Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz Möglichkeiten und Grenzen der Beteiligungserwartung staatlicher Akteur*innen am Beispiel von Langzeiterwerbslosigkeit Dr. phil. Claudia Heinzmann aplica – Atelier für Sozialforschung, Methoden- und Schreibberatung, Basel [email protected] Armutsbekämpfung und Beteiligung - zwischen Anspruch und Wirklichkeit 2. Tagung Sozialplanung, Basel, 28.6.2016 2 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Beteiligungserwartung I: Aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben „Sozial und beruflich integriert zu sein, bedeutet, über ein ausreichendes Einkommen zur selbstbestimmten Lebensgestaltung zu verfügen und damit aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Menschen, die nur schwer den Zugang zum Arbeitsmarkt finden oder sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden, sind in erhöhtem Masse von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.“* Nationale Armutsstrategie, Themenfeld „Soziale und Berufliche Integration“ *http://www.gegenarmut.ch/themen/soziale-und-berufliche-integration; 15.6.2016; (Herv. C.H.) 3 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Spotlight I*: Alltag zwischen Gleichheit... *Interviewausschnitte 1 und 2 Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag Vereinssitzung von freiwillig Tätigen (durch SH initiiertes Angebot) Nachbarschaftshilfe Arbeit als Freiwilliger Schachgruppe Einkaufstag zu Hause; evtl. Velo / Fussball / Sportschau dito 4 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Spotlight I: ... und Differenz • Gestaltung der Zeit als Arbeitswoche; einzelne Aktivitäten als Tagesmittelpunkte • Keine selbstbestimmte Wahl: z.B. fehlender eigener Internetanschluss (Abhängigkeit von Institutionen, Bekannten); billiges Handy • Aufwändige Organisation eines Alltags, der eigenen und gesellschaftlichen Ansprüchen genügt • Allgegenwärtigkeit des spezifischen Sozialstatus; Strukturierung der Beziehungen: Entscheid über Bekanntgabe der Langzeiterwerbslosigkeit (z.B. Schachgruppe versus Verkaufspersonal) 5 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Möglichkeiten & Grenzen der Beteiligungserwartung I Möglichkeiten • Beteiligung durch Handeln und damit allgegenwärtig • Erwartung einer aktiven gesellschaftlichen Teilnahme grundsätzlich erfüllt und zwar ohne staatliche Intervention • “Getting by can all too easily be taken for granted and not recognized as an expression of agency.”* • Geld, Angebote durch staatliche / private Akteure Grenzen • Aufwändige Organisation des Alltags • Fehlende Selbstbestimmung, sozialer Ausschluss; auch durch formelle und informelle Regelungen über das WIE der Beteiligung: Lachs? Scampi? Zigaretten? Auto? Verbleib in der Wohnung? Recht auf Nicht-Beteiligung Beteiligungserwartung als sozial geformte Grösse • Geld, Angebote durch staatliche / private Akteure *Ruth Lister, 2008, Poverty, p. 130 6 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Beteiligungserwartung II: Erwerbsarbeit bzw. soziale und berufliche Integration „Sozial und beruflich integriert zu sein, bedeutet, über ein ausreichendes Einkommen zur selbstbestimmten Lebensgestaltung zu verfügen und damit aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Menschen, die nur schwer den Zugang zum Arbeitsmarkt finden oder sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden, sind in erhöhtem Masse von Armut undsozialer Ausgrenzung bedroht. “ „Soziale und berufliche Integration ist deshalb ein zentraler Ansatzpunkt der Armutsprävention. Betroffene werden bei der Suche nach geeigneten Bildungsoder Beschäftigungsmöglichkeiten unterstützt und erhalten Coaching-Angebote. Ziel von Massnahmen ist die Stärkung und der Erhalt der individuellen Kompetenzen (z.B. Sprachkompetenzen, berufsbezogene Fachkompetenzen, soziale Kompetenzen). Gleichzeitig ist der Aufbau von sozialen Kontakten und unterstützenden Netzwerken wichtig.“* Nationale Armutsstrategie, Themenfeld „Soziale und Berufliche Integration“ *http://www.gegenarmut.ch/themen/soziale-und-berufliche-integration; 15.6.2016; (Herv. C.H.) 7 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Spotlight II*: Arbeit zwischen Gleichheit... *Interviewausschnitt 3 • Gesellschaftliche “Normalität” von Erwerbsarbeit als selbstverständlicher Orientierungsrahmen selbst bei langjähriger Erwerbslosigkeit ▫ Konsequenz: Konzeption als “normaler” Arbeitnehmer ▫ Konsequenz: Orientierung an Komponenten von „normaler“ Arbeit (z.B. Lohn als Gegenleistung) • Widerspruch zu sozialstaatlichen Regelungen ▫ Nur wenig mehr Geld als ohne Erwerbstätigkeit ▫ Kein Verdienst, sondern Sozialhilfegeld 8 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Arm ist der “um des Mangels willen Unterstützte” „Die Armut bietet (…) die ganz einzige soziologische Konstellation: eine Anzahl von Individuen, vermittels eines rein individuellen Geschickes eine ganz spezifische organische Gliedstellung innerhalb des Ganzen einnehmend; diese Stellung aber doch nicht durch jenes eigene Geschick und Verfassung bestimmt, sondern dadurch, dass Andere (…) eben diese Verfassung zu korrigieren suchen, so dass nicht der persönliche Mangel den Armen macht, sondern der um des Mangels willen Unterstützte erst dem soziologischen Begriffe nach der Arme ist.“* *Simmel, Georg. 1992. „Der Arme.“ In Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, (Original 1908), S. 555. 9 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Spotlight II: ... und Differenz • • • • Stabilität durch Sozialhilfe Stabilität durch freiwillige Tätigkeit Freiwilligenarbeit mit Komponenten von Erwerbsarbeit Reduziertes Arbeitspensum als Unterstützung (vgl. z.B. aufwändige Organisation eines Alltags in Armut) 10 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Möglichkeiten & Grenzen der Beteiligungserwartung II Möglichkeiten • Beteiligung im Sinne einer Orientierung am ersten Arbeitsmarkt • Suche nach Arbeitsmöglichkeiten ohne staatliche Intervention • Freiwilligenarbeit mit Komponenten von Erwerbsarbeit versehen Grenzen • Orientierung an Attributen einer "normalen" Erwerbstätigkeit; u.a. freie Verfügbarkeit des Lohnes für geleistete Arbeit • Gesetzliche Regelungen; fehlende Statusänderung bei direkter / indirekter „Entlohnung“ durch Sozialhilfe • Erwartung einer raschen beruflichen Integration • Freiwilligenarbeit mit Komponenten von Erwerbsarbeit versehen 11 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Ein letztes Spotlight „Sozial und beruflich integriert zu sein, bedeutet, über ein ausreichendes Einkommen zur selbstbestimmten Lebensgestaltung zu verfügen und damit aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Menschen, die nur schwer den Zugang zum Arbeitsmarkt finden oder sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden, sind in erhöhtem Masse von Armut undsozialer Ausgrenzung bedroht. “ „Soziale und berufliche Integration ist deshalb ein zentraler Ansatzpunkt der Armutsprävention. Betroffene werden bei der Suche nach geeigneten Bildungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten unterstützt und erhalten Coaching-Angebote. Ziel von Massnahmen ist die Stärkung und der Erhalt der individuellen Kompetenzen (z.B. Sprachkompetenzen, berufsbezogene Fachkompetenzen, soziale Kompetenzen). Gleichzeitig ist der Aufbau von sozialen Kontakten und unterstützenden Netzwerken wichtig.“* Nationale Armutsstrategie, Themenfeld „Soziale und Berufliche Integration“ *http://www.gegenarmut.ch/themen/soziale-und-berufliche-integration; 15.6.2016; (Herv. C.H.) 12 28.6.2016 Langzeiterwerbslose zwischen Gleichheit und Differenz C.Heinzmann Zum Schluss • Ambivalenz der Selbstkonzeption: “Gleichheit” und “Differenz” • Keine einfachen Typisierungsmöglichkeiten • Keine Änderung der sozialen Zuschreibung bei direkter oder indirekter “Entlohnung” v.a. durch Sozialhilfe • Fokus auf gesellschaftlich anerkannte Formen arbeitsmarktlicher Beteiligung (Temporärarbeit, Teilzeitarbeit); Freiwilligenarbeit; Durchlässigkeit und (übergeordnete) Koordination der Angebote mit Ausrichtung auf Betroffene als Arbeitnehmende • Neben Fokus auf Betroffene: ▫ Blick auf implizite gesellschaftliche Erwartungen über “richtige” und “falsche” Formen der Beteiligung (vgl. „Scampi-Frage“) ▫ Blick auf politisch-wirtschaftliche und organisationsinterne Ebenen