimmen?
4. Ggf. bedarf es auch einer Medikation.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.15.
SEITE 42
Suizid und Suizidversuch
Ein Selbstmord oder der Versuch sich zu töten sind
für Außenstehende dramatische Zeichen individueller
Krisen. Die Hilflosigkeit der Opfer überträgt sich häufig auf die Menschen im Umfeld. Die Verarbeitung
des Vorfalls bleibt häufig bei den beiden Fragen stehen, ob ein Suizidversuch ernst zu nehmen ist oder
nicht und wer möglicherweise Schuld hat.
aller vollendeten Suizide gehen Suizidversuche
voraus. Jeder zweite Betroffene sprach innerhalb
von 24 Stunden vor seinem Selbstmord davon.
Jede Ankündigung und jeder Suizidversuch sind
ernst zu nehmen!
Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch und aggressive
Verhaltensstörungen sind weitere Selbstmordgefahren. 50% der Fälle und zwei Drittel aller
männlichen 17-19Jährigen konsumierten übermäßig Alkohol.
Suizid und Selbstverletzung bzw. Suizidversuch sind
heute gut erforscht. Mit dem zur Verfügung stehenden Wissen darüber lassen sich Suizide weitgehend
verhindern und die Anzahl von Selbstverletzungen
bzw. Suizidversuchen deutlich verringern.
Die Hälfte der Selbstmörder hat Verwandte ersten
Grades, die sich umgebracht hatten. In der Umgebung von immer noch 4% der Selbstmörder gab
es nicht näher bekannte Selbstmordopfer.
Häufigkeit
Kinder unter 14 Jahren bringen sich selten um, und
auch Suizidversuche gibt es vor der Pubertät nur
selten. Bis zum Alter von 20 Jahren steigt diese Rate
auf ca. 10/100.000 an, weil bis dahin Risikofaktoren
zu wirken beginnen und sich soziale bzw. emotionale
Störungen manifestieren.
Ohne eine psychische Störung kommen Suizide
selten vor. Bei zwei Dritteln der Betroffenen findet
sich eine psychiatrische Hauptdiagnose, beim
letzten Drittel Symptome; die Hälfte hatte vorher
Kontakt zu einem professionellen Helfer. Ein Drittel hat Angststörungen. Depressionen haben jedes dritte Mädchen und jeder sechste Junge. Für
letztere sind Verhaltensstörungen, Alkohol- oder
Drogenmissbrauch typischer. Die meisten Suizidopfer sind irritierbar, impulsiv, flüchtig, kränkbar
oder zukunftsängstlich, perfektionistisch oder
depressiv (meist schon behandelt).
Weibliche Suizide werden meist durch eine Überdosis
von Medikamenten oder Drogen oder Sprung aus
großer Höhe begangen, während männliche eher
durch Erhängen oder Feuerwaffen geschehen.
Suizid und Suizidversuch sind nicht immer klar abzugrenzen. Über ein Viertel der 15- bis 19Jährigen
nehmen in verstärkender oder enthemmender Absicht
neben anderen Suizidmitteln Alkohol oder illegale
Drogen ein, davon sind unter 5% abhängig.
Mädchen begehen 1,6 bis dreimal so viele Versuche
wie Jungen. Von der Methode her können etwa 5%
der Suizidversuche tödlich ausgehen.
2.
•
Eine schlechte Eltern-Kind-Kommunikation und
elterliche Trennung sind erhebliche Risikofaktoren.
•
Beziehungsabbrüche sowie der Tod von Bezugspersonen lassen die Rate der Suizidversuche ansteigen. Bei drei von vier Suizidversuchen sind
persönliche Konflikte und Zurückweisung sowie
Schulprobleme die akuten Auslöser.
•
Unvermittelte sog. terminale Ereignisse erhöhen
das Suizidrisiko:
Risikofaktoren
1.
•
•
•
Mangelnde Ressourcen:
Materielle Organisation: Bislang wurde nicht
systematisch untersucht, in welcher Weise die
Suizidrate durch finanzielle Mängel, unzureichende Wohnverhältnisse oder mangelnde Arbeit
der Eltern beeinflusst wird.
Zugang zu Information: Sprach- und milieubedingte sowie mit mangelnder Bildung zusammenhängende Risiken werden angenommen. Die
Suizidrate bei Jugendlichen steigt kurzzeitig an,
wenn in Medien (Nachrichten, Büchern, Filmen)
ein Selbstmord dramatisiert wird.
Gesundheit der Familie: Schwangerschafts- und
Geburtsrisiken des späteren Selbstmordopfers
können das Risiko erhöhen. Depressivität erhöht
die Häufigkeit um das Zwanzigfache. Einem Drittel
Beeinträchtigte Bindungen:
Eine disziplinarische Maßnahme (Strafe, Information der Eltern nach einer Straftat, häufig im Zusammenhang mit der Schule) stand kurz bevor
oder fand erst kürzlich statt.
Die Person wurde öffentlich erniedrigt, z.B. durch
Ausschluss von einer Party wegen Trunkenheit.
Es drohte die Trennung einer Beziehung.
Der Tod eines Freundes jährte sich.
Über ein Viertel aller Selbstmörder starben innerhalb von zwei Wochen um ihren Geburtstag.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.
Eingeschränkte Verantwortung:
•
Die Suizidrate steigt durch die Zugänglichkeit zu
Suizidmitteln (Suchtmittel, Waffen, Medikamente
etc.) erheblich.
•
Eingeschränkte Konflikt- und Problemlösefähigkeiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuchs. 85-90% der Jugendlichen dachten
erstmals am Tag des Suizidversuches an einen
Selbstmord. D.h. Impulsivität und unmittelbare Ereignisse spielen eine wesentliche Rolle.
•
Gleichgültiges und feindliches, bestrafendes und
wenig sensibles Elternverhalten, hohe Erwartungen und Überkontrolle sowie wiederkehrende
Konflikte steigern die Rate der Selbstmordversuche.
SEITE 43
Wenn die Sorge aufkommt, dass sich jemand umbringen will, dann sollte die Frage nach einer
Lebensverneinung in einfachen Worten angesprochen werden. Dies löst keine Suizidalität (Selbstmordgefährdung aus, sondern entlastet und ist
der erste Behandlungsschritt. Eine Suizidhandlung ist „die Spitze des Eisbergs“.
Die häufigsten Symptome nach einem Suizidversuch (besonders bei einer Vergiftung) sind Schläfrigkeit, Bewusstlosigkeit, unkoordinierte Bewegungen
(Ataxie), Zittern (Tremor), Unruhe, Erregung, Übelkeit
und zentrale Krämpfe.
Erstversorgung
•
Jeder Suizidversuch ist ein medizinischer Notfall.
Der Betroffene wird immer sofort und persönlich
durch einen Arzt beurteilt.
•
Der Arzt wird telefonisch vorinformiert über Alter
und Gewicht, Gesundheitszustand, Methode oder
eingenommene Substanz (Art und Menge), Zeitpunkt der Einnahme sowie Symptome. Suizidmittel, ihre Beschreibung und ggf. leere Behälter
werden mitgebracht, soweit sie bekannt sind.
•
Alkohol- und Drogenkonsum kann Suizidmethoden gefährlich verstärken.
•
Angaben des Betroffenen sind nicht als zuverlässig zu betrachten. Auch die Darstellung der Ernsthaftigkeit verändert sich häufig mit der Zeit.
3. Kognitive Bedingungen: Wenn andauernde Suizidgedanken bestehen bzw. der Planungsgrad
weit fortgeschritten ist, entsteht durch Grübeln und
gedankliche Verstrickungen ein Teufelskreis.
•
Nach der Erstversorgung wird nach weiteren Suizid-Mitteln im Umfeld des Betroffenen gesucht.
Symptome
Eine stationäre Aufnahme wird für folgende Gruppen
empfohlen:
•
Hoffnungslosigkeit, d.h. das Gefühl, nichts bewirken zu können oder gut zu machen, löst Selbstmordideen aus.
Psychodynamik
1. Entwicklungskonflikte: Die meisten Suizid-Versucher verneinen eine dauerhafte Todesabsicht
und sind froh über die Entdeckung. Zwei Drittel
nennen Gründe für ihren Selbstmordversuch.
2. Emotionale Bedingungen: Bis zu ein Drittel kann
keinen genauen Auslöser äußern, diese Menschen bewegen sich häufiger in einem depressiven Kontext.
Zeichen für Selbstgefährdung (präsuizidales Syndrom) sind
•
Einengung des Denkens und der Gefühle: Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzerrung der Wahrnehmung („ich bin an allem Schlechten dieser Welt
schuld“), Grübelzwänge, starre Verhaltensmuster,
Versagen wirksamer Beruhigungsmöglichkeiten,
Kontaktvermeidung (häufig bis auf eine einzige
Person mit starkem Abhängigkeitsgefühl), Einsamkeit,
Hoffnungslosigkeit,
Weglaufen,
Leistungsabfall,
•
gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression,
•
Selbstmordphantasien als „Ausweg“ und „Entlastung“, konkrete Gedanken über die Durchführung
und das „Leben danach“.
Anfangsbewertung
•
Methode: Wenn die Betroffenen andere Methoden
anwenden als geringe Dosen von Medikamenten
oder Drogen einzunehmen oder nur oberflächlich
schneiden, dann müssen sie stationär behandelt
werden.
•
Verlauf: Andauernde Selbstmordideen oder
wiederholte Versuche lösen ebenfalls eine stationäre Behandlung aus.
•
Psychische Störungen: Auch depressive und psychotische Symptome oder Substanzmissbrauch
gehören dazu.
•
Bezugssystem: Wenn dem Betroffenen keine Erwachsenen mit Vertrauensstatus zur Seite stehen,
die den Jugendlichen bis zur nächsten Vorstellung
überwachen und Medikamente und Waffen entfernen können, dann muss der Betroffene durch
eine stationäre Behandlung geschützt werden.
3 STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN
SEITE 44
Behandlung
Vorbeugung
Die Betroffenen brauchen einen verlässlichen therapeutischen Bezug. Familiäre Bindungen müssen geklärt werden. Es muss klare Entlassungsempfehlungen geben, ggf. einen Vertrag: „Ich komme wieder
und unternehme zwischenzeitlich keinen weiteren
Selbstmordversuch. Wenn ich Hilfe benötige, wende
ich mich zuverlässig an meine Bezugspersonen oder
die vereinbarte Notfallstelle.“
Pädagogische (edukative) Programme zum Erkennen
einer Selbstmordgefährdung für Schüler, Lehrer und
Familien. (Lehrer sind wegen der Klassengrößen
nicht immer in der Lage, psychische Probleme ihrer
Schüler zuverlässig zu erkennen.)
Die Familie und das Helfersystem werden in die
Behandlungsziele einbezogen:
•
Gefühle und Meinungen dürfen und sollen offen
geäußert werden.
•
Unterschiedliche Lösungswege sind gleichwertig,
dürfen ausprobiert und geübt werden.
•
Schlechte Stimmungen (Schuldgefühle
Negativismus) werden ernst genommen.
und
Medikamente und ggf. auch eine geschützte Unterbringung können bei psychischen Störungen mit
chronischer Suizidalität notwendig werden. Bei Psychopharmaka ist zu beachten, dass diese auch zum
Suizid geeignet sein können.
Verlauf und Prognose
Viele Jugendliche, die einmal versucht haben sich
umzubringen, sind später auch auffällig. Sie finden
später schlechter Partner, lassen sich eher wieder
scheiden, werden eher kriminell, alkoholabhängig
oder bekommen eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
Jeder Zweite versucht es erneut, teilweise auch mit
fatalem Ausgang.
Gefährdete Jugendliche können durch die Erhebung
des allgemeinen Risikostatus identifiziert werden.
Die Telefonseelsorge ist für viele Fragen hilfreich, sie
vermindert die Suizidrate aber nicht. Viele Suizide geschehen dann, wenn das Opfer nicht mehr so klar organisiert denkt oder handelt, dass es noch in der
Lage ist, Hilfe zu suchen bzw. zu finden.
Der Zugang zu Suizid-Mitteln muss begrenzt werden.
Die Nachsorge in der Umgebung des Betroffenen,
etwa in der Schule, zielt auf das Verstehen des Suizidversuchs und auf eine Vorbeugung gegen Schuld
und Isolation. Sie muss zudem die Nachahmungsgefahr beachten und helfen, sie zu verringern.
Professionelle Helfer, in deren Einrichtung ein
Selbstmord passiert, müssen unterstützt werden, um
dieses tragische Ereignis selbst gut zu verarbeiten
und um andere Nutzer oder Bewohner der Einrichtung angemessen zu begleiten.
Information: Menschen mit einem hohen Suizidrisiko
(Alkoholmissbrauch, Depression und Angststörungen
sowie Aggressivität) wissen meist wenig über eine
gute Behandlung und sind nur wenig motiviert.
Bei einem Suizidversuch treffen häufig (1) ein
soziales Milieu (hohe oder niedrige Tabus,
Medien) und (2) ein akuter Auslöser (kritische
Belastung) mit (3) einer psychischen Störung
(Depression, Impulsivität und Aggressivität, Perfektionismus und Rigidität, Alkohol) zusammen.
Die Selbstmord-Idee entsteht (a) entweder nach
einem akuten Ereignis in Verbindung mit impulsiver Eigenaggression (Vorbilder für diese
„Konfliktlösung“ steigern das Risiko erheblich)
oder (b) über einen langen Zeitraum, der sich
tranceartig zu einer wachsenden Hoffnungslosigkeit und Isolation verdichtet.
SEITE 45
4.
Hilfe aus der Schule
4.1.
Wie bereiten wir unser Kind auf die Schule vor?
Wenn ein Kind bis zum 30. Juni eines Jahres sechs
Jahre alt wird, gilt es als schulpflichtig. Meist ist das
Kind in diesem Alter auch so weit entwickelt, dass es
den geistigen, sozialen und körperlichen Anforderungen der Schule gerecht wird. Gespräche mit den
Erziehern, den zukünftigen Lehrern, dem Kinderarzt
und dem Gesundheitsamt sowie ggf. die Beobachtungen zur Schulfähigkeit können offene Fragen klären, etwa zu einer früheren Einschulung oder einer
Rückstellung Tabelle 7.
Tabelle 7: Schulfähigkeit beobachten und fördern
Funktionen
Untersuchung
Förderung im Vorschulalter
Sehen und Hören
Seh- und Hörtest beim Kinderarzt, der ggf. zum Augen- und HNO-Arzt überweist.
Optische und akustische Angebote unterschiedlicher Art.
Das Kind sollte dabei nicht überfordert werden. (Fernsehen nicht vor dem 4. Geburtstag; Fernsehen, Gameboy
und Playstation zusammen nicht über 30 Minuten am
Tag.)
Abstimmung zwischen
Auge und Hand, Handmotorik
Bei Beidhändigkeit oder
unklarer Händigkeit evtl.
testen.
Ausmalen und freies Malen fördert die Stifthaltung und
bereitet das Schreibenlernen vor. Heutzutage werden
viele Kinder auch schon vor der Schule spielerisch an
Buchstaben herangeführt.
Grobmotorik, Geschicklichkeit
Beobachtung in den Bewegungen im Alltag; z.B.
Treppenlaufen, Anziehen,
Dreirad- und Fahrradfahren, Ballspiel.
Sport, Spiele draußen mit Bällen, Geräten (Federball,
Fahrrad etc.).
Sprechen und Sprache
Verstehen, Erzählen, Wortschatz und Grammatik.
Vorlesen, miteinander Reden, alltägliches Erklären und
Erklärenlassen, Sprech- und Sprachspiele, Wiedergabe
von Erlebnissen, Sprechen über Gefühle.
Leistungsbereitschaft,
Ausdauer, Konzentration
Beobachtung der Erledigung von Aufgaben.
Aufgaben im Haushalt übernehmen und dabei bleiben;
Musik und Sport fördern dies besonders und motivieren
durch einen raschen Erfolg; Erfolge herausstellen,
Schule als spannend darstellen.
Umgang mit Spannungen Beobachten, Fragen
und Streit
Bewusstsein und
Verantwortung
Klären der Fragen:
Grüßen, „Bitte“ und „Danke“, sich entschuldigen, im Gespräch einander ansehen, Mimik und Gestik vormachen;
Unternehmungen und Spiele in der Familie und in Gruppen; Reden über Gefühle, Einfühlen und Respektieren,
Streit lösen lernen.
Anwendung aller Lernmethoden: Lernen durch Übung,
Lernen durch Assoziation, Lernen durch Zuwendung
(1) Fühlt sich das Kind am
(Ermutigung und Anerkennung), Lernen am Vorbild, LerGeschehen beteiligt?
nen durch Übermittlung von Symbolen, Lernen durch
(2) Nimmt es Fehler als An- Schriftsprache.
sporn oder als Kränkung?
Angemessene Ansprüche und lösbare Aufgaben stellen,
(3) Geht es dem Kind nur
Kinder um Rat fragen, Abwerten anderer Personen oder
um sich selbst oder auch
Einrichtungen (Kindergarten, Schule...) meiden.
um ein gutes Miteinander?
4 HILFE AUS DER SCHULE
4.2.
SEITE 46
Wer ist für schulische Förderung und Hilfe zuständig?
Für die Reifung der Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer
Kinder sind die Eltern (bzw. Sorgeberechtigten) zuständig und verantwortlich. Hilfe zur Erziehung bietet
von staatlicher Seite das Jugendamt an, die Lehrer
der Schule sorgen sich um die Bildung der Kinder und
Jugendlichen, Kinderärzte kümmern sich v.a. um die
körperliche Gesundheit, und für psychosoziale Störungen und Erkrankungen sind Psychotherapeuten
und Kinder- und Jugendpsychiater zuständig.
Nobody ist perfect! Eltern, Erzieherinnen und Lehrer,
Sozialarbeiterinnen, Therapeuten und Ärzte versuchen ihren Auftrag so gut wie möglich zu erfüllen.
Aber keiner verfügt über endlos Energie, Zeit und
Geld. Anstatt zu stöhnen (meist über die eigene Belastung...) und zu klagen (vorzugsweise über andere
und vor allem die Politik...), sollten wir uns möglichst
auf die unmittelbar lösbaren Aufgaben kümmern.
Zusammenarbeit will gelernt sein! Die Kinder danken
es ihren Eltern und ihren Helfern, wenn sich alle gut
miteinander abstimmen. Das fängt schon bei Mutter
und Vater an: Wenn sich die Eltern vertragen, dann
haben sie den Kopf freier dafür, sich einfühlsam um
ihre Kinder zu kümmern S.19. Hinzu kommen die
Großeltern, die Erzieherinnen im Kindergarten, die
Lehrer. Und auch die Sozialarbeiter des Jugendamtes, die Therapeuten und die Ärzte sind „nur“ Menschen, und es dauert seine Zeit, um sich aufeinander
einzustellen.
Störungen lösen Spannungen aus! Kinder mit Schulschwierigkeiten sind ein Anlass für Unruhe und
Sorge. Eltern, Erzieherinnen Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Therapeuten müssen mehr als sonst darauf achten, sich zusammen und nicht auseinander zu
setzen. Wer ist zuständig? Keine Frage: alle
zusammen! Finden Sie gemeinsam heraus, was am
besten hilft Tabelle 8. Alle Schritte werden anschließend noch
genauer erläutert. Fragen Sie im Zweifel nach: Es gibt
leider durchaus auch Hilfeangebote, die viel Zeit und
Geld kosten und wenig Qualität bieten.
Tabelle 8: Kinder mit schulischen Leistungs- und Verhaltensschwächen fördern
Auffälligkeiten
Hilfebedarf durch Eltern, Lehrer, Jugendhilfe, Therapeuten
1. Leichte Leistungs- oder
Verhaltensschwächen
Motivation und Hilfe bei Hausaufgaben S.10, bei Lerntechniken S.4.
Regeln, Strukturen und familiäres Klima im Alltag prüfen und ggf. verändern
S.1.
Verlässlicher Austausch von Eltern, Kind und Lehrern.
2. Mittelschwere Lernschwächen, z.B. im Rechnen
oder im Lesen und Rechtschreiben
Förderung durch Nachhilfe S.10.
Klärung einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche 4.4.2 Antrag auf
Überprüfung einer Lese- und Rechtschreibschwäche S.47 (Aufgabe der
Lehrer), ggf. Förderunterricht, Nachteilsausgleich S.48 etc.
3. Mittelschwere Verhaltensauffälligkeiten, z.B. Aggression oder Rückzug
Ggf. disziplinarische Maßnahmen (Aufgabe der Eltern und ggf. der Schule).
4. Deutliche
Leistungsstörungen
Die Eltern beantragen bei der Schule eine Überprüfung auf sonderpädagogischen
Förderbedarf 4.4.1 Antrag auf Feststellung eines Sonderpädagogischen
Förderbedarfs S.47. Die Schule bietet ggf. eine besondere Förderung an oder
empfiehlt den Wechsel auf eine Förderschule.
5. Deutliche Verhaltensstörungen, z.B. anhaltender Streit, Schulstrafen,
auch Schulvermeidung
Die Eltern beantragen beim Jugendamt Erziehungshilfe oder bei seelischer Behinderung eine Eingliederungshilfe gem. § 35a KJHG 5.3 Eingliederungshilfe
S.51.
Die Eltern lassen sich beim Jugendamt beraten und beantragen Erziehungshilfe
4.4.3 Antrag auf Erziehungshilfe S.47.
Der Kinder- bzw. Hausarzt überweist zur kinder- bzw. jugendpsychiatrischen Diagnostik, Begutachtung und ggf. Behandlung S.52.
4 HILFE AUS DER SCHULE
4.3.
Wie ist das richtige Vorgehen?
Ihr erster Ansprechpartner – egal ob Schule, Jugendamt oder Therapeut – muss Ihnen unmittelbar und kompetent helfen. Damit alle möglichst gut
zusammenarbeiten können, sollten Sie sie von der
Schweigepflicht entbinden.
Eine schwache Schulleistung geht meistens auf
fehlende Lerntechniken zurück S.4 und ist nur
selten eine Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche im eigentlichen Sinn. Beachten Sie hier
unsere Tipps für die Hausaufgaben und für die Nachhilfe S.10.
Beantragen Sie ggf. in Absprache mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer eine sonderpädagogische Überprüfung S.47.
Eine Lese-, Rechtschreib- bzw. eine Rechenschwäche müssen durch die Schule frühzeitig festgestellt werden, und die Lehrer müssen rasch, ausreichend und nach klaren Vorgaben S.35 helfen. Eine
Förderstunde reicht pro Woche nicht aus! Nur in Ausnahmen gibt es noch Aufgaben für das Jugendamt
4.4.
oder Therapeuten, denn die echte Lese-, Rechtschreib- oder die Rechenschwäche sind an sich weder ein Erziehungsmangel, noch führen sie unmittelbar zu einer psychischen Erkrankung. Auch (seelisch)
behindert sind die Kinder in aller Regel nicht, so dass
sie keine Eingliederungshilfe S.51 bekommen..
Für Erziehungshilfen ist das Jugendamt zuständig.
Die Hilfeformen finden Sie auf S.50. Wenn Sie das
Gefühl haben, Hilfe zu benötigen, lassen Sie sich
ausführlich beraten. Erst wenn Sie einen schriftlichen
Antrag stellen, wird der Bedarf detailliert geprüft.
Auch die Sozialarbeiter des Jugendamtes haben es
lieber, wenn Sie früh und mit kleinen Sorgen kommen, anstatt Jahre später mit erheblichen Störungen!
Für psychosoziale Störungen sind Therapeuten
S.52 zuständig. Sie können sich entweder an
niedergelassene Psychotherapeuten oder Ihre
nächste Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie wenden. Sie benötigen dafür einen
Überweisungsschein des Haus- oder Kinderarztes.
Anträge formulieren
Wir zeigen Ihnen hier, wie Sie die Anträge formulieren
können. In der Schule Ihres Kindes liegen teilweise
auch Antragsformulare für Sie bereit. Dort hilft man
Ihnen auch gerne.
1.
SEITE 47
Antrag auf Feststellung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs
Antrag an die XYZ-Schule
Sehr geehrte Damen und Herren,
bitte überprüfen Sie, ob mein Kind ... gemäß Verordnung vom 1.11.1997 sonderpädagogisch gefördert
werden muss, und berufen Sie dafür eine Förderkommission ein.
2.
Antrag auf Überprüfung einer Lese- und
Rechtschreibschwäche
Antrag an die XYZ-Schule
Sehr geehrte Damen und Herren,
bitte überprüfen Sie, ob mein Kind ... eine Lese- und
Rechtschreibschwäche hat. Leiten Sie bitte ggf. entsprechende Maßnahmen gemäß Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 4.10.2005 ein.
Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen
(Unterschriften der Sorgeberechtigten)
3.
Antrag auf Erziehungshilfe
Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen
Antrag an das Jugendamt ...
(Unterschriften der Sorgeberechtigten)
Sehr geehrte Damen und Herren,
als Sorgeberechtigte/r beantrage ich für mein Kind ...
Erziehungshilfen nach dem KJHG.
Mit freundlichen Grüßen
(Unterschriften der Sorgeberechtigten)
4 HILFE AUS DER SCHULE
4.5.
SEITE 48
Gesetzliche Vorgaben
Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs (1.11.1997)
§ 1: Sonderpädagogischer Förderbedarf
Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist festzustellen,
•
•
wenn eine körperliche, geistige oder psychische
Beeinträchtigung oder eine Beeinträchtigung des
sozialen Verhaltens bei der Schulanmeldung bekannt ist oder vermutet wird, während des Schulbesuchs auffällig wird und das Erreichen der Bildungsziele der betreffenden allgemeinbildenden
Schule nicht oder nur durch sonderpädagogische
Förderung möglich erscheint, oder
wenn eine bereits eingeleitete sonderpädagogische Förderung nicht mehr als ausreichend erscheint.
§ 2: Verfahren
Das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs wird eingeleitet:
•
•
durch die zuständige Schule; die Erziehungsberechtigten sind unverzüglich zu unterrichten, bei
einzuschulenden Kindern ist ihre Zustimmung
erforderlich, oder
durch einen Antrag der Erziehungsberechtigten
bei der zuständigen Schule.
Die Leiterin oder der Leiter der zuständigen Schule
beauftragt eine Lehrkraft, die die Schülerin oder den
Schüler unterrichtet oder voraussichtlich unterrichten
wird, mit der Erstellung eines Berichts und holt ein
Beratungsgutachten einer Sonderschule ein.
Auf Antrag der Erziehungsberechtigten beruft die
Leiterin oder der Leiter der zuständigen Schule eine
Förderkommission ein. Diese gibt Empfehlungen zur
Feststellung eines sonderpädagogischen Förder-
bedarfs und zum weiteren Schulbesuch. Sie stützt
sich hierbei auf den Bericht der Schule und das Beratungsgutachten der Sonderschule; sie kann weitere
Unterlagen hinzuziehen oder Auskünfte einholen.
Der Förderkommission gehören an:
•
die Leiterin oder der Leiter der zuständigen
Schule als vorsitzendes Mitglied,
•
die beiden Lehrkräfte, die den Bericht und das Beratungsgutachten erstellt haben,
•
die Erziehungsberechtigten.
Gibt es keine einvernehmliche Empfehlung, sind die
verschiedenen Auffassungen der Schulbehörde mitzuteilen.
In den Sitzungen der Förderkommission können sich
die Erziehungsberechtigten vertreten lassen oder
eine Person ihres Vertrauens hinzuziehen. Kosten
werden nicht erstattet. Das vorsitzende Mitglied kann
weitere Personen hinzuziehen.
Wird keine Förderkommission berufen, so erarbeiten
die genannten Lehrkräfte die Empfehlungen.
§ 3: Entscheidungsgrundlagen
Die Schulbehörde berücksichtigt bei der Entscheidung über eine sonderpädagogische Förderung den
Bericht der Schule, das Beratungsgutachten der Sonderschule und die Empfehlungen nach § 2 Abs. 3
oder 6.
4 HILFE AUS DER SCHULE
SEITE 49
Erlass zur Förderung von SchülerInnen mit besonderen Schwierigkeiten im
Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen (4.10.2005; Zusammenfassung)
1.
Lesen, Rechtschreiben und Rechnen lernen
Die Organisation dieser besonderen Förderung
gehört zum Förderkonzept der Schule. Voraussetzung ist eine guten Zusammenarbeit innerhalb der
Schule und mit den Gesundheits-, Sozial- und Jugendämtern, den schulpsychologischen, schulund fachärztlichen Diensten, der Frühförderung,
weiteren Fachinstitutionen, Arbeitsämtern, Kammern, Betrieben und Erziehungsberatungsstellen.
Beobachtungen aller Lehrer, systematische Analysen und Tests durch die Schule sollen helfen,
Schwierigkeiten zu erkennen und Hilfestellungen zu
entwickeln. Dies wird individuell dokumentiert.
Ggf. bezieht die Schule außerschulische Helfer mit
ein, z.B. Schulpsychologen, Beratungslehrkräfte und
Mobile Dienste der Förderschulen und Fachärzte.
Bei der Einschulung werden die Voraussetzungen
für Lesen, Schreiben und Rechnen festgestellt. Erkenntnisse aus der Vorschulzeit werden einbezogen.
Fehlende Vorkenntnisse müssen systematisch entwickelt werden. Anfangs muss besonders sorgfältig
beobachtet und dokumentiert werden, um Schwierigkeiten rasch zu erkennen und vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen. Besonders beachtet werden
Schüler mit ausländischer Erstsprache.
2.
Lesen, Rechtschreiben und Rechnen lehren
Lesen, Rechtschreiben und Rechnen werden in allen
Fächern unterrichtet, und zwar gemäß dem Lernstand
und der Lerngeschwindigkeit der einzelnen Schüler.
Die Lehrer stellen unterschiedliche Lernwege dar und
sichern die Lernergebnisse. Schwierigkeiten werden
spezifisch gefördert.
3.
3. Bewertung des Förderergebnisses: Die Wirksamkeit der Fördermaßnahmen wird regelmäßig überprüft und ggf. angepasst. Lernfortschritte werden
konsequent rückgemeldet.
4.
1. Grundsätze: Auf Antrag der Lehrer entscheidet die
Klassenkonferenz, Schüler ausnahmsweise anders als üblich zu bewerten. Beim Rechnen gilt
dies nur in der Grundschule und im Primarbereich
der Förderschule. Dies kann folgendermaßen
geschehen:
•
Stärkere Gewichtung mündlicher Leistungen,
•
Zeitweiliges Nicht-Benoten der Lese- und Rechtschreibleistung oder des Rechnens,
•
Nachteilsausgleich: längere Arbeitszeit z.B. bei
Klassenarbeiten, Hilfsmittel (z.B. Zehnermaterial),
besondere Aufgaben und pädagogische Würdigung des individuellen Fortschritts.
Förderung
Die Klassenkonferenz entscheidet aufgrund der
Dokumentation der individuellen Fortschritte über
Notwendigkeit, Art und Umfang der Förderung. Die
Schüler werden ggf. im Sekundarbereich 1 und an
den berufsbildenden Schulen weiter gefördert. Ggf.
wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf geprüft.
1. Allgemeine Förderung: Psychosozialen Auffälligkeiten durch Über- bzw. Unterforderung soll vorgebeugt werden. Bei ersten bzw. leichten Schwierigkeiten bekommen die Schüler spezielle Aufgaben innerhalb ihrer Klasse, auch um sich gegenseitig zu unterstützen (Binnendifferenzierung).
2. Besondere Förderung: Schüler, die davon aktuell
oder voraussichtlich nicht ausreichend profitieren,
werden besonders gefördert (Klassen 1-10), z.B.
durch ein Training der phonologischen Bewusstheit (die Fähigkeit, den Klang eines Wortes mit
der Rechtschreibung und der Bedeutung zusammenzubringen), spezifische Rechtschreibprogramme, Vorkurse zur Entwicklung des Zahlbegriffs, handlungsorientierte Mathematikförderprogramme, elektronische Medien, ggf. auch
durch gezielte regelmäßige klassen-, jahrgangsund schulübergreifende Maßnahmen.
Leistungsfeststellung und –bewertung
2. Zeugnisse: Abweichende Bewertungen der Lese-,
Rechtschreib- und Rechenleistung werden in den
Zeugnissen vermerkt. Ausnahme sind Abgangsund Abschlusszeugnisse, dort muss der allgemein
übliche Leistungsstand zugrunde gelegt werden;
auf besondere Schwierigkeiten im Rechtschreiben
wird aber hingewiesen, wenn dies die Erziehungsberechtigten oder die volljährigen Schüler
wünschen.
Eine Rechtschreibschwäche allein ist kein Grund,
Schüler nicht zu versetzen bzw. sie nicht in eine
weiterführende Schule wechseln zu lassen.
5.
Zusammenarbeit mit den
Erziehungsberechtigten
Die Lehrer müssen mit den Eltern den Verlauf der
Fördermaßnahmen erörtern und sie darauf hinweisen, wie sie selbst ihr Kind unterstützen können.
Interessante Informationen zum Lesen und
Rechtschreiben
finden
Sie
auch
unter
www.duden.de.
SEITE 50
5.
Hilfe vom Jugendamt
5.1.
Was heißt Sorgerecht?
§ 1631 BGB: Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen,
zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt
zu bestimmen. Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig. Das Familiengericht hat
die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.
§ 1631b BGB: „Eine Unterbringung ... mit Freiheitsentziehung ist nur mit Genehmigung des Familiengerichts zulässig. ... Das Gericht hat die Genehmigung zurückzunehmen, wenn (es) das Wohl des Kindes ... nicht mehr erfordert.“
Wenn Ihr Kind selbst- bzw. fremdgefährdet ist,
muss es besonders geschützt werden. Es darf
z.B. nicht weglaufen können. Da die Freiheit des
Kindes vorübergehend eingeschränkt werden
muss, beantragen die Eltern die Genehmigung
dazu bei Gericht. Der Beschluss wird aufgehoben,
sobald das Kind nicht mehr gefährdet ist.
§ 1671 BGB: Bei einer Scheidung behalten die Eltern
grundsätzlich das gemeinsame Personensorgerecht
für ihre Kinder. Nur auf Antrag bestimmt das Familiengericht über das Sorgerecht, und zwar unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der Bindungen.
5.2.
Ein übereinstimmender Vorschlag bzw. auch der Vorschlag des Kindes sollen möglichst übernommen
werden. Die Vermögenssorge kann auch teilweise
dem anderen Elternteil, einem Vormund oder Pfleger
übertragen werden. Für die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen soll erforderlichenfalls ein Pfleger
gestellt werden.
§ 1666 BGB: Sorgerechtsentzug wegen Gefährdung
des Kindeswohls: Wenn das Kindeswohl durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch
Vernachlässigung, durch unverschuldetes elterliches
Versagen oder durch Gefahr durch einen Dritten gefährdet ist, dann muss das Gericht die entsprechenden Maßnahmen zur Gefahrenabwendung treffen,
wenn dies die Eltern nicht können oder wollen.
§ 7 KJHG: Personensorgeberechtigter ist derjenige,
dem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person
nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches die Personensorge zusteht. Erziehungsberechtigter ist der Personensorgeberechtigte und jede
sonstige Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund
einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge
wahrnimmt.
Sorgerecht ist gleichzeitig Sorgepflicht!
Hilfe zur Erziehung
Wem hilft das Jugendamt?
Das Jugendamt hilft Familien, die so weit belastet
sind, dass die Erziehung der Kinder leidet (Sozialgesetzbuch 8, „Kinder- und Jugendhilfegesetz“). Die
Hilfe umfasst vor allem pädagogische (erzieherische)
Maßnahmen. In besonderen Fällen werden auch therapeutische, Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sowie Eingliederungshilfen (analog zu Behindertenhilfe; §35a S.51) gewährt.
In den §§ 27 bis 35 werden die Hilfearten näher beschrieben: Erziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer, Sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppe, Pflegefamilie, Heimerziehung, Betreutes Wohnen, Intensive
sozialpädagogische Einzelbetreuung.
Ggf. können auch junge Volljährige bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und ggf. auch darüber
hinaus Erziehungshilfen bekommen (§ 41).
5 HILFE VOM JUGENDAMT
SEITE 51
Wie ist das Vorgehen zur Erlangung der Hilfen?
1. Beratung und Mitwirkung der Betroffenen: Zu
Beginn berät ein/e SozialarbeiterIn des Jugendamtes die Sorgeberechtigten und die Betroffenen
über Hilfen zur Entwicklung des Kindes. Die
Sorgeberechtigten besprechen die notwendigen
Förderhilfen mit dem Jugendamt und ggf. anderen
Fachkräften.
2. Dann stellen die Sorgeberechtigten oder die Sozialarbeiter einen Hilfeantrag an das Jugendamt.
3. Die Sozialarbeiter bereiten eine Hilfekonferenz
unter Teilnahme der erforderlichen Fachkräfte vor.
Die Entscheidung über Art und Umfang der Hilfe
wird protokolliert. Die verschiedenen Ansprechpartner werden im Hilfeplangespräch beteiligt,
aber nicht unbedingt in der Hilfekonferenz.
4. Am Hilfeplangespräch nehmen grundsätzlich die
betroffenen Kinder und Jugendlichen, die Sorgeberechtigten, die evtl. schon beteiligten Hilfeeinrichtungen und ggf. weitere Fachkräfte teil, z.B.
Therapeuten oder Ärzte. Unter Federführung des
Jugendamtes werden zunächst die Risiken, die
Ressourcen, die Ziele, die Art und der Umfang der
5.3.
6. Hilfeplan-Fortschreibung: Das Jugendamt muss
regelmäßig prüfen, ob die gewährte Hilfe weiterhin
geeignet und notwendig ist. Das nächste Hilfeplangespräch sollte nach ca. sechs bis zwölf Wochen stattfinden, weitere Termine sollen je nach
Einzelfall alle sechs bis zwölf Monate stattfinden.
am Leben in der Gesellschaft bereits beeinträchtigt ist
oder dies zu erwarten ist. Bei der Planung und Ausgestaltung der Maßnahme sind fachlich versierte
Ärzte oder Psychotherapeuten zu beteiligen.
Beteiligung, Mitwirkung und Fristen
Beteiligung (§ 8): Die betroffenen Kinder und
Jugendlichen werden entsprechend ihrem Entwicklungsstand beteiligt. Sie haben das Recht, sich auch
selbständig an das Jugendamt zu wenden, in akuten
Krisen auch ohne das Wissen der Sorgeberechtigten.
Mitwirkung (§ 36): Im Fall einer anstehenden außerhäuslichen Unterbringung steht den Sorgeberechtigten und den Betroffenen Kindern bzw. Jugendlichen
ein Wunsch- und Wahlrecht zu, wenn damit nicht unverhältnismäßige Mehrkosten verbunden sind. Zu den
Jugendhilfemaßnahmen gehört ein Hilfeplan, der im
5.5.
5. Der Hilfeplan bereitet die Jugendhilfemaßnahme
vor. Dann ergeht durch die Wirtschaftliche
Jugendhilfe der Bescheid über die Leistungsgewährung und Kostenübernahme. Gegen den
Leistungsbescheid können Rechtsmittel eingelegt
werden (§ 31, § 78 SGB 10).
Eingliederungshilfe
§ 35a: Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf
Eingliederungshilfe, wenn zu erwarten ist, dass ihre
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter
typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe
5.4.
Hilfe erörtert und festgelegt. Die Ziele werden verständlich, realistisch, zeitorientiert und konkret
überprüfbar formuliert, und es wird geklärt, wer für
welche Aufgabe die Verantwortung übernimmt.
Das Ergebnis ist ein Hilfeplan, der zur Selbstkontrolle des Jugendamtes und zur Abstimmung aller
Beteiligter dient. Er wird den weiteren Teilnehmern zugeschickt. Die Mitarbeiter der beauftragten Jugendhilfe-Einrichtung haben dann die Aufgabe, zusammen mit allen Betroffenen einen
Behandlungs- und Therapieplan aufzustellen.
Rahmen eines durch das Jugendamt zu organisierenden Hilfeplangesprächs (HPG) gemeinsam besprochen wird. Hierzu können auch weitere Institutionen wie z.B. die Klinik hinzugezogen werden.
Fristen: Über die Zuständigkeit und die konkreten
Hilfemaßnahmen muss innerhalb von drei Wochen
nach Antragseingang entschieden werden (§ 14 Abs.
2 (4) Sozialgesetzbuch 9).
Inobhutnahme
Die Inobhutnahme ist die vorläufige Unterbringung
des Kindes bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform.
Der Unterhalt während der Inobhutnahme wird vom
Jugendamt sichergestellt. Zur Inobhutnahme gehört
auch die Beratung und das Aufzeigen von Hilfen.
Ein Kind wird in Obhut genommen, wenn die
Sorgeberechtigten das Kindeswohl nicht mehr
gewährleisten können. Die Gründe dafür können
bei den Eltern oder dem Kind liegen.
SEITE 52
6.
Hilfe von Therapeuten
Eine erfolgreiche Entwicklung zielt darauf, den Anforderungen der Umwelt möglichst wirkungsvoll gerecht
zu werden. Äußere Risikofaktoren oder mangelhaft
ausgebildete persönliche Ressourcen können die
Anpassung beeinträchtigen.
So kann zum Beispiel ein langjähriger Streit zwischen
Eltern zur Trennung führen. Die Mutter muss mit den
Kindern in eine kleinere Wohnung umziehen, und die
Kinder müssen die Schule wechseln. Die Mutter bezieht nun Sozialhilfe, so dass sich die Familie einschränken muss und hat weniger Geld zur Verfügung.
Durch dieses kritische Ereignis können die Schulleistungen der Kinder leiden, und dies beeinträchtigt
die psychische Stabilität der Kinder.
die betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen und ihre
Eltern offen und zuverlässig über den Alltag des Kindes und seine Entwicklungsgeschichte berichten.
Auch die Risiken müssen zur Sprache kommen.
Gleichzeitig wird beobachtet, über welche Fähigkeiten
und Fertigkeiten (Ressourcen) das Kind verfügt. Daraus wird der aktuelle Entwicklungsstand abgeleitet.
Die Therapeuten vereinbaren sodann mit der Familie
die anstehenden Entwicklungsaufgaben bzw. Behandlungsziele und die Behandlungsmethoden.
Wir erklären in diesem Abschnitt, welche Informationen die Therapeuten erheben, und wie sie vorgehen,
um zu sinnvollen Behandlungszielen und -methoden
zu gelangen.
Vor jeder Behandlung steht eine gute Diagnostik.
Die Therapeuten sind darauf angewiesen, dass ihnen
6.1.
Wie entstehen Störungen?
Entwicklungsrisiken
Ressourcen
Wächst das betroffene Kind oder seine Familie
unter riskanten Bedingungen auf? Bestimmte
Lebensbedingungen erfordern beträchtliche Anpassungsleistungen, die nicht mehr zu bewältigen sind:
Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten (individuellen Ressourcen) lassen sich beim Kind und in
seiner Umgebung konkret beobachten?
1. Mangelnde Ressourcen:
• Materielle Organisation: Finanzielle Not, Arbeitslosigkeit, unzureichender Wohnraum.
• Zugang zu Information: Geringe Sprachkenntnisse, geringer Bildungsstand, Isolation.
• Gesundheit der Familie: Behinderungen, somatische oder psychische Störungen, Suchterkrankungen und Traumata.
2. Beeinträchtigte Bindungen:
• Entwicklungssprünge:
Einschulung,
Umzug,
Schul-, Ausbildungs-, Arbeitsplatzwechsel.
• Instabile Beziehungen und Brüche: Streit und
Trennung, Todesfälle.
1. Elementare Ressourcen:
• Stoffwechsel: Atmung, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Schlaf, körperliche Krankheiten.
• Regulation von Wahrnehmung und Handlung: Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konzentration, Grob- und Feinmotorik, Sprech- und
Sprachfähigkeit.
• Lernen: Neugier und Motivation, Problemlösen,
Orientierung und Wissen, besondere Fähigkeiten
und Interessen, Zugehörigkeit zu Vereinen und
Gruppen, Umgang mit Geld.
• Ausgleich von Spannungen: Umgang mit Frustration, Unsicherheit und Angst, Trauer und
Schmerz, Freude und Wut.
3. Eingeschränkte Verantwortung:
• Unzureichende elterliche Funktionen (d.h. Versorgung, Pflege, Schutz, Förderung), z.B. nach früher
Schwangerschaft (< 21 Jahre).
• Jugendhilfemaßnahmen schon bei den Eltern des
betroffenen Kindes.
• Straffälligkeit im näheren Umfeld.
2. Bindung:
• Beziehungsfähigkeit des Kindes.
• Anerkennende und förderliche Umgebung: Eltern,
Geschwister, Nachbarn, Freunde, Schule.
Häufen sich Entwicklungsrisiken, dann leidet die
kindliche Entwicklung.
Zur Behandlung der Familien benötigen wir vor
allem deren Fähigkeiten und Fertigkeiten!
3. Bewusstsein und Verantwortlichkeit:
• Erkennen die Betroffenen, wie sie am Geschehen
um sich herum beteiligt sind?
• Nutzen sie Erfolge wie Irrtümer zum Lernen?
• Gehen Sie altersangemessen auf andere zu und
beteiligen sich auf sinnvolle Weise am gesellschaftlichen Leben?
6 HILFE VON THERAPEUTEN
6.2.
SEITE 53
Wie werden die Behandlungsziele bestimmt?
Die Behandlungsziele werden in vier Schritten
bestimmt:
vor (d.h. das Kind kann diese aufholen), oder
handelt es sich um eine Behinderung? Von dieser
Entscheidung, die auch im Sozialrecht verankert
ist, hängen Hilfemaßnahmen ab, etwa eine Frühförderung, eine Erziehungshilfe durch das Jugendamt, der Förderbedarf in der Schule, eine
Integrationshilfe für Behinderte oder eine medizinische oder psychologische Therapie.
1. Über die Entwicklungsgeschichte des Kindes
(Eigenanamnese) und der Familie (Familienanamnese) entsteht ein Bild über mögliche
Entwicklungsrisiken (s.S.52). Die Therapeuten
machen sich zudem ein Bild über die familiären
Beziehungen (Genogramm).
2. Die Familie, die behandelnden Therapeuten und
Betreuer beobachten das Kind und seine aktuellen Ressourcen (Fähigkeiten und Fertigkeiten;
s.S.52).
3. Nach der Datenerhebung gilt es, Entwicklungszusammenhänge und einen Entwicklungstrend
abzuleiten (Reifungsdynamik):
Beispiel für Entwicklungszusammenhänge (Verbindung zwischen äußeren Risiken und kindlicher
Fehlentwicklung): Nach der elterlichen Trennung
fallen die Mutter und ihre Kinder finanziell in die
Sozialhilfe. Sie müssen in einen sozialen Brennpunkt mit geringen Bildungsanreizen, drogenkonsumierenden und straffälligen Jugendlichen ziehen. Da die Mutter nun arbeiten geht, werden die
Kinder weniger beaufsichtigt. Das jüngste Kind
fällt im Kindergarten durch Konzentrationsmängel
auf, und der ältere Bruder wendet sich in der
Schule aggressiv gegen die Lehrer.
Entwicklungstrend: Bewegt sich die kindliche
Auffälligkeit im Rahmen der akzeptierten Entwicklungstoleranz, liegt eine Entwicklungsverzögerung
4. Mit (1) der Vor-Einschätzung der Entwicklungsrisiken, (2) der aktuellen Sicht auf die Ressourcen
und (3) der Interpretation von Reifungszusammenhängen und des Entwicklungstrends können
die Therapeuten die individuellen Behandlungsziele bestimmen.
Allgemein widmen sich Pädagogik und Therapie den
folgenden drei Aufgaben:
•
Förderung einer sicheren Bindung zu den Bezugspersonen bzw. Helfern,
•
Aufbau strukturierter biologischer, psychischer
und sozialer Ressourcen,
•
Entwicklung
von
Verantwortlichkeit
gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen.
für
Reife und selbständige Verantwortlichkeit – das
heißt, ich bin mir über die folgenden gesellschaftlichen Funktionsprinzipien bewusst:
1.
Ich bin beteiligt.
2.
Ich kann mich irren.
3.
Es geht um ein sinnvolles Miteinander.
6 HILFE VON THERAPEUTEN
6.3.
SEITE 54
Welche Behandlungsmethoden wählen wir aus?
Therapeuten, Pflege- und Erziehungspersonal betreten im Rahmen einer Behandlung das „System Familie“; die Professionellen tun gut daran, sich darüber
bewusst zu werden, dass sie dadurch ein neues Element im Regelkreis der Klientenfamilie werden. Dies
erfordert neue Anpassungsleistungen der Familie wie
auch der Professionellen:
•
Bindung: Das Einvernehmen mit den Betroffenen
über die Behandlungsziele und -mittel sichert eine
produktive gemeinschaftliche Haltung.
•
Ressourcen: Eine wirksame Behandlung bezieht
sich auf verlässliche Beobachtungen und die o.g.
sechs Lehr- bzw. Lerntechniken. Unterschiedliche
Therapiestile und -schulen (z.B. Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie, Systemische Therapie)
unterscheiden sich in der Gewichtung dieser Lerntechniken. Der flexible Einsatz verspricht besonders hohen Erfolg. Reines Reden reicht nicht aus,
auch die praktische Selbstsicherheit des Systems
muss gestärkt werden, etwa durch aufsuchende
Familienarbeit, Patienten- oder Elterngruppentraining, Video-Feedback und Multifamilientherapie.
•
Verantwortung: Wenn die Aufgaben nach
Zuständigkeit aufgeteilt sind (z.B. Betroffene, Eltern, Schule, Jugendamt, Haus- bzw. Kinderarzt)
und sich die Behandlung nach den unmittelbaren
Lebensumständen der Klienten ausrichtet, wird
die Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit
erfolgreich sein.
Bleibt der Erfolg aus, so finden sich Schwächen in
mindestens einer der drei genannten Kategorien,
etwa unzureichende oder missverständliche Absprachen, mangelhafte Abstimmung der Behandlungsschritte auf die Möglichkeiten des Betroffenen oder
Zuständigkeitsgerangel zwischen Eltern und Helfern.
Die Kinder werden auf drei Ebenen individuell und
möglichst auch im Rahmen einer Gruppenbehandlung gefördert Tabelle 9.
Tabelle 9: Förderschritte
Förderschritte
1. Stufe: Unterstützung
2. Stufe: Training
3. Stufe: Reife Regulation
Die Kinder bzw. Jugendlichen
bearbeiten kurze, schrittweise
strukturierte Aufgaben und
werden dabei eng begleitet
und angeleitet.
Fortgeschrittene bearbeiten
Aufgaben, bei denen es unterschiedliche Lösungswege
und ggf. auch verschiedene
gleichwertige Ergebnisse gibt.
Sie werden dabei nur noch
phasenweise begleitet.
Reife Kinder und Jugendliche
nehmen die Entwicklung, die
Planung, die Entscheidung,
die Durchführung und die Ergebniskontrolle ihrer Vorhaben und Aufgaben weitgehend selbst in die Hand.
Aufgaben zum
Thema „Beziehung und
Bindung“
Äußere Zuwendung (Aufmerksamkeit und Versorgung) durch Helfer.
Aufbau direkter und offener
Beziehungen innerhalb des
vorhandenen Bezugssystems
mit klar definierten Rollen,
Strukturen und Regeln.
Aktive, selbständige, differenzierte und flexible Regulation
von Beziehungen.
Aufgaben zum
Aufbau von
Ressourcen
Unterstützung durch die Helfer bei der Anpassung, v.a.
der Regulation von Wahrnehmung, Äußerung und
Handlung.
Schrittweises Training der
selbständigen Regulation
materiell-biologischer und
psychosozialer Bedürfnisse.
Kontinuierliche Aneignung
von Techniken zur Eigenmotivation, zur besseren Problemlösung und ständige Verbesserung der Lerntechniken.
Aufgaben um
das Thema
Verantwortung
Eltern, Pädagogen und Therapeuten melden den Kindern
ihre Beteiligung am äußeren
Geschehen zurück. Sie gestalten einen fordernden und
fördernden Lernraum, in welchem Erfolge wahrscheinlicher als Misserfolge sind.
Eltern und Helfer unterstützen Die Kinder und Jugendlichen
das Kind bei der Ausbildung
verfügen über ein konstruktipraktischer Verantwortung:
ves soziales Bewusstsein, so
dass sie aktiv und erfolgreich
• Ich bin beteiligt.
gesellschaftliche Aufgaben
und Funktionen übernehmen
• Ich kann mich irren.
können, mithilfe derer sie
• Es geht um ein sinnvolles weiter reifen.
Miteinander.
6 HILFE VON THERAPEUTEN
6.4.
SEITE 55
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Ambulante und stationäre Hilfe
Menschen mit seelischen Belastungen besitzen
durchaus eigene Möglichkeiten, ihre Probleme zu lösen. In besonders schwierigen Situationen fällt es
jedoch oft schwer, dies zu erkennen und die entsprechenden Hilfsquellen zu nutzen.
Mit Hilfe ambulanter und klinischer Therapeuten sollen die Stärken und die gesunden Fähigkeiten wiederentdeckt und respekt- und verantwortungsvoll gefördert werden. Eine entsprechende Klinik bietet fachliche Hilfe für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bis zum 21. Lebensjahr sowie für ihr familiäres
und soziales Umfeld an, die unter akuten oder länger
andauernden psychischen, psychosomatischen und
neuropsychiatrischen Störungen und Erkrankungen
leiden oder von seelischer Behinderung bedroht sind.
Dorthin können sich alle diejenigen wenden, die bei
sich selbst oder anderen derartige Auffälligkeiten,
Probleme oder Störungen vermuten oder entdeckt
haben, d.h. die Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden selbst, deren Eltern, Bezugspersonen,
Verwandte oder Bekannte ebenso wie professionelle
Helfer (Ärzte, Psychologen, Lehrer, Erzieherinnen,
Sozialarbeiter etc.).
Die Aufgaben eines Klinikteams
Die in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik
tätigen Ärzte, Psychologen, Erzieher, Sozialpädagogen, Pflegekräfte und Fachtherapeuten beteiligen
sich von therapeutischer Seite an der Aufgabe, die
körperliche, die emotionale und die intellektuelle Entwicklung der jungen Menschen zu erkunden, zu begleiten und zu fördern. Das Klinikteam widmet sich
den folgenden Aufgaben:
•
Es erkennt die Stärken der Kinder, der Jugendlichen und ihrer Familien sowie ihre Fähigkeiten zur
Selbsthilfe.
•
Es unterstützt ihre Entwicklung, ihre schulische
und berufliche Bildung sowie ihre Verselbständigung.
•
Es weist auf Entwicklungs- oder Beziehungsstörungen hin, erkundet Spannungsquellen im Umfeld und stärkt die Eltern bei der Betreuung und
Erziehung ihrer Kinder.
•
Es behandelt Kinder und Jugendliche mit seelischen Krisen, psychischen Störungen oder
Suchterkrankungen, verhilft den erkrankten Kindern und Jugendlichen wieder zu Selbständigkeit
und fördert ihre Wiedereingliederung.
•
Es versorgt ihre Klienten möglichst ambulant, bei
Bedarf auch tagesklinisch und stationär.
•
Es fördert die gemeindenahe Zusammenarbeit
zwischen der Familie und öffentlichen Hilfen
(Ärzten, Schule, Erziehungsberatung, Jugendhilfe
etc.) und beteiligt sich verantwortlich an der regionalen Weiterbildung.
•
Es steht Jugendämtern und
Fachgutachter zur Verfügung.
Gerichten
als
Unterschiedliche Berufsgruppen vereinigen ihr
Wissen und Können mit dem Ziel, die Entwicklung
der ihnen anvertrauten Kinder bzw. Jugendlichen
und ihrer Familien zu fördern.
Schweigepflicht
Ärzte, Therapeuten und ihre Mitarbeiter sind gemäß
§§ 203, 204 StGB zur Verschwiegenheit über alle Informationen verpflichtet, die ihnen während ihrer Arbeit anvertraut worden sind. Dies ist eine wichtige Arbeitsgrundlage, auf die sich die Patienten bzw. ihre
Angehörigen verlassen können müssen. Patientenbezogene Informationen dürfen an Fremde nur weitergegeben werden, wenn sie schriftlich von dieser
Schweigepflicht entbunden worden sind.
Wenn Therapeuten allerdings konkret von erheblichen Gefahren für das Leben und die Gesundheit
Einzelner oder der Allgemeinheit erfahren, etwa von
der Planung einer schweren Straftat, eines Selbstmords oder einer Infektionsgefahr, dann sind sie dazu
verpflichtet, sich Dritten gegenüber zu offenbaren.
Psychiatrische Patienten offenbaren meist viel
persönlichere Daten als körperlich erkrankte
Patienten. Ihre Daten müssen daher besonders
geschützt werden.
2 FAMILIÄRE KRISEN
SEITE 56
Herunterladen