Schwerpunkt - Die Volkswirtschaft

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88. Jahrgang Nr. 5/2015 sFr. 12.–
Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik
DIE STUDIE
KONJUNKTUR
ARBEITSMARKT
INNOVATION
Wer profitiert am meisten
von einem Universitäts­
abschluss?
SNB-Delegierte sprechen
in den Regionen mit
Unternehmern
Die OECD sieht Handlungs­
bedarf auf allen Ebenen bei
psychisch Erkrankten
Industriebetriebe geben
sich bei Digitalisierung
­zurückhaltend
SCHWERPUNKT
Im Wahljahr: Wie beeinflussen
sich Wirtschaft und Politik?
Wichtiger HINWEIS !
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden!
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
EDITORIAL
Primat der Wirtschaft oder
Primat der Politik?
Sie halten die neue «Volkswirtschaft» in den Händen. In der aktuellsten Überarbeitung des Magazins – der ersten nach 14 Jahren – haben wir im Vorfeld
vieles hinterfragt und überprüft. Die «Volkswirtschaft» verstärkt, was sie auszeichnet. Sie ist eine wirtschaftspolitische Publikation mit einem Schwerpunktthema, das sowohl in die Tiefe als auch in die Breite geht. Wir wollen uns noch
klarer als Plattform für wirtschaftspolitische Meinungsbildung positionieren.
Fragestellungen werden von verschiedenen
Blickwinkeln beleuchtet. Und: Die Stärke der
«Volkswirtschaft» bleiben die Autoren. Die
renommierten Experten aus Wissenschaft,
Forschung und Verwaltung vermitteln Authentizität und Fachwissen auf hohem Niveau.
Zudem erhält die «Volkswirtschaft» einen
modernen Print- und Onlineauftritt. Die
verbesserte Leserführung, neue Gefässe und
exklusive Studienergebnisse steigern die Attraktivität der Zeitschrift zusätzlich.
Eine wesentliche Neuerung ist die Tablet-App.
Das Wahljahr 2015 bildet die Ausgangslage für das Schwerpunktthema der
erneuerten Ausgabe: Wie beeinflussen sich Wirtschaft und Politik? Die Forderung nach dem Primat der Politik hat durch die Finanzkrise Aufwind erhalten,
denn die Krise führte zu einer Regulierungswelle. Antworten liefern sowohl
die Wirtschafts- als auch die Politikwissenschaften. Gerade in der Politischen
Ökonomie, das heisst in der Erforschung politischer Prozesse mittels der ökonomischen Methodik, arbeiten Forscher aus beiden Disziplinen Hand in Hand.
Ökonomen und Politologen halten sich bei der Autorenschaft entsprechend
die Waage. Im Hinblick auf den Wahlherbst interessiert uns die folgende Frage:
Beeinflusst die Wirtschaftslage in der Schweiz das Wahlergebnis?
Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre.
Susanne Blank und Nicole Tesar
Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft»
INHALT
Schwerpunkt
6
11
14
Schweizer Rezepte gegen
überhöhte Staatsausgaben
funktionieren
Regierungen beeinflussen
Konjunkturzyklen aus
wahltaktischen Gründen
Die entzauberte Konkordanz
als Problem für die
Schweizer Wirtschaft
Christoph A. Schaltegger, Christian Frey
Universität Luzern
Gebhard Kirchgässner Universtität St. Gallen
Silja Häusermann Universität Zürich
«
28
Peter A. Fischer, Leiter
der Wirtschaftsredaktion
der «NZZ» im Interview
18
23
Interessengruppen verlieren
in der Schweizer Politik an
Einfluss
Wie beeinflusst die
Entschädigung
die Disziplin und die Selektion
von Politikern?
Manuel Fischer Universität Bern
Pascal Sciarini Universität Genf
Thomas Brändle
Eidgenössische Finanzverwaltung
«Wirtschaft und
Politik haben
sich voneinander.
entfernt.»
34
40
Kleine Parteien sind Verlierer
des föderalen Wahlsystems
Wirtschaftslage beeinflusst
Wahlen in der Schweiz kaum
Adrian Vatter Universität Bern
Georg Lutz Universität Lausanne und
Schweizer Kompetenzzentrum
Sozialwissenschaften FORS
«
INHALT
Themen
52
55
58
KONJUNKTUR
ARBEITSMARKT
INNOVATION
Delegierte der Nationalbank
messen den Puls der
Wirtschaft in den Regionen
Politik muss bei psychischen
Erkrankungen handeln
Schweizer Unternehmen sehen
Digitalisierung als Chance
Attilio Zanetti, Hans-Ueli Hunziker
Schweizerische Nationalbank
Katrin Jentzsch Bundesamt für Sozialversicherungen
Maggie Graf Staatssekretariat für Wirtschaft
Annette Hitz Psychische Gesundheit Schweiz
Patricia Deflorin, Christian Hauser, Maike Scherrer-Rathje
Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur
62
65
67
STEUERN
ARBEITSMARKT
STEUERN
Die Reform der
Verrechnungssteuer stärkt
den Finanzplatz
Schwarzarbeit-Inspektoren
sollen mehr Kompetenzen
erhalten
Schattenwirtschaft in der
Schweiz geht zurück
Daniela Schwarz
Eidgenössische Steuerverwaltung
Peter Jakob Staatssekretariat für Wirtschaft
Friedrich Schneider Johannes Kepler Universität Linz
Christoph A. Schaltegger Universität Luzern,
Universität St. Gallen
Felix Schmutz Universität Luzern und Institut
für Finanzdienstleistungen Zug
Spots
AUFGEGRIFFEN
DIE STUDIE
ZAHLEN
CARTOON
Wie Ökonomen die
Politik weiterbringen
Bildungsrenditen:
Wer profitiert?
Infografik und
Wirtschaftskennzahlen
Politik in der
Wirtschaft
Eric Scheidegger Staatssekretariat
für Wirtschaft
Lionel Perini Schweizerischer
Nationalfonds
Staatssekretariat für Wirtschaft
Stephan Bornick
46
48
70
72
IMPRESSUM
Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, ­Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Christian Maillard, Stefan Sonderegger
Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, ­Susanne Blank,
Eric Jakob, Evelyn Kobelt, Peter Moser, Markus Tanner, Nicole Tesar
Leiter Ressort Publikationen: Markus Tanner
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Telefon +41 (0)58 462 29 39
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Erscheint 10x jährlich in deutscher und franzö­sischer Sprache
(französisch: La Vie économique), 88. Jahrgang, mit Beilagen.
Druck
Somedia Production, Kasernenstrasse 1, 7007 Chur
Der Inhalt der Artikel widerspiegelt die Auffassung der Autorinnen und Autoren und deckt sich nicht notwendigerweise mit der
Meinung der Redaktion.
Der Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilligung durch die Redaktion, unter Q
­ uellenangabe gestattet; Belegexemplare e­ rwünscht.
ISSN 1011-386X
SCHWERPUNKT
Im Wahljahr:
Wie beeinflussen sich ­
Wirtschaft und Politik?
Die eidgenössischen Wahlen im Herbst werfen aus ökonomischer
Sicht die Frage auf: Welchen Einfluss hat die Wirtschaftslage auf den Wahlentscheid? Die Frankenstärke dürfte sich laut
einer politologischen Untersuchung kaum auf die
Parteienwahl auswirken (S. 40). Im Wahljahr verhalten sich
Regierungen oft berechnend – und verschieben etwa heikle
Budgetentscheide (S. 11). Bei der Höhe der Finanzausgaben
spielen zudem Kabinettsgrösse und Regierungssystem eine Rolle
(S. 6). In der Schweiz lancieren die Regierungsparteien in
zunehmendem Ausmass Initiativen aus wahltaktischen
Überlegungen. Das gefährdet das auf Kompromissen beruhende
Konkordanzsystem (S. 14).
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Schweizer Rezepte gegen überhöhte
Staatsausgaben funktionieren
Ohne Beschränkungen droht jedem Staatsbudget die Übernutzung. Entscheidend sind die
institutionellen Rahmenbedingungen. So geben grosse Kabinette mehr Geld aus als kleine. Finanzreferenden und Schuldenbremsen beschränken hingegen das Ausgabeverhalten.
Christoph A. Schaltegger, Christian Frey
Abstract Das Staatsbudget stellt eine von den Einwohnern eines Landes gemeinsam
genutzte Ressource dar. Inwiefern dieser die Übernutzung droht, hängt wesentlich
von den institutionellen Rahmenbedingungen ab. So wirkt sich etwa die Regierungsgrösse auf die Staatsausgaben aus: Je mehr Mitglieder ein Kabinett zählt, desto höher sind die Ausgaben. Auch weitere institutionelle Faktoren wie die Konkordanz, der
Fiskalföderalismus, die direkte Demokratie und Schuldenbremsen beeinflussen die
Finanzpolitik. Sie erklären zu einem guten Teil die im internationalen Vergleich solide finanzielle Situation der Schweiz. Griechenland weist diesbezügliche weit weniger
vorteilhafte Rahmenbedingungen auf.
D Finanzreferenden
und Schuldenbremsen haben sich als
taugliche Instrumente erwiesen, um die
Staatsausgaben im
Griff zu haben.
6 as Problem der Allmende – des gemeinschaftlichen Eigentums – ist in der Ökonomie wohlbekannt: Es handelt sich um eine
begrenzte Ressource in kollektivem Besitz, von
deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden
kann. Damit besteht der individuelle Anreiz, die
Allmende ausgiebig zu nutzen, denn nur ein Teil
der damit verbundenen Kosten entfällt auf einen
selbst. Der Rest wird in Form von externen Kosten der Allgemeinheit überbürdet. In der Konsequenz droht der Allmende die Übernutzung.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Analog verhält es sich bei den Staatsfinanzen.
Auch staatlich finanzierte Projekte zeichnen sich
durch eine inhärente Asymmetrie zwischen dem
Kreis der Nutzniesser und der Entscheidungsträger sowie demjeniger der Kostenträger aus. Während eine partikulare Interessengemeinschaft
von einem staatlichen Programm profitiert, verteilen sich die Kosten auf alle Steuerzahler. Politische Akteure setzen staatliche Ressourcen zum
Vorteil der von ihnen vertretenen Interessengemeinschaft ein – die Kosten trägt die Allgemeinheit. Durch Stimmentausch und die geschickte
Bündelung von Ausgabenprogrammen lassen
sich im politischen Prozess auch für kleine Interessengruppen Mehrheiten erreichen. Genau wie
der Allmende droht auch dem Staatsbudget die
Übernutzung.
Das Problem der fiskalischen Allmende ist in
der Volkswirtschaftslehre etabliert1. Die grundlegende Ursache liegt in der Fragmentierung der Gesellschaft in Interessengemeinschaften mit ihren
jeweiligen politischen Akteuren. Beispiele sind
etwa die geografische Fragmentierung innerhalb
des Parlaments in Gliedstaaten und Wahlkreise
oder die Fragmentierung entlang von Parteigrenzen innerhalb einer Regierungskoalition.
Frühe Arbeiten wurden inspiriert durch ein
bekanntes Phänomen, wofür sich in den USA der
Begriff pork barrel politics eingebürgert hat: Um
die eigene Wiederwahl zu sichern, versuchen die
Kongressabgeordneten durch Zusatzartikel zu
neuen Gesetzen Staatsausgaben gezielt im eigenen Wahlkreis anfallen zu lassen. Diese Art der
Kirchturmpolitik, bei der sich Politiker für regionale Interessen einsetzen, ohne die finanziellen
Konsequenzen für die Allgemeinheit zu beach-
ISTOCK
ten, ist auch in der Schweiz bekannt. Sie äusserte
sich jüngst etwa im «föderalen Wunschkonzert»
bei der Finanzierung des Ausbaus der Bahninfrastruktur2.
Breite Koalitionen haben
Vor- und Nachteile
Im Gegensatz zum präsidentiellen System mit
Mehrheitswahlrecht in den USA kennt Europa
mehrheitlich parlamentarische Systeme mit Verhältniswahlrecht, woraus sich häufig Koalitionsregierungen ergeben. Eine erste Reihe empirischer Analysen des Phänomens der fiskalischen
Allmende untersucht den Effekt, der durch die
Koalitionsgrösse ausgelöst wird. Die Hypothese
lautet: Je mehr Parteien an einer Regierungskoalition beteiligt sind und auf das Staatsbudget
Einfluss nehmen können, desto stärker die Fragmentierung und desto gravierender das Problem
der fiskalischen Allmende. Die empirischen Belege sind diesbezüglich jedoch ambivalent3. Eindeutige negative Effekte der Koalitionsgrösse auf
die Finanzpolitik können nicht festgestellt werden. Eine mögliche Erklärung hierfür liefert die
Theorie von Alesina und Rosenthal (1996). Zwar
ist die Fragmentierung in grossen Koalitionen
stärker ausgeprägt, gleichzeitig repräsentieren
breitere Koalitionen tendenziell aber auch einen
grösseren Anteil der Bevölkerung. Der Einfluss
einzelner Parteien und Interessengruppen auf
die Finanzpolitik fällt damit geringer aus. Insbesondere in einer Konkordanzdemokratie – wie
der Schweiz – dürfte sich die Fragmentierung in
mehrere Regierungsparteien somit kaum negativ
auswirken.
In präsidentiellen
Systemen steigt die
Gefahr, dass Politiker
sogenannte Kirchturmpolitik betreiben, indem sie sich für
regionale Interessen
einsetzen.
1 Vgl. Buchanan & Tullock
(1962) sowie Weingast
et al. (1981).
2 Vgl. Müller-Jentsch
(2013): Föderales
Wunschkonzert der
Verkehrsinvestitionen
3 Vgl. Schaltegger und
Feld (2009).
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 7
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Grosse Kabinette geben mehr aus
4 Niskanen (1971).
5 Gemäss Stigler (1971).
6 Vgl. Schaltegger und
Feld (2009) für eine
Übersicht.
7 Ebd.
Das Problem der fiskalischen Allmende kann
sich jedoch auch innerhalb des Regierungskabinetts auswirken: Jeder Minister hat Einfluss auf
die fiskalpolitischen Entscheide des Gremiums
und gleichzeitig Interesse daran, die finanziellen Ressourcen möglichst in das eigene Ressort
zu lenken – etwa zur Maximierung des Einflusses der eigenen Behörde auf die Politik4 oder
aufgrund der Kollusion von Ministerien mit den
wichtigen Interessengruppen für das jeweilige
Ressort (regulatory capture)5. Nicht zuletzt sind
Magistratspersonen immer auch gewählte Politiker, die eine bestimmte Wählerschicht vertreten.
Das Allmende-Problem sollte sich somit innerhalb des Kabinetts umso stärker auswirken,
je grösser die Anzahl der Ressortminister – und
damit die Fragmentierung – ist. Eine starke Stellung des Finanzministeriums oder eine Regierungschefin mit Richtlinienkompetenz dürfte
dem Phänomen hingegen aufgrund ihrer Verantwortung für das Gesamtbudget tendenziell entgegenwirken. Tatsächlich findet sich für
OECD-Staaten deutliche empirische Evidenz:
Das Defizit, die Staatsausgaben und insbesondere die Transferausgaben fallen umso höher aus,
je grösser die Fragmentierung im Regierungskabinett ist.6
Fiskalische Allmende gibt es
auch in der Schweiz
Das Allmende-Phänomen existiert auch in den
Schweizer Kantonen.7 Heute zählen die Regierungen je nach Kanton zwischen fünf und sieben
Weitere institutionelle Einflüsse auf die Finanzpolitik
Mehrheitswahlrecht (Majorz)
vs. Verhältniswahlrecht
(Proporz)
In einem Wahlsystem nach dem
Majorz-Prinzip ist die Rechenschaftspflicht eines Politikers
gegenüber seinem Wahlkreis
unmittelbar. Die Verantwortlichkeiten sind klar zuordenbar.
Gelegentlich hat dies aber den
Effekt, dass zur Sicherung der
Wiederwahl Kirchturmpolitik
verfolgt wird. Gleichzeitig ist
es jedoch im Majorz-System
für eine starke Partei deutlich
einfacher, eine Parlamentsmehrheit zu erreichen.
Bei einem Proporz-Wahlsystem
sind in der Regel Koalitionen aus
mehreren Parteien notwendig. Diese Fragmentierung
der Regierung begünstigt
das Problem der fiskalischen
Allmende. Zur Steigerung
der Wiederwahlchancen sind
Regierungen insbesondere vor
Wahlen an einer Steigerung der
Staatsausgaben interessiert.
Persson und Tabellini (2003)
finden denn auch in Staaten mit
Proporz-Wahlsystemen eine
systematische Ausdehnung der
Sozialausgaben in Wahljahren,
in Majorz-Systemen lässt sich
hingegen kein solcher Zusammenhang finden.
8 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Parlamentarische vs. präsidentielle Regierungssysteme
In einem parlamentarischen
System kann die Regierung
jederzeit durch das Parlament aufgelöst werden. Um
dieses Risiko zu vermindern,
ist eine disziplinierte Koalition
mit einer stabilen Mehrheit
notwendig. Kirchturmpolitik
für einzelne Wahlkreise wird
durch die starke Parteibindung
eingeschränkt. Transfers oder
Steuererleichterungen für breite Bevölkerungsschichten sind
jedoch wahrscheinlicher.
In einem präsidentiellen System
wird die Regierung hingegen
direkt vom Volk für eine fixierte
Legislaturperiode gewählt. Die
Regierung ist somit nicht von einer Parlamentsmehrheit abhängig. Die Parteibindung nimmt
tendenziell ab, während Kirchturmpolitik wahrscheinlicher
wird. Gleichzeitig sind jedoch
grosse Ausgabenprogramme für
breite Bevölkerungsschichten
kaum mehrheitsfähig. Persson
und Tabellini (2004) finden denn
auch, dass die Staatsausgaben
in präsidentiellen Systemen um
5 Prozentpunkte des Bruttoinlandprodukts geringer ausfallen
als in vergleichbaren Staaten
mit einen parlamentarischen
Regierungssystem.
Kompetenz des Finanzministers
Eine Möglichkeit, das Problem
der fiskalischen Allmende
einzuschränken besteht darin,
den Finanzminister mit starken
Kompetenzen auszustatten.
Hallerberg et al. (2006) weisen
für die EU-Staaten nach:
Insbesondere bei ideologisch
homogenen Regierungen lässt
sich dadurch die Verschuldung
einschränken. Bei grösseren
Koalitionen mit teils ideologischen Differenzen – wie sie in
parlamentarischen Systemen
verbreitet sind – vermag sich
der Finanzminister hingegen schlechter gegenüber
Regierung und Parlament
durchzusetzen. Hier eignen sich
stattdessen Koalitionsverträge
oder eine Richtlinienkompetenz
des Regierungschefs mit strikt
festgehaltenen Fiskalzielen, um
das Problem der fiskalischen
Allmende einzugrenzen.
Politische Stabilität und Amtsdauer des Finanzministers
Je länger die Amtsdauer eines
Finanzministers, desto grösser
der Anreiz und die Möglichkeit,
sich durch eine nachhaltige
Finanzpolitik auszuzeichnen.
Ein langjähriger Finanzminister
verfügt über eine gestärkte Position innerhalb der Regierung
wie auch gegenüber Parlament
und Interessengruppen. Häufige
Regierungswechsel schwächen
dagegen seine Position. Feld
und Schaltegger (2010) haben
diese Hypothese für die Schweiz
anhand einer historischen
Datenreihe seit Bestehen des
modernen Bundesstaates (1849
bis 2007) getestet: Tatsächlich
kann festgestellt werden,
dass – kontrolliert um andere
Einflussfaktoren – das Defizit
sowie die Ausgaben tendenziell
geringer sind, je länger sich der
Finanzminister im Amt befindet.
Fiskalföderalismus und Steuerwettbewerb
Die fiskalische Dezentralisierung und der sich daraus
ergebende Steuerwettbewerb
schränken die Ausdehnung
der Staatsbudgets nachweislich ein. Unter dem Druck des
Wettbewerbs wird die Politik
gehalten, die Steuern moderat
zu setzen und öffentliche Güter
effizient bereit zu stellen. Eine
Übernutzung der staatlichen
Ressourcen wird dadurch reduziert. Feld et al. (2010) weisen
diesen Effekt empirisch für die
Schweizer Kantone nach. Je
höher der Anteil der Gemeinden
an den Staatseinnahmen und je
stärker der Wettbewerbsdruck
in einem Kanton, desto geringer
die Steuereinnahmen. Der Steuerwettbewerb führt tendenziell
zu einer Verschiebung: weg von
Steuern, hin zu Nutzungsgebühren. Damit wird die Äquivalenz
zwischen Nutzer und Kostenträger bei staatlich bereitgestellten Gütern gestärkt.
SCHWERPUNKT
Mitglieder. Dabei haben sich über die Zeit verschiedene Veränderungen ergeben. In der jüngeren Vergangenheit haben etwa Obwalden (2002),
Luzern (2003) sowie Glarus (2006) ihre Regierungen auf fünf Mitglieder verkleinert. Zuvor reduzierten Bern (1989), Appenzell I. Rh. (1995) und
Nidwalden (1997) die Anzahl der Regierungspersonen von neun auf sieben.
Die Unterschiede zwischen den Kantonen, sowie die Veränderungen über die Zeit, erlauben es,
den Einfluss der Regierungsgrösse auf die kantonale Finanzpolitik zu untersuchen. Die Analyse
der kantonalen Finanzpolitik der Jahre 1980 bis
1998 von Schaltegger und Feld (2009) ergibt einen robusten Effekt durch die Fragmentierung: je
grösser die Regierung, desto höher – unter sonst
gleichen Umständen – die kantonalen Staatsausgaben wie auch die Kantonseinnahmen. Dies ist
ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Problem
der fiskalischen Allmende kein rein theoretisches Konstrukt ist, sondern sich nachweislich –
etwa innerhalb der kantonalen Exekutiven – auf
die Finanzpolitik auswirkt.
Diese Analyse ist Teil einer vielfältigen politökonomischen Forschung, die Auswirkungen der
institutionellen Rahmenbedingungen auf die Finanzpolitik untersucht. Neben der Fragmentierung einer Koalition oder des Kabinetts hat diese
Forschungsliteratur weitere institutionelle Variablen identifiziert, die das Phänomen der fiskalischen Allmende erwiesenermassen beeinflussen
(siehe Kasten).
Finanzreferendum als Gegenmittel
Führt das Problem der fiskalischen Allmende
tendenziell zur Übernutzung staatlicher Ressourcen, so stellt sich die Frage: Welche Institutionen wirken dem entgegen? Es soll hier auf zwei
Mechanismen eingegangen werden: das Finanzreferendum sowie die Schuldenbremse.
Direktdemokratische Institutionen stärken
die Kontrolle durch die Bürger. Verhandlungen
unter Interessengruppen sowie Stimmentausch
zulasten der Allgemeinheit sind im Rahmen von
Initiativ- oder Referendumsabstimmungen eingeschränkt. Viele Schweizer Gemeinden kennen
etwa ein obligatorisches Finanzreferendum, das
durchgeführt werden muss, sobald ein Projekt
eine bestimmte Ausgabenschwelle überschrei-
tet. Untersuchungen zeigen: Finanzreferenden
haben einen signifikant negativen Effekt auf die
Verschuldung und auf das Ausgabenniveau.8
Gemäss einer Simulation fällt die Pro-Kopf-Verschuldung in einer Gemeinde
mit einem Finanzreferendum um
In den Gemeinden mit
23% bis 45% geringer aus.
Auch auf Ebene der Kantone
­Finanz­referendum
gibt es vergleichbare empirische
sinkt die Pro-KopfEvidenz; 17 Kantone kennen ein
Verschuldung stark.
obligatorisches Finanzreferendum. Es zeigt sich: Die kantonalen Staatsausgaben fallen um 19% geringer aus,
wenn sie – um andere Einflussfaktoren bereinigt
– einem solchen Referendum unterworfen sind.9
In einer Auswertung historischer Daten über das
20. Jahrhundert findet sich zudem ein Effekt von
12% tieferen Kantonsausgaben.10 Das Finanzreferendum scheint somit ein effektives Gegenmittel gegen die allzu starke Ausbeutung der fiskalischen Allmende zu sein.11
Schuldenbremsen bewähren sich
8 Feld und Kirchgässner
(2001a, 2001b) sowie
Feld, Kirchgässner und
Schaltegger (2011).
9 Feld und Matsusaka
(2003).
10 Funk und Gathmann
(2011).
11 Eine alternative Interpretation des Einflusses
direktdemokratischer
Institutionen wäre, dass
das Stimmvolk fiskalisch
konservativer ist als
die verantwortlichen
Politiker. Da Politiker
jedoch vom selben
Stimmvolk gewählt
werden, bleibt diese
Interpretation zumindest
fragwürdig. Vielmehr
scheint das Problem der
fiskalischen Allmende
zu einer Verzerrung
der finanzpolitischen
Entscheide der Politik
zu führen. Direktdemokratische Institutionen
können diese Verzerrung
korrigieren.
12 Funk und Gathmann
(2011).
13 Lüchinger & Schaltegger
(2013).
Einzelne Kantone (wie St. Gallen seit 1929) weisen eine lange Tradition von Budgetregeln auf.
Im Rahmen der Diskussion um die Schuldenbremse auf Bundesebene haben seit 2001 zehn
Kantone entsprechende Regeln eingeführt. Dabei
konnte nachgewiesen werden: Kantonale Schuldenbremsen verringern Haushaltsdefizite signifikant. Indem Budgetregeln die Staatsausgaben
auf die Höhe der Einnahmen beschränken, kann
ein Aufschieben der Steuerlast in die Zukunft
verhindert werden.12
Zudem unterstützen Schuldenbremsen die
Finanzminister dabei, das Ausgabenverhalten
ihrer Regierungskollegen in Grenzen zu halten.
Denn Finanzminister sind oft versucht, ihre
Regierungskollegen durch pessimistische Budgetprognosen in Zaum zu halten.13 Das Resultat sind prognostizierte Budgetdefizite, die sich
anschlies­send nicht oder in geringerem Ausmass
realisieren.
Lüchinger und Schaltegger (2013) stellen die
Hypothese auf, dass sich dieses taktische Verhalten der Finanzminister durch die Einführung
einer kantonalen Schuldenbremse teilweise erübrigt. Und tatsächlich ergibt eine empirische
Analyse: Die Einführung einer kantonalen SchulDie Volkswirtschaft 5 / 2015 9
WIRTSCHAFT UND POLITIK
denbremse verringert – deutlicher noch als die
tatsächlichen Defizite – die prognostizierten Defizite.
Die Budgetprognosen werden durch die Einführung von Budgetregeln also genauer. Kantonale Schuldenbremsen scheinen die Finanzministerin somit zu entlasten (bzw. zu unterstützen).
Sie sind offenbar ein effektiveres Mittel gegen das
Problem der fiskalischen Allmende als taktisch
übermässig konservative Budgetprognosen.
Effektivste Mechanismen
setzen sich durch
14 OECD Fiscal Decentralisation Database
Das Problem der fiskalischen Allmende ist kein
theoretisches Konstrukt, sondern ein sowohl anekdotisch wie auch empirisch belegtes Problem
der Finanzpolitik, das in unterschiedlichen Varianten auftritt. Um das Allmende-Problem einzuschränken, ist die institutionelle Ausgestaltung
von zentraler Bedeutung, wie die politökonomische Forschung zeigt. Durch den ausgeprägten
Fiskalföderalismus und die institutionelle Vielfalt ist die Schweiz ein ideales Untersuchungsobjekt dieser Forschung. Gleichzeitig scheinen
sich aus der Vielfalt der im föderalen Labor
entwickelten Mechanismen die effektivsten
durchzusetzen. Es sind dies: kleine Regierung,
Konkordanzdemokratie, Fiskalföderalismus, Referendumsrechte und Schuldenbremse.
Die Relevanz der Institutionen zeigt sich in
Staaten, in denen die diesbezüglichen Voraussetzungen weit weniger vorteilhaft sind. So ver-
fügt zum Beispiel Griechenland über ein rein
repräsentatives parlamentarisches System, das
jahrzehntelang von zwei abwechselnd regierenden Parteien dominiert wurde. Das Kabinett von
Ministerpräsident Samaras (2012 bis 2015) zählte
nicht weniger als 23 Minister. Im Jahr 2011 wurden über 96% der Steuern vom griechischen Zentralstaat vereinnahmt.14 Und seit dem Beitritt zur
Eurozone 2001 wurden die Stabilitätskriterien
des Vertrags von Maastricht in keinem einzigen
Jahr eingehalten. Unter diesen institutionellen
Rahmenbedingungen liessen sich gravierende
fiskalische Fehlentwicklungen offensichtlich
nicht verhindern.
Christoph A. Schaltegger
Professor (Ordinarius) für
Politische Ökonomie an
der Universität Luzern
und Direktor des Instituts
für Finanzwissenschaft
und Finanzrecht der Universität St. Gallen.
Christian Frey
Wissenschaftlicher
Assistent an der
Universität Luzern.
Literatur
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10 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Feld, L.P. und Kirchgässner, G. (2001b).
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and costs: a neoclassical approach to
distributive politics. Journal of Political
Economy, 96, 132–163.
SCHWERPUNKT
Regierungen beeinflussen Konjunkturzyklen aus wahltaktischen Gründen
Regierungen sind an einer im Wahljahr pulsierenden Wirtschaft interessiert. Deshalb haben
sie einen Anreiz, die Konjunktur so zu beeinflussen, dass vor den Wahlen sowohl Arbeitslosenquote als auch Teuerungsrate niedrig sind. Diese sogenannten politischen Zyklen sind
vor allem in repräsentativen Demokratien relevant, sie sind aber auch für die Schweiz von
Interesse. Gebhard Kirchgässner
Abstract Schwankungen im Wirtschaftsablauf können in der Privatwirtschaft ihren Ursprung haben, aber auch durch wirtschaftspolitische Massnahmen erzeugt werden. So kann eine Regierung versuchen, die Konjunktur so zu beeinflussen, dass sie ein möglichst gutes Wahlergebnis erwarten kann.
Insbesondere wenig Arbeitslosigkeit und eine geringe Teuerung zum Wahlzeitpunkt sind dazu von Vorteil. Man spricht in diesem Zusammenhang
vom politischen Konjunkturzyklus. Der vorliegende Artikel bespricht die drei in der Literatur bekannten Varianten: den opportunistischen Zyklus, den
ideologischen Zyklus und den Budgetzyklus. Die ersten beiden sind im rein parlamentarischen System anzutreffen. Für die Schweiz mit ihrem Konkordanzsystem ist vor allem der Budgetzyklus relevant, da Politiker vor den Wahlen kaum heikle Entscheidungen treffen dürften.
I FOTO: KEYSTONE
Gewisse Entscheide einer
Regierung begünstigen
ihre Wiederwahl. Bei den
Finanzausgaben spricht
man von sogenannten
Budgetzyklen.
m parlamentarischen System trägt die Regierung – zumindest auf den ersten Blick – Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung.
Für ihren Wahlerfolg sind insbesondere Arbeitslosigkeit und Preisentwicklung bedeutend: Je höher die Arbeitslosenquote und die Inflationsrate
sind, desto geringer sind – unter sonst gleichen
Umständen – ihre Chancen auf Wiederwahl.1 Dies
schafft Anreize, die wirtschaftspolitischen Instrumente so einzusetzen, dass die wirtschaftliche
Situation zum Wahlzeitpunkt möglichst gut ist.
Arbeitslosigkeit und Inflation sollten dann möglichst niedrig sein, auch wenn sie danach möglicherweise wieder ansteigen. Dadurch können
Konjunkturschwankungen ausgelöst werden,
auch wenn die private Wirtschaft von sich aus keine Zyklen erzeugt.
Der opportunistische Zyklus
Der Erste, der einen politischen Konjunkturzyklus mit einem formalen Modell beschrieben hat,
war US-Ökonom William D. Nordhaus (1975). Er
ging davon aus: Eine Regierung möchte bei der
nächsten Wahl einen möglichst hohen Stimmenanteil erreichen. Nach ihrer Wahl sorgt sie
zunächst für eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit,
um die Inflation zu verringern. Danach senkt
sie die Arbeitslosenquote bis zur nächsten Wahl
wieder ab. Da die Inflationsrate nur verzögert reagiert, hat zum Wahlzeitpunkt nicht nur die Arbeitslosigkeit ihren Tiefpunkt, sondern auch die
Inflationsrate ist vergleichsweise niedrig. Dies
kann sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode wiederholen, weshalb man von politisch erzeugten Konjunkturschwankungen reden kann.2
Dieses Modell hat zunächst für die Wirtschaftstheorie Bedeutung. Davor ging man in der
Konjunkturtheorie davon aus, dass der private
Sektor Schwankungen erzeugt und dass die Regierung – wie ein wohlmeinender Diktator – alles daransetzt, diese Schwankungen auszugleichen oder
zumindest zu dämpfen. Die Diskussion drehte sich
vor allem darum, ob die Regierung dazu überhaupt
in der Lage ist und ob sie durch ihr Handeln diese
Schwankungen nicht etwa verstärkt oder unbeabsichtigt sogar erzeugt. Schliesslich wirken die
wirtschaftspolitischen Instrumente erst verzögert, und die Länge dieser Verzögerungen variiert
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 11
WIRTSCHAFT UND POLITIK
im Zeitablauf. Zudem ist die tatsächliche wirtschaftliche Situation zum Zeitpunkt, wenn über
wirtschaftspolitische Massnahmen entschieden
werden muss, häufig noch nicht genau bekannt.
Regierungen sind am eigenen
­Wohlergehen interessiert
Das Nordhaus-Modell stellt einen Paradigmenwechsel dar: Politiker verfolgen in der Konjunkturpolitik ihre eigenen Interessen genauso – und
genauso wenig – wie alle anderen Menschen.
Der Regierung wird nicht mehr unterstellt, ihr
oberstes Ziel sei die Wohlfahrt der Bevölkerung.
Sondern: Es geht ihr primär um ihr eigenes Wohlergehen und jenes ihrer Klientel. Da sie für ihre
Wiederwahl die Zustimmung der Mehrheit der
Wähler benötigt, muss die Regierung deren Interessen ebenfalls berücksichtigen. Solange sie die
Maximierung ihres Wahlerfolgs anstrebt, verhält
sie sich opportunistisch gegenüber den Wählern
und verfolgt keine eigenen Ziele. Man spricht daher auch vom opportunistischen Zyklus.
Damit sich die Erzeugung eines Konjunkturzyklus für die Regierung rentiert, müssen die Wähler bei ihrer Entscheidung vergangene Ereignisse
schwächer gewichten als gegenwärtige. Das kann
damit zusammenhängen, dass sie vergangene Ereignisse vergessen, aber auch damit, dass sie die
gegenwärtige Regierungspolitik als stärkeren Indikator für die in Zukunft zu erwartende Politik
ansehen als die Handlungen der Regierung in der
Vergangenheit. Eine schwächere Gewichtung der
Vergangenheit muss daher der Annahme rationalen Verhaltens nicht widersprechen.
Andererseits goutieren die Wähler eine solche
Politik kaum, wenn sie sich regelmässig wiederholt. Auch wenn die Wähler keine rationale Erwartungen im strengeren Sinn haben, kann man
davon ausgehen: Sie sind lernfähig, durchschauen das Verhalten der Regierung und «bestrafen»
diese bei den nächsten Wahlen entsprechend.
Trotzdem könnten für die Regierung Anreize bestehen, so zu handeln. Denn die Wähler mögen
zwar rational sein, aber sie sind nicht vollständig
informiert. Deshalb kann eine Regierung versuchen, dies auszunutzen. Um dies abzubilden,
wurden Modelle eines rationalen opportunistischen Zyklus entwickelt.3
12 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Der ideologische Zyklus
Regierungen haben in aller Regel nicht nur ihre
Wiederwahl als Ziel, sondern sie möchten auch
eine bestimmte Politik verfolgen. So legen konservative Parteien traditionellerweise mehr Gewicht auf Preisstabilität, während linke Parteien
sich mehr um die Arbeitslosigkeit sorgen. Diese
Überlegungen wurden vom US-Ökonom Douglas
A. Hibbs im Jahr 1977 aufgenommen. Er stellte
für die USA und das Vereinigte Königreich von
1948 bis 1972 fest, dass unter republikanischen
(bzw. konservativen) Regierungen die Arbeitslosigkeit signifikant höher war als unter demokratischen (bzw. Labour-) Regierungen. Zyklen
werden in diesem Ansatz nur generiert, wenn
die Regierung wechselt. Dann entspricht die Frequenz nicht dem üblichen Konjunkturverlauf.
Trotzdem spricht man hier vom ideologischen
Zyklus (Partisan Cycle), da es sich wie beim opportunistischen Zyklus um politische Einflussnahmen auf das Wirtschaftsgeschehen handelt,
die Schwankungen erzeugen können, welche
nicht aus dem Wirtschaftssystem selbst entstehen. Während die Arbeit von Hibbs rein empirisch ist, sind später auch theoretische Modelle
entwickelt worden, die mit rationalem Verhalten
der Wirtschaftssubjekte vereinbar sind.4
Budgetzyklen: Input statt Output
Sowohl für den opportunistischen wie auch für
den ideologischen Zyklus wurden eine Reihe empirischer Untersuchungen angestellt, die freilich kein eindeutiges Bild ergeben.5 Dabei ist die
Evidenz für den ideologischen Zyklus noch etwas besser als für den opportunistischen. Auch
schneiden die Modelle mit der Annahme rationaler Erwartungen nicht besser ab als die (traditionellen) Modelle mit adaptiven Erwartungen.
Angesichts der vielen Faktoren, die auf den
Wirtschaftsablauf einwirken, ist dies kaum anders zu erwarten. Da es dennoch wahrscheinlich
ist, dass Regierungen (und/oder Parlamente) versuchen, die Konjunktur zu beeinflussen, ist man
dazu übergegangen, nicht den Output des Regierungshandelns zu untersuchen, sondern dessen Input: Wenn eine Regierung entsprechende
Versuche unternimmt, sollte dies am ehesten am
Einsatz ihrer Instrumente deutlich werden. Die
1 Siehe hierzu die Übersicht bei Nannestadt
und Paldam (1994).
2 Zur Darstellung siehe
auch Frey und Kirchgässner (2002), S. 292ff.
3 Siehe z. B. Rogoff und
Siebert (1988).
4 Ausführlich in Alesina
und Rosenthal (1995).
5 Siehe hierzu auch die
Einschätzung in Drazen
(2008), S. 4f.
SCHWERPUNKT
6 Siehe Drazen (2008a).
7 Siehe z. B. Abrams und
Iossifov (2006).
8 Shi und Svensson
(2006) sowie Haan
(2014).
9 Brender und Drazen
(2005).
10 Alt und Lassen (2006).
11 Jong-A-Pin, Sturm und
Haan (2012).
12 Mechtel und Potrafke
(2013) zeigen dies für
Deutschland.
13 Vicente, Benito und
Batista (2013).
jüngere Literatur behandelt daher vorwiegend
Budgetzyklen: Neue Ausgaben werden eher vor
Wahlen, Steuererhöhungen eher nach Wahlen beschlossen.6 Zum Teil werden auch mögliche Zyklen
bei den geldpolitischen Instrumenten untersucht.7
Die Ökonomen Bruno S. Frey und Friedrich
Schneider (1978) waren die Ersten, die ein solches Modell entwickelten, damals noch unter
dem Begriff «politischer Konjunkturzyklus». Sie
kombinierten die beiden Ansätze der früheren
Arbeiten: Hat eine Regierung gute Aussichten auf
eine Wiederwahl, handelt sie ideologisch, sind
die Aussichten dagegen schlecht, verhält sie sich
opportunistisch. Im Gegensatz dazu wird in den
jüngeren Arbeiten zum Budgetzyklus nur noch
gefragt, ob bestimmte Variable, insbesondere die
Staatsausgaben und das Budgetdefizit, innerhalb
der Legislaturperiode einen bestimmten Verlauf
aufweisen. Hierzu gibt es – im Gegensatz zu den
politischen Konjunkturzyklen – eine reichhaltige
empirische Literatur.
Die Evidenz ist eindeutig: Es gibt politische
Budgetzyklen. Ihre Ausgestaltung hängt freilich
von einer Reihe von Faktoren ab. Neuere Arbeiten
zeigen, dass sie in Entwicklungsländern signifikant stärker ausgeprägt sind als in entwickelten
Ländern.8 Zudem treten solche Zyklen eher in jüngeren als in entwickelten Demokratien auf.9 Und je
weniger transparent ein System ist, umso stärker
sind sie ausgeprägt.10 Denn dies erleichtert es den
Regierungen, entsprechende Aktivitäten zu verbergen. Eine Studie zu geplanten Ausgaben und
anschliessenden Revisionen in 25 OECD-Staaten macht deutlich: Regierungen geben vor einer
Wahl mehr aus, als sie zuvor angekündigt haben.11
Solche Aktivitäten sind nicht auf das Budget
beschränkt, sondern betreffen etwa auch die
Arbeitsmarktpolitik.12 Zudem werden sie auch
auf lokaler Ebene beobachtet, wie eine Untersuchung anhand spanischer Gemeinden zeigt.13
Budgetzyklen vermutlich
auch in der Schweiz
Die Schweiz unterscheidet sich wegen ihres Konkordanzsystems von den meisten anderen Ländern. Daher können politische Konjunkturzyklen
(im engeren Sinn) hier – wenn überhaupt– nur
insofern eine Rolle spielen, als Verschiebungen
in der Zusammensetzung der Parlamente Änderungen in der Politik nach sich ziehen. Hingegen dürften Budgetzyklen auch in der Schweiz
von Bedeutung sein: Auch unsere Parlamente
berücksichtigen bei ihren Aktivitäten wohl die
Wahltermine. So dürften unpopuläre Entscheidungen kaum kurz vor den Wahlen getroffen
werden. Leider steht bisher keine entsprechende
Untersuchung zur Verfügung.
Gebhard Kirchgässner
Emeritierter Professor des Schweizerischen Instituts
für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung SIAW, Universität St. Gallen, Gelehrtenakademie Leopoldina und Netzwerk CESifo.
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Die Volkswirtschaft 5 / 2015 13
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Die entzauberte Konkordanz als Problem
für die Schweizer Wirtschaft
Die zunehmende Polarisierung der Regierungsparteien in der Schweiz wird zum Problem für
die Wirtschaft. Die Zunahme von Initiativen und Referenden als Wahlkampf­instrumente
bringt Unberechenbarkeit. Silja Häusermann
Z wei Merkmale kennzeichnen das politische
System der Schweiz im internationalen Vergleich: die Konkordanz und die direkte Demokratie. Interessanterweise beruhen diese beiden
Spezifika auf gegensätzlichen Logiken der Entscheidfindung. Während Konkordanz nach dem
Konsensprinzip funktioniert, werden Entscheide
SVP-Vertreter –
darunter Parteipräsident Toni Brunner
(5. v. l.) – überreichen
der Bundeskanzlei Unterschriften
einer Volksinitiative.
Regierungspar­
teien haben in den
vergangenen Jahren
vermehrt Initiativen
lanciert.
14 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
in der direkten Demokratie nach dem Mehrheitsprinzip gefällt.
Die Konkordanzdemokratie äussert sich in
einer ausgeprägten Machtteilung und steter
Verhandlung. Konkordanzelemente sind etwa
eine stabile grosse Regierungskoalition («Zauberformel»), das Proporzsystem und der Interessensausgleich mit Verbänden und Kantonen
in der vorparlamentarischen Phase. Die Entscheidungsprozesse sind lang und inklusiv, und
sie führen zu moderaten, breit abgestützten und
austarierten Entscheidungen.
Die direkte Demokratie funktioniert grundlegend anders: Eine kleine Minderheit der Bevölkerung kann zwingende direktdemokratische
Abstimmungen verlangen, welche per einfacher
Mehrheit der Stimmenden (bei Referenden) oder
per Mehrheitsentscheid der Stimmenden und der
KEYSTONE
Abstract Die Schweizer Konkordanzdemokratie beruht auf Verhandlungen und Kom­
promissen, um zu pragmatischen und berechenbaren politischen Entscheiden zu
gelangen. Pragmatismus und Berechenbarkeit dienen den wirtschaftlichen Interes­
sen der Schweiz als kleiner, offener Volkswirtschaft. Im Gegensatz dazu stellt die
unberechenbare und majoritäre Logik der direkten Demokratie ein Problem für die
Wirtschaft dar. Bisher wurden diese Dynamiken durch die Konkordanzdemokratie im
Zaum gehalten. Die Konkordanz ist jedoch weitgehend entzaubert. Weil die Parteien
in einem polarisierten Wettbewerb stehen, benutzen sie zur Profilierung zunehmend
direktdemokratische Instrumente. Die resultierende Unberechenbarkeit gerät zum
Problem für die Schweizer Wirtschaft. Es ist an der Zeit, den Gebrauch von Initiativen
und Referenden durch Regierungsparteien zu hinterfragen.
SCHWERPUNKT
Kantone (bei Volksabstimmungen) verbindliche
Entscheide fällen.
Somit bringt die Konkordanzdemokratie wenig spektakuläre, aber berechenbare und breit
abgestützte politische Entscheidungen hervor.
Die direkte Demokratie hingegen begünstigt
wohl mutigere, aber auch weniger konsistente
Entscheidungen, die zudem von nur einer einfachen Mehrheit der Stimmenden getragen werden
müssen.
sind, flexibel und pragmatisch auf die Schwankungen der internationalen Märkte zu reagieren.
Und wenn sie sicher sein können, in einem stabilen, berechenbaren politischen Umfeld zu agieren.
Konkret benötigen solche Länder etwa friedliche Beziehungen zwischen Gewerkschaften
und Arbeitgebern, einen flexiblen Arbeitsmarkt,
eine stabile Geldpolitik und Kontinuität in der
Regierungspolitik. Das Konkordanzsystem der
Schweiz hat diese Erfordernisse erfüllt: Alle grösseren Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben gemeinsam, in einem komplexen System der Austarierung von Interessen,
politische Entscheide gefällt und getragen – auch
gegenüber dem Volk. Insofern ist jedes Referendum, jede Volksinitiative ein Zeichen des Versagens dieser Verhandlungsdemokratie.
Konkordanz gibt Wirtschaft Stabilität
Wie vertragen sich diese beiden Prinzipien und
ihre politischen Folgen mit den wirtschaftlichen
und volkswirtschaftlichen Bedürfnissen der
Schweiz? Sind sie Vorteil oder Hemmschuh für
die Schweizer Wirtschaft? Auch wenn sich die Legitimität eines demokratischen politischen Systems mit Sicherheit nicht vordringlich am Wirtschaftswachstum messen lässt, ist die Frage nach
Komplementarität oder Widerspruch zwischen
politischen Institutionen und wirtschaftlicher
Funktionalität eine wichtige. Und aus dieser Sicht
liegen die Dinge klar: Die Konkordanz befriedigt
den Bedarf der offenen, kleinen Volkswirtschaft
Schweiz nach Stabilität und Berechenbarkeit,
während die direkte Demokratie Volatilität generiert und als Instrument für (sachfremde) Partikularinteressen verwendet werden kann.
Die Schweiz ist eine kleine, offene Volkswirtschaft, die auf Gedeih und Verderb von den
internationalen Märkten abhängt. Der Politökonom Peter Katzenstein hat aufgezeigt, dass
solche «small open economies» (Smopec) durchs
Band ausgeprägt verhandlungsbasierte Entscheidungsprozesse kennen. Die Schweiz galt
bei Katzenstein sogar als Extremfall dieser wirtschaftspolitisch bedingten Konkordanz.1 Sie besteht darin, dass divergierende (wirtschaftliche)
Interessen angehört und in alle politischen Entscheidungen einbezogen werden mit dem Ziel
konsensueller und berechenbarer Entscheide.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist diese Berechenbarkeit in solchen «Smopec»-Volkswirtschaften
zentral, weil wirtschaftliche Abschottung keine
Option ist und weil sie zu klein sind, die internationalen Märkte selber zu steuern. Mit anderen
Worten: Diese Länder können ökonomisch nur
prosperieren, wenn ihre Produzenten in der Lage
Die Bändigung der direkten
­Demokratie durch Verhandlung …
1 Katzenstein (1985);
vgl. Mach (1999) für
eine ausgezeichnete
Erklärung und Erweiterung des Modells
von Katzenstein für die
Schweiz.
2 Siehe für die Schweiz
z. B. Borner/Rentsch
(1997), Wittmann (2001).
3 Sciarini und Trechsel
(1998), Papadopoulos
(1998).
Dieser Gedanke gilt auch im Umkehrschluss:
Wenn nur wenige Referenden und Initiativen ergriffen werden, ist das ein Zeichen für das gute
Funktionieren der Konkordanzdemokratie. Die
Verhandlungsdemokratie ist – oder zumindest
war – denn auch klar ein Instrument der Vermeidung direktdemokratischer Mobilisierung. Dies
ist besonders aus volkswirtschaftlicher Sicht
wichtig, weil direktdemokratische Instrumente gut organisierten Partikularinteressen Möglichkeiten zum «Rent-Seeking» auf Kosten des
gesamtgesellschaftlichen oder des gesamtwirtschaftlichen Nutzens eröffnet.2 Solche Rent-Seekers können gewisse Wirtschaftssektoren sein,
deren Firmen oder Arbeitnehmer sich Vorteile
verschaffen wollen, aber auch politische Parteien, welche die direkte Demokratie für ihre partikularen Ziele wie Profilierung und Wahlkampf
benutzen.
Gerade deswegen muss das Konkordanzsystem als ein Instrument zur Bändigung der direkten Demokratie verstanden werden. Denn
kommt ein Referendum zustande, ist der Ausgang der Abstimmung höchst ungewiss, weil
die Karten ganz neu gemischt werden: Es findet
keine eigentliche, direkte Debatte zwischen den
Entscheidungsträgern (wie im Parlament) mehr
statt, und es greifen neue Argumente und Entscheidungslogiken.3
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 15
WIRTSCHAFT UND POLITIK
KEYSTONE
Bundesrätin Doris
Leuthard präsentiert
eine Vernehmlassungsvorlage. Die
Konkordanzdemokratie gibt der Wirtschaft Stabilität.
Insofern ist aus volkswirtschaftlicher Sicht
nur ein durch Verhandlung vermiedenes Referendum ein gutes Referendum. Jedes ergriffene
Referendum zeigt hingegen, dass relevante Interessen nicht genügend einbezogen wurden.
Ähnliches gilt für die Volksinitiative. Diese wäre
eigentlich als Instrument minoritärer, von der
Verhandlung ausgeschlossener Interessen zu
verstehen, die punktuell – und quasi in Opposition zu Bundesrat und Parlament – Anliegen in
den politischen Entscheidungsprozess einbringen können, der ihnen sonst verschlossen bleibt.
4 Leemann (2015).
5 Eine Sonderausgabe
der Schweizerischen
Zeitschrift für Politikwissenschaft wird
sich im Herbst 2015
voraussichtlich vertieft
mit den verschiedenen
Aspekten einer «Entzauberung» des schweizerischen politischen
Systems befassen.
6 Am umfassendsten
wird die Frage bislang
bei Ladner et al. (2010)
für die Schweiz und
im Ländervergleich
untersucht.
16 … funktioniert nicht mehr
Von dieser eigentlichen Funktion ist insbesondere die Initiative – aber auch das Referendum –
heute weit entfernt. Die direkte Demokratie wird
immer mehr von den gleichen Akteuren benutzt,
die schon im Konkordanzsystem am Verhandlungstisch sitzen und die eigentlich vielfältige
andere Kanäle hätten, ihre Interessen einzubringen und ihre Verhandlungspartner von ihren Anliegen zu überzeugen. Am deutlichsten
Die Volkswirtschaft 5 / 2015
tritt dieser Funktionswandel der direkten Demokratie im Fall der Schweizer Regierungsparteien zutage.
Seit der Einführung der Zauberformel 1959
hat sich der Gebrauch der Volksinitiative durch
die Parteien dramatisch verändert. Bis in die
1980er-Jahre wurden pro Jahrzehnt je 4 Initiativen von Regierungsparteien lanciert. In den
1990er-Jahren waren es deren 7, und seit 2000
sind es bereits über 20.4
Dass die Instrumente der direkten Demokratie
vermehrt genutzt werden, ist ein Symptom für die
Schwächung der Konkordanzdemokratie. Worauf
ist diese Entzauberung5 zurückzuführen?
Die Antwort ist klar: Sie ist das Resultat einer dramatisch angestiegenen Parteipolarisierung – womit die Distanz zwischen den Parteipositionen gemeint ist. Diese Entfernung kann
mittels verschiedener Daten gemessen werden:
etwa anhand des Abstimmungsverhaltens im
Parlament, anhand von Parteiprogrammen
und Experteneinschätzungen oder anhand von
Umfragen bei den Kandidierenden der Parteien
selber.6
SCHWERPUNKT
Polarisierung bringt institutionelles
Gefüge ins Wanken
Unabhängig von den benutzten Datenquellen kommen alle Studien zu den gleichen zwei
Schlüssen: Erstens ist die Polarisierung der Parteien in der Schweiz in den letzten 30 Jahren
sehr stark angestiegen, und zweitens gehört die
Schweiz mittlerweile zu den am stärksten polarisierten Parteisystemen in Europa. Die Schweizer
Parteien stehen in einem scharfen und akuten
Parteiwettbewerb, und sie benutzen die direkte
Demokratie als Instrument dieses Wettbewerbs.
Mittlerweile verwenden alle Bundesratsparteien
die direkte Demokratie, als ob sie in der Opposition wären. Das Verhalten der Parteien und das
institutionelle Gefüge der Schweiz passen nicht
mehr zusammen.
Der Anteil an Volksinitiativen, zu denen alle
Regierungsparteien die gleiche Abstimmungsempfehlung abgeben, ist seit den 1970er-Jahren
von 80% auf heute 0% gesunken.7 Im Parlament
hat sich nur schon seit den 1990er-Jahren die
Chance halbiert, dass alle Regierungsparteien
eine Vorlage gemeinsam tragen.8 Kurz: Die Konkordanzregierung erfüllt ihren mässigenden und
pragmatischen Zweck nicht mehr.
Aus wirtschaftlicher Sicht sind die daraus resultierende verstärkte Volatilität der Politik und
die Unsicherheit bezüglich der weiteren politischen Entwicklung problematisch. Die politische
Unberechenbarkeit ist Gift für eine vom Ausland
abhängige Wirtschaft. Die Masseneinwanderungsinitiative und ihre Folgen illustrieren diese
Entwicklung, aber sie lässt sich auch in anderen
Bereichen beobachten – insbesondere in der
Steuerpolitik und der Sozialpolitik, man denke
nur an die laufenden Diskussionen um die Altersvorsorge, die Familienpolitik, die Unternehmensbesteuerung und die Bankenregulierung.
Zeit für neue Spielregeln
Welches sind die erforderlichen Konsequenzen
aus wirtschaftlicher Sicht? Soll die direkte Demokratie «verteuert» werden? Nein, denn auch
höhere Hürden würden gut organisierte und finanzstarke Interessen nicht an ihrer Nutzung
hindern. Zudem hat die direkte Demokratie
durchaus auch positive, kontrollierende Wirkun-
gen, und vor allem geniesst sie – wie die Konkordanzregierung – in der Bevölkerung einen starken Rückhalt. Eine Anpassung der Institutionen
ist deshalb nicht realistisch.
Das Problem sind auch gar nicht die (direktdemokratischen) Institutionen an sich, sondern
deren Nutzung durch die zentralen Akteure: Die
Regierungsbeteiligung politischer Parteien muss
wieder eine verbindliche Bedeutung haben für
ihr Verhalten. Es liegen bereits Vorschläge auf
dem Tisch, wonach Regierungsparteien keine Initiativen in Wahljahren lancieren können sollten.
Es wäre jedoch an der Zeit, den Gebrauch direktdemokratischer Oppositionsinstrumente durch
Regierungsparteien insgesamt zu hinterfragen.
Er führt zu einer Verwischung von Verantwortung und in zunehmendem Mass zu Unsicherheit
und Unberechenbarkeit für die Schweizer Wirtschaft.
7 Vatter (2014): 535.
8 Traber (2015).
Silja Häusermann
Professorin (Ordinaria) für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie, Universität Zürich.
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Die Volkswirtschaft 5 / 2015 17
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Interessengruppen verlieren in der
Schweizer Politik an Einfluss
Eine Studie zeigt: Während Verbände in der Schweizer Politik noch in den 1970er-Jahren
eine zentrale Rolle spielten, haben sie 30 Jahre später an Einfluss verloren. Zu den Gewinnern gehören hingegen die Bundesratsparteien. Manuel Fischer, Pascal Sciarini
Abstract Interessengruppen wie der Gewerbeverband oder der Bauernverband spielen in der Schweizer Politik eine weniger wichtige Rolle als früher. Im Vergleich zu den
Jahren 1971 bis 1976 haben sie im Zeitraum 2001 bis 2006 an Einfluss auf die wichtigsten Entscheidungsprozesse verloren, wie eine Studie zeigt. Zudem sind die Verbände
weniger stark eingebunden in die Zusammenarbeitsstrukturen. Dies lässt sich einerseits durch die wachsende Heterogenität der Interessen erklären. Andererseits hat
die vorparlamentarische Phase von politischen Entscheidungsprozessen, in welcher
Interessengruppen traditionellerweise Kompromisse erarbeiteten, an Bedeutung
verloren. Als einziger grosser Verband konnte Economiesuisse im Untersuchungszeitraum seinen Einfluss wahren. Allerdings weisen verlorene Abstimmungskämpfe in den
letzten Jahren auch hier auf einen Bedeutungsverlust hin.
I
n der Schweizer Politik haben Interessenvertreter im 20. Jahrhundert noch eine Schlüsselrolle gespielt. In der kleinen und exportabhängigen Volkswirtschaft sorgten Kompromisse und
Absprachen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Staat vor allem im Bereich
der Wirtschafts- und Sozialpolitik für Stabilität
gegenüber den Veränderungen auf der Bühne
der Weltwirtschaft.1 Dabei dominierten im sogenannten «liberalen» Korporatismus der Schweiz
vor allem die privatwirtschaftlichen Interessen. Auch wenn sich Wirtschaftsverbände und
Gewerkschaften in korporatistischen Arrangements teils unabhängig von der Politik auf
Lösungen einigten, war der Einfluss von Interessenverbänden auf den offiziellen politischen
Entscheidungsprozess ebenfalls beträchtlich.
Dabei kam es häufig in Arbeitsgruppen und Expertenkommissionen der vorparlamentarischen
Phase des Entscheidungsprozesses zu Kompromissen, welche später vom Parlament kaum
mehr angetastet wurden.
So gehörten in den 1970er- und 1980er-Jahren der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse (ehemals Vorort), der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV), der Gewerbeverband (SGV),
der Bauernverband (SBV) sowie der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zu den dominanten Akteuren in der Schweizer Politik (­siehe
18 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Abbildung).2 Die Interessenverbände waren einerseits klar einflussreicher als die stark auf
kantonaler Ebene verankerten Parteien. Andererseits hatten die Verbände einen breiteren Einfluss auf die Schweizer Politik als die spezialisierten und mit wenig Ressourcen und Expertise
ausgestatteten Ämter der Bundesverwaltung.
Vor allem auf der dominanten bürgerlichen
Seite war die personelle Verflechtung zwischen
Verbänden, Parteien (insbesondere der FDP) und
der Bundesverwaltung äusserst intensiv. Die
bürgerlichen Verbände und Parteien formten
somit gemeinsam mit Vertretern der Bundesverwaltung einen engen Machtzirkel, welcher die
wichtigsten Politikprozesse entscheidend prägte.3 Auch Bereiche ausserhalb der Wirtschaftsund Sozialpolitik – wie beispielsweise die Gesundheits- oder Infrastrukturpolitik – wurden
von einem sektorspezifischen engen Netzwerk
aus spezialisierten Verbänden und der Verwaltung gesteuert. Nicht zuletzt kann die direkte
Demokratie für diese starke Stellung der Interessensverbände verantwortlich gemacht werden.
Wenn ein Referendum am Ende eines Prozesses
droht, haben staatliche Akteure einen starken
Anreiz, die wichtigsten Interessenvertreter früh
und intensiv in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.4
Bundesratsparteien
gewinnen an Macht
1
2
3
4
5
Vgl. Katzenstein (1985).
Vgl. Kriesi (1980).
Vgl. Kriesi (1980).
Vgl. Neidhart (1970).
Vgl. Sciarini (2014), Sciarini et al. (2015).
Die Schweizer Politik hat sich in den letzten
Jahrzehnten verändert. Ein Vergleich der wichtigsten Entscheidungsprozesse der Jahre 1971 bis
1976 mit jenen der Jahre 2001 bis 2006 spricht
eine deutliche Sprache: Interessenverbände haben an Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess eingebüsst (siehe Abbildung).5
SCHWERPUNKT
Reputationsmacht der wichtigsten Akteure in der Schweizer Politik im Zeitvergleich
100 in Prozent
90
80
70
60
50
SCIARINI ET AL. (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
40
30
20
10
e
k
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ss
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V
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EF
2001–06
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1971–76
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Ein Wert von 100
bedeutet: 100%
der Interviewpartner schätzten
einen Akteur als sehr
einflussreich in der
Schweizer Politik ein.
Der Krankenkassenverband Santésuisse
fehlt mangels eines
gesundheitspolitischen Geschäftes in
der Untersuchung;
die KdK gab es in den
1970er-Jahren noch
nicht. Die Akteure
sind nach aktueller
Reputationsmacht
geordnet.
SVP: Schweizerische Volkspartei – SP: Sozialdemokratische Partei – FDP: Freisinnig-Demokratische Partei – CVP: Christlichdemokratische Volkspartei – SGB: Schweizerischer Gewerkschaftsbund –
EFD: Eidg. Finanzdepartement – FDK: Finanzdirektorenkonferenz – SGV: Schweizerischer Gewerbeverband – KdK: Konferenz der Kantonsregierung – EJPD: Eidg. Justiz- und Polizeidepartement –
UVEK: Eidg. Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation – EDA: Eidg. Departement für Auswärtige Angelegenheiten – SECO: Staatssekretariat für Wirtschaft – SAV: Schweizerischer Arbeitgeberverband – EDI: Eidgenössisches Departement des Innern – SBV: Schweizerischer Bauernverband – EFV: Eidgenössische Finanzverwaltung
Anhand der sogenannten Reputationsmethode haben wir für die Studie «The Swiss decision-making system in the 21th century: power,
institutions, conflicts» die an einem politischen
Prozess beteiligten Akteure im Rahmen von Interviews gebeten, den Einfluss von anderen Akteuren einzuschätzen (siehe Kasten 1). Die Aggregation der Resultate ergibt eine Übersicht über die
Machtstruktur. Während in den 1970er Jahren wie
erwähnt die Wirtschaftsverbände die Schweizer
Politik dominierten, haben diese mit Ausnahme
von Economiesuisse im Beobachtungszeitraum
klar an politischem Einfluss verloren. Dagegen
finden sich nun die Bundesratsparteien an der
Spitze. Auch die Integration von politischen Akteuren in Zusammenarbeitsnetzwerke gibt Aufschluss über ihre Einflussmöglichkeiten: In der
eng verflochtenen Struktur zwischen Verwaltung, bürgerlichen Parteien und Interessenverbänden der 1970er-Jahre waren letztere klar die
zentralsten Akteure. Heute nehmen vorwiegend
die Bundesratsparteien diese Rolle ein.
Am stärksten vom Machtverlust betroffen
sind mit dem Bauernverband und dem Gewerbeverband die wichtigsten Vertreter der Bin-
nenwirtschaft. In der Mehrheit der untersuchten Entscheidungsprozesse zu Beginn des 21.
Jahrhunderts, an denen der Gewerbeverband
Interesse zeigte, war er nur schwach mit den
einflussreichsten Akteuren vernetzt und hatte
somit kaum Einfluss auf den Prozess. Auch der
Gewerkschaftsbund hat im Vergleich mit den
1970er Jahren an Einfluss verloren. Die Gewerkschaften gehörten in der Mehrheit der untersuchten Prozesse, in welchen sie partizipierten,
Kasten 1: Studie zu wichtigen Entscheidungen in der Schweiz
Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojektes
«The Swiss decision-making system in the
21th century: power, institutions, conflicts»
haben die Autoren (zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Denise Traber von der Universität Zürich) die 11 wichtigsten politischen
Entscheidungsprozesse zu Beginn des 21.
Jahrhunderts untersucht. Laut einer breiten
Expertenumfrage waren dies zwischen 2001
und 2006: 11. AHV-Revision, Verfassungsartikel Bildung, Kernenergiegesetz, Infrastrukturfonds, Neuer Finanzausgleich, Neues
Ausländergesetz, Entlastungsprogramm
2003, Revision Fernmeldegesetz, Bilaterales
Abkommen Schengen-Dublin, Bilaterales
Abkommen Zinsbesteuerung, Erweiterung
Personenfreizügigkeit.
Die Untersuchungen basieren auf 251
Interviews mit Vertretern der Verwaltung,
Parteien, Interessengruppen, Kantonen
und der Wissenschaft. Die Interviewpartner wurden unter anderem gebeten, über
den Einfluss anderer Akteure sowie ihre
Zusammenarbeits- und Konfliktbeziehungen
zu anderen Akteuren Auskunft zu geben. Ein
Buch, welches aufgrund der Projekterkenntnisse den Zustand des politischen Systems
der Schweiz diskutiert, erscheint im Sommer
(Sciarini et al. 2015).
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 19
KEYSTONE
WIRTSCHAFT UND POLITIK
zur Verliererseite. Demgegenüber setzte sich
Economiesuisse in den Jahren 2001 bis 2006 in
allen Prozessen, an welchen sich der Verband
beteiligte, durch.
Trotz des anhaltenden Einflusses von Economiesuisse muss festgestellt werden: Die Interessenverbände haben in der Schweizer Politik
allgemein an Macht verloren und sind von den
politischen Parteien überholt worden. Ausserdem zeigen sich gewichtige Unterschiede zwischen verschiedenen Politikbereichen, was die
Rolle und Stärke der Interessenverbände anbelangt (siehe Kasten 2).6
Bauern an einem vom
Schweizerischen
Bauernverband organisierten Umzug in
Bern. Viele Verbände
haben gegenüber
den 1970er-Jahren an
politischem Einfluss
verloren.
Verändertes Umfeld führt zum
Machtverlust der Verbände
Wie ist diese Entwicklung der letzten 40 Jahre
zu begründen? Im Folgenden werden die vier
wichtigsten Ursachen der Machtveränderungen
erläutert:
Traditionelle Politikfelder mit
weniger Gewicht
Heute sind andere Politikbereiche wichtig als
früher. In diesen sind die Interessenverbände schlechter aufgestellt. Mit dem Ende des
Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit in den
20 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
6 Vgl. Fischer (2012).
1970er-Jahren und dem Beginn der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre waren wirtschaftsund sozialpolitische Themen besonders wichtig.
Diese wurden von den klassischen Wirtschaftsverbänden dominiert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gehörte nur ein einziger der wichtigsten Prozesse in den Bereich der Sozialpolitik (11.
AHV-Revision), während die Wirtschaftspolitik
im traditionellen Sinne überhaupt nicht unter
den wichtigsten Prozessen vertreten war. Dennoch sind wirtschaftliche Interessen eindeutig
von Entscheidungsprozessen in der Energie-,
Telekommunikations-, Infrastruktur- oder Finanzpolitik direkt betroffen. Auch die heute allgegenwärtige Europapolitik hat häufig eine stark
wirtschaftspolitische Färbung: Bei den wichtigsten Entscheidungsprozessen zwischen 2001 und
2006 ging es um Migrations-, Zoll- und Steuerfragen, welche zwischen der Schweiz und der
Europäischen Union verhandelt wurden.
Heterogenität innerhalb
der Interessensgruppen
Durch die zunehmende Differenzierung in spezialisierte Politikbereiche lassen sich verschiedene Partikularinteressen immer schlechter
innerhalb von Interessengruppen bündeln. Zum
Beispiel ging es bei der untersuchten Revision
KEYSTONE
SCHWERPUNKT
des Fernmeldegesetzes um die Liberalisierung
der letzten Meile im Telekommunikationsmarkt.
In diesem Geschäft spielten vor allem einzelne
Firmen eine wichtige Rolle, grosse Wirtschaftsverbände hatten nur wenig Einfluss auf dieses
Geschäft. Neben der hohen technischen Komplexität und dem dazu nötigen Spezialwissen ist
die Differenzierung der Interessen dafür verantwortlich: Innerhalb von Economiesuisse vertraten die Swisscom als ehemalige Monopolistin
und deren Konkurrenzfirmen diametral gegenüberstehende Positionen. Generell erschwert
die Differenzierung in spezialisierte Politikbereiche und die damit einhergehende Herausbildung von Partikularinteressen das Bündeln von
Interessen in Verbänden. Diese können weniger
geeint auftreten und vertreten eine schmälere
Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Paul
Rechsteiner (oben
links); Parteipräsidenten Martin Landolt
(BDP), Christophe
Darbellay (CVP), Philipp Müller (FDP) und
Toni Brunner (SVP)
vor dem Bundeshaus
(von links, unten
rechts); Journalisten
befragen Bundesrat
Didier Burkhalter
(rechts).
Kasten 2: Unterschiede zwischen Politikbereichen
Auch wenn der Trend, dass Interessengruppen an Einfluss auf die Schweizer Politik
verloren haben, allgemein gültig ist, so gibt
es doch wichtige Unterschiede zwischen
verschiedenen Politikbereichen.
Grundsätzlich kann gesagt werden: Der
Einfluss von Interessenverbänden ist minim
in föderalistischen Entscheidungsprozessen, in welchen es um die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen geht.
Von den untersuchten Prozessen gehören
besonders der Verfassungsartikel zur
Bildung und der Neue Finanzausgleich. Besonders Mühe scheinen Interessenverbände
auch mit indirekt europäisierten Prozessen
zu haben, in welchen eine europäische Norm
ohne internationale Verhandlungen übernommen wird. Aus unserer Untersuchung
gehört hierzu die Revision des Fernmeldegesetzes und das Neue Ausländergesetz.
Basis, was zu einem Verlust an politischen Einfluss führt.
Internationales Umfeld prägt Politik
Die Europäisierung der Politik trägt ihren Teil
zum Einflussverlust von Interessenverbänden
bei. Einerseits führt die Wichtigkeit der Koordination der nationalen mit der europäischen Politik zu einem stärkeren Gewicht von staatlichen
Akteuren in politischen Entscheidungsprozessen. Wichtige Fragen werden häufig in internationalen Verhandlungen und nicht mehr im nationalen Parlament geklärt. Staatliche Akteure
verfügen daher über relevantere Informationen
und Einflussmöglichkeiten als nationale Interessengruppen oder Verbände.
Andererseits trägt die Abhängigkeit der
Schweizer Politik vom internationalen und europäischen Umfeld ebenfalls zu der oben besprochenen Differenzierung der Interessen
bei. Seit den 1990er Jahren sind exportorientierte Wirtschaftsbereiche weniger bereit, den
Schweizer Binnenmarkt durch Abschottung zu
schützen. Internationaler Druck führt zu einer
Schwächung der den Binnenmarkt vertretenden
Verbände, wie zum Beispiel des Schweizerischen
Bauernverbandes oder des Gewerbeverbandes.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 21
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Mediatisierung der Politik
Eine traditionelle Stärke von Interessengruppen
in der Schweizer Politik war, dass diese in korporatistischer Manier fähig waren, ausserhalb
des politischen Prozesses oder in der vorparlamentarischen Phase tragfähige Kompromisse
zu finden. Die erhöhte Mediatisierung und Polarisierung der Schweizer Politik haben jedoch
die Möglichkeit vertraulicher Verhandlungen
und die Kompromissbereitschaft der Sozialpartner reduziert. Ein Vergleich der eingeschätzten
Wichtigkeit der vorparlamentarischen Phase gegenüber der parlamentarischen Phase von Entscheidungsprozessen zeigt: Erstere hat ihre klare Dominanz aus den 1970er-Jahren weitgehend
verloren.
Natürlich ist denkbar, dass die Verbände auf
diese Entwicklung reagiert haben und vermehrt
versuchen, den Gang politischer Geschäfte im
Parlament zu beeinflussen. Zwar scheint sich
die Intensität und Professionalität der Lobbyarbeit im Parlament tatsächlich zu intensivieren.
Ob dies aber den Einflussverlust der Interessenverbände in der vorparlamentarischen Phase zu
kompensieren vermag, ist zu bezweifeln.
Die seit einiger Zeit erhöhte Polarisierung des
Parlamentsbetriebs erschwert zudem die Einflussnahme von Interessenverbänden via Parlamentsvertreter. Im Gegensatz zu den 1970erund 1980er-Jahren existiert im Parlament keine
stabile bürgerliche Mehrheit mehr.
scheidende Erklärungsfaktoren wie die Abhängigkeit der Schweiz von der europäischen und
internationalen Politik oder die Mediatisierung
sind heute nicht weniger wichtig als vor zehn
Jahren. Die Aufhebung des Bankgeheimnisses
auf Druck aus dem Ausland ist ein aktuelles Beispiel dafür, dass Interessenverbände – in diesem
Fall jene der Schweizer Finanzwirtschaft – kaum
mehr Einfluss auf die nationale Politik ausüben,
wenn sich diese mit internationalem oder europäischem Druck konfrontiert sieht.
Auch im aktuellen Fall der Energiestrategie
2050 lässt sich eine starke Differenzierung der
Interessen beobachten. Wirtschaftsverbände
unterstützen nicht mehr, wie es traditionellerweise der Fall war, fast ausschliesslich die Atomenergie, sondern es formieren sich wirtschaftliche Interessen im Bereich der alternativen
Energien und der Energieeffizienz. So entstand
etwa der neue Verband Swisscleantech.
Des Weiteren mehren sich neuerdings Anzeichen eines Einflussverlusts von Economiesuisse.
Zumindest was Volksabstimmungen betrifft,
scheint auch dieser Verband nicht mehr die alte
Stärke zu haben. Dies suggerieren zumindest die
Niederlagen bei der Zweitwohnungs-, der Masseneinwanderungs- und der Abzockerinitiative.
Anzeichen des Einflussverlusts
von Economiesuisse
Obwohl der Grossteil der hier besprochenen
Erkenntnisse aus Entscheidungsprozessen
stammt, welche sich bereits vor zehn Jahren abspielten, kann davon ausgegangen werden, dass
die Rolle und Wichtigkeit der Interessenverbände in der Schweizer Politik noch immer den hier
beschriebenen Entwicklungen entspricht. Ent-
Manuel Fischer
Dr. rer. pol. Forscher am
Departement für Umweltsozialwissenschaften
der Eawag (Dübendorf)
und Lehrbeauftragter am
Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.
Pascal Sciarini
Professor für Schweizer
Politik am Departement
für Politikwissenschaft
und Internationale Beziehungen der Universität
Genf.
Literatur
Fischer, Manuel (2012). Entscheidungsstrukturen
in der Schweizer Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zürich/Chur: Verlag Rüegger.
Katzenstein, Peter (1985). Small States in World
Markets. Cornell: Cornell University Press.
Kriesi, Hanspeter (1980). Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozesse in der Schweizer Politik. Frankfurt: Campus Verlag.
22 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Neidhart, Leonhard (1970). Plebiszit und pluralitäre Demokratie, eine Analyse der Funktionen
des schweizerischen Gesetzesreferendum.
Bern: Francke.
Sciarini, Pascal (2014). ‚Eppure si muove: muove:
«The changing nature of the Swiss consensus
democracy.» Journal of European Public Policy
21(1): 116–132.
Sciarini, Pascal, Fischer, Manuel and Denise
Traber (2015). Political Decision-Making in
Switzerland: The Consensus Model under
Pressure. Basingstoke/New York: Palgrave/
MacMillan.
SCHWERPUNKT
Wie beeinflusst die Entschädigung
die Disziplin und die Selektion
von Politikern?
Ob eine höhere Entschädigung das Engagement von Parlamentariern steigert, wird kontrovers diskutiert. Eine Studie zur EU-Entschädigungsreform zeigt: Eine bessere Bezahlung
führt zu mehr Engagement und erhöht die Wiederwahlwahrscheinlichkeit. Allerdings werden keine besser qualifizierten Kandidaten angezogen. Thomas Brändle
Abstract Eine höhere Entschädigung in der Politik sollte zu engagierteren Mandatsträgern führen und besser qualifizierte
Kandidaten anziehen. Diese politökonomischen Überlegungen werden anhand einer Studie zur grundlegenden Entschädigungsreform im EU-Parlament aus dem Jahr 2009 konkretisiert. Die empirische Analyse zeigt: Ein Anstieg der Entschädigung führt zu mehr parlamentarischem Engagement. Gleichzeitig nehmen jedoch die Absenzen zu. Mit Blick auf die Selektion
der Politiker wird beobachtet, dass eine höhere Entschädigung die Wiederwahlwahrscheinlichkeit der Amtsinhaber erhöht,
jedoch keine besser qualifizierten Politiker anzieht. Im letzten Teil des Artikels werden Überlegungen zur Situation in der
Schweiz angestellt.
G 1 Der Beitrag basiert auf
Forschungsarbeiten des
Autors an der University
Pompeu Fabra, Department of Economics,
Barcelona (2012/2013).
Siehe Braendle (2015a):
Does Remuneration Affect the Discipline and
the Selection of Politicians? Evidence from the
European Parliament.
In: Public Choice, 162
(1-2), S. 1–24.
emäss Überlegungen der Politischen Ökonomie (siehe Kasten 1) ist die finanzielle Entschädigung eines politischen Mandats eine wichtige institutionelle Rahmenbedingung. In der
Literatur wird zum einen argumentiert, dass eine
höhere Entschädigung die Arbeitsmoral steigert
und den Wert eines Mandats erhöht. Wird ein
einfaches Kosten-Nutzen-Kalkül unterstellt, geht
der Verlust des Mandats durch Abwahl bei einer
höheren Entschädigung mit mehr Kosten einher.
Zum anderen lässt sich die Hypothese ableiten,
dass besser qualifizierte Bürger mit attraktiven
alternativen Verdienstmöglichkeiten (sogenannten hohen Opportunitätskosten) im privaten
Sektor eher zu einer Kandidatur motiviert werden können, wenn die finanzielle Entschädigung
hoch ist. Eine höhere Entschädigung sollte so das
Verhalten der Politiker im Amt durch einen gesteigerten Wiederwahlanreiz disziplinieren und
besser qualifizierte Kandidaten anziehen.1
Zu berücksichtigen ist, dass sich diese theoretischen Überlegungen nicht eins zu eins auf
die Politik übertragen lassen. Erstens ist der «Arbeitsvertrag» zwischen Wählern und Politikern
unvollständig. Zweitens spielen Faktoren wie das
Kandidatennominierungsmonopol der Parteien,
die Politikfinanzierung, die Informationsbedingungen in der Politik und die zugrunde liegenden Wählerpräferenzen eine gewichtige Rolle.
Zudem hängt die Attraktivität eines politischen
Mandats neben der finanziellen Entschädigung
auch vom vorhandenen Gestaltungsspielraum
Kasten 1: Politische Ökonomie
Die politischen Prozesse und die politischen Entscheide sollten in demokratischen Gemeinwesen möglichst den
Präferenzen der Bürger entsprechen.
Ausgehend von diesem Ideal, drehen
sich die zentralen Überlegungen in
der Politischen Ökonomie um die
Strukturierung der Beziehung zwischen
Wählern und Politikern und die Rolle
des politischen Wettbewerbs. Für die
Analyse wird dabei das ökonomische
Verhaltensmodell auf den politischen
Sektor übertragen. Den politischen
Entscheidungsträgern wird das rationale Verfolgen von Eigeninteressen,
wie beispielsweise ihre Wiederwahl,
unterstellt. Verhaltensänderungen
von Politikern werden primär durch
veränderte Restriktionen erklärt. Die
institutionellen Rahmenbedingungen
in der Politik sollen entsprechend
so ausgestaltet werden, dass eine
möglichst grosse Verantwortlichkeit
im politischen Handeln der Entschei-
dungsträger erzeugt wird.
Der Wettbewerb um die Gunst der
Wähler und insbesondere der Anreiz
zur (Wieder)wahl sollen die Politiker
einerseits bei der Ausgestaltung der
Wahl- oder Parteiprogramme und
andererseits beim Verhalten im Amt
disziplinieren. Angesichts nicht bindender Wahlversprechen und unvollständiger Möglichkeiten zur Kontrolle der
gewählten Mandatsträger ist aus Sicht
der Politischen Ökonomie zudem die
sorgfältige Auswahl der Politiker im
Hinblick auf Kompetenz und Glaubwürdigkeit von Bedeutung.a
a Vgl. Buchanan (1989), Mueller (2003),
Persson und Tabellini (2005) für eine
Diskussion der grundlegenden Ansätze
in der Politischen Ökonomie. Vgl. Besley
(2005) für die komplementäre Erweiterung um den Aspekt der politischen
Selektion.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 23
WIRTSCHAFT UND POLITIK
144 084 €
Die Entschädigungsreform im Europäischen Parlament im Jahr 2009
86 126 €
84 108 €
83 712 €
83 312 €
72 018 €
69 816 €
63 791 €
62 069 €
59 640 €
52 041 €
38 396 €
28 860 €
21 864 €
19 774 €
15 534 €
14 197 €
14 085 €
10 226 €
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Un
2 Vgl. Padovano (2013) für
eine Diskussion.
3 Die Mitglieder des
EU-Parlaments erhalten
ausserdem Tagespauschalen (etwas über
300 Euro pro Sitzungstag) und eine Entschädigung für im Wahlkreis
anfallende Kosten
(4299 Euro monatlich),
beispielsweise für Büro
und Material. Effektive
Reisekosten und Kosten
für Mitarbeiter der
Parlamentarier werden
bis zu einem gewissen
Betrag übernommen.
Dieser Teil der Entschädigung wurde vor und
nach der Reform der
Grundentschädigung
aus EU-Mitteln finanziert und ist durch die
Reform nicht tangiert.
10 226 €
20
rn
Jährliche Grundentschädigung der Abgeordneten vor
der Reform (2004)
10 080 €
40
21 746 €
60
48 815 €
80
48 286 €
Jährliche Grundentschädigung der Abgeordneten nach
der Reform (2009)
73 850 €
100
91 983 €
81 273 €
120
und dem Ausmass an Befriedigung aus dem
Dienst an der Gemeinschaft ab. Diese Aspekte
sind jedoch weniger exakt greifbar.
Nur wenige Studien untersuchen den Zusammenhang zwischen der Entschädigung und
der Disziplin (respektive dem Engagement im
Amt und der Qualifikation) der gewählten Politiker auf individueller Ebene. Bis anhin sind nur
wenig verwertbare Daten über Politiker, ihre
Herkunft und ihre politischen Aktivitäten systematisch verfügbar gewesen. Ausserdem ist die
Identifikation kausaler Zusammenhänge in diesem Bereich anspruchsvoll. Entsprechend dreht
sich die wissenschaftliche Diskussion um die
Frage, wie das individuelle Engagement und die
Qualifikation von Politikern adäquat gemessen
werden kann.2 Bisherige Studien konzentrierten
sich primär auf die lokale Ebene (siehe Kasten 2).
Von grossem Interesse ist aber auch, ob die
Höhe der Entschädigung Auswirkungen auf das
Engagement und die Selektion der Politiker auf
höheren staatlichen Ebenen hat.
Die Entschädigungsreform im
EU-Parlament im Jahr 2009
Die Harmonisierung der Grundentschädigung der
Mitglieder des EU-Parlaments im Jahr 2009 stellt
eine aussergewöhnliche empirische Gelegenheit
dar, die Anreiz- und Selektionseffekte der Entschädigung von Politikern zu analysieren. Die Parlamentarier aus 27 verschiedenen Staaten mussten sich gleichzeitig an diese grundlegende und
finanziell bedeutende Reform anpassen. Ausserdem war die Entschädigungsreform von keinen
anderen institutionellen Veränderungen begleitet.
Bis einschliesslich der sechsten Wahlperiode
(2004–2009) wurde die Grundentschädigung,
die den grössten Teil des Entschädigungspakets
eines EU-Abgeordneten darstellt, aus dem Bud-
Kasten 2: Angrenzende Literatur
Ferraz und Finan (2009) analysieren diskontinuierliche Gehaltssprünge von Politikern
auf lokaler Ebene in Brasilien, die in Abhängigkeit der Einwohnerzahl der Gemeinden
gewährt werden. Die Autoren kommen zu
dem Ergebnis, dass eine höhere Entschädigung den Effort der Politiker im Amt,
angenähert durch die Anzahl eingereichter
Gesetzesentwürfe und die Bereitstellung
von öffentlicher Infrastruktur, erhöht. Die
Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Untersuchung zeigt auch, dass eine höhere
Entschädigung mit einem besseren formalen
Qualifikationsniveau (Ausbildung und Beruf)
der Politiker einhergeht. Gagliarducci und
Nannicini (2013) finden in einem sehr ähnlichen Studiendesign, jedoch für italienische
Bürgermeister, vergleichbare empirische
Evidenz. Ihre Resultate legen nahe, dass
Gemeinden mit besser bezahlten Bürgermeistern sparsamere öffentliche Haushalte
und ein geringeres Ausmass an Bürokratie
aufweisen. Mit Blick auf die Selektion in die
Politik zeigt sich, dass eine höhere Entschädigung zu besser qualifizierten Politikern,
angenähert durch Anzahl Ausbildungsjahre
und den beruflichen Hintergrund, führt.a
a Vgl. Braendle (2015b) für einen Überblick zur
entstehenden Literatur zu den Auswirkungen
der Entschädigung und weiterer institutioneller Rahmenbedingungen auf den Effort und
die Selektion von Politikern.
CORBETT ET AL. (2005) UND EU-PARLAMENT, INFORMATIONSBÜRO DEUTSCHLAND.
DARSTELLUNG BRÄNDLE / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
106 583 €
140 In Tausend Euro
SCHWERPUNKT
get des jeweiligen Heimatlandes bezahlt und
entsprach der Grundentschädigung eines nationalen Abgeordneten.3 Beispielsweise erhielt zu
Beginn der sechsten Wahlperiode ein EU-Parlamentarier aus Ungarn eine jährliche Grundentschädigung von 10 080 Euro, während ein Abgeordneter aus Italien 144 084 Euro erhielt. Im Jahr
2005 beschlossen EU-Rat und EU-Parlament eine
neue, harmonisierte Entschädigungsordnung,
die ab Beginn der siebten Wahlperiode in Kraft
treten sollte. Gemäss dieser Entschädigungsregelung erhalten alle Parlamentarier, unabhängig von ihrem Herkunftsland, eine einheitliche
Grundentschädigung, die sich an den Löhnen
von EU-Beamten orientiert und aus EU-Mitteln
finanziert wird. Bei Einführung im Jahr 2009
entsprach die harmonisierte Grundentschädigung 91 983 Euro. Während Abgeordnete aus osteuropäischen Ländern sowie Spanien, Portugal,
Finnland und Schweden finanziell deutlich von
der Harmonisierung profitierten, mussten die
italienischen und österreichischen Abgeordneten Senkungen hinnehmen (siehe Abbildung).
Für die empirische Analyse wurde ein neuer Datensatz mit umfangreichen Informationen zu
den EU-Abgeordneten vor und nach der Entschädigungsreform erhoben. Mithilfe eines multiplen
Regressionsmodells wurde versucht, den Einfluss der Veränderung der Entschädigung auf das
Engagement der Politiker im Amt und die Selektion in das EU-Parlament zu ermitteln.4
Als empirische Annäherung der Auswirkungen der Entschädigungsreform auf das Engagement der Politiker wurden vier unterschiedliche
individuell zurechenbare Masse betrachtet. Zuerst wurden die Absenzen als Mass für das Engagement analysiert. In einem zweiten Schritt
stand der direkte parlamentarische Einsatz der
Abgeordneten im Fokus, wobei die Anzahl parlamentarischer Reden, schriftlicher Erklärungen
und ausgearbeiteter Legislativberichte herangezogen wurde.
Die empirische Analyse konzentrierte sich auf
den Vergleich des Engagements der Amtsinhaber
in den ersten zwei Jahren der Legislaturperiode vor
und nach der Entschädigungsreform. Die Resul-
4 Zur Absicherung gegen
unbeobachtete zeitund länderspezifische
Einflüsse wurden in der
empirischen Analyse
feste Zeit- und Ländereffekte eingesetzt.
Zudem wurde für eine
Vielzahl von individuellen (Alter, Geschlecht,
Parteizugehörigkeit,
Dienstalter, Position im
Parlament) und Delegationscharakteristika
(nationale Delegationsgrösse, Parteigrösse,
BIP pro Kopf und
wahrgenommene Korruption im Heimatland)
kontrolliert, die das
Engagement und die
Selektion beeinflussen
können.
^KEYSTONE
Debatte im EU-Parlament in Strassburg. Die Entschä­
digungsreform im Jahr 2009 brachte für die meisten
Abgeordneten mehr Geld.
Beeinflusst die Entschädigung
das Engagement der Politiker?
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 25
WIRTSCHAFT UND POLITIK
tate zeigen: Die Erhöhung der Entschädigung hat
einen positiven Anreizeffekt auf das direkte parlamentarische Engagement der Politiker. Gleichzeitig wird jedoch auch ein Anstieg der Absenzen
infolge einer höheren Entschädigung beobachtet.
Was sind plausible Erklärungen für dieses
überraschende Resultat bei den Absenzen? Es
kann argumentiert werden: Mit der gestiegenen
Grundentschädigung hat die Anwesenheit und die
damit verbundene Tagespauschale als Einkommensquelle relativ an Bedeutung verloren. Auch
kann ein verstärkter Wiederwahlanreiz infolge
der gestiegenen Entschädigung dazu führen, dass
das Engagement im Wahlkreis oder das Sichern
von (finanzieller) Wahlkampfunterstützung bei
Interessenverbänden im Vergleich zur parlamentarischen Anwesenheit wichtiger geworden sind.
Beeinflusst die Entschädigung
die Qualifikation neu gewählter
Politiker?
Als Mass für die Qualifikation der Politiker
wurde ein möglichst breiter Ansatz gewählt. Es
wurden die Dimensionen formaler Bildungsabschluss (wie etwa Hochschulabschluss oder
Doktorat), vorherige politische Erfahrung in
gewählten Ämtern (lokal, regional oder national) und vorheriger beruflicher Hintergrund
(insbesondere hoch qualifizierte Berufe) näher
betrachtet. Das überraschende Resultat ist: Der
erhebliche Entschädigungsanstieg infolge der
Reform hat die Zusammensetzung des Pools
an neu gewählten Abgeordneten in den drei
Dimensionen formale Bildung, vorherige politische und berufliche Erfahrung nicht verbessert. Es zeigt sich sogar ein negativer Zusammenhang zwischen der Entschädigung und der
Wahrscheinlichkeit, dass ein Politiker bei der
Wahl in das EU-Parlament über politische Erfahrung in einer gewählten Position auf höchster nationaler Ebene verfügt. Im Gegensatz zu
den bisherigen Studien auf lokaler Ebene findet
diese Arbeit keinen positiven Zusammenhang
zwischen der Entschädigung und den Massen
der Qualifikation von Politikern.
Eine wichtige Komponente zur Erklärung dieses Resultats ist sicher im proportionalen Wahlrecht zu sehen, welches bei den EU-Parlamentswahlen angewendet wird. Dieses verleiht den
26 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
nationalen Parteien eine bedeutende Rolle bei
der Nominierung von Kandidaten. Falls die Parteien den Zugang zu politischen Ämtern massgeblich bestimmen und die Sitze an entweder
unerfahrene, junge Politiker mit Ambitionen für
die nationale Politik als Trainingsarena vergeben
oder für verdiente Politiker reservieren, die kurz
vor dem Rückzug aus der Politik stehen, sind
Entschädigungsveränderungen vermutlich von
nachrangiger Bedeutung.
Angesichts der wenigen direkten Entscheidungskompetenzen und der geringen Reputation könnte zudem – trotz gestiegener Entschädigung – die Arbeit im EU-Parlament als weniger
attraktiv angesehen werden als ein Mandat auf
nationaler Ebene. Des Weiteren kann die zugrunde liegende Studie einfach zu früh angesetzt haben, und der Pool an Kandidaten und gewählten
Abgeordneten verändert sich erst mit deutlicher
Verzögerung.
Beeinflusst die Entschädigung die
Wiederwahl von Politikern?
Die Veränderung der Wiederwahlwahrscheinlichkeit ist das Ergebnis von mindestens zwei
Kräften. Einerseits erhöht eine grosszügigere
Entschädigung die Attraktivität eines Mandats.
Dies führt zu einem stärker umkämpften Wettbewerb um die Mandate, was wiederum die Wahrscheinlichkeit der Wiederwahl von Amtsinhabern senken sollte. Andererseits verstärkt eine
höhere Entschädigung den Wiederwahlanreiz
der Amtsinhaber, da der Wert der (zukünftigen)
Mandatsträgerschaft gestiegen ist. Dies sollte die
Anstrengungen der Amtsinhaber steigern und
zu einer höheren Wiederwahlwahrscheinlichkeit beitragen. Aus der empirischen Analyse geht
hervor: Beispielsweise führt eine Verdoppelung
der Grundentschädigung zu einem Anstieg der
Wiederwahlwahrscheinlichkeit um etwas mehr
als 17 Prozentpunkte.
Welche Parallelen lassen sich zur
Situation in der Schweiz ziehen?
Entschädigungsreformen für politische Ämter
stehen regelmässig und insbesondere in Wahljahren zur Diskussion. So stellt sich beispielsweise bei näherer Betrachtung auch die Frage, ob die
5 Die Parlamentarier
erhalten auch eine
Mahlzeiten- und Übernachtungsentschädigung, eine Distanz- und
Familienzulage. Vgl.
Parlamentsressourcengesetz (PRG) für Details.
SCHWERPUNKT
finanzielle Attraktivität eines Parlamentsmandats auf Bundesebene in der Schweiz hoch oder
niedrig ist, als relativ komplex heraus. Erstens
sind die Grundentschädigung und die Tagespauschalen nur eine Facette der finanziellen Attraktivität eines Mandats. Zwischen den Ländern ist
ein diesbezüglicher aussagekräftiger Vergleich
jedoch nur beschränkt möglich. Die finanzielle Entschädigung im Schweizer Parlament, mit
26 000 Franken jährlichem Grundeinkommen,
einer Jahresentschädigung von 33 000 Franken
für Personal- und Sachausgaben und einem Taggeld von 440 Franken pro Sitzungstag erscheint
jedoch vergleichsweise nicht überhöht5. Dies zeigt
sich auch in der Studie von Z’graggen und Linder
(2004), welche die Bundesversammlung mit weiteren Parlamenten in ausgewählten OECD-Ländern vergleicht. Zweitens muss gefragt werden,
in welchem Ausmass Nebenbeschäftigungen
möglich sind und welche Nebenbeschäftigungen sich erst durch das Mandat ergeben. Letztere
Frage stellt sich auch im Hinblick auf Positionen
nach Beendigung der Parlamentstätigkeit, wie
beispielsweise Verwaltungsratsmandate oder
Verbandspositionen, die nur durch neu geschlossene Kontakte in der Politik möglich wurden. Für
die Attraktivität eines Mandats spielt es auch
eine Rolle, welche materiellen und personellen
Ressourcen den Politikern unterstützend zur
Mandatsausübung zur Verfügung stehen.
In direktem Zusammenhang mit der Entschädigung der Politiker steht die Frage der Organisation der Parlamentsarbeit. Die Schweiz zeichnet sich durch ein Milizparlament aus. Durch die
Berufstätigkeit neben dem Mandat sollen berufliche Erfahrungshintergründe und Herausforderungen der Berufswelt einfacher Gehör finden
und direkter in die parlamentarischen Prozesse
einfliessen als in anderen Ländern.
Von einer Erhöhung der Entschädigung liesse
sich tendenziell eine stärkere Professionalisierung des Parlaments erwarten. Erstens wären die
Parlamentarier finanziell weniger von einer zusätzlichen Tätigkeit abhängig. Zweitens legen die
präsentierten Studien nahe, dass eine gestiegene
Entschädigung mit einer höheren Wiederwahlwahrscheinlichkeit und somit längeren durchschnittlichen parlamentarischen Verweildauern
einhergeht. Angesichts der zunehmenden Komplexität der Gesetzgebung scheint eine gewisse
Tendenz zur Professionalisierung jedoch auch
sachbedingt absehbar. Ob – wie oft im politischen
Diskurs argumentiert – eine höhere Entschädigung besser qualifizierte Kandidaten anzieht,
kann vor dem Hintergrund der diskutierten Studien nicht ohne Weiteres bejaht werden.
Neben der Entschädigung sind jedoch weitere
institutionelle Besonderheiten der Schweizer Politik von Bedeutung. Dazu gehören die Regeln bezüglich der Unvereinbarkeit eines Amts im öffentlichen Sektor mit einem politischen Mandat, die
Offenlegung von Interessenbindungen, der ausgeprägt föderale Staatsaufbau sowie die direktdemokratischen Elemente und deren potenzielle
Auswirkungen auf den politischen Wettbewerb,
das Engagement und die Selektion der Politiker.
Thomas Brändle
Dr. rer. pol., Ökonomische Analyse und Beratung,
Eidgenössische Finanzverwaltung EFV, Bern und Research Fellow, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät,
Universität Basel.
Literatur
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(2005). The Economic Effects of Constitutions. Cambridge: MIT Press.
Z’graggen, Heidi und Wolf Linder (2004).
Professionalisierung der Parlamente im internationalen Vergleich. Studie im Auftrag
der Parlamentsdienste der Schweizerischen Bundesversammlung. Institut für
Politikwissenschaft. Universität Bern.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 27
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Peter A. Fischer, NZZ-Wirtschafts­
ressortleiter, im Staatssekretariat
für Wirtschaft SECO in Bern
SCHWERPUNKT
INTERVIEW
«Wirtschaft und Politik haben sich
voneinander entfernt»
Der Leiter der Wirtschaftsredaktion der «Neue Zürcher Zeitung», Peter A. Fischer, äussert
sich im Gespräch mit der «Volkswirtschaft» zum Verhältnis zwischen dem globalisierten
Wirtschaftsstandort Schweiz und der Schweizer Politik. Manchen Managern fehle wohl die
Zeit, sich um den Heimstandort zu kümmern, sagt der Ökonom. Er erklärt, warum er sich
weniger Politprofis im Parlament wünscht.
Nach der Finanzkrise gewinnt die Forderung nach
dem Primat der Politik an Legitimation. Bereitet
das dem Leiter des liberalen NZZ-Wirtschaftressorts Sorgen?
Über die Forderung nach dem Primat der Politik
diskutieren wir gelegentlich auch hausintern.
Ich halte die Diskussion einerseits für banal und
andererseits für gefährlich. Banal, weil es doch
völlig klar ist, dass die Wirtschaft nicht in einem
luftleeren Raum operiert, sondern innerhalb
eines politisch bestimmten Ordnungsrahmens.
Zudem hoffe und denke ich, dass sich die meisten Manager bewusst sind, dass sie von einem
Standort aus handeln, für den sie eine gewisse
Mitverantwortung tragen.
Warum halten Sie die Diskussion für gefährlich?
Weil sie oft die Vorstellung ausdrückt, uns ginge es so gut, dass wir alles machen können – ob
es nun der Wirtschaft schadet oder nicht. Das
ist gefährlich. Es stimmt zwar: Uns geht es sehr
gut. Aber nur, weil wir immer wieder entschieden haben: Was für die Wirtschaft gut ist, ist
auch für das Land gut. Und wer träge wird und
denkt, «naja, das ist ja alles egal, wir sind sowieso besser», der läuft Gefahr zurückzufallen. Ich
bin Ökonom und für mich sind Freiheit und Verantwortung wichtig. Das funktioniert nur, wenn
Wirtschaft und Politik Hand in Hand gehen.
Sind sich die Manager ihrer Verantwortung bewusst?
In den letzten Jahrzehnten haben sich meines Erachtens Wirtschaft und Politik etwas voneinander entfernt. Das hängt damit zusammen, dass
die Schweizer Wirtschaft – zum Glück – sehr
global orientiert ist. Viele Manager sind stark unter Druck.
Zur Person
Sie müssen um die Welt reisen
Peter A. Fischer ist seit November 2010
und sind immer knapp an Zeit.
Leiter der Wirtschaftsredaktion der NZZ in
Zürich. Zuvor war der Doktor der Ökonomie
während dreieinhalb Jahren NZZ-Chinakorrespondent in Peking. Von 2001 bis 2007
wirkte er als Wirtschaftskorrespondent für
Russland, Zentralasien und den Kaukasus in
Moskau. Sein Eintritt in die Wirtschaftsredaktion der NZZ erfolgte 1999. Die Dissertation erlangte Fischer in Hamburg zum Thema
«Ökonomie der Immobilität». Das Studium
der Wirtschaftswissenschaften absolvierte
der Ökonom in Bern, Kiel und Hamburg.
Fischer ist verheiratet und lebt in Wetzikon
bei Zürich.
Wollen Sie sagen, den Managern sei das Verständnis für die
Schweizer Politik abhandengekommen?
Manchen fehlt wohl die Zeit,
sich um den Heimatstandort zu
kümmern. Vielleicht empfinden
sie manchmal auch das Provinzielle der Politik als fremd. Und
das ist gefährlich, wie sich in
einigen Abstimmungen gezeigt
hat. Denn das Wesen der Schweizer Demokratie
beruht darin, dass der Ordnungsrahmen wirtschaftsfreundlich ist. Bisher ist es fast immer
gelungen, eine Mehrheit der Stimmbürger davon zu überzeugen. Deshalb ist es wichtig, dass
sich Unternehmer äussern und für ihre Sache
kämpfen.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 29
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Ist das nicht zu pauschal mit der Entfremdung?
In den vergangenen Jahren ist der Binnensektor
stärker gewachsen als die Exportwirtschaft.
In den letzten Jahren sind tatsächlich geschützte, oft staatsnahe Binnensektoren wie beispielsweise das Gesundheitswesen und die öffentliche Verwaltung überproportional gewachsen.
Das ist aber eher ein Alarmzeichen. Denn unser
Wohlstand wird ganz wesentlich im exportorientierten Sektor erwirtschaftet, der sehr produktiv ist. Ohne florierende Exportwirtschaft
könnte auch der eng damit verzahnte Binnensektor niemals so hohe Löhne bezahlen.
Stellen Sie eine gewisse Trägheit in der Schweiz
fest?
Wohlstand fällt nicht vom Himmel. Die ausländischen Konkurrenten schlafen nicht. Ich habe
zehn Jahre in Russland und in China gearbeitet. Da sah ich: Gerade in China sind die Leute
bereit, viel dafür zu tun, dass es ihnen besser
geht. In der Schweiz müssen wir deshalb zu unserer durchaus vorhandenen Effizienz und Geschicktheit Sorge tragen.
Wie?
Ganz entscheidend ist für mich: Was wir machen, müssen wir effizient tun. Lasst Märkte
effizient funktionieren. Danach können wir
diskutieren, ob wir das Marktergebnis politisch
verändern wollen – indem wir beispielsweise
umverteilen. Wobei: Jeder Eingriff verursacht
Kosten. Deshalb sollten solche Aktionen zielgerichtet und effizient sein. Der Erhalt der Freiheit
ist aus ökonomischer Sicht zentral.
Das heisst Nachtwächterstaat?
Nein, das heisst nicht Nachtwächterstaat. Es
braucht einen starken aber schlanken, dem Bürger verpflichteten Staat. Denken wir etwa an
das Schlagwort Marktversagen. Der Markt ist
sehr effizient. Aber er braucht in vielen Fällen
eine effiziente Regulierung. Und wenn wir von
Marktversagen sprechen, hat dies häufig mit
Politik- oder Regulierungsversagen zu tun – und
nicht mit Marktversagen selbst. Es braucht den
Staat also einerseits, um diesen Ordnungsrahmen sicherzustellen, aber es braucht ihn auch,
um politisch bestimmte Verteilungsfragen zu
lösen.
30 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Denken wir an die Finanzkrise, wo der Markt versagt hat: Begrüssen Sie die neuen Finanzmarktregulierungen?
Eine zentrale Erkenntnis aus der Finanzkrise
ist: Es geht nicht, dass Gewinne privatisiert und
Verluste vergemeinschaftet werden. Der Staat
soll nicht für Verluste aufkommen, die durch
ein zu risikoreiches Verhalten generiert wurden.
Deshalb ist die Lösung des «too big to fail»-Problems zentral. Banken müssen Konkurs gehen
können, und sie müssen einstehen für das, was sie machen. Zu
viel Regulierung ist allerdings
«Ich bin durch das,
gefährlich.
was ich in China
und Russland gesehen
habe, zu einem noch
stärkeren Anhänger
der direkten Demokratie geworden.»
Inwiefern?
Sie verursacht den Banken nicht
nur hohe Kosten. Die Überregulierung führt verstärkt zu einer
Tick-the-box-Mentalität: Manager verbringen ihre Zeit, Listen
abzuarbeiten, und haken ab, ob
alle Bedingungen der Finanzmarktaufsicht und
der Corporate Governance erfüllt sind. Bei einer
solchen Arbeitsweise stehen strategische Fragen
und Fragen der Verantwortung nicht mehr im
Zentrum. Und das ist heikel.
Gehen die Reformen zu den Finanzmarktgesetzen
auch in Richtung Überregulierung der Banken?
Die Reformen haben eine gewisse Berechtigung. Erstens, weil wir einen internationalen
Finanzplatz haben, und der muss global agieren
können. So verlangt die EU beispielsweise für
einen Marktzutritt regulatorische Äquivalenz.
Das heisst, die Regulierung in der Schweiz muss
gleichwertig sein. Da können wir nicht einfach
sagen: Das kümmert uns nicht. In der Schweiz
haben wir zum Glück die Tradition, zuerst die
Prinzipien festzulegen und sie dann mit Vernunft anzuwenden. Dabei sprechen wir miteinander. Und nicht: Wir legen Regeln für jedes
Detail fest und nehmen dann einfach das Handbuch aus dem Regal.
Was ist schlecht daran, wenn durch das Finanzdienstleistungsgesetz die Anleger besser geschützt werden sollen?
Die Frage ist doch: Wen schützt man wirklich?
Wie beispielsweise beim Arbeitnehmerschutz.
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Wenn man zu sehr reguliert beim Arbeitsmarkt,
dann ist der Arbeitnehmer arbeitslos und findet
keine neue Stelle.
Wir sprechen hier vom Bankenwesen.
Das Bankenwesen funktioniert beim Anlegerschutz ähnlich. Die Bank muss unzählige Formulare ausfüllen, die besagen, dass der Kunde dieses oder jenes zur Kenntnis genommen
hat. Damit sichert sie sich letztlich bloss selber
ab. Deshalb gilt auch hier: Der Kunde ist nicht
dumm. Er trägt eine gewisse Verantwortung für
sein Verhalten. Mehr Formulare und Zertifizierungen für Berater garantieren keineswegs eine
bessere, verantwortungsvollere Dienstleistung.
Die Gesetzesänderungsvorschläge schiessen
teilweise deutlich über das Ziel hinaus.
Themenwechsel. Nach der Annahme der Masseneinwanderungs- und der Abzockerinitiative
wurde kritisiert, die direkte Demokratie schade
der Wirtschaft. Teilen Sie diese Kritik?
In Russland und in China hat man mir immer
erklärt, die direkte Demokratie überfordere die
Bürger. Im Sinne von Churchills bekanntem Zitat kann ich sagen: Die direkte Demokratie ist die
schlechteste aller Staatsformen, mit Ausnahme aller anderen, die ich kenne. Ich bin durch
das, was ich in diesen Ländern gesehen habe,
zu einem noch stärkeren Anhänger der direk-
ten Demokratie geworden. Erstens, weil bei uns
Entscheidungen breit abgestützt werden: Interessensgruppen werden dazu gebracht, sich zu
erklären, um anschliessend einen Konsens zu
finden. Zweitens, weil die Stimmbürger hierzulande nicht nur darüber abstimmen können,
welche Ausgaben sie wollen, sondern auch, wie
sie diese finanzieren. Das halte ich für ganz zentral. Vereinzelt habe ich mich aber auch schon gefragt, ob die direkte Demokratie manche Stimmbürger überfordert.
Bei einer Stimmbeteiligung von 40 Prozent zum
Beispiel?
Die Stimmbeteiligung ist nicht so entscheidend.
Jeder kann ja entscheiden, ob er abstimmen will.
Aber ich war schon sehr betroffen, als die Masseneinwanderungsinitiative angenommen wurde. Da führten durchaus berechtigte Sorgen und
Ängste dazu, dass man einem Instrument zugestimmt hat, das viele neue Probleme schafft und
uns schadet – ohne die eigentlichen Probleme zu
lösen. Ich glaube, da waren sich zumindest einige Stimmbürger nicht ganz bewusst, was das
bedeutet.
Sie sagen, die direkte Demokratie trage zum Konsens bei. Aber die Entscheide an der Urne werden
eben gerade nicht durch einen Kompromiss gefällt.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 31
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Der binäre Entscheid ist das eine. Aber schauen wir doch auch, was nachher kommt. Im Fall
der Masseneinwanderungsinitiative ist nun ein
längerer Prozess in Gang gesetzt worden, dessen genaues Ergebnis noch unklar ist. Das haben
wir der direkten Demokratie zu verdanken. Nun
hoffe ich, dass es uns gelingen wird, eine Lösung
zu finden, die es erlaubt unser Verhältnis zu Europa zu bewahren und gleichzeitig die Migrationsfrage so zu regeln, dass wieder ein Konsens
entsteht.
Dennoch: Bei solchen Volksabstimmungen kommen Emotionen hoch. Das ist Gift für die Wirtschaft.
Mit solchen Situationen muss man umgehen
können. Es ist gefährlicher, wenn sich Emotionen in politischem Extremismus entladen. In
der Schweiz führen solche Volksentscheide immer zu langen Diskussionen – und einer Konsenssuche. Initiativen müssen ja auch umgesetzt
werden. Was mich mehr beunruhigt: Diese stark
etablierte Konsenskultur ist in letzter Zeit in Bedrängnis geraten – durch die Polarisierung auf
beiden Seiten des politischen Spektrums.
Auch Referenden und Initiativen haben in den vergangenen Jahren zur Polarisierung beigetragen.
Ja. Traditionell war ja die Volksinitiative ein Instrument für Gruppen, die im parlamentarischen
Betrieb kein Gehör fanden. Heute verwenden es
Parteien immer mehr, um Wahlkampf zu betreiben. Das ist eine ungute Entwicklung. Dennoch
ist jetzt keine Panik angesagt. Nach der Massen­
einwanderungsinitiative kamen komplexe Initia­
tiven zur Abstimmung: Ecopop, Goldinitiative
und Pauschalsteuer. Wären sie angenommen
worden, wären sie alle schädlich für die Wirtschaft und für das Land gewesen – doch alle wurden deutlich abgelehnt. Das zeigt doch, dass die
direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert.
Insofern sehe ich die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative auch als ein Weckruf an
die Wirtschaft, dass etwas nicht stimmt.
Wollen Sie sagen: Die direkte Demokratie weist
die Wirtschaft in Schranken, wenn sie überschiesst?
Die direkte Demokratie definiert den Ordnungsrahmen, in dem die Wirtschaft agieren kann. Sie
32 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
definiert etwa, ob ein Unternehmen Fachkräfte
genug schnell finden kann und deshalb lieber
hier tätig ist als an einem ausländischen Standort. Wenn nicht, dann wandern eben Arbeitsplätze ins Ausland ab.
Haben wirtschaftspolitische Themen einen Einfluss auf den Wahlkampf und das Wahlergebnis?
Wirtschaftspolitische Themen sollten beim
Wahlkampf präsent sein. Und zwar nicht nur im
Sinne von Schlagwörtern, sondern weil es wirklich um ernsthafte Fragen geht. Die Schweiz ist
wirtschaftlich erfolgreich. Wir haben sehr viele
internationale Unternehmen und unsere KMU
sind eng verzahnt mit den vielen internationalen Unternehmen. Wenn ein Teil der grossen
Firmen wegzieht, dann kommt schnell Sand ins
Getriebe.
SCHWERPUNKT
Ist es erfolgsversprechend für die Parteien solche
Fragen aufzunehmen?
Ich glaube, es ist noch nicht allen genügend
bewusst, wie sehr die Frankenstärke zusammen mit der Unsicherheit über unser künftiges
Verhältnis zu Europa und der Zukunft der Unternehmensbesteuerung für den Wirtschaftsstandort Schweiz ein gefährlicher Schock sind.
Darauf müssen wir geschickt reagieren. Ich hoffe, dass die Wähler wirtschaftspolitische Themen ernst nehmen und überlegen, welche Parteien vernünftige Antworten haben. Die Schweiz
leidet in vielen Bereichen wieder unter einem
Reformstau, weil für längerfristig orientierte,
vernünftige Reformen die notwendigen soliden
politischen Mehrheiten fehlen. Die Stimmbürger
haben es in der Hand, das zu ändern.
Die Forschung zeigt aber, dass im Jahr 2011 die
Frankenstärke von den Parteien nicht in Wählerstimmen umgemünzt werden konnte.
Ich hoffe, dass die wirtschaftspolitischen Themen mehr Einfluss haben werden als bei den
letzten Wahlen. Das ist eine Chance für die Parteien. Die direkte Demokratie hat sehr viel mit
Erklären zu tun und mit der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte herunterzubrechen. Die Wirtschaft hat es in den letzten Jahren etwas verpasst, zu vermitteln, dass es nicht nur darum
geht, Abstimmungskämpfe zu gewinnen. Es geht
um das Grundverständnis: Was für die Wirtschaft gut ist, ist in einem guten Ordnungsrahmen auch für die Gesellschaft gut.
Der freie Markt steht in der Kritik bei der Bevölkerung. Das führt zu Misstrauen gegenüber der
Position der Wirtschaftsvertreter.
Es braucht glaubwürdige Wirtschaftsvertreter, die ihre Position nachvollziehbar erklären.
Es braucht auch Medien, die wirtschaftspolitische Zusammenhänge aufzeigen, analysieren
und kommentieren. Es braucht hoffentlich die
NZZ (lächelt). Wenn ich die Länder in Europa
und die Schwellenländer mit der Schweiz vergleiche, ist das Verständnis der Bevölkerung
für wirtschaftliche Zusammenhänge bei uns
deutlich grösser. Ich glaube, das verdanken wir
der direkten Demokratie. Insofern bin ich nicht
so pessimistisch. Es gibt einen Grundkonsens,
dass eine marktwirtschaftliche liberale Grundordnung der Schweiz zu ihrem Erfolg verholfen
hat. Wir haben einen attraktiven Standort. Die
Schweiz ist politisch stabil, verlässlich und solide, manchmal sind wir halt etwas langweilig
und langsam.
Wie steht es um die Verfilzung in unserem Land?
Ich habe lange in grossen Ländern gearbeitet
und bin deshalb überzeugt: «small is beautiful».
Man kennt sich, kommt regelmässig zusammen,
muss sich immer wieder begegnen und mit den Argumenten des
anderen auseinandersetzen. Das
«Die stark etablierte
bedeutet, dass man immer wieKonsenskultur ist in
der den Konsens suchen muss.
Es ist wichtig, dass die Politiker
letzter Zeit in Bedrängdie Anliegen der Wirtschaft vernis geraten – durch
stehen. Und deswegen ist es auch
die Polarisierung auf
wichtig, dass Interessenvertreter
beiden Seiten des poliden Politikern das erklären.
tischen Spektrums.»
Sie halten wenig von der Kritik am
Lobbyismus …
Ich glaube nicht, dass Politiker in der Schweiz
gekauft werden können. Aber es ist manchmal
ein Problem, dass die Politik die Wirtschaft und
die Probleme eines Unternehmers nicht mehr
versteht und umgekehrt. Deshalb wäre es mir
eigentlich lieber, wenn es wieder mehr Durchlässigkeit zwischen Politik und Wirtschaft gäbe,
und etwas weniger klassische Politprofis im Parlament.
Die Chefredaktorinnen Nicole Tesar und
Susanne Blank haben das Gespräch mit
Peter A. Fischer geführt.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 33
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Kleine Parteien sind Verlierer des
föderalen Wahlsystems
Das Wahlsystem in der Schweiz ist nicht perfekt: In kleinen Kantonen gehen Kleinparteien
bei Nationalratswahlen oft leer aus. Eine Reform des Wahlsystems könnte dies ändern. Der
Preis dafür ist aber hoch. Adrian Vatter
Abstract Wahlsysteme bevorzugen – oder benachteiligen – einzelne Parteien. Untersuchungen zum Schweizer Wahlsystem zeigen: Die Wahlkreisgrösse übt den stärksten
Effekt auf die Umwandlung von Stimmen in Mandate aus. Während bei Nationalratswahlen besonders die mittleren und grossen Volksparteien von den kleinen kantonalen Wahlkreisen mit hohen Eintrittsschwellen profitieren, gehören kleinere Parteien
zu den Verlierern des föderalen Wahlsystems. Aus den Listenverbindungen ziehen vor
allem die Mitteparteien den grössten Nutzen. Die grosse Offenheit des schweizerischen Wahlsystems wirkt sich für die (rechts)bürgerlichen Parteien hingegen negativ
aus. Die Einführung eines biproportionalen Wahlverfahrens würde insbesondere in
den kleinen Kantonen zu einer besseren Repräsentation der Wähler führen. Für eine
allfällige Reform des Wahlsystems müssten allerdings potenzielle Nachteile in Kauf
genommen werden: So könnte eine weitere Parteienzersplitterung zu mehr Instabilität führen.
W ahlsysteme prägen entscheidend den Charakter eines politischen Systems.1 Durch
sie werden die politischen Präferenzen der Wähler in Mandate für die Repräsentationsorgane wie
den Nationalrat übersetzt. Die Gestaltung des
Wahlsystems ist damit auch immer eine zentrale
Machtfrage, die darüber entscheidet, welche politischen Gruppierungen die Parlamentsmehrheit
stellen und welche in der Minderheit sind.2 Der
Artikel sucht nach Antworten auf folgende Fragen: Wie wirkt sich das schweizerische Wahlsystem auf den Erfolg der Parteien bei den Nationalratswahlen aus? Ist eine Systemreform angezeigt?
Die institutionellen Grundlagen des
Wahlsystems für den Nationalrat
Bei den alle vier Jahre stattfindenden Nationalratswahlen gilt das Proporzwahlsystem. Die
Mandatszahl einer Partei richtet sich im Grundsatz nach dem prozentualen Stimmenanteil.
34 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
1 Der Beitrag bildet einen
gekürzten Vorabdruck
des gleichnamigen
Kapitels aus dem Buch
«Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz»
(Markus Freitag und
Adrian Vatter, Hg.),
welches anlässlich
der eidgenössischen
Wahlen im Sommer
2015 beim NZZ-Verlag
erscheint.
2 Nohlen (2009), S. 68.
3 Vatter (2014).
4 Blais und Massicotte
(1996).
Damit werden nicht direkt Kandidaten gewählt,
sondern in erster Linie die Parteien. Ausdruck
des stark föderalen Charakters des Wahlsystems
ist der Grundsatz: Jeder Kanton bildet einen eigenen Wahlkreis und erhält mindestens einen der
insgesamt 200 Sitze. Die Mandate werden unter
den Kantonen im Verhältnis zu ihrer gesamten
Wohnbevölkerung verteilt. Die Stimmenverrechnung erfolgt nach dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren; einem Wahlzahlverfahren, welches einen möglichst exakten Proporz anstrebt.3
Ein weiteres wichtiges Element ist die Einzelstimmenkonkurrenz, bei der der Wähler so viele
Einzelstimmen hat, wie in seinem Wahlkreis
Nationalratssitze zu vergeben sind. Die Stimme
für einen Kandidaten ist dabei zunächst eine
Stimme für die Parteiliste, die den Kandidaten
aufführt. Die Einzelstimmenkonkurrenz räumt
den Wählern in Kombination mit den Möglichkeiten des Panaschierens, des Kumulierens und
des Streichens äusserst grosse Gestaltungsfreiheiten in der Auswahl und der Bevorzugung von
Kandidaten ein.4
Ein weiteres Merkmal ist das Instrument der
Listenverbindung. Dies ist ein Zusammenschluss
von verschiedenen Parteilisten, die bei der Mandatsverteilung wie eine einzige Liste betrachtet werden. So soll eine bessere Verwertung der
Reststimmen gewährleistet werden.
Diese Regeln haben unterschiedliche Effekte
auf die Proportionalität von Stimmen und Mandaten. Insbesondere die Wahlkreisgrösse, das
Wahlzahlverfahren und die Listenverbindungen
spielen eine Rolle.
SCHWERPUNKT
KEYSTONE
Landsgemeinde in Appenzell-Innerrhoden.
In Kantonen mit nur einem Nationalrats­
vertreter gehen Kleinparteien meist leer aus.
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Wahlkreisgrösse als Sperrklausel
Von herausragender Bedeutung für den Wahlerfolg der Parteien sind die Einteilung und die
Grösse der Wahlkreise.5 Führende Wahlforscher
bezeichnen die Wahlkreisgrösse sogar als das
wichtigste Merkmal eines Wahlsystems und weisen darauf hin, dass der Proporzeffekt primär
von der Wahlkreisgrösse abhängt.6 Die Wahlerfolgsschwelle gibt an, wie viele Wähleranteile es
braucht, damit eine Partei in einem Kanton auch
mindestens einen Sitz im Nationalrat gewinnt.
Die beträchtlichen Bevölkerungsdifferenzen
zwischen den Kantonen führen zu sehr unterschiedlich hohen Schwellen und damit auch zu
einer empfindlichen Einschränkung des Proporzwahlsystems.7 So müssen die Parteien in den
13 mittleren und kleineren Proporzkantonen, wo
weniger als zehn Mandate zu vergeben sind, für
einen Sitz theoretisch einen Stimmenanteil von
mehr als zehn Prozent erreichen. In den Kantonen Jura und Schaffhausen, wo nur zwei Sitze zu
verteilen sind, braucht es einen Drittel der Stimmen, um in den Nationalrat einzuziehen. Und
in den sechs bevölkerungsschwachen Kantonen
(Uri, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Appenzell
Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden) wird nur
ein einziges Nationalratsmandat vergeben.8 Dort
existiert faktisch ein Mehrheitswahlsystem,
denn es ist derjenige Kandidat gewählt, der die
meisten Stimmen erhält.
Damit wirkt sich die geringe Wahlkreisgrösse
in den kleinen Kantonen wie eine hohe Sperrklausel aus, und die Anteile der erhaltenen Sitze weichen von denjenigen der Stimmen oft beträchtlich ab. Anders sieht es in den sieben grössten
Kantonen aus, wo die Wähler- und Sitzanteile
annähernd übereinstimmen. So brauchte es bei
den eidgenössischen Wahlen von 2011 im Kanton
Zürich mit 34 Sitzen weniger als drei Prozent der
Stimmen, um einen Nationalratssitz zu gewinnen.
Im Kanton Bern sind bei den Nationalratswahlen
2015 fast vier Prozent Stimmen für ein Vollmandat notwendig. In der Praxis ist die Wahlerfolgsschwelle, bedingt durch Restmandatsverteilungen und Listenverbindungen, aber niedriger.
Grüne und EVP verlieren am meisten
5 Nohlen (2009), S. 86.
6 Anckar (1997); Gallagher
(1991); Lijphart (1994);
Taagepera und Shugart
(1989).
7 Linder (2012).
8 Vatter (2014).
9 Vatter (2002, 2003).
10 Vatter (2002).
11 Seitz 1993, Seitz und
Schneider 2007).
Biproportionales Zuteilungsverfahren («doppelter Pukelsheim»)
Das biproportionale Zuteilungsverfahren
(auch als «doppelter Pukelsheim» entsprechend dem Namen seines Begründers
bekannt) ist eine Methode zur Verteilung
von Parlamentsmandaten auf Parteien bei
mehreren Wahlkreisen in Proporzwahlen. In
den letzten Jahren wurde das Verfahren in
mehreren Kantonen (z. B. Zürich, Schaffhausen, Aargau) eingeführt. Denn die bisherige
Aufteilung in zahlreiche kleine Wahlkreise
36 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
verminderte die Chancen kleinerer Parteien
auf eine Parlamentsvertretung. Das Verfahren
will eine möglichst hohe Übereinstimmung
zwischen Wähler- und Mandatsanteilen der
Parteien gewährleisten (Erfolgswertgleichheit der Stimmen), ohne dass die bestehenden
Wahlkreise aufgehoben werden. Die «doppelte Proportionalität» bezieht sich darauf, dass
die Parteien und die Wahlkreise proportional
in der Legislative vertreten sein sollen.
Abbildung 1 zeigt die direkte Beziehung zwischen
der Wahlkreisgrösse und ihrem Proporzeffekt.
Abbildung 2 führt den Zusammenhang zwischen
der durch die Wahlkreisgrösse bedingten Wahl­
erfolgshürde und der kantonalen Parteienzahl im
Nationalrat vor Augen. Dabei wird deutlich, dass
die Wahlkreisgrösse nicht nur die Fragmentierung des Parteiensystems deutlich beeinflusst.9
Sie benachteiligt vor allem die kleinen Parteien
stark und schränkt damit den Wettbewerb zwischen den Parteien ein. Im Extremfall herrscht in
Kleinkantonen manchmal überhaupt kein Wettbewerb. Während die kleinen Kantone mit wenigen Sitzen pro Wahlkreis nur ein bis drei grosse
Parteien in den Nationalrat entsenden, sind es
in den sieben bevölkerungsreichsten Kantonen
mit grossen Wahlkreisen sechs oder mehr Parteien.10 Die Stimmenverrechnung durch das Hagenbach-Bischoff-Verfahren wirkt diesem Effekt
nicht entgegen, sondern verstärkt ihn vielmehr
noch. Denn die Berechnung bevorzugt grosse
Parteien leicht und benachteiligt die kleinen und
kleinsten dementsprechend.
Generell zeigt sich: Je höher die Wahlerfolgsschwelle ist, umso ungleicher sind die Chancen
unter den Parteien verteilt, Mandate zu gewinnen.
Während nämlich die grossen Volksparteien wie
die FDP, die CVP und die SP, aber auch Parteien mit
lokalen Hochburgen – wie lange Zeit die Liberalen
in der Westschweiz oder die SVP in der Deutschschweiz – von einer hohen Eintrittsschwelle profitieren, gehören kleinere Parteien wie etwa die
Grünen oder die EVP zu den Verlierern.11
Rot-grünes Lager profitiert
von Listenverbindungen
Dieser Ungleichheit können Listenverbindungen
entgegenwirken: Der Zusammenschluss kleinerer Parteien zu einem Bündnis soll vor allem verhindern, dass ihre Stimmen verloren gehen.
Abb. 1: Wahlkreisgrösse und Anzahl Parteien im
Nationalrat (Wahlen 2011)
Abb. 2: Wahlkreisgrösse und Erfolgshürde bei den
Nationalratswahlen 2011
Anzahl Parteien im Nationalrat
Wahlerfolgshürde (in % der Stimmen)
8
50
7
40
6
5
30
4
20
3
2
10
1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
10
11
12
Wahlkreisgrösse (Anzahl Nationalratssitze)
15
18
26
0
34
Mittelwert
1
2
3
4
5
6
7
8
Wahlkreisgrösse (Anzahl Nationalratssitze)
10
11
12
15
18
26
34
benötigte Stimmen
Lesebeispiel: In einem Kanton mit nur einem Nationalratssitz beträgt
die Erfolgshürde 50% der Stimmen.
Lesebeispiel: Bei einem Kanton mit 7 Mandaten verteilen sich die
Nationalratssitze auf über 4 Parteien.
BERECHNUNGEN VATTER AUF BASIS DES BUNDESAMTES FÜR STATISTIK (2012) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Abb. 3: Sitzgewinne und -verluste der Parteien durch Listenverbindungen bei den Nationalratswahlen 1995–2011
Anzahl Sitze
+4
+3
+2
+1
0
–1
–2
–3
–4
–5
–6
–7
–8
1995
SVP
GLP
1999
FDP
SPS
CVP
2003
2007
2011
Grüne
DARSTELLUNG VATTER AUF DER GRUNDLAGE VON BOCHSLER (2010) UND BOCHSLER UND ALPIGER (2011) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
KEYSTONE
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Die Ergebnisse der Nationalratswahlen der
letzten Jahre machen deutlich, dass der Einsatz
von Listenverbindungen bedeutsam für den Wahl­
erfolg der Parteien ist, wobei diese ganz unterschiedlich davon profitieren (siehe Abbildung 3).
Das rot-grüne Lager nutzt dieses Instrument seit
Längerem konsequent und hat damit im Durchschnitt pro Legislaturperiode rund fünf Sitze allein der Möglichkeit von Listenverbindungen zu
verdanken. Das zeugt aber nicht alleine von beträchtlichem wahltaktischem Bündnisgeschick,
sondern hängt einerseits mit der starken parteipolitischen Zersplitterung des rot-grünen Lagers,
andererseits aber auch mit der gleichzeitigen politischen Geschlossenheit aufgrund hoher ideologischer Gemeinsamkeiten zusammen.12
Grundsätzlich gilt: Innerhalb einer Listenverbindung profitiert jeweils die grösste Partei der
Allianz, während aus Unterlistenverbindungen
besonders Kleinparteien Nutzen ziehen. Im Weiteren fördern Listenverbindungen sogenannte
Splitlisten innerhalb der Parteien, um verschiedene Wählersegmente – wie Junge, Senioren,
Frauen – innerhalb einer Partei anzusprechen,
was zusätzlich die Kandidatenselektion in den
Parteien proportionalisiert.13 Umgekehrt gehen
die Sitzgewinne aus Listenverbindungen in der
Regel auf Kosten derjenigen grossen Parteien,
die alleine antreten. Dies gilt insbesondere für
die (rechts-)bürgerlichen Parteien, die politisch
zwar deutlich heterogener, gleichzeitig aber par-
38 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Grünen-Politikerinnen
Maja Graf (BL, Mitte)
und Franziska Teuscher
(BE, rechts) an einer
Wahlveranstaltung im
September 2011. Die
Grünen scheitern in
Kleinkantonen oft am
Wahlsystem.
teipolitisch weniger fragmentiert sind als die
links-grünen Gruppierungen.
Insgesamt stärkt die freie Listenform mit
der Möglichkeit der Listenverbindung zwischen
ideologisch einander nahestehenden Parteien
die Partizipations- und Inklusionsfunktion des
Wahlsystems im Sinne der ausgebauten Möglichkeiten für die Wählenden, ihre Präferenzen
im Idealfall möglichst genau auszudrücken.14
Gleichzeitig schwächen diese Instrumente aber
die Stellung, die Geschlossenheit und die Rolle der Parteien im politischen System, da nicht
mehr sie alleine über die gewählte Reihenfolge
der Kandidaten entscheiden können.
Der Repräsentationseffekt des
Schweizer Wahlsystems: Ist es Zeit
für eine Revision?
12 Bochsler (2010).
13 Ebd.
14 Blais und Massicotte
(1996); Nohlen (2009).
15 Bochsler (2005);
Bundeskanzlei (2013);
Linder et al. (2011).
16 Pukelsheim (2014);
Pukelsheim und Schuhmacher (2004).
Der Anspruch eines proportionalen Wahlsystems
ist die möglichst präzise Übersetzung von Wählerstimmen- in Mandatsanteile. Dieser Repräsentationseffekt wird durch die Möglichkeit der Listenverbindungen insgesamt optimiert. Die föderale
Wahlkreiseinteilung mit den zahlreichen kleinen
Kantonen in Kombination mit dem Hagenbach-Bischof-Verfahren mindert hingegen diesen Effekt,
was vor allem zulasten kleiner Parteien geht.
Wahlsystemanpassungen in den Kantonen
Zürich, Aargau, Schaffhausen, Nidwalden und
Zug haben in jüngster Zeit zu einer öffentlichen
SCHWERPUNKT
Diskussion, parlamentarischen Vorstössen und
einer breit abgestützten Abklärungsstudie der
Bundeskanzlei über das geeignetste Wahlsystem geführt.15 Das in den Kantonen eingeführte biproportionale Wahlverfahren («doppelter
Pukelsheim», siehe Kasten) weist gegenüber dem
Hagenbach-Bischoff-Verfahren
verschiedene
Vorteile auf:16 Es führt zu mehr proportionaler Gerechtigkeit, höherer Stimmkraft- und Erfolgswertgleichheit, einer besseren Vertretung
kleinerer Parteien und einer grösseren Parteienauswahl. Auf nationaler Ebene würde dies – insbesondere bei kleineren Kantonen – ebenfalls
gelten. Eine neuere Simulation von Bochsler und
Alpiger (2011) zeigt: Bei der Anwendung des «doppelten Pukelsheim» auf Nationalratsebene profitieren die kleinen Parteien, während die grossen
Parteien tendenziell Sitze abgeben müssen.
Zudem sprechen die zunehmende Nationalisierung von Wahlen und das Verschwinden kantonaler Parteibesonderheiten für eine weitere
Proportionalisierung des stark kantonal geprägten Wahlsystems auf nationaler Ebene. Eine Reform in Richtung eines möglichst proportionalen
Wahlsystems mit nationalem Verrechnungsverfahren – bei weiterhin kantonalen Wahlkreisen – würde zu einer verbesserten Erfüllung der
wichtigen Funktion des Verhältniswahlsystems
führen: eines möglichst präzisen Abbilds der
Wählerschaft im Parlament.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine
weitere Stärkung der Repräsentationsfunktion
durch ein entsprechendes Wahlverfahren nicht
gleichzeitig eine weitere Parteienzersplitterung,
eine Schwächung der gemässigten Mitteparteien und eine zunehmende Instabilität der Regierungsbildung durch das Parlament begünstigt.
Dies würde eine andere und für die Schweiz zunehmend wichtige Kernfunktion von Wahlsystemen schwächen, nämlich die regierungsbildende
Konzentrationsfunktion. Aufgrund des bisher
praktizierten Verbots von Listenverbindungen
beim doppelt proportionalen Verrechnungsverfahren würde zudem die Partizipationsfunktion
reduziert.
Nicht übersehen sollte man bei all diesen
Überlegungen: Das Schweizer Wahlsystem gehört im internationalen Vergleich zu den gerechtesten, was die Proportionalität von Stimmen
und Mandaten betrifft.
Adrian Vatter
Professor (Ordinarius) für Politikwissenschaft und Direktor am Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern.
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Die Volkswirtschaft 5 / 2015 39
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Wirtschaftslage beeinflusst Wahlen
in der Schweiz kaum
In der Schweiz hat die Wirtschaftslage die Wahlen in den letzten 20 Jahren nur minim
beeinflusst. Dies dürfte sich auch dieses Jahr nicht ändern. Georg Lutz
Abstract Die Annahme, dass wirtschaftspolitische Themen und die wirtschaftliche Lage zentral für den Wahlausgang sind, ist weit verbreitet. Allerdings sind die
wissenschaftlichen Belege dafür umstritten, und auch für die Schweiz lässt sich
kein Effekt feststellen. Zwar wird die FDP überdurchschnittlich als jene Partei
wahrgenommen, die am kompetentesten ist, wirtschaftliche Probleme zu lösen.
Dies stärkt die Liberalen allerdings nicht merklich, da viele andere Faktoren für
den Wahlentscheid wichtig sind. Zudem war die Wirtschaftslage in den letzten
20 Jahren aus Sicht der Wähler nur einmal überhaupt ein wichtiges Problem. Das
zeigen die Daten der Studie Selects aus dem Jahr 2011. Die Frankenstärke dürfte
bei den nationalen Wahlen keinen grossen Einfluss auf einzelne Parteien haben.
Denn in der Schweiz wird keine Partei mit der Lösung des Problems identifiziert.
Wie wirkt die Wirtschaft
auf die Wähler?
D Für die Wähler waren im
Herbst 2011 Immigration
und Umwelt wichtigere
Themen als die Wirtschaftslage.
Die Grundannahme über den Einfluss der Wirtschaft bei Wahlen ist einfach: Ist die wirtschaftliche Lage gut, dann nützt dies der Regierung.
Ist die wirtschaftliche Lage schlecht, dann verliert sie Stimmen. Nach dieser Lesart werden
SHUTTERSTOCK
er Leitsatz «It’s the economy, stupid», den
Bill Clintons Wahlkampfmanager 1992 im
Hauptquartier der Demokraten aufhängte, um
die Präsidentschaftskampagne fokussiert zu halten, wurde berühmt. Er ging davon aus: Die wirtschaftspolitischen Rezepte des Kandidaten sind
relevant für den Wahlerfolg.
Die Frage, wie wichtig die wirtschaftliche
Lage und wirtschaftspolitische Themen sowie
die persönliche wirtschaftliche Situation für den
Wahlausgang sind, beschäftigt Politik und Wissenschaft seit langer Zeit. Bangend schauen viele
Regierungen vor den Wahlen auf die Wirtschaftszahlen und hoffen, dass zentrale Wirtschaftsindikatoren positiv sind. Doch gibt es wirklich starke Belege für diese Zusammenhänge?
40 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Abb. 1: Das wichtigste Problem aus Wählersicht seit 1995
2011
20191710 7 5 4 4 4 3 2 6
2007
2615 1 17 6 3 74 3 82 9
3035 Befragte
1940 Befragte
20 3 1 191616 4 3 9 2 1 7
2003
2243 Befragte
1999
1318 Befragte
34 3 2 1013 6 315 8 1 1 6
9 10 5 025 3 217 16 1 0 13
1995
Ausländerfragen haben die Wähler bei den letzten vier Urnengängen am stärksten beschäftigt.
100% = alle Nennungen eines Wahlgangs.
Regierungen für die wirtschaftliche Situation
verantwortlich gemacht. Die Prämisse über die
Zentralität der Wirtschaftslage ist in Politik und
Wissenschaft weit verbreitet. In jüngster Zeit
haben neue Forschungsergebnisse jedoch Zweifel daran aufkommen lassen. Unklar ist auch, ob
dieser Effekt in der Schweiz erkennbar ist.
Wie die wirtschaftliche Situation die Wahlen
beeinflusst, ist komplexer, als es auf den ersten
Blick scheint. Erstens stellt sich die Frage, welche Wirtschaftsindikatoren überhaupt relevant
sind und wahrgenommen werden: Ist das Wirtschaftswachstum (bzw. eine wirtschaftliche Rezession), die Arbeitslosigkeit oder die Inflation
entscheidend?
Zweitens ist zu klären, ob eher die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage in der Vergangenheit oder die Erwartung für die Zukunft entscheidend ist. Und entsprechend: Wer wird dafür
verantwortlich gemacht? Wie überzeugend sind
die Antworten der politischen Akteure auf die
wirtschaftlichen Herausforderungen?
Drittens ist unklar, ob für die Wähler die objektive wirtschaftliche Situation wichtig ist; oder
ob ihre subjektive Wahrnehmung – die durchaus
von der objektiven Situation abweichen kann –
den Ausschlag gibt. Und schliesslich ist viertens
re
de
An
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Be
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2841 Befragte
SELECTS (2011), SHUTTERSTOCK
zu klären: Schauen Wähler vor allem auf die generelle ökonomische Entwicklung, oder ist ihre
persönliche wirtschaftliche Situation wichtig,
Hinzu kommt, dass viele andere Themen und
Faktoren einen Wahlentscheid beeinflussen und
der Einfluss deshalb in jedem Fall limitiert ist.
Bei dieser Komplexität ist es nicht erstaunlich,
dass die Forschung keine eindeutigen Ergebnisse
über den Zusammenhang zwischen Wirtschaft
und Wahlverhalten liefert. Die empirischen Befunde sind instabil und inkonsistent: Während
in einigen Ländern ein Zusammenhang erkennbar ist, gibt es viele Wahlen und Länder, in denen
ein solcher fehlt. Dies lässt einzig den Schluss
zu: Die wirtschaftliche Lage beeinflusst Wahlen
selektiv und situativ.
Wirtschaftslage selten entscheidend
Die Vermutung eines situativen und eher geringen Einflusses lässt sich auch auf die Schweiz
übertragen. Die Wirtschaftslage ist selten ein
zentrales Problem für die Wählerschaft, womit
eine Grundbedingung für die Wirkungskette
schon mal nicht erfüllt ist. Bei den Wahlen in der
Schweiz gibt es eine ausgeprägte Themenkonjunktur.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 41
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Abb. 2: Kompetenteste Partei, wirtschaftliche Probleme zu lösen –
aus Wählersicht
SVP
10%
FDP
32%
BDP
7%
CVP
7%
GLP
6%
SP
17%
Grüne
1%
Andere
21%
SELECTS (2011) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Partei (in % aller Parteinennungen), die am kompetentesten ist, das wichtigste Problem zu lösen,
wenn «Wirtschaft» genannt wurde. (N=552)
1 Sämtliche Auswertungen basieren auf den
Daten der Wahlstudie
Selects (www.selects.
ch). In den Analysen
sind jeweils nur die
Wählenden einbezogen.
42 Abbildung 1 zeigt, welche Themen von 1995
bis 2011 von den Wählerinnen und Wählern als
wichtigstes Problem wahrgenommen wurden1:
Die Wirtschaft war im untersuchten Zeitraum
aus Sicht der Wähler einzig im Jahr 2011 ein
wichtiges Thema. Damals befand sich Europa in
einer Finanzkrise, und der Franken wurde immer
stärker, worauf die Nationalbank einen Mindestkurs festsetzte.
Zwar wurden im Beobachtungszeitraum verwandte Themen wie Finanzen und Steuern, der
Arbeitsmarkt oder die Sozialwerke ebenfalls genannt, jedoch waren andere Themen – wie etwa
Migration oder Umwelt – oft wichtiger.
Die gängige Theorie ist zudem nur beschränkt
auf das Schweizer Konkordanzsystem übertragbar, da sie davon ausgeht, dass die wirtschaftliche Situation vor allem einen Einfluss auf die
Regierungs- und Oppositionsparteien hat. Diese
Überlegungen funktionieren hier nur schlecht,
da es kein Regierungs-/Oppositionssystem gibt,
sondern die grossen Parteien seit vielen Jahren in
die Regierung eingebunden sind und damit klare
Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Verantwortlichkeiten für positive und negative
Entwicklungen fehlen. In der Schweiz ist somit
unklar, welche Parteien überhaupt für die Wirtschaftsentwicklung verantwortlich sind.
FDP kann Wirtschaftskompetenz
nur begrenzt in Stimmen umsetzen
Trotzdem ist es möglich, dass wirtschaftliche
Themen einer Partei mehr nutzen als anderen.
Die Parteien haben dies erkannt und richten ihre
Kampagnen systematisch darauf aus. Zudem lancieren sie Initiativen und ergreifen Referenden,
um ihre Themenführerschaft zu untermauern –
was ihnen auch gelingt. Das Feld ist in der Schweizer Parteienlandschaft klar abgesteckt: Sozialpolitik ist das Kernthema der SP, Umweltpolitik jenes
der Grünliberalen und der Grünen; Migration jenes der SVP. Bei der Wirtschaft dominiert die FDP.
Sie wird am ehesten als Partei wahrgenommen,
welche dieses «Problem» am besten lösen kann.
Von den Befragten, die 2011 gesagt hatten, die
Wirtschaft sei das wichtigste oder zweitwichtigste
SCHWERPUNKT
ISTOCK
Menschen in einem
Einkaufszentrum. Die
Wirtschaftslage in
der Schweiz dürfte im
Herbst einen relativ
geringen Einfluss auf
den Wahlentscheid
haben.
«Problem» in der Schweiz, gaben 32% an, die FDP
habe dazu die besten Lösungen parat. 17% nannten die SP und nur 10% die SVP (siehe Abbildung 2).
Allerdings konnte die FDP ihre Themenkompetenz nur beschränkt in Wählerstimmen umsetzen. Schaut man, welche Partei diese Befragten effektiv gewählt haben, dann liegt die FDP nur noch
leicht über ihrem tatsächlichen Wähleranteil.
Die subjektive Wahrnehmung
der Wirtschaftslage
Die Verantwortung für den Konjunkturverlauf
einer bestimmten Partei zuzuschreiben, ist objektiv zwar schwierig. Dennoch ist es möglich,
dass bestimmte Parteien von der subjektiven
Wahrnehmung der Wähler profitieren.
Im Rahmen der Wahlstudie Selects wurden
2011 nach den Wahlen sämtliche Personen gefragt, wie sie die wirtschaftliche Lage in der
Schweiz beurteilen und ob sie der Meinung sind,
die wirtschaftliche Lage habe sich verschlechtert
oder verbessert. Die Sicht auf die Wirtschaft war
damals weitgehend optimistisch. 64% jener, die
sich an den Wahlen beteiligten, meinten 2011, es
gehe der Wirtschaft gut oder sehr gut, und nur
8% gaben an, der Wirtschaft gehe es schlecht
oder sehr schlecht. Allerdings beurteilte auch
etwas über die Hälfte der Wählenden (53%),
dass sich die wirtschaftliche Lage in den letzten
zwölf Monaten verschlechtert habe, und nur 6%
meinten, es habe eine Verbesserung gegeben: Die
Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa wurde also in der Schweiz durchaus als bedrohlich
wahrgenommen.
Dies hatte allerdings keinen messbaren Einfluss auf den Wahlentscheid. Korreliert man die
Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage mit
dem effektiven Wahlverhalten, so sind keine
signifikanten Unterschiede zwischen den Parteien feststellbar. Oder in anderen Worten: Wer
die wirtschaftliche Lage als gut und besser einschätzte, wählte nicht systematisch andere Parteien als jene, welche die wirtschaftliche Lage als
schlecht und schlechter beurteilten (siehe Abbildungen 3 und 4).
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 43
WIRTSCHAFT UND POLITIK
8
8
18
6
«gut oder sehr gut»
(64% der befragten
Wähler)
SVP
GLP
4
12 5
«weder gut noch
schlecht» (29% der
befragten Wähler)
FDP
SPS
9
8
24
20
13
5
3
«schlecht oder sehr
schlecht» (8% der
befragten Wähler)
CVP
8
Grüne
Frankenstärke dürfte sich kaum
auf Parteienwahl auswirken
Theoretisch ist es auch in der Schweiz möglich,
dass die Wirtschaft bei künftigen Wahlen einen grösseren Einfluss auf den Wahlentscheid
haben wird. Dies vor allem dann, wenn die
Schweiz plötzlich mit einem massiven Konjunktureinbruch, hohen Arbeitslosenzahlen oder
starker Inflation zu kämpfen hätte. Dies zeichnet sich vor den Wahlen im Herbst jedoch nicht
ab. Die Situation ist vergleichbar mit jener vor
vier Jahren.
Die Angst vor negativen Auswirkungen des
starken Frankens auf die Beschäftigungssituation oder die Unsicherheit für die Wirtschaft
über die Beziehungen der Schweiz zur EU sind
zwar spürbar. Allerdings ist wie 2011 nicht er-
9
26
20
18
13
4
6
8
27
21
16
12
9
9
27
Abb. 4: Wählerumfrage nach Wahlen im Herbst 2011: Wahl­
entscheid und Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung
in den vergangenen 12 Monaten (N=3231)
«verbessert» (6% der
befragten Wähler)
BDP
15
12 6
«unverändert geblieben» (41% der befragten
Wähler)
Übrige
kennbar, dass eine Partei mit dem Problem oder
mit möglichen Lösungen positiv oder negativ
identifiziert wird, und darum sind für 2015 auch
kaum Auswirkungen auf das Wahlverhalten zu
erwarten.
Georg Lutz
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne, Projektleiter der Wahlstudie Selects beim Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften FORS.
Literatur
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44 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
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18
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University Press.
6
16
12 5
«verschlechtert»
(51% der befragten
Wähler)
SELECTS (2011) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Abb. 3: Wählerumfrage nach Wahlen im Herbst 2011: Wahl­
entscheid und Einschätzung der Wirtschaftslage (N=3231)
AUFGEGRIFFEN
INTERN
«Die Volkswirtschaft» im neuen Kleid:
Wer alles mitgeschneidert hat
Christoph Bigler
Kreativlead
Christian Müller
Technische Projektleitung
Marlen von Weissenfluh
Gestaltungskonzept und Layout
Bart Podlewski,
Entwicklung (extern, liip)
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Redaktion französisch
Stefan Sonderegger
Redaktion deutsch
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Layout und App
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Co-Chefredaktorin und
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Redaktionsassistenz
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Co-Chefredaktorin und
Gesamtprojektleitung
Alina Günter
Illustration Cover
5 / 2015 | Die Volkswirtschaft
45
AUFGEGRIFFEN
Wie Ökonomen die Politik
­weiterbringen
Wenn es um politische Beratung geht, geniesst die Ökonomenzunft manchmal einen
zweifelhaften Ruf. Wer kennt sie nicht, die zahlreichen Vorurteile über die Möglichkeiten
und Grenzen der Wirtschaftswissenschaften. Abgesehen davon, dass es auch populäre
Witze über Juristen, Ingenieure und Mathematiker gibt, muss sich die Ökonomie nicht
scheuen, für ihre wissenschaftliche Disziplin politische Relevanz zu beanspruchen. Die
ökonomische Politikberatung geniesst denn auch einen hohen Stellenwert und wird rege
nachgefragt. Was darf von ihr als Beitrag zu einer «guten» Wirtschaftspolitik erwartet
werden – und was nicht?
Beratung als Resultat von Nachfrage und Angebot
Die Entwicklung einer Volkswirtschaft hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger. Dementsprechend haben politische Akteure den Anspruch, die Komplexität gesamtwirtschaftlicher Prozesse besser zu verstehen. Politische
Führungspersönlichkeiten suchen zudem typischerweise das Primat der Politik über
Marktprozesse. Dieses Anliegen ist nicht unumstritten, da verbreitete Bedürfnisse der
Menschen über kurz oder lang immer auf Marktangebote – im Sinne freiwilliger Tauschhandlungen – treffen. In der Folge bekräftigen Politiker aber umso mehr den Willen,
Marktentwicklung durch «gute» Staatseingriffe in politisch genehme Bahnen zu lenken.
Die Nachfrage nach Politikberatung findet auch in der Schweiz ein vielfältiges Angebot.
Ob Forschungsinstitute an den Hochschulen, Fachhochschulen, Thinktanks oder private
Beratungsunternehmen: Der Markt an politischer Beratung ist in unserem kleinen Land
eng abgesteckt, aber diversifiziert. Verschiedene Bedürfnisse der Beratung können so
durch unterschiedlich spezialisierte Anbieter abgedeckt werden. Auch in der Bundesverwaltung üben Ökonominnen und Ökonomen eine Rolle der ökonomischen Beratung aus.
Komplexe Volkswirtschaft – kein einfacher Rat
In der Literatur über ökonomische Politikberatung wird seit Jahrzehnten das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Anspruch der Beratertätigkeit und der Zweckmässigkeit für den politischen Alltag debattiert. Ökonomen betonen zu Recht die Bedeutung
der evidenzbasierten, empirisch abgestützten Beratung. Dies ist in der Abgrenzung zum
46 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Lobbyismus, bei dem es um die Vertretung von Partikularinteressen geht, eine zentrale
Ambition. Politiker wünschen sich demgegenüber eindeutige Resultate und klare Handlungsanweisungen; «Einerseits/anderseits»-Aussagen gehören nicht zu ihren beliebtesten
Erkenntnissen.
Zwischen diesen Ansprüchen kann es Spannungsfelder geben. Die Ökonomie ist keine
exakte Wissenschaft und ist deshalb bei der Suche nach einer unumstösslichen Wahrheit nicht dienlich. Sie kann es auch nicht wollen, da es in einer komplexen (Wirtschafts-)
Welt die absolute Wahrheit nicht gibt. Dennoch sind die Wirtschaftswissenschaften als
Grundlage wirtschaftspolitischer Entscheidfindung jeder anderen Disziplin der Geisteswissenschaften überlegen, weil sie konsequent auf theoretische Grundlagen und empirische Methoden setzen.
Politikberatung kann Handlungsoptionen vor allem dann hilfreich aufzeigen, wenn die
politischen Entscheidungsträger in realistischen Zeithorizonten denken und Einblicke in
die Determinanten der langfristigen Entwicklung der Gesamtwirtschaft oder von Teilen
davon suchen. Denn auch die beste Politik kann die Wirtschaft nicht innerhalb von Monaten beeinflussen oder wissen, welches die treibenden (Markt-)Kräfte in zehn Jahren sind.
Es gibt Rezepte gegen die Frankenstärke
Dies erklärt auch, warum es mit Blick auf die aktuelle Frankenstärke kein einfaches Unterfangen ist, wirtschaftspolitische Massnahmen zur Kompensation der produktionsverteuernden Währungsaufwertung zu formulieren. Natürlich ist es vorstellbar, per Dekret die
Unternehmen sofort von der Steuerpflicht auszunehmen; dies dürfte aber politisch wenig
realistisch sein. Zielführender ist etwa eine glaubwürdige Verpflichtung, mittel- und langfristig eine Unternehmenssteuerreform III umzusetzen, welche die Steuerattraktivität der
Schweiz im nächsten Jahrzehnt trotz Verzicht auf kantonale Steuerstatus aufrechterhält.
Ökonomen haben dieser Tage also durchaus klare Vorstellungen von prioritären Massnahmen zur Abfederung der Frankenstärke. Hingegen darf die Politik nicht erwarten,
dass die Ratschläge in Massnahmen münden, welche den Unternehmen innert Monatsfrist eine wirksame Entlastung zur Frankenaufwertung in Aussicht stellen.
Ökonomisch fundierte Beratung hat auch in der öffentlichen Verwaltung eine wichtige
Bedeutung. In diesem Umfeld ist es besonders wichtig, Empfehlungen auf transparente,
nachvollziehbare wissenschaftliche Grundlagen abzustützen. Es müssen Vor- und Nachteile politischer Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen offengelegt werden. Was kurzfristig
politisch opportun scheint, kann ökonomisch langfristig schädlich sein – und umgekehrt.
Die theorie- und evidenzgeleiteten Entscheidungsgrundlagen müssen in der Wirtschaftspolitik differenziert erläutert an die politischen Entscheidungsträger herangetragen werden. Es braucht Rückgrat, erklären zu können: Nicht für jedes erkannte politische Problem
gibt es einen Königsweg ohne Fallstricke.
Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
[email protected]
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 47
DIE STUDIE
Schweizerische Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik
Société suisse d’économie et de statistique
Società svizzera di economia e di statistica
Swiss Society of Economics and Statistics
Bildungsrenditen: Wer profitiert in
der Schweiz am meisten von einem
Universitätsabschluss?
Bisherige Studien gingen von der Hypothese aus, dass die Rendite von Universitätsabschlüssen
gleich für alle sei. Das scheint aber zu pauschal. Denn die Einkommen variieren je nach familiärem
Umfeld. Die Resultate der vorliegenden Studie können deshalb für die Bildungspolitik wichtige
Anhaltspunkte liefern. Lionel Perini
Abstract Die aktuelle Literatur zur privaten Bildungsrendite befasst sich mit der Diversität
der Populationen, der Einkommensheterogenität und der Selbstselektion beim Studium. Die
vorliegende Arbeit will in Erfahrung bringen, inwieweit die Bildungsrendite eines Universitätsabschlusses in der Schweiz von der Wahrscheinlichkeit abhängt, dass eine Person aufgrund
ihrer familiären Herkunft eine solche Ausbildung abschliesst. Ein Matching-Modell, das Daten
aus dem Schweizer Haushalt-Panel mit Daten zur Wahrscheinlichkeit einer Universitätsausbildung kombiniert, zeigt nach Bereinigung der Arbeitsmarktvariablen: Personen mit geringen
Wahrscheinlichkeitsraten profitieren stärker als die übrigen von einem Uni-Abschluss. Bei den
Frauen ist die Verteilung homogener als bei den Männern. Dies weist darauf hin, dass in der
Schweiz die Renditemöglichkeiten eines Uni-Abschlusses für Männer aus benachteiligten Familien grösser sind als für solche aus wohlhabenderen Verhältnissen. Dieses Ergebnis steht im
Widerspruch zur Hypothese der komparativen Vorteile. Eine Hilfsanalyse mit einem Quantil-­
Regressionsmodell, die den Schwerpunkt auf die Beziehungen zwischen Bildungsrendite und
angeborenen Fähigkeiten legt, führt zu ähnlichen Schlussfolgerungen.
Z ur Bestimmung der privaten Bildungsrendite wird üblicherweise gemessen,
wie sich ein Jahr zusätzliche Ausbildung auf
den späteren Lohn auswirkt.1 Weil jedoch
viele Studierende ihre Ausbildung nicht
im vorgesehenen Zeitraum abschliessen
und gewisse Diplome («Credentials») keine
einheitlichen Renditen aufweisen, können
Berechnungen aufgrund der Anzahl Ausbildungsjahre irreführend sein. In den meisten
Arbeiten wird die Rendite nach Ausbildungsstufe betrachtet2. Hingegen stellen nur wenige Studien die Frage, ob die Bildungsrenditen innerhalb einer Stufe variieren, d. h. von
Person zu Person verschieden sind.
1 Die private Bildungsrendite bezieht sich auf den Lohn.
Andere Aspekte sind die gesellschaftliche oder die
steuerliche Rendite. Für weitere Einzelheiten zu diesem
Thema siehe Weber und Wolter (2005).
2 Psacharopoulos und Patrinos (2004), Wolter und Weber(2005).
48 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Uneinheitliche Renditen
der universitären Ausbildung
Anerkannte Arbeiten aus dem Bereich der
Bildungsökonomie kommen zu dem Schluss:
Bei der Entscheidung für oder gegen den Besuch einer nächsthöheren Ausbildungsstufe
ist der danach zu erwartende Lohn massgebend.3 Einen Einfluss auf den Lohn haben
aber auch Faktoren wie die angeborenen
Fähigkeiten und die Situation der Eltern. Gemäss dem Prinzip der komparativen Vorteile
wählen sogenannt privilegierte Personen
(d. h. solche mit guten kognitiven Fähigkeiten oder Eltern mit hohem Bildungsniveau,
finanziellem Wohlstand oder gesellschaftlichem Ansehen) die längsten Ausbildungen,
3 Becker (1964), Willis und Rosen (1979), Willis (1986), Card
(1999, 2001).
die auf dem Arbeitsmarkt die höchsten Renditen einbringen.4
Gewisse Studien liessen jedoch Zweifel
daran aufkommen, Bildungsentscheidungen aufgrund rationaler Kriterien getroffen
werden. Betroffene entscheiden demnach
nicht allein aufgrund finanzieller Kriterien,
sondern auch aufgrund ihrer Kultur, ihres
Umfelds oder anderer Gegebenheiten.5 Ausserdem ist es auch möglich, dass Jugendliche aus weniger privilegierten Verhältnissen ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status verbessern wollen. Ein
Universitätsabschluss ermöglicht es ihnen
unter gewissen Umständen, ihre Chancen
auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu privilegierteren Personen, die auch ohne gleichwertige Ausbildung Zugang zu qualifizierten Stellen haben können, zu verbessern.
Die bisherigen Arbeiten zu dieser Frage haben noch zu keinem Konsens geführt6. (siehe Kasten 1)
Ziele der Studie
Das Ziel der vorliegenden Studie besteht
darin, die Rendite eines Universitätsabschlusses in der Schweiz zu schätzen.
Dazu wurden die Studierenden in Gruppen
eingeteilt, die auf der Wahrscheinlichkeit
beruhen, mit der sie aufgrund ihrer famili4 Carneiro, Heckman und Vytlacil (2003, 2007), Heckman,
Urzua und Vytlacil (2006).
5 Coleman (1988).
6 Die in diesem Artikel formulierten Gedanken entsprechen der persönlichen Meinung des Autors und
repräsentieren nicht die Position des Schweizerischen
Nationalfonds.
KEYSTONE
DIE STUDIE
Studenten an der Universität in Lugano (Symbolbild). Ein Universitätsabschluss bringt
Männern aus benachteiligten Verhältnissen tendenziell die grössten Renditen.
ären Herkunft eine Universitätsausbildung
abschliessen. Personen mit Universitätsabschluss (Bachelor, Lizenziat oder Master)
bilden die Experimentalgruppe, jene mit einer gymnasialen Maturität (die nicht mehr
in Ausbildung sind) die Kontrollgruppe.
Weshalb sich die Situation in der Schweiz
besonders gut eignet, wird im Kasten 2 besprochen.
Das eigentliche Studienziel besteht darin,
in Erfahrung zu bringen, ob der Erwerb eines
Universitätsabschlusses die sozioökonomischen Ungleichheiten im Zusammenvhang
mit der familiären Herkunft verstärkt oder
verringert. Die empirische Analyse soll somit
den Zusammenhang aufzeigen zwischen Bildungsniveau, familiärer Herkunft und Lohn
und es ermöglichen, geeignete wirtschaftspolitische Massnahmen zu treffen. Wenn
nämlich die am wenigsten privilegierten Studierenden am meisten von einer Universitätsbildung profitieren, bedeutet dies, dass
ein solcher Studienabschluss es ermöglicht,
die sozioökonomische Kluft zwischen zwei
Generationen zu verringern. Falls hingegen
ein Universitätsabschluss für die privilegiertesten Studierenden die höchste Rendite abwirft, würde dies bedeuten, dass die akademische Bildung die Chancenungleichheiten
verstärkt und ein einfacherer Zugang zu den
Universitäten insgesamt nicht unbedingt zu
Effizienzgewinnen führt.
Empirische Analyse
Die empirische Analyse basiert auf Daten
des Schweizer Haushalt-Panels, einer seit
1999 jährlich durchgeführten Umfrage bei
den Privathaushalten in der Schweiz. Diese Umfrage beinhaltet Variablen zu den
sozioökonomischen Merkmalen und zur
Nationalität der Befragten im Alter von 15
Jahren. So werden etwa Bildungsstand,
wirtschaftliche Situation, sozialer Status
oder Nationalität der Eltern aufgelistet.
Weitere Daten betreffen den Arbeitsmarkt:
Stellenwechsel im Vorjahr, Berufserfahrung
in Jahren, Beschäftigungsgrad oder Lohn.
Der gewählte methodische Ansatz ist relativ intuitiv und eignet sich ideal, um die
Rendite der Ausbildung in den verschiedenen Teilgruppen zu ermitteln. Die Methode
der mehrstufigen Schichtung («stratification-multilevel method») besteht darin, Schichten mit Personen aufgrund der
Wahrscheinlichkeit zu bilden, mit der diese
aufgrund ihrer Herkunft einen Universitätsabschluss erwerben («propensity score
matching»). Mit diesen Schichten lassen
sich Umfang und Trend der entsprechenden Bildungsrenditen messen.7
Eine logistische Regression zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer Universitätsausbildung zeigt: Der gesellschaftliche
Status der Eltern (nach der Prestige-Skala
von Treiman) hat einen signifikanten Einfluss
auf den Zugang zur Universität – sowohl bei
den Männern als auch bei den Frauen. Die
Personen wurden in drei Schichten (sowie
nach Geschlecht) gruppiert, basierend auf
der Wahrscheinlichkeit, dass sie eine universitäre Ausbildung absolvieren. Abbildung 1
zeigt, dass die am wenigsten privilegierten
Personen die höchsten Renditen erzielen
7 Diese Methode berücksichtigt die Dimension der
Längsstudie nicht. In der Stichprobe werden nur die
aktuellsten Angaben zu einer Person verwendet.
Kasten 1: Kurzer Überblick zur Literatur
Die Heterogenität der Bildungsrenditen wird im Allgemeinen mit einer
Interaktionsvariable zwischen
Ausbildung und Faktoren wie Geschlecht oder sozioökonomischen
Merkmalen der Eltern berücksichtigt.a Die Interaktion zwischen der
Ausbildung und der Wahrscheinlichkeit, eine solche Ausbildung
aufgrund der familiären Herkunft zu
absolvieren, ist der Schlüsselindikator zur Analyse der Unterschiede
bei der Ausbildungswahl. Die
Annahme, dass die Ausbildungsrenditen je nach Ausbildungswahrscheinlichkeit variieren können,
hat insbesondere zu zwei neuen
Analysemethoden geführt.
Die erste beruht auf den
Arbeiten von James Heckman
und dessen Co-Autoren, die das
Konzept des «marginal treatment
effect» entwickelt haben, das
auf Björklund und Moffitt (1987)
zurückgeht. Dieser Parameter ist
definiert als Grenzlohnsteigerung
einer Person unabhängig vom
gewählten Ausbildungsniveau, das
aufgrund der Ausbildungswahrscheinlichkeit modelliert wird.
Die meisten Studien mit diesem
Ansatz kommen zum Schluss,
dass Personen, die am ehesten ein
Universitätsstudium abschliessen,
die höchsten Renditen erzielen,
was dem Prinzip der komparativen
Vorteile entspricht.b Die Studie
von Heckman, Tobias und Vytlacil
(2001) gelangt hingegen zum
gegenteiligen Schluss, d. h., dass
eine zufällig in der Stichprobe
ausgewählte Person mit einem
Universitätsabschluss eine höhere
Rendite erzielt als die Personen,
die diese Ausbildung tatsächlich
absolvieren.
Auf der zweiten Methode
beruht die vorliegende Studie.
Bei diesem Ansatz wird die
Bildungsrendite für verschiedene
Teilpopulationen geschätzt. Deren
Einteilung erfolgt aufgrund ihrer
Wahrscheinlichkeit, einen Universitätsabschluss zu erwerben.
Tsai und Xie (2008) sowie Brand
und Xie (2010) beobachteten eine
negative Korrelation zwischen der
Wahrscheinlichkeit einer höheren
Ausbildung und der Rendite
eines solchen Abschlusses. Dies
bedeutet, dass die am wenigsten
privilegierten Personen die höchsten Renditen erzielen.
a Altonji und Dunn (1996), Schnabel
und Schnabel (2002).
b Carneiro, Heckman und Vytlacil
(2003, 2007), Heckman und Li
(2004), Heckman, Urzua und Vytlacil (2006), Chuang und Lai (2010).
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 49
DIE STUDIE
Rendite von über 30%.10 Bei den Frauen resultieren relativ homogene Werte über alle
Schichten hinweg, kein Trendkoeffizient ist
signifikant. Schliesslich ist anzumerken, dass
die Originalstudie ergänzende Analysen beinhaltet, welche die Ergebnisse der Schichtungsmethode bestätigen.
Bildungsrendite und Wahrscheinlichkeit eines Universitätsabschlusses
Männer
Heterogene Bildungsrendite
1,5
Diskussion
1
0,919
und die Männer grössere Renditen erreichen als die Frauen.8
Nur bei einer einzigen Spezifikation – bei
Männern mit Berücksichtigung der Variablen zum Arbeitsmarkt – resultiert eine signifikant negative Korrelation zwischen der Bil-
dungsrendite und der Wahrscheinlichkeit
eines Universitätsabschlusses (lineare Trendkurve).9 Mit einem Universitätsabschluss verbessern sich somit die Verdienstmöglichkeiten für Männer aus bescheidenen Verhältnissen signifikant, und es resultiert eine jährliche
Die Ergebnisse der Studie weisen darauf
hin, dass der Entscheid zugunsten einer
universitären Ausbildung in der Schweiz
nicht dem Prinzip der komparativen Vorteile folgt. Personen, bei denen die Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer familiären
Herkunft gross ist, dass sie einen solchen
Abschluss erwerben, erzielen nämlich
nicht die grössten Lohngewinne. Unter
Berücksichtigung der Berufserfahrung ist
sogar das Gegenteil der Fall, insbesondere
bei den Männern. Wenn es gelingt, Personen aus weniger privilegierten Verhältnissen für eine akademische Berufslaufbahn
zu motivieren, könnte dies somit nicht
nur die sozioökonomischen Unterschiede
zwischen den Generationen verringern,
sondern auch die Effizienz der höheren
Bildung in der Schweiz verbessern.
Somit sind Massnahmen zu fördern, die
den Zugang zur Universität erleichtern. Die
seit dem 1. März 2013 geltende Interkantonale Vereinbarung zur Harmonisierung von
Ausbildungsbeiträgen ist ein vielversprechender Schritt in diese Richtung, da sie insbesondere darauf abzielt, Ungleichheiten
beim Bildungszugang abzubauen. Gleichzeitig sollte die Chancengleichheit möglichst früh gefördert werden, beispielsweise
auf Vorschulstufe. Zu begrüssen sind daher
die kürzliche Einführung des Harmos-Konkordats (je nach Kanton obligatorischer Kindergarten ab 4 Jahren) sowie die Schaffung
8 Die jährliche durchschnittliche Rendite ohne Schichtung
beträgt 11,9% für die Männer und 6,2% für die Frauen
mit durchschnittlich vier Jahren Studium.
9 Die Korrelation ist nur signifikant, wenn bei den Lohnberechnungen die Berufserfahrung berücksichtigt wird.
10 Siehe Halvorsen und Palmquist (1980) zur Interpretation
der Koeffizienten der dichotomischen Variablen in einer
semi-logarithmischen Gleichung.
0,5
0,488
0,369
ch
ho
t ie
f
sc dur
hn c h
itt lic
h
0
Schichten der Propensity Score Analyse (nach Stufe)
Frauen
Heterogene Bildungsrendite
4
0,222
2
0,213
0,205
1
ch
ho
t ie
f
sc dur
hn c h
itt lic
h
0
PERINI / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
3
Schichten der Propensity Score Analyse (nach Stufe)
Konfidenzintervall
Bildungsrendite (nach Schicht)
Linearer Trend
Kasten 2: Rendite der universitären Bildung und Chancengleichheit in der Schweiz
Aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse kommt die Studie von Wolter
und Weber (2005) zum Schluss, dass
die universitäre Bildung mit 5,4% in
der Schweiz die geringste Rendite
abwirft. Für die Schulen der höheren
Berufsbildung und die Fachhochschulen resultieren deutlich höhere Werte
(8,7% bzw. 10,6%). Bei den Frauen
ist der Unterschied noch ausgeprägter, hier beträgt die Rendite eines
Universitätsstudiums rund 2,2%.
Dies ist insbesondere mit den hohen
50 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Opportunitätskosten einer akademischen Ausbildung in der Schweiz zu
erklären. Eine andere, von der SKBF
(2010) durchgeführte Studie bestätigt
die geringe Rentabilität des universitären Bildungswegs gegenüber anderen
Ausbildungen.
In der Schweiz gestaltet sich der Zugang zu Universitäten für Personen aus
weniger privilegierten Verhältnissen
manchmal schwierig, da sie während
ihrer Ausbildungszeit mit hohen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
institutionellen Hürden konfrontiert
sind und sie eine hohe Motivation
benötigen.a Verschiedene Beobachtungen bestätigen dies. Erstens besuchen
Personen aus einer Familie mit hohem
Bildungsstand 1,5-mal häufiger eine
akademische Tertiärausbildung.b Zweitens üben die meisten Studierenden
in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit
aus, um ihr Studium zu finanzieren, insbesondere (aber nicht nur) solche aus
Familien mit bescheidenem Einkommen, was negative Auswirkungen auf
die für die Ausbildung verfügbare Zeit
haben kann. Ausserdem ist zwar der
Anteil ausländischer Studierender auf
der Tertiärstufe mit rund 25% relativ
hoch, lediglich ein Viertel von ihnen
hat aber den Zulassungsausweis in der
Schweiz erworben.c Die genderbedingten Benachteiligungen hingegen sind
in den vergangenen Jahren zurückgegangen.d
a
b
c
d
Vellacott und Wolter (2005)
SKBF (2014)
SKBF (2010)
OECD (2013)
DIE STUDIE
zahlreicher Betreuungsplätze für Kleinkinder. Von Interesse könnten auch Ansätze
wie Bildungsgutscheine sein.
Grenzen der Studie
Die Ergebnisse der Studie sind mit Vorsicht
zu interpretieren, da die Analyse gewisse
ökonometrische Grenzen aufweist. Erstens
berücksichtigt die gewählte Methode nur
die beobachteten Variablen (Hypothese
der bedingten Unabhängigkeit), nicht aber
die nicht erhobenen Variablen, was in der
Analyse zu gewissen Verzerrungen führen
kann. Zweitens lässt sich aufgrund der
verfügbaren Daten nicht im Detail bestimmen, welche Kriterien bei Ausbildungsentscheidungen eine Rolle spielen (Motivation
für ein Studium, Unterstützung durch die
Eltern usw.) und welche kognitiven Fähigkeiten die Studierenden mitbringen (Prüfungsergebnisse). Schliesslich beschränkt
die relativ kleine Stichprobengrösse die
Aussagekraft der empirischen Analyse.
Abgesehen von diesen methodologischen Problemen müssten künftige Forschungsarbeiten die Analyse ergänzen,
indem sie das Augenmerk auf weitere
Auswirkungen eines Studiums legen, beispielsweise dessen Einfluss auf den sozialen
Status oder die Gesundheit. Ebenfalls interessant wäre eine Analyse, die zwischen verschiedenen Universitätsabschlüssen unterscheidet, z. B. Bachelor oder Master, oder
andere Ausbildungen der Tertiärstufe einbezieht (Fachhochschulen oder höhere Berufsbildung).
Lionel Perini
PhD in Economics, Wissenschaftlicher
Mitarbeiter, Abteilung Geistes- und Sozialwissenschaften, Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen
Forschung, Bern.
Die «Volkswirtschaft» und die Schweizerische Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik verbessern
den Wissenstransfer von der Forschung in die Politik:
Aktuelle wissenschaftliche Studien mit einem starken
Bezug zur schweizerischen Wirtschaftspolitik erscheinen in einer Kurzfassung in der «Volkswirtschaft».
Literatur
Ein vollständiges Literaturverzeichnis enthält der
Artikel «Who Benefits Most from University Education
in Switzerland?» in der Schweizerischen Zeitschrift
für Volkswirtschaft und Statistik, Band 150, S. 119–159,
2014, www.sjes.ch/published.php.
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2 015
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me dI e n part n e r
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 51
KONJUNKTUR
Delegierte der Nationalbank messen den
Puls der Wirtschaft in den Regionen
Nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses sind Wirtschaftsinformationen aus den Regionen
für die Nationalbank besonders wichtig. Sie signalisieren ihr erste Konjunkturtendenzen.
Attilio Zanetti, Hans-Ueli Hunziker
Abstract Die Nationalbank ist auch in den Regionen vertreten. Regelmässig tauschen sich ihre
Delegierten für regionale Wirtschaftskontakte vor Ort mit Firmenchefs aus. Als «Pulsfühler
der Wirtschaft» signalisieren sie dem Direktorium Konjunkturtendenzen: So haben gemäss
diesen Informationen die realen Umsätze im ersten Quartal 2015 stagniert. Auch die Umsatzaussichten haben sich als Folge des starken Frankens spürbar eingetrübt. Die kurzfristigen
Inflationserwartungen liegen mit –1,3% neu im negativen Bereich. Die regionale Verankerung
der Nationalbank stellt im internationalen Vergleich kein Unikum dar: Auch andere Notenbanken greifen auf lokale Vertreter zurück.
A uf die Kontaktpflege und den Informationsaustausch mit den Wirtschaftsakteuren, insbesondere mit den
Unternehmen, hat die Schweizerische
Nationalbank (SNB) schon immer grossen
Wert gelegt. Zu diesem Zweck verfügt
sie über ein Netz von acht Vertretungen
in den Regionen Genf, Waadt-Wallis, Mittelland, Zürich, Nordwestschweiz, Ostschweiz, Zentralschweiz und italienischsprachige Schweiz (siehe Abbildung 1). In
jeder dieser Regionen ist die Nationalbank
mit einem Delegierten für regionale Wirtschaftskontakte präsent.
Diese acht Delegierten haben einerseits die Aufgabe, die realwirtschaftlichen
Entwicklungen vor Ort zu beobachten,
indem sie regelmässig mit Firmenleitungen sprechen. Die aus diesen Gesprächen
gewonnenen Informationen fliessen in die
geldpolitischen Entscheide der Nationalbank ein. Sie sind zeitnah verfügbar und
liefern eine wertvolle Ergänzung zu den
modellgestützten Prognosen. Anderseits
wirken die Delegierten als Botschafter
der SNB und erläutern den lokalen Wirtschaftsakteuren und den regionalen Behörden die Geldpolitik.
und sowohl qualitativ als auch quantitativ
auszuwerten.
Pro Jahr finden vier Umfragerunden
statt, die jeweils etwa sieben Wochen dauern. Jeder Delegierte führt dabei 30 vertiefte Gespräche. Die auf diesem Weg gewonnenen Informationen stützen sich somit
pro Quartal auf 240 Gespräche aus allen
Regionen. Wichtig für den Zugang zu den
Unternehmen ist die Vertraulichkeit, mit
der die SNB die erhaltenen Informationen
behandelt.
Die Gesprächspartner wechseln jedes
Quartal, wobei die Auswahl nach vorgegebenen Kriterien wie der Anzahl der Beschäftigten pro Branche und der Grösse
der Unternehmen erfolgt. Diese Kriterien
tragen den wirtschaftlichen Eigenheiten
jeder Region Rechnung. Die Stichprobenauswahl richtet sich somit sowohl nach der
regionalen Firmenlandschaft als auch nach
der branchenmässigen Zusammensetzung
des Bruttoinlandprodukts, wobei der öffentliche Sektor und die Landwirtschaft
ausser Acht gelassen werden.
Einblick in die konkreten
Wirtschaftsabläufe
Die Gespräche haben als Ziel, einerseits
den Geschäftsgang der betreffenden Unternehmen möglichst umfassend abzuschätzen und anderseits die Aussichten mit
den entsprechenden Chancen und Risiken
aus Sicht des Unternehmens zu beurteilen.
Standardmässig angesprochene Themen
sind Umsatzentwicklung, Kapazitätsauslastung, Margenlage, Beschäftigungs- und
Investitionspläne. Im Fokus steht immer
auch die Wirkung der aktuellen monetären
Nationalbank-Vertreter tauschen sich regelmässig mit Firmenchefs aus. Die Gesprächspartner
wechseln jedes Quartal (Symbolbild).
Die Gespräche mit den Unternehmenschefs führen die Delegierten anhand eines Leitfadens. Dieses strukturierte Vorgehen erlaubt es der Nationalbank, die
Informationen aus den verschiedenen Regionen und Branchen zusammenzutragen
52 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
SHUTTERSTOCK
Gesprächspartnerauswahl
aufgrund der Wirtschaftsstruktur
KONJUNKTUR
Abb. 1: Regioneneinteilung der SNB
Genf
Mittelland
Zürich
Ostschweiz
italienischsprachige
Schweiz
Waadt-Wallis
Zentralschweiz
Nordwestschweiz
Die Nationalbank ist in acht Regionen der Schweiz mit einem Delegierten für regionale Wirtschaftskontakte präsent.
Rahmenbedingungen – wie Zinsniveau,
Kreditbedingungen und Wechselkurse –
auf die Unternehmen.
Die qualitativen Angaben werden von
den Delegierten auf einer fünfstufigen Skala zugeordnet. Die Informationen lassen
sich so quantitativ zusammenfassen und
grafisch darstellen.
Im Gegensatz zu den offiziellen Statistiken beruhen die von den Delegierten gesammelten Informationen zwar auf einer
verhältnismässig kleinen Stichprobe. Ein
wichtiger Vorteil ist aber die rasche Verfügbarkeit der Daten. Zudem unterliegen
die gewonnenen Zeitreihen keinen Revisionen. Ferner erlauben die aus den Umfragen gewonnenen Erkenntnisse einen
aufschlussreichen Quervergleich zu den
modellgestützten Konjunkturprognosen
und fördern damit die Erhärtung oder
auch die Relativierung der so erstellten
Prognosen.
In Zeiten extremer Ereignisse und Entwicklungen stossen Prognosemodelle oft
an ihre Grenzen. Und gerade dann sind
die aus Interviews gewonnenen Informationen von besonderem Wert, wie verschiedene Studien gezeigt haben (siehe
Literatur-Kasten). Mehr denn je bringt im
aktuellen Umfeld nach der Aufhebung des
Euro-Mindestkurses der direkte Dialog mit
den Wirtschaftsakteuren höchst wertvolle
Erkenntnisse über das, was in der Wirtschaft konkret abläuft.
Umsätze stagnieren im ersten
Quartal 2015
Die Ergebnisse aus den von Mitte Januar bis
Anfang März geführten Gesprächen erlauben eine erste Einschätzung der Folgen der
Aufwertung des Frankens.
Das Wachstum der realen Umsätze (nominelle Umsätze, bereinigt um Preisveränderungen) ist gemäss dieser Umfrage (wie
erwähnt wird der öffentliche Sektor nicht
berück­
sichtigt) im Berichtsquartal zum
Stillstand gekommen. Die Margenlage hat
sich bei vielen Unternehmen deutlich verschlechtert und die Firmen veranlasst, eine
Vielzahl von Gegenmassnahmen zu ergreifen.
Viele Gesprächspartner sind durch die
neue Wechselkurssituation stark gefordert
und müssen zunächst genau analysieren,
welche Auswirkungen dies für ihr Unternehmen hat. Diese Neueinschätzung der
Lage braucht Zeit, und entsprechend hat
die Unsicherheit über den weiteren Geschäftsverlauf deutlich zugenommen.
Die Aussichten für das reale Umsatzwachstum in den kommenden sechs Monaten haben sich – insbesondere in der
verarbeitenden Industrie – spürbar eingetrübt (siehe Abbildung 2). Über alle Sektoren betrachtet deuten sie aber nicht auf
eine Kontraktion hin. Die Personalbestände dürften insgesamt leicht zurückgehen.
Aufgrund der Unsicherheit rechnen die
BFS GEOSTAT / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Gesprächspartner damit, dass die Investitionsvolumen geringer als im Vorjahr ausfallen werden.
Inflationserwartungen im ersten
Quartal rückläufig
Informationen über die Inflationserwartungen sind für Zentralbanken von grosser
Bedeutung. An ihnen lässt sich ablesen,
wie gut diese Erwartungen «verankert»
sind, d. h., inwiefern sie mit dem von der
Notenbank definierten Bereich der Preisstabilität im Einklang stehen. Die Gewährleistung der Preisstabilität ist schliesslich
das Hauptziel der Geldpolitik.
Zusätzlich zur Geschäftsentwicklung
werden deshalb die Unternehmenschefs
in ihrer Rolle als allgemeine Wirtschaftsakteure regelmässig auf ihre kurz- und mittelfristigen Inflationserwartungen angesprochen. Dabei werden die Erwartungen für
die Zeit in sechs bis zwölf Monaten sowie
in drei bis fünf Jahren1 erörtert.
Die Umfrage aus dem ersten Quartal 2015
zeigt eine spürbare Korrektur der Inflationserwartungen. Die kurzfristigen Inflationserwartungen liegen neu bei –1.3%
(siehe Abbildung 3), nachdem sie sich zuvor in den letzten Jahren zwischen 0%
und 0,5% bewegt haben. Die längerfristigen Erwartungen haben sich ebenfalls
1 Die Einschätzungen über diese Frist werden erst seit
Mitte 2013 systematisch erhoben.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 53
KONJUNKTUR
aus den Unternehmergesprächen jeweils
im Quartalsheft der Nationalbank zusammengefasst (Konjunkturtendenzen).
Abb. 2: Erwartete Umsätze in den kommenden 6 Monaten, in Punkten
0,8
0,6
SNB tauscht sich mit anderen
Zentralbanken aus
0,4
0,2
20
15
20
14
20
13
20
12
20
11
20
1
0
0
Total
REGIONALE WIRTSCHAFTSKONTAKTE DER SNB / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Erwartetes Niveau verglichen mit dem Niveau zum Befragungszeitpunkt (Informationen bis
und mit Umfrage erstes Quartal 2015). Anmerkung: Die Grafik basiert auf Informationen aus den
Unternehmensgesprächen der SNB, welche einer Skala von «sehr tief» bzw. «deutlich tiefer als im
Vorjahresmonat» (zugeordneter Wert: –2) bis «sehr hoch» bzw. «deutlich höher als im Vorjahresmonat» (zugeordneter Wert: +2) zugeordnet wurden.
Abb. 3: Erwartete allgemeine Teuerungsrate, in Prozent
1
0
–1
Kurzfristig (in 6–12 Monaten)
20
15
20
14
20
13
20
12
20
11
20
1
0
–2
Langfristig (in 3–5 Jahren)
Prognosen für Konsumentenpreisindex (LIK) zum Befragungszeitpunkt
zurückgebildet, von 1,1% in den Vorquartalen auf 0,5%. Im Gegensatz zu den kurzfristigen Erwartungen bleiben sie jedoch
positiv und sind damit kompatibel mit der
SNB-Definition der Preisstabilität.
Fixpunkt vierteljährliche
­Lagebeurteilung
Als «Pulsfühler der Wirtschaft» sind
die Delegierten in der Lage, dem Direktorium der SNB besondere Entwicklungen
frühzeitig zu signalisieren. Diese Rolle
wird zusätzlich unterstützt durch den regelmässigen Austausch der Delegierten
mit einem Regionalen Wirtschaftsbeirat,
einem in jeder Region aus drei oder vier
Unternehmensleitern zusammengesetzten und vom Bankrat gewählten Gremium.
Auswertungen der Informationen aus
den Unternehmergesprächen sind Teil
der Entscheidungsgrundlagen des Direktoriums in der vierteljährlichen geldpolitischen Lagebeurteilung. Wann immer es
die aktuelle wirtschaftliche oder geldpolitische Situation erfordert, informieren die
Delegierten das Direktorium laufend über
ihre Lageeinschätzungen sowie die Rückmeldungen aus Unternehmerkreisen. Für
die Öffentlichkeit werden die Resultate
Die SNB ist bei Weitem nicht die einzige
Zentralbank, die ein regionales Kontaktnetz zur Sammlung von Konjunkturinformationen bei Firmen unterhält. Das Einholen von umfragebasierten Informationen
und die Verwendung eines Kontaktnetzes
mit Unternehmen liegen international im
Trend. So haben in den letzten Jahren weitere Notenbanken, insbesondere in den
aufstrebenden Volkswirtschaften, derartige Strukturen auf- oder weiter ausgebaut.
Bei einigen Zentralbanken – wie bei der
Bank of Canada oder der Bank of England –
hat die regionale Verankerung bereits eine
lange Tradition. Das Beige Book der US Federal Reserve Bank, das auf Umfragen der
verschiedenen Distrikt-Notenbanken beruht, ist bekanntlich auch für Finanzmarktteilnehmer eine Referenz.
Seit einigen Jahren findet ein institutionalisierter Austausch der Notenbanken, die
auf diesem Gebiet tätig sind, statt. Ziel ist
es dabei, neue Entwicklungen und Studien
zu diskutieren und sich gemeinsam an eine
Best Practice heranzutasten. Die eigene Erhebungsmethodik kritisch zu betrachten
und sie laufend zu verbessern, gehört somit
für die SNB zum festen Arbeitsbestandteil
für die Fortentwicklung dieses Instruments.
Attilio Zanetti
Dr. rer. pol., Leiter
Organisations­
einheit Konjunktur,
Schweizerische
­Nationalbank.
Hans-Ueli Hunziker
Dr. rer. pol., Koordinator Regionale
Wirtschaftskontakte, Schweizerische
Na­tionalbank.
Literatur
McCafferty, Ian, 2014. The Use of Business
Armesto, Michelle T., Ruben Hernandez-Mu- Ellis, Colin and Tim Pike, 2005. Introducing
Intelligence in Monetary Policy. External
the Agents’ Scores, Bank of England
rillo, Michael T. Owyang und Jeremy Piger,
Member of the Monetary Policy CommitQuarterly Bulletin, Winter.
2009. Measuring the Information Content
tee, Speech Given at the 5th International
of the Beige Book: A Mixed Data Sampling Martin, Monica und Cristiano Papile. 2004a,
Workshop on Central Bank Business
The Bank of Canada‘s Business Outlook
Approach, Journal of Money, Credit and
Surveys, 20 November 2014, Bank of
Survey: An Assessment, Working Paper –
Banking, Vol. 41, No. 1.
England, London.
15, Bank of Canada.
Balke, Nathan S. und D’Ann Petersen, 2002.
Müller, Christian, 2009. The Informative
How Well Does the Beige Book Reflect
Content of Qualitative Survey Data, OECD
Economic Activity? Evaluating Qualitative
Journal of Business Cycle Measurement
Information Quantitatively, Journal of
and Analysis, Vol. 2009/1.
Money, Credit and Banking, Vol. 34, No. 1,
pp 114–136.
54 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Rolnick, Arthur J., David E. Runkle und David
Fettig, 1999. The Federal Reserve’s Beige
Book: A Better Mirror Than Crystal Ball,
Federal Reserve Bank of Minneapolis, The
Region, March.
ARBEITSMARKT
Politik muss bei psychischen
Erkrankungen handeln
In der Schweiz sind psychische Erkrankungen bei Arbeitslosen und IV-Bezügern stark verbreitet. Ein OECD-Bericht zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Dazu braucht es das Engagement von
Akteuren wie Arbeitgebern, Ärzten und Lehrern. Katrin Jentzsch, Maggie Graf, Annette Hitz
Abstract Ein OECD-Bericht zeigt auf, wie die hohe Arbeitslosigkeit bei psychisch Kranken
vermindert werden kann. Insbesondere bei leichten bis mittelschweren Erkrankungen gibt es
Verbesserungspotenzial. So können eine frühzeitige Erkennung, eine rasche Unterstützung
und Behandlung einen Ausschluss aus dem Erwerbsleben verhindern. Die Handelsempfehlungen der OECD-Experten in den untersuchten Bereichen Bildung, Gesundheit, Sozialwesen und
Arbeitsmarkt zielen denn auch auf die Früherkennung ab. Arbeitgeber, Ärzte und Lehrer – aber
auch die Direktbetroffenen – müssen dafür geschult werden. Erfolgversprechend scheint zudem ein erweitertes Arztzeugnis, das nicht pauschal die Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, sondern auf die Situation der Betroffenen eingeht. Zudem müssten für Unternehmen Anreize gesetzt werden, damit sie stärker auf psychische Erkrankungen eingehen.
sychische Erkrankungen betreffen
den Arbeitsmarkt und die Sozialpolitik in den OECD-Ländern in hohem Mass.
So leidet in der Schweiz jeder dritte Bezüger von Arbeitslosenentschädigung,
Invalidenver­sicherungsleistungen oder
Sozialhilfe daran. Zudem ist die Arbeitslosenquote bei psychisch Kranken mehr als
doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote.
Die Kosten psychischer Erkrankungen
für den Betroffenen, den Arbeitgeber und
die Gesellschaft als Ganzes sind enorm
und in allen OECD-Ländern seit Jahren ansteigend. Für die Schweiz wird von Kosten
psychischer Erkrankungen in Höhe von
3,2% des BIP ausgegangen.1 Für Arbeitgeber sind sie in Form von Krankheitsabsenzen und verringerter Arbeitsproduktivität
spürbar. Folgen für den Arbeitsmarkt sind
Arbeitslosigkeit und eine Reduktion des
Arbeitskräftepotenzials.
Besonders junge Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben es
schwer, im Arbeitsleben Fuss zu fassen
oder dort zu verbleiben. Bei Ausbildungsabbruch oder Jobverlust geraten sie häufig in eine Negativspirale, die in eine frühe
Invaliditätsberentung münden kann. Trotz
dieser hohen Kosten psychischer Beeinträchtigungen für den Einzelnen und die
Gesellschaft wird den Zusammenhängen
von psychischer Gesundheit und Arbeit
sowie den Folgen für den Arbeitsmarkt
noch wenig Beachtung geschenkt.
1 OECD (2014), S. 24.
Die OECD widmet sich seit mehreren
Jahren diesen Fragestellungen. In dem im
Jahr 2012 erschienenen Bericht Sick on the
Job? Myths and Realities About Mental Health
and Work ging es zunächst darum, Wissenslücken hinsichtlich der Auswirkungen
psychischer Erkrankungen auf die Erwerbsfähigkeit zu schliessen. In neun Länderberichten – darunter die Schweiz2 – wurde
zwei Jahre später die Situation untersucht
und wurden Empfehlungen formuliert.
2 Vgl. Länderbericht Schweiz, OECD 2014.
3 Der Bericht ist auf der OECD-Internetseite aufgeschaltet. Er erschien im Rahmen eines sogenannten High level policy forum on Mental Health and Work zum Thema
«Bridging Employment and Health Policies». Die Veranstaltung vom 4. März 2015 bot Ministern und Akteuren
aus den Sektoren Gesundheit und Beschäftigung die
Gelegenheit, koordinierte Gesundheits- und Beschäftigungsstrategien zu diskutieren, die dazu dienen können,
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in
ausbildungsadäquater Arbeit zu halten oder in diese zu
intergieren. Für die Schweiz nahmen an diesem Treffen
Christel Bornand (Direktorin Office de l’ insertion des
jeunes de moins de 30 ans en formation professionelle,
Neuchâtel), Philippe Perrenoud (Regierungsrat Kanton
Bern), Stefan Ritler (Vizedirektor BSV), M. Hugues Sautière (chef adjoint Service public de l’emploi, Fribourg,)
und Stefan Spycher (Vizedirektor BAG) teil.
ISTOCK
P Im Frühjahr 2015 wurde schliesslich der
Synthesebericht Fit Mind, Fit Job – From
Evidence to Practice in Mental Health and
Work veröffentlicht.3 Dieser weist neben
grundsätzlichen Systemschwächen auch
auf Verbesserungspotenziale hin. Unter
Bezugnahme auf Good-Practice-Beispiele aus den untersuchten Ländern zeigt er
Handlungsempfehlungen zuhanden der
Politik auf. Im Fokus stehen die leichten
bis mittelschweren psychischen Erkran-
Bei psychischen Problemen ist ein frühzeitiges Erkennen wichtig. Arbeitgeber, Lehrer und Ärzte spielen
dabei eine Schlüsselrolle.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 55
ARBEITSMARKT
kungen, die insbesondere bei frühzeitiger
Erkennung und rascher und angemessener Unterstützung und Behandlung nicht
zu einem Ausschluss aus dem Erwerbsleben führen müssen.
Ein voreiliger Ausschluss aus
dem Arbeitsmarkt kann fatal sein
Übergeordnete Fragestellungen sieht die
OECD hinsichtlich dessen, wann Interventionen zum Erhalt der psychischen
Gesundheit bzw. zur Verhinderung psychischer Krankheit stattfinden müssen, wer
dabei in der Verantwortung stehen soll
und was genau dafür zu tun sei. Beim Wann
geht es in erster Linie um Prävention, frühzeitige Erkennung und rasches Handeln.
Dadurch werden Chronifizierung, Ausbildungsausfälle/-hemmnisse im Kindes- und
Jugendalter sowie der Ausschluss vom Arbeitsmarkt im Erwerbsalter nach Möglichkeit verhindert. Gerade bei den leichten bis
mittelschweren Störungen ist es fatal, erst
eine allfällige Heilung abzuwarten und damit möglicherweise «vorerst» einen Ausschluss in Kauf zu nehmen, bevor eine (Re)
integration erfolgt. Je länger eine Person
krankheitsbedingt dem Arbeitsmarkt fernbleibt, desto schwieriger gestaltet sich deren Reintegration.
Hinsichtlich des Wer wird dabei den
sogenannten Front-Line-Actors eine entscheidende Rolle zugewiesen. Also denjenigen Personen, die in den vier untersuchten Bereichen zuerst und relativ intensiv
Kontakt zu möglicherweise betroffenen
Personen haben (Lehrer, Arbeitgeber/Vorgesetzte, Hausärzte, RAV-/Sozialhilfe-Betreuer).
In Bezug auf das Was ist die Empfehlung einer übergeordneten politischen Gesamtstrategie («mental health strategy»)
prüfenswert. So könnten etwa Massnahmen zum Erhalt der psychischen Gesundheit in einem integrierten Ansatz geplant
und umgesetzt werden – statt dass wie bislang isoliert in einzelnen Systemen gehandelt wird. Für die Umsetzung der Strategie
wird ein Monitoring empfohlen.
Lehrer, Ärzte und Arbeitgeber
gefordert
Die wichtigsten inhaltlichen Schwerpunkte und Empfehlungen des OECD-Berichts
betreffen das Bildungs-, das Gesundheits-, das Sozialsystem und den Arbeitsmarkt. Die Experten geben Akteuren in
den untersuchten Bereichen, unter Be-
56 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Netzwerk Psychische Gesundheit
Das Netzwerk Psychische Gesundheit
Schweiz (NPG) versteht sich als multisektorale gesamtschweizerische Initiative zur Förderung der psychischen Gesundheit und zur
Verminderung psychischer Erkrankungen.
Dabei spielt der Kontext Arbeit eine wichtige
Rolle. Das NGP ist eine Nonprofitorganisation basierend auf einem Zusammenarbeitsvertrag zwischen dem Bundesamt für
Gesundheit (BAG), der Schweizerischen
Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und ‑direktoren (GDK), der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, dem
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
und dem Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco). Durch Vernetzung der relevanten
Akteure sollen Synergiemöglichkeiten sichtund nutzbar gemacht sowie die Wirksamkeit
und die Effizienz der Massnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit erhöht
werden. Derzeit sind über 130 Institutionen
aus nationalen Organisationen, kantonalen
Verwaltungen und privatwirtschaftlichen
zugnahme auf Good-Practice-Beispiele
aus verschiedenen OECD-Ländern, Handlungsempfehlungen für die Entwicklung
integrierter Strategien ab. Dadurch sollen
Menschen mit leichten bis mittelgradigen
psychischen Störungen rasche Unterstützung und Behandlung erhalten. Es geht
dabei weniger um die Aufstockung von
Ressourcen im psychiatrischen Bereich als
vielmehr um rasches Erkennen und niederschwellige Intervention gut informierter, befähigter und ihrer Verantwortung
bewusster (Erst-Kontakt-)Akteure. Ein
solcher Ansatz könnte helfen, individuelles Leiden zu vermindern und die enormen
volkswirtschaftlichen Kosten einzudämmen. Im Folgenden wird genauer auf die
vier untersuchten Bereiche eingegangen.
Bildungssystem:
Erkennen von Erkrankungen
Erste Anzeichen psychischer Erkrankungen
treten häufig bereits im Jugendalter auf und
beeinflussen somit die Ausbildung und den
Eintritt ins Erwerbsleben. Die OECD weist
auf Mängel hinsichtlich des Bewusstseins
bezüglich psychischer Probleme der Schüler seitens der Lehrkräfte, aber auch seitens
der betroffenen Schüler hin («lack of mental health literacy»).
Als Strategie schlägt die OECD vor, bei
Bildungsbehörden und Lehrkräften Kompetenzen zu entwickeln, sodass diese
psychische Probleme erkennen und damit
umgehen lernen. Schülern soll bei Bedarf
ein früher niederschwelliger Zugang zu
einer koordinierten Unterstützung ihrer
psychischen Gesundheit garantiert werden. Das soll besonders auch dann zum
Tragen kommen, wenn Übergänge – wie
etwa der Eintritt in die Arbeitswelt – besonderer Begleitung bedürfen. Ein spezielles Augenmerk sollte der Verhinderung von
Schulabbrüchen gelten, da diese häufig im
Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen stehen und ungünstige weitere Verläufe zur Folge haben.
Gesundheitssystem: Erweiterte
Arztzeugnisse einführen
Um die Verschlechterung einer psychischen Beeinträchtigung zu verhindern,
ist eine rechtzeitige und angemessene
Behandlung von psychischen Problemen
notwendig – gerade auch bei leichten bis
mittelschweren Störungen. Dabei steht
weniger eine teure Behandlung durch Spezialisten im Vordergrund. Vielmehr sollten
auch Hausärzte zur Behandlung von moderaten psychischen Erkrankungen befähigt
werden und bei Bedarf auf Unterstützung
zurückgreifen können.
Die Erwerbssituation einer Person spielt
eine wesentliche Rolle, unter anderem auch
für den Behandlungs- und Heilungsprozess. Das wird von der Psychiatrie im Moment zu wenig berücksichtigt. Deshalb gilt
es laut den OECD-Experten, diese Perspektive künftig bereits in der Ärzteausbildung
zu fördern: Das psychiatrisch-psychotherapeutische System muss ein verstärktes
Augenmerk auf Beschäftigung und somit
auf Ressourcenorientierung im Umgang
mit dem Patienten legen.
Dazu gehört auch ein erweitertes Arztzeugnis, welches nicht pauschal eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, sondern die
konkreten Arbeitsanforderungen berücksichtigt und aufzeigt, was eine betroffene
Person im Moment erledigen kann. Somit
kann mit einem allenfalls vorübergehend
angepassten Arbeitspensum, und beispielsweise flankiert von Supported Employment4, der Arbeitsplatz im Idealfall erhalten werden. Entsprechende sogenannte
Fit-Notes sind nicht nur aus Grossbritannien5 bekannt. Auch die schweizerische Vereinigung Swiss Insurance Medicine (SIM)6
bietet ein entsprechendes Arztzeugnisfor4 Supported Employment (Unterstützte Beschäftigung)
bietet Unterstützung für behindere und andere schwer
vermittelbare Personen, um bezahlte Arbeit auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten und zu halten.
5 Best-Practice-Example 3.7., OECD 2015, S. 94.
6 www.swiss-insurance-medicine.ch, Best-Practice-Example 3.10, OECD 2015, S. 97.
ARBEITSMARKT
mular auf ihrer Internetseite an. Standards
zur verbindlichen Anwendung solcher
Zeugnisse fehlen allerdings im Moment
nicht nur in der Schweiz.
Arbeitsmarkt:
Leitlinien für Vorgesetzte
Arbeitgebende bekommen die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen ihrer
Mitarbeitenden in Form von Absenzen und
Produktivitätsverlusten zu spüren. Entsprechend wären sie für eine aktivere präventive
und unterstützende Rolle prädestiniert. Im
Bedarfsfall könnten sie rasch handeln, indem sie etwa professionelle Helfer herbeiziehen. Damit Vorgesetzte ihre Rolle zum
Erhalt der psychischen Gesundheit besser
wahrnehmen können, müssen sie entsprechend geschult werden. Leitlinien zum Umgang mit Mitarbeitenden mit psychischen
Problemen könnten hilfreich sein. Die Anreize und Pflichten der Arbeitgebenden zur
Prävention von Krankheitsabsenzen müssten nach Ansicht der OECD verstärkt werden. Auch die Gesetze zur psychosozialen
Risikoprävention müssten diesbezüglich
angepasst werden.
Sozialsystem: Anreize setzen
Mindestens ein Drittel der Bezüger von
Sozialleistungen über alle Sozialversicherungen hinweg ist in den untersuchten
OECD-Ländern im Durchschnitt mit psy-
chischen Problemen konfrontiert.7 Somit
haben neben der Invalidenversicherung
auch die Arbeitslosenversicherung und
die Sozialhilfe durch ihre Aktivierungsprogramme und das Setzen von Anreizen
starken Einfluss auf die (Wieder)-Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Stellensuchende mit psychischen Problemen – egal
in welchem System – müssen daher identifiziert und unterstützt werden. Dazu
sind adäquate Instrumente zu entwickeln
und bereitzustellen. Finanzielle Anreize
für die im jeweiligen System betreuten
Personen sowie für die Anbieter von Eingliederungsleistungen sollten so gesetzt
werden, dass eine gute Arbeitsmarktintegration ermöglicht wird.
Ausblick
Die betroffenen Bundesämter werden nun die Empfehlungen analysieren
und die nötigen Massnahmen einleiten.
Das Netzwerk Psychische Gesundheit
Schweiz fördert dabei die Diskussion und
den Einbezug der weiteren Akteure im
Netzwerk.
7 OECD 2015, S. 142.
Katrin Jentzsch
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Bereich Berufliche
Integration, Bundesamt
für Sozialversicherungen
BSV; Mitglied Steuerungsausschuss Netzwerk
Psychische Gesundheit
Schweiz.
Maggie Graf
Dr. sc. nat. ETH, Ressortleiterin Grundlagen Arbeit
und Gesundheit, Staatssekretariat für Wirtschaft
SECO, Mitglied Steuerungsausschuss Netzwerk
Psychische Gesundheit
Schweiz.
Annette Hitz
Projektleiterin Netzwerk
Psychische Gesundheit
Schweiz.
Literatur
OECD 2015: Fit Mind, Fit Job – From Evidence to Practice in
Mental Health and Work.
OECD 2014: Psychische Gesundheit und Beschäftigung:
Schweiz.
OECD 2012: Sick on the Job? Myths and Realities about
Mental Health and Work.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 57
INNOVATION
Schweizer Unternehmen sehen
Digitalisierung als Chance
Eine gross angelegte Umfrage zeigt: Schweizer Unternehmen sind im digitalen Zeitalter angekommen. Insbesondere IT- und Kommunikationsfirmen haben die Chancen erkannt, welche der
technologische Umbruch bietet. Industriebetriebe schöpfen das Potenzial aber erst wenig aus.
Patricia Deflorin, Christian Hauser, Maike Scherrer-Rathje
D igitale Technologien stellen für Unternehmen eine der grössten Herausforderungen dar. Gleichzeitig bieten sie
ihnen aber auch die Chance, Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Das zeigen mehrere
Studien. Durch den anhaltenden technologischen Fortschritt entstehen immer mehr
Daten entlang der Wertschöpfungskette in
digitaler Form.1 So bekommen Maschinen
Sensoren und werden an einheitliche Softwareplattformen angebunden. Transaktionen werden digitalisiert, Daten auf neue
Weise erzeugt und analysiert und einzelne
Objekte, Menschen und Aktivitäten miteinander vernetzt.2
Katalysator dieser Veränderungen sind
digitale Technologien.3 Sie ermöglichen die
Vernetzung – und somit eine effiziente und
effektive Zusammenarbeit – internationaler Wertschöpfungsketten. Viele Schweizer
Unternehmen sind in solche Wertschöpfungsketten eingebunden und stehen nun
vor der Herausforderung, sich in der veränderten Wirtschaft richtig zu positionieren.
Das Potenzial digitaler Technologien
ist vielfältig: Zum einen ermöglicht es die
1 Bechtold, J. und Lauenstein, C., Digitizing Manufacturing: Ready Set Go. Capgemini, 2014; Ebner, G. und
Bechtold, J., Are Manufacturing Companies Ready to Go
Digital? Understanding the Impact of Digital. Capgemini,
2012; Jaruzelski, B., Loehr, J., Holman, R., Navigating the
Digital Future. strategy+business magazine, Booz and
Company Inc., 2013; Ernst & Young, The digitisation of
everything. How organisations must adapt to changing
consumer behaviour. Ernst & Young, 2011.
2 Iansiti, M. und Lakhani, K.R., Digitale Erneuerung.
Harvard Business Manager. S.63-74, Dezember 2014.
3 Der Begriff digitale Technologie umfasst die Gesamtheit
aller Technologien welche zur Erstellung, Verarbeitung,
Übertragung von digitalen Daten benötigt werden.
58 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Digitalisierung, interne Prozesse effektiver
und effizienter zu gestalten, und zum anderen kann sie den Mehrwert eines Dienstleistungs- und Produktangebots für die
Kunden erhöhen. Darüber hinaus vermag
sie disruptive Veränderungen auszulösen:
Durch den Einsatz digitaler Technologien
können neue Produkte und Dienstleistungen entstehen sowie Geschäftsmodelle,
Geschäftsprozesse oder die Art der Kundeninteraktion umfassend revolutioniert
werden. Ein bekanntes Beispiel ist der
Internet-Fahrdienst Uber. Das US-Unter-
Büro in einem Schweizer Telekommunikationsunternehmen. ICT-Unternehmen sind gegenüber
digitalen Technologien aufgeschlossener
nehmen hat bei der Reservierung, der Abrechnung, der Kundenbetreuung und der
Fahrerbewertung die Regeln der Personenbeförderung neu definiert und den klassischen Taxiservice substituiert.
Firmen erwarten mehr Effizienz
Welche Potenziale Schweizer Unternehmen erkennen, welche digitalen Technologien bereits eingesetzt werden und welche
Ziele damit erreicht werden konnten, zeigt
eine Studie des Schweizerischen Instituts
für Entrepreneurship (Sife) der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur
und des Instituts für Technologiemanagement (Item-HSG) der Universität St. Gallen.
Die Digitalisierung bietet für Schweizer
Unternehmen grosses Potenzial. Die Mehrheit der befragten Unternehmen stimmen
zu, dass die digitale Transformation kompetitive Chancen bietet (siehe Abbildung 1). Die
genauere Betrachtung der Daten zeigt: Unternehmen aus der Branche Informationsund Kommunikationstechnologie (ICT)
knüpfen mit 97% Zustimmung besonders
hohe Erwartungen an die digitale Transformation.
KEYSTONE
Abstract Die Digitalisierung hat in der Schweiz unterschiedlichste Wirtschaftsbranchen erfasst. Nicht zuletzt aufgrund ihrer starken Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten stehen viele Betriebe vor der Herausforderung, die durch den Einsatz digitaler Technologien hervorgerufenen Veränderungen zu identifizieren und rechtzeitig darauf zu reagieren.
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen: Die meisten Unternehmen haben die Chancen,
welche die Digitalisierung bietet, erkannt und generieren damit bereits Mehrwerte. Aufgeschlossen gegenüber dem Wandel zeigen sich insbesondere Firmen der Informations- und
Kommunikationstechnik. Dienstleistungs- sowie Industrieunternehmen hingegen lassen
mehr Zurückhaltung erkennen. Nicht ausgeschöpftes Potenzial liegt vor allem in den Schnittstellen zu externen Partnern.
7
INNOVATION
Abb. 1: Umfrage – Potenziale der digitalen Transformation
5
1,6
15,1
8,2
36,7
42,7
52,4
Digitale Technologien können uns helfen, die interne Effizienz zu steigern.
5,9
11,1
32,6
19,8
38,2
5
42,7
Der Einsatz digitaler Technologien
kann uns helfen, den Mehrwert unserer
Dienstleistungen zu verbessern.
9,4
13
43,5
33,5
15,1nicht zu
Stimme
39,4
Der Einsatz digitaler Technologien
kann uns helfen, den Mehrwert unserer
Produkte zu erhöhen.
37,6
17,9
5
45
30,3
Die digitale Transformation bietet
eine kompetitive Chance für unser
Unternehmen.
Die Einbettung von digitalen Schnittstellen in unsere Produkte kann uns
helfen, unser Markt- und Kundenwissen zu5steigern.
42,7
21,1
12,2
37,8
37,2
37,5
3,4
11,9
Der Einsatz mobiler Technologien kann
15,1
uns helfen, Prozessverbesserungen
umzusetzen.
Eingebettete Geräte können uns die
Verbesserung der Prozesse erleichtern.
5
15,1
15,1
Stimme eher nicht zu
37,2
Insbesondere sind Effizienzsteigerungen möglich. 90% 37,2
der Studienteilnehmer
37,2
geben an, dass sie durch den Einsatz digitaler Technologien mehr Effizienz erwarten. Darüber hinaus schreiben die Unternehmen der Digitalisierung das Potenzial
zu, den Mehrwert ihrer Dienstleistungen
zu verbessern. 84% versprechen sich eine
Erhöhung des Dienstleistungsmehrwerts.
Etwas weniger ausgeprägt wird das Potenzial zur Erhöhung des Mehrwerts der
Produkte beurteilt. Nur gut zwei Drittel
der befragten Unternehmen stimmen hier
zu. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass das verarbeitende Gewerbe das Potenzial für den Produktmehrwert mit 62% Zustimmung im Vergleich
zu der Gesamtwirtschaft tiefer einschätzt.
Diese Zurückhaltung ist auch international erkennbar. So ergab eine internationale Studie noch 2012, dass eine Vielzahl
der Industrieunternehmen den Einfluss
der Digitalisierung nicht spürt oder ignoriert. Eine vergleichbare Erhebung aus
dem Jahr 2014 machte jedoch deutlich:
Industrieunternehmen haben die Potenziale der digitalen Technologien erkannt
und haben angefangen, diese vermehrt
Stimme eher zu
42,7
Stimme zu
(Angaben in %)
einzusetzen.4 Auch Politik, Verbände
und
37,2
Grossunternehmen treiben das Thema zunehmend voran. Hightech-Initiativen, wie
die in Deutschland prominente «Industrie
4.0», gewinnen an Bekanntheit. Wichtige
Stichworte sind dabei etwa die Maschi4 Ebner, G. und Bechtold, J., Are Manufacturing Companies
Ready to Go Digital? Understanding the Impact of Digital.
Capgemini, 2012; Bechtold, J. und Lauenstein, C., Digitizing Manufacturing: Ready Set Go. Capgemini, 2014.
DEFLORIN, HAUSER, SCHERRER-RATHJE (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
nen-zu-Maschinen-Kommunikation oder
autonome, intelligent handelnde Fabriken. Der Fokus der Diskussion liegt jedoch
oftmals auf den internen Prozessen, das
Potenzial der Digitalisierung für das Produktangebot wird hingegen weniger prominent thematisiert.
Knapp drei Viertel der befragten
Schweizer Unternehmen geben an, dass
Design der Untersuchung
Die zur Beantwortung der
Forschungsfrage gesammelten
Daten wurden in einer onlinebasierten Umfrage im Sommer 2014
erhoben. Diese wurde in Kooperation mit Postfinance durchgeführt. Die Bruttostichprobe
bestand aus 7584 Unternehmen
aus der Deutschschweiz, die per
E-Mail zur Teilnahme eingeladen wurden. 584 Unternehmen
nahmen an der Umfrage teil. Für
die Interpretation wurden die
Anteilswerte der zwei höchsten
Zustimmungskategorien («stimme eher zu» und «stimme zu»)
und der zwei niedrigsten Zustim-
mungskategorien («stimme eher
nicht zu» und «stimme nicht zu»)
jeweils zusammengefasst.
In Bezug auf die Unternehmensgrösse zeigt sich: 34% der
befragten Unternehmen haben
weniger als 10 Beschäftigte, und
42% haben zwischen 10 und 99
Mitarbeitende. Die restlichen
Unternehmen mit 100 und mehr
Beschäftigten machen im untersuchten Datensatz einen Anteil
von 23% aus. In 60% der Fälle
handelte es sich bei der befragten
Zielperson um den Eigentümer,
den Inhaber oder einen Teilhaber
des Unternehmens. Bei 20%
wurden die Angaben von einem
angestellten Geschäftsführer
gemacht, bei den übrigen 20%
der Fälle von einem anderen Entscheidungsträger mit Führungsfunktion.
35% der Antworten stammen
aus dem verarbeitenden Gewerbe, 30% aus der Dienstleistungsbranche, 10% sind der
Informations- und Kommunikationsbranche (ICT) zuzuordnen.
Die restlichen 24% wurden in
einer Gruppe «Sonstige» zusammengefasst.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 59
INNOVATION
Abb. 2: Umfrage – Digitalisierung der
Geschäftsprozesse
Abb. 3: Umfrage – Verankerung digitaler
Initiativen
11
23,6
8,9
24,5
4,7
22,1
27,2
38,2
Abb. 4: Umfrage – Erzielte Mehrwerte
durch den Einsatz digitaler Technologien
8,8
33,6
52,9
44,5
Die Kernprozesse unseres Unternehmens sind automatisiert.
Unsere leitenden Angestellten besitzen eine gemeinsame Vision, wie sich das Geschäft durch digitale
Technologien wandeln soll.
9,4
6,3
18
28,3
29,9
Durch digitale Technologien konnten wir die Prozesseffizienz steigern.
20,9
18
12,9
31,8
47,7
Durch die Anwendung von Wirtschaftsanalytik verbessern wir unsere Prozesse.
Digitale Initiativen werden über Tochtergesellschaften hinweg koordiniert.
8
19,2
24,4
34,4
42,7
29,1
15,5
Durch digitale Technologien konnten wir die Produkteinführungszeit senken.
24,9
13,1
26,9
26,1
30,3
35,1
47,4
Unsere Prozesse werden in Echtzeit überwacht.
Digitale Initiativen werden den Geschäftszielen
angepasst
10,5
6,9
13,5
24,6
14,8
41,1
Durch digitale Technologien konnten wir den Mehrwert von Produkten steigern.
31,7
11,9
31,2
30,7
33,6
Unterschiedliche Funktionsbereiche benutzen eine
gemeinsame digitale Plattform.
49,5
Digitale Initiativen werden durch ein gemeinsames
Set von Leistungskennzahlen beurteilt
Durch digitale Technologien konnten wir den Mehrwert von Dienstleistungen steigern.
7
30,5
31
36,5
17,9 5
20,6
15,1nicht zu
Stimme
42,7
15,1
Stimme eher nicht zu
37,2
42,7
60 40,8
15,1
Wir besitzen IT-Schnittstellen zu externen Partnern in
der5
Wertschöpfungskette
5
15,7
7,2
14,7
52,1
Unser Topmanagement unterstützt aktiv eine Zu5
kunftsvision, die digitale Technologien
beinhaltet.
Durch digitale Technologien haben wir die Integration
unserer Funktionen/Prozesse erhöht.
15,1
Stimme eher zu
42,7
Stimme zu
(Angaben in %)
Die Volkswirtschaft 5 / 2015
37,2
26
37,2
DEFLORIN, HAUSER, SCHERRER-RATHJE (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
INNOVATION
die Einbettung von digitalen Schnittstellen in die Produkte zur Erhöhung ihres
Markt- und Kundenwissens genutzt werden kann. Eine Betrachtung nach Branchen ergibt: Die ICT-Vertreter sehen mit
rund 90% Zustimmung die Chancen der
Digitalisierung bezüglich der Steigerung
des Markt- und Kundenwissens besonders häufig. Weniger stark ausgeprägt
ist das Bewusstsein für dieses Potenzial
hingegen in den anderen Branchen (verarbeitendes Gewerbe, Dienstleister und
Sonstige).
Nachholbedarf bei IT-Schnitt­
stellen zu externen Partnern
Die Umfrage geht darauf ein, in welchen
Bereichen die Unternehmen digitale
Technologien einsetzen (siehe Abbildung
2). Die Analyse zeigt: In drei Viertel der
befragten Unternehmen nutzen unterschiedliche Funktionsbereiche – wie
Forschung und Entwicklung, Produktion, Marketing – eine gemeinsame digitale Plattform. Gleich viele Unternehmen
setzen Wirtschaftsanalytik ein, um ihre
internen Prozesse zu verbessern. Bei
knapp zwei Dritteln der befragten Studienteilnehmer sind die Kernprozesse
automatisiert. Hingegen ist der Einsatz
von digitalen Technologien zur Überwachung der Prozesse in Echtzeit weniger
stark verbreitet: Nur rund die Hälfte der
Unternehmen gibt an, dies zu tun. Ebenfalls verfügt nur jedes zweite Unternehmen über IT-Schnittstellen zu externen
Partnern in der Wertschöpfungskette. Im
Gegensatz zur weitverbreiteten internen
Anwendung von digitalen Technologien ist somit die digitale Vernetzung mit
externen Partnern der Wertschöpfungskette bei Schweizer Unternehmen noch
nicht weit vorangeschritten.
an: Die leitenden Angestellten besitzen
eine gemeinsame Vision, wie sich das Unternehmen durch den Einsatz digitaler
Technologien verändern soll. Bei rund drei
Vierteln der Studienteilnehmer unterstützt
das Topmanagement die Zukunftsvision
der Digitalisierung aktiv. Ebenso viele passen die digitalen Initiativen den Geschäftszielen an und koordinieren die Projekte gar
über das gesamte Unternehmen hinweg.
Bei deren Erfassung zeigt sich ein weniger einheitliches Ergebnis: Weniger als die
Hälfte der Unternehmen misst den Erfolg
ihrer digitalen Initiativen durch ein unternehmensweit verankertes Set von Leistungskennzahlen.
Besseres Dienstleistungsangebot
Abschliessend wird aufgezeigt, welche
Ziele aufgrund der Digitalisierung bereits
umgesetzt werden konnten (siehe Abbildung 4). Die grosse Mehrheit der befragten
Unternehmen konnte durch den Einsatz
digitaler Technologien die Effizienz ihrer
Prozesse steigern und die Integration der
verschiedenen Funktionen und Prozesse
erhöhen. Bei vier Fünfteln der Studienteilnehmer hat die Digitalisierung zu einer
Steigerung des Mehrwerts beim Dienstleistungsangebot geführt. Etwas weniger
ausgeprägt fällt das Resultat bei den Produkten aus. Hier konnten rund zwei Drittel
den Mehrwert steigern. Dieses Ergebnis
widerspiegelt sich zudem im Beitrag der
digitalen Technologien zur Senkung der
Produkteinführungszeit: Lediglich rund
die Hälfte der analysierten Unternehmen
konnte dadurch die Einführungszeit verringern.
Wertschöpfungskette optimieren
Zusammenfassend ist festzuhalten: Der
Einsatz digitaler Technologien ist in den
Schweizer Unternehmen weit verbreitet
und trägt wesentlich dazu bei, sowohl die
Effizienz als auch den Mehrwert von Produkten und Dienstleistungen zu steigern.
Die ICT-Unternehmen nehmen hier eine
Vorreiterrolle ein. Aber auch die Dienstleistungsbranche und das verarbeitende
Gewerbe stehen vor der Herausforderung,
die – oftmals notwendige – Transformation
einzuleiten. Je nach Geschäftsfeld und Strategie kann die Digitalisierung eine digitale
Transformation, also einen fundamentalen
Wandel von Unternehmensstrategie, Kultur,
Struktur oder Prozessen, bedeuten. Digitale
Technologien können des Weiteren die Prozesseffizienz erhöhen oder den Dienstleistungs- und Produktmehrwert steigern. Sie
bieten zudem die Chance, neue Geschäftsmodelle zu initiieren. Die Studie über den
Stand der Digitalisierung der Schweizer Unternehmen zeigt: Ein Grossteil der Firmen
beschäftigt sich mit der Thematik und hat
den Mehrwert, der durch die Digitalisierung
erzielt werden kann, erkannt.
Damit Schweizer Unternehmen die
Potenziale, welche die Einbettung in eine
internationale Wertschöpfungskette mit
Partnerunternehmen bietet, ausschöpfen
können, ist es notwendig, dass die Unternehmen Fähigkeiten aufbauen, welche für
das Erkennen der Chancen digitaler Veränderungen, aber auch deren Implementierung notwendig sind. Das dürfte in den
nächsten Jahren ein wesentlicher Bestandteil der unternehmerischen Aktivitäten
Schweizer Unternehmen sein.
Mangager stehen hinter
Digitalisierung
Um auf eine Veränderung, wie sie durch
die Digitalisierung hervorgerufen wird,
erfolgreich reagieren zu können, muss in
den Unternehmen eine gemeinsame Vision existieren. Darauf aufbauend müssen
Initiativen entwickelt werden, die an die
Geschäftsziele angepasst und über das gesamte Unternehmen hinweg koordiniert
sind. Die befragten Unternehmen widerspiegeln mit ihren Antworten die Wichtigkeit der Digitalisierung (siehe Abbildung 3).
Gut zwei Drittel der Unternehmen geben
Patricia Deflorin
Professorin für Innovationsmanagement am
Schweizerischen Institut
für Entrepreneurship der
Hochschule für Technik
und Wirtschaft HTW Chur.
Christian Hauser
Professor für Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre und Internationales Management am
Schweizerischen Institut
für Entrepreneurship der
HTW Chur.
Maike Scherrer-Rathje
Dr. oec. HSG, Projektleiterin am Institut für
Technologiemanagement
der Universität St. Gallen
und Lehrbeauftragte für
Operationsmanagement
an der Zürcher Hochschule
für Angewandte Wissenschaften ZHAW.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 61
STEUERN
Die Reform der Verrechnungssteuer stärkt
den Finanzplatz
Der Bundesrat will mit der geplanten Verrechnungssteuerreform den Finanzplatz Schweiz
stärken. Die erleichterte Kapitalaufnahme im Inland schafft Arbeitsplätze und Wertschöpfung.
Zudem soll die Reform die Steuereinnahmen sichern. Daniela Schwarz
D ie Verrechnungssteuer dient gegenüber inländischen Leistungsbegünstigten (und damit Steuerpflichtigen) dem
Zweck, die ordnungsgemässe Deklaration
der direkten Steuern (Gewinn-, Einkommens- und Vermögenssteuern) sicherzustellen. In diesem Zusammenhang wird
auch vom Sicherungszweck der Verrechnungssteuer gesprochen. Gegenüber Leistungsbegünstigten mit Wohnsitz im Ausland hat die Verrechnungssteuer teilweise
ebenfalls Sicherungsfunktion, was angesichts der Ausdehnung der internationalen Zusammenarbeit im Steuerbereich indes an Bedeutung verloren hat. Daneben
verfolgt die Steuererhebung gegenüber
ausländischen Personen aber auch einen
reinen Fiskalzweck im Umfang der nicht
(vollständig) rückforderbaren Verrechnungssteuer. Daraus erzielt die Schweiz
beträchtliche Steuereinnahmen.
Aktuelles System weist Mängel auf
Die heute geltende Verrechnungssteuer beruht auf dem Schuldnerprinzip und
erfasst ausschliesslich Erträge aus inländischen Quellen (siehe Kasten). Steuerpflichtig ist dabei ausschliesslich der inländische Schuldner der steuerbaren Leistung.
Das kann ein Unternehmen mit Sitz in der
Schweiz sein, das eine Obligation ausgibt
und darauf den Investoren einen Zins ausrichtet. Der Verrechnungssteuer unterliegen somit bloss Leistungen, welche ein
inländischer Schuldner einer steuerbaren
Leistung ausrichtet. Die Steuer wird ferner
unabhängig von der Person des Leistungsempfängers erhoben und damit auch gegenüber institutionellen Anlegern.
62 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
System des Schuldnerprinzips
System des Zahlstellenprinzips
Schuldner der
steuerbaren
Leistung
Schuldner der
steuerbaren
Leistung
Nettoertrag
Steuerabzug
Empfänger der
steuerbaren
Leistung
Nettoertrag
Rückerstattung
Steuerverwaltung
Voraussetzung der Steuererhebung ist, dass es
sich beim Schuldner der steuerbaren Leistung um
einen Inländer handelt.
Die Sicherungsfunktion der Verrechnungssteuer im Inland wird mit der geltenden Regelung der Verrechnungssteuer jedoch nur
teilweise erfüllt. Denn bei in der Schweiz
unbeschränkt steuerpflichtigen Personen
unterliegen im Bereich des beweglichen
Vermögens nicht nur die inländischen Erträge, sondern auch die Erträge aus ausländischen Quellen der Einkommens- und
Vermögenssteuer. Diese Einkommensbestandteile werden von der Verrechnungssteuer nicht erfasst und damit auch nicht
gesichert. Dies ist etwa dann der Fall, wenn
eine in der Schweiz unbeschränkt steuerpflichtige Person in ihrem Depot ausländische Obligationen hält und ihr darauf Zinsen entrichtet werden.
Gleichzeitig ergeben sich aus der aktuellen Konzeption der Verrechnungssteuer volkswirtschaftliche Nachteile. Da in
der Schweiz emittierte Anleihen der Verrechnungssteuer unterliegen, ist der Kapitalmarkt für institutionelle Investoren,
welche eine volumenmässig grosse In-
Zahlstelle
Bruttoertrag
Empfänger der
steuerbaren
Leistung
Rückerstattung
Steuerabzug
Steuerverwaltung
Voraussetzung der Steuererhebung ist, dass sich die
Zahlstelle im Inland befindet.
vestorengruppe darstellen, unattraktiv. In
der Schweiz ansässige Konzerne begeben
ihre Obligationen daher regelmässig über
ausländische Strukturen, um die schweizerische Verrechnungssteuerbelastung zu
vermeiden.
Erträge aus ausländischen
­Quellen unterliegen neu der
Verrechnungs­steuer
Die aktuelle Reform der Verrechnungssteuer1 verfolgt zwei Ziele: Erstens soll sie
die Kapitalaufnahme im Inland erleichtern und dadurch einen Beitrag zur Stärkung des schweizerischen Finanzmarkts
leisten. Zweitens soll die Sicherungsfunktion der Verrechnungssteuer verbessert
werden, indem nun neu auch Erträge aus
ausländischen Quellen der Verrechnungssteuer unterliegen, sofern sie über eine in1 Bundesgesetz über das Schuldner- und das Zahlstellenprinzip bei der Verrechnungssteuer (Vernehmlassungsvorlage einsehbar im Bundesblatt [BBl] 2015 432ff.).
ESTV / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Abstract Die geplante Verrechnungssteuerreform des Bundesrats will den Schweizer Kapitalmarkt stärken und dabei die Kapitalaufnahme im Inland
erleichtern. Dies geschieht, indem die Verrechnungssteuer differenzierter ausgestaltet wird. Ein Systemwechsel – weg vom Schuldnerprinzip, hin
zum Zahlstellenprinzip – erlaubt mehr Flexibilität. Anstelle des Schuldners einer steuerbaren Leistung (z. B. eines Unternehmens, das eine Obligation
ausgibt) tritt nun die Zahlstelle (oftmals eine Bank) in den Vordergrund. In gewissen Fällen – etwa bei inländischen institutionellen Anlegern – kann
dadurch auf eine Erhebung der Steuer verzichtet werden. Inländische Privatpersonen haben zwei Möglichkeiten: Entweder wird ihnen gegenüber die
Verrechnungssteuer erhoben, oder die steuerbare Leistung wird gemeldet. Dank der Reform kann die Verrechnungssteuer auch ihre Sicherungsfunktion zugunsten der direkten Steuern besser wahrnehmen. Grundbedingung ist der automatische Informationsaustausch im internationalen Verhältnis.
Unter dem Strich sollten im Bereich der permanenten Auswirkungen die Einnahmen für Bund und Kantone mittelfristig gleich bleiben.
STEUERN
ländische Zahlstelle (z. B. eine Bank) an den
wirtschaftlich Berechtigten (z. B. eine in der
Schweiz wohnhafte natürliche Person) ausgerichtet werden.
Bei der Verrechnungssteuer nach dem
Zahlstellenprinzip wird die Steuer nicht
mehr durch den Schuldner der steuerbaren Leistung (z. B. die Unternehmung mit
Sitz in der Schweiz, die eine Obligation
ausgibt) anonym erhoben, sondern durch
die Zahlstelle (oftmals eine Bank). Diese
kennt den wirtschaftlich Berechtigten (z. B.
die Person, der die Zinsen aus der Obligation wirtschaftlich zustehen). Somit kann
im Zahlstellenprinzip die Steuer differenziert erhoben werden und damit nur noch
in denjenigen Fällen, in welchen dies aufgrund des Sicherungszwecks der Verrechnungssteuer als sinnvoll erscheint.
Der Verrechnungssteuer nach dem Zahlstellenprinzip unterliegen gemäss Vorschlag des Bundesrates Erträge aus Obligationen, aus Kundenguthaben bei Banken
und Sparkassen, aus ausländischen Beteiligungsrechten sowie aus kollektiven Kapitalanlagen (z. B. Anlagefonds), sofern es sich
bei letzteren nicht um indirekt ausgerichtete Erträge von inländischen Beteiligungsrechten handelt. Schliesslich unterliegen
auch bestimmte Versicherungs- und Vorsorgeleistungen dem Zahlstellenprinzip.
Nicht dem Zahlstellenprinzip, sondern
nach wie vor dem Schuldnerprinzip unterliegen Erträge aus direkt gehaltenen inländischen Beteiligungsrechten und Erträge aus
inländischen Beteiligungsrechten, wel­
che
von inländischen kollektiven Kapitalanlagen ausgeschüttet oder thesauriert werden.
KEYSTONE
Zahlstellenprinzip erlaubt
differenzierte Erhebung
Schalterhalle in einer Schweizer Bank. Mit dem geplanten Systemwechsel der Verrechnungssteuer spielen die
Banken als Zahlstellen eine Schlüsselrolle.
Schliesslich unterliegen nach wie vor Lotteriegewinne der Steuer nach dem Schuldnerprinzip.
Das Zahlstellenprinzip wird im Bereich
der Verrechnungssteuer auf Erträgen aus
beweglichem Vermögen somit nicht vollständig umgesetzt. Weder aus Sicht des
Kapitalmarkts noch aus Sicht des Sicherungszwecks der Verrechnungssteuer ist
für Erträge aus inländischen Beteiligungsrechten (Dividenden aus inländischen Aktien) ein Wechsel vom Schuldner- hin zum
Zahlstellenprinzip angezeigt. Zudem ist die
Erhebung von Quellensteuern auf Erträgen
aus Beteiligungsrechten international üblich. Gleichzeitig bleibt das bisherige be-
trächtliche Steueraufkommen in diesem
Bereich gewährleistet.
Wer ist eine Zahlstelle?
Als Zahlstelle gilt, wer im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit Erträge, welche der Steuer nach dem Zahlstellenprinzip unterliegen,
überweist, vergütet oder gutschreibt. Damit qualifizieren sich in erster Linie Banken
und Vermögensverwalter als Zahlstellen.
Daneben kann dies auch auf Versicherungen und Unternehmen des Werkplatzes zutreffen – nämlich dann, wenn sie z. B. Zinsen
aus von ihnen ausgegebenen Obligationen
direkt an ihre Gläubiger ausrichten.
Verrechnungssteuer nach aktuellem System
Die Verrechnungssteuer ist eine vom
Bund an der Quelle erhobene Steuer auf
dem Ertrag des beweglichen Kapitalvermögens (insbesondere auf Zinsen
und Dividenden), auf schweizerischen
Lotteriegewinnen und auf bestimmten
Versicherungsleistungen. Die Steuer bezweckt in erster Linie die Eindämmung
der Steuerhinterziehung; die Steuerpflichtigen sollen veranlasst werden,
den für die direkten Steuern zuständigen
Behörden die mit der Verrechnungssteuer belasteten Einkünfte und Vermögenserträge sowie das Vermögen, auf dem
die steuerbaren Gewinne erzielt wurden,
anzugeben.
Die Verrechnungssteuer wird unter
bestimmten Voraussetzungen durch
Verrechnung mit den Kantons- und
Gemeindesteuern oder in bar zurückerstattet. Der in der Schweiz wohnhafte
Steuerpflichtige, der seiner Deklarationspflicht nachkommt, wird durch die
Steuer somit nicht endgültig belastet.
Die Verrechnungssteuer ist eine Objektsteuer, d. h., sie wird ohne Rücksicht
auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Empfängers der steuerbaren
Leistung erhoben.
Der Steuersatz beträgt
–– 35% auf Kapitalerträgen und Lottogewinnen,
–– 15% auf Leibrenten und Pensionen
(d. h. auf Rentenleistungen) und
–– 8% auf sonstigen Versicherungsleistungen (d. h. auf Kapitalleistungen).
Der Kantonsanteil am Nettoertrag der
Verrechnungssteuer beträgt gegenwärtig 10%.
Steuerpflichtig sind die inländischen
Schuldner der steuerbaren Leistung. Sie
haben auf der steuerbaren Leistung die
Steuer zu entrichten und diese durch
entsprechende Kürzung der Leistung
auf deren Empfänger zu überwälzen. Der
Steuerschuldner hat sich unaufgefordert
bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung anzumelden, die vorgeschriebenen
Abrechnungen und Belege einzureichen
und gleichzeitig die Abgabe zu entrichten (Prinzip der Selbstveranlagung).
Auf Steuerbeträgen, die nach ihrem
Fälligkeitstermin ausstehen, ist ohne
Mahnung ein Verzugszins geschuldet.
Für im Ausland wohnhafte Leistungsempfänger stellt die Verrechnungssteuer grundsätzlich eine endgültige Belastung dar. Personen, deren Wohnsitzstaat
mit der Schweiz ein Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen hat,
können jedoch je nach Ausgestaltung
dieses Abkommens Anspruch auf die
ganze oder die teilweise Rückerstattung
der Verrechnungssteuer erheben, sofern
sie die im betreffenden Abkommen aufgestellten Voraussetzungen erfüllen.
Die Einnahmen aus der Verrechnungssteuer beliefen sich im Jahr 2014 auf
rund 5,66 Mrd. Franken.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 63
STEUERN
Neuerungen bei der Steuer­
erhebung – am Beispiel einer
Obligation
Das Zahlstellenprinzip lässt eine differenzierte Erhebung der Verrechnungssteuer zu,
da die Zahlstelle den Empfänger der steuerbaren Leistung kennt (bzw. aufgrund der
bereits heute geltenden Sorgfaltspflichten
kennen muss). Daher kann im Zahlstellenprinzip – anders als im anonymen Schuldnerprinzip – die Steuererhebung beschränkt
werden auf Sachverhalte, bei denen der Sicherungszweck der Verrechnungssteuer
dies erfordert. Dies soll nachfolgend am Beispiel einer Obligation bzw. dem darauf ausgerichteten Zins illustriert werden.
… für Schweizer Kapitalgesellschaften
Hält eine inländische juristische Person
die Obligation und vereinnahmt den Zins,
tritt bei Bestehen einer Buchführungspflicht der Sicherungszweck der Verrechnungssteuer in den Hintergrund. Die Steuer nach dem Zahlstellenprinzip wird daher
nicht erhoben, wodurch diese wirtschaftlich Berechtigten die entsprechenden Erträge brutto, das heisst ohne Steuerabzug
ausgerichtet erhalten. Die gilt insbesondere für Kapitalgesellschaften mit Nachweis
der ordentlichen oder der eingeschränkten
Revision (inkl. Vorsorgeeinrichtungen etc.).
Vereine und Stiftungen werden nur bei
Nachweis der ordentlichen Buchführungspflicht wie Kapitalgesellschaften behandelt. Für Kapitalgesellschaften mit «Milchbüchleinrechnung» (solche, die keiner
Revision unterliegen; sogenanntes Opting-out) gibt es hingegen keine Ausnahme,
womit in diesen Fällen die Steuer auch im
Zahlstellenprinzip zu erheben ist.
… für inländische natürliche Personen
Ist eine inländische natürliche Person Inhaberin der Obligation, so hat sie zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Verrechnungssteuer durch die Zahlstelle entrichtet, oder
die steuerbare Leistung (Obligationenzins)
wird von der Zahlstelle an die Steuerbehörde gemeldet. Beide Arten der Erhebung sind
dabei gleichwertig. Eine Meldung an die
Steuerbehörden setzt eine entsprechende
Willensäusserung des Obligationärs voraus,
die die Zahlstelle zur Meldung ermächtigt.
Die Meldeoption ist daher freiwillig. Durch
die nach wie vor mögliche (gegenüber dem
Fiskus anonyme) Steuerentrichtung und die
Überwälzung auf den wirtschaftlich Berechtigten wird das Bankkundengeheimnis im
Inland weiterhin gewahrt.
64 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
… für wirtschaftlich berechtigte
Personen im Ausland
Bei Personen mit Wohnsitz im Ausland wird
im Zahlstellenprinzip auf eine Steuererhebung verzichtet. Der Wegfall der Steuer auf
Zinserträgen steigert die Attraktivität von
zinstragenden Schweizer Anlagen für ausländische, namentlich institutionelle Anleger. Damit werden die steuerlichen Voraussetzungen für die anvisierte Stärkung
des Kapitalmarkts Schweiz geschaffen. Die
damit verbundenen Mindereinnahmen für
den Fiskus sind verkraftbar. Im Unterschied
zu den Zinsen generiert die Verrechnungssteuer auf den Dividenden aus inländischen
Beteiligungsrechten heute substanzielle
Steuereinnahmen. Da in diesem Bereich am
Schuldnerprinzip festgehalten werden soll,
ergeben sich diesbezüglich keine Mindereinnahmen.
Automatischer Informations­
austausch als Grundbedingung
Der Wechsel zum Zahlstellenprinzip stärkt
die Sicherungsfunktion der Verrechnungssteuer sowie auch den Kapitalmarkt
Schweiz. Er setzt allerdings ohne Gegenmassnahmen insbesondere für inländische
natürliche Personen einen Anreiz, ihre Zahlstelle (das heisst ihr Depot oder ihr Konto) von der Schweiz weg zu einer ausländischen Zahlstelle zu verlegen, um damit die
Verrechnungssteuer zu vermeiden.
Diesem Risiko, das eine Schwächung des
Finanzplatzes Schweiz und erhebliche Mindereinnahmen bei den Einkommens- und
Vermögenssteuern für Bund, Kantone und
Gemeinden zur Folge hätte, wird in zweierlei Hinsicht begegnet: Für steuerehrliche
Personen wird bei der Verrechnungssteuer eine freiwillige Meldeoption eingeführt,
wodurch diese ebenfalls die jeweiligen Erträge ohne Abzug der Verrechnungssteuer
vereinnahmen können.
Steuerunehrliche Personen, die eine
Steuerhinterziehung über eine ausländische Bank beabsichtigen, werden sich im
internationalen Umfeld zunehmend einem
ausgedehnten Informationsaustausch und
damit einem Entdeckungsrisiko ausgesetzt
sehen. Die Einführung eines automatischen
Informationsaustausches im internationalen Verhältnis ist daher eine Bedingung für
die Implementierung der vorliegenden Reform der Verrechnungssteuer.
Zentral erscheint weiter: Mit dem Wechsel zum Zahlstellenprinzip werden steuerliche Rahmenbedingungen geschaffen, womit Banken zur Stärkung der Eigenmittel
ihre Pflichtwandelanleihen (inkl. Bail-inBonds) und Anleihen mit Forderungsverzicht auch in Zukunft aus dem Inland heraus begeben können.
Unter dem Strich bleiben
Einnahmen gleich
Die vorliegende Reform wirkt sich einerseits direkt auf die Einnahmen der Verrechnungssteuer und anderseits indirekt auf die
Einnahmen der Gewinn-, der Einkommensund der Vermögenssteuer aus. Bei der Verrechnungssteuer ergeben sich Mindereinnahmen von rund 200 Mio. Franken pro
Jahr. Die Beseitigung der Hindernisse im
Kapitalmarktbereich und im Treasury-Bereich schafft jedoch mittelfristig Arbeitsplätze und Wertschöpfung.
Dies führt zu Mehreinnahmen bei der
Einkommenssteuer und bei der Gewinnsteuer. Weitere Mehreinnahmen ergeben
sich aus der Erfassung bisher unversteuerter Vermögenswerte von inländischen
Personen. Die Mehreinnahmen aufgrund
dieser Effekte dürften die permanenten
Mindereinnahmen bei der Verrechnungssteuer aufwiegen.
Mit der Reform sind auch einmalige finanzielle Auswirkungen verbunden. Diese
bewegen sich zwischen Mehreinnahmen
von bis zu 0,5 Mrd. Franken, wenn von der
Meldeoption wenig bis kein Gebrauch gemacht wird, und Mindereinnahmen von bis
zu 1,7 Mrd. Franken, wenn die Meldeoption stark genutzt wird oder die Steuererhebung sogar vollständig verdrängt. Zum
Umgang mit solchen einmaligen Effekten
im Übergang bestehen schuldenbremsenkonforme Lösungen.
Darüber hinaus erhöht die Reform die
Systemstabilität. Denn die Emission von
bestimmten Finanzinstrumenten durch
systemrelevante Banken aus der Schweiz
heraus wird steuerlich attraktiver.
Daniela Schwarz
Rechtsanwältin, Eidg. Steuerverwaltung
ESTV, Bern.
ARBEITSMARKT
Schwarzarbeit-Inspektoren sollen
mehr Kompetenzen erhalten
Das im Jahr 2008 eingeführte Bundesgesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit hat sich
­bewährt. Insbesondere die kantonalen Inspektoren leisten einen wesentlichen Beitrag. Deshalb
sollen sie in einer Gesetzesrevision gestärkt werden. Peter Jakob
Abstract Die Schwarzarbeit richtet für die Gesamtwirtschaft grosse Schäden an. Alleine den
Sozialversicherungen entstehen Einnahmeausfälle in mehrfacher Millionenhöhe. Aktuelle
Schätzungen gehen von einem Rückgang der Schwarzarbeit in den letzten Jahren aus. Die Arbeit von kantonalen Inspektoren trug auch dazu bei. Im Jahr 2014 arbeiteten in den Kantonen
rund 70 Kontrolleure eng mit den involvierten Behörden zusammen. Nach einer Evaluation
des 2008 eingeführten Bundesgesetzes über Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit
(BGSA) kommt der Bundesrat in einem Revisionsvorschlag zum Schluss: Die Inspektoren müssen mehr Kompetenzen erhalten. So sollen sie auch Informationen aus den Unternehmen, die
nicht die Schwarzwirtschaft betreffen, an die Behörden weiterleiten können. Das kann etwa
die Sozialhilfe betreffen. Zudem sollen sie Bussen aussprechen dürfen.
D er Umfang der Schattenwirtschaft im
Vergleich zur Gesamtwirtschaft ist
beeindruckend. Eine Schätzung aus dem
Jahr 2002 bezifferte ihn auf 37 Mrd. Franken und damit 9,3 Prozent des Bruttosozialprodukts. Diese beiden Zahlen wurden
damals in der Botschaft zum Bundesgesetz über Massnahmen zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit (BGSA; SR 822.41) genannt.1
Diese Schätzung wies laut dem Bundesrat
zwar «bedeutende Mängel» auf – so sei der
Umfang der Schattenwirtschaft naturgemäss nicht messbar, da diese im Verborgenen stattfinde. Zudem muss in Bezug auf
die Schwarzarbeit angemerkt werden, dass
der Begriff der Schattenwirtschaft umfangreicher ist als derjenige der Schwarzarbeit.
Doch trotz dieser beiden Einschränkungen
war damals klar: Schwarzarbeit ist ein gravierendes Problem, welches angegangen
werden muss.
Selbst bei aller gebotenen Skepsis gegenüber den eingangs genannten Zahlen:
Ginge man davon aus, dass sich der Anteil
der Schwarzarbeit nur auf einen Zehntel
dieser Schätzungen belief, hätten die Einnahmenausfälle allein für die verschiedenen Sozialversicherungen immer noch bei
über 400 Mio. Franken pro Jahr gelegen.
Hinzu treten weitere negative Folgen der
Schwarzarbeit wie Wettbewerbsverzerrungen und Steuerausfälle.
Heute, etwas mehr als 13 Jahre später,
hat sich an der Ausgangslage nichts geändert: Die aktuellsten Schätzungen – immer
1 BBl 2012 3605.
noch mit den gleichen Mängeln behaftet
wie in der Vergangenheit – sehen den Anteil der Schattenwirtschaft heute zwar um
1 bis 2 Prozent tiefer als zu Beginn des Jahrtausends. Der dadurch entstehende Schaden liegt damit aber noch immer in Milliardenhöhe, und ein konsequentes Vorgehen
gegen die Schwarzarbeit ist nach wie vor
angezeigt.
BGSA mit langer Entstehungsgeschichte
In den Neunzigerjahren wurde Schwarzarbeit erstmals vermehrt als Problem wahrgenommen und auf politischer Ebene diskutiert. Einige Kantone, besonders in der
Westschweiz, begannen bereits damit,
spezialisierte Kontrollorgane zur Schwarzarbeitsbekämpfung einzusetzen. Auf Bundesebene wurde zunächst eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche in Erfüllung von
parlamentarischen Aufträgen einen fast
200-seitigen Bericht über die Bekämpfung
der Schwarzarbeit erstellte. Auf dessen
Grundlage wurde ein Gesetzesentwurf für
ein neues Gesetz, das BGSA, erarbeitet.
Als das BGSA am 1. Januar 2008 in Kraft
trat, hatte es bereits eine bewegte Geschichte hinter sich: Nachdem der Bundesrat den Entwurf und die Botschaft im Januar 2002 an das Parlament überwiesen hatte, tat sich Letzteres schwer, sich auf den
Inhalt zu einigen. Die Kommissionen für
Wirtschaft und Abgaben (WAK) der beiden
Räte bildeten je Subkommissionen, welche den Entwurf intensiv debattierten und
zahlreiche Anpassungen vorschlugen. Der
Gesetzestext, der schliesslich Mitte 2005
vom Parlament verabschiedet wurde, unterschied sich denn auch in wesentlichen
Punkten vom bundesrätlichen Entwurf. So
strich das Parlament beispielsweise die Definition der Schwarzarbeit und ersetzte sie
durch eine indirekte Umschreibung. Demnach liegt Schwarzarbeit heute vor, wenn
gegen Melde- und Bewilligungspflichten
gemäss Sozial­
versicherungs-, Ausländeroder Quellensteuerrecht verstossen wird.
Pfeiler des Gesetzes:
Die kantonalen Inspektoren
Trotz aller Änderungen blieb das zentrale
Element des Entwurfs in seinem Kern erhalten: In jedem Kanton wurde ein Organ
geschaffen, welches rechtsgebietsübergreifend Kontrollen durchführt und eng mit
den verschiedenen fachlich zuständigen
Spezialbehörden (den Ausgleichskassen im
Bereich der AHV/IV-Pflichten, den Migrationsämtern im Bereich des Ausländerrechts
oder den Steuerbehörden im Bereich des
Quellensteuerrechts) zusammenarbeitet.
Ergibt sich bei einer solchen Kontrolle ein
Verdacht auf Schwarzarbeit, so wird der
Fall zur weiteren Abklärung an die zuständige Spezialbehörde weitergeleitet. Erhärtet sich dieser Verdacht, so ist es nach wie
vor Aufgabe der Spezialbehörde, diejenigen
Die schwarz-orange Informations­
kampagne
Die Einführung des Bundesgesetzes über
Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit
(BGSA) Anfang 2008 wurde von einer Informationskampagne unter dem Motto «Keine Schwarzarbeit. Das verdienen alle.» begleitet. Ziel war
die Aufklärung der Bevölkerung, in welcher
Schwarzarbeit als ein Kavaliersdelikt betrachtet wurde. Während zweier Jahre machten die
schwarz-orangen Plakate mit ihren eingängigen
Slogans (z. B. «Des einen Lohneinsparung ist
des anderen Versicherungslücke» oder «Unter
der Hand ist unter der Gürtellinie») auf das neue
Gesetz aufmerksam.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 65
ARBEITSMARKT
Massnahmen zu treffen, welche gesetzlich
vorgesehen sind. Diese reichen von Beitragsnachforderungen bis hin zu Bussen.
Neue Pflichten wurden im BGSA nicht eingeführt; einzig die bereits vorhandenen Bestimmungen sollten effizienter kontrolliert
werden können. Damit handelt es sich mit
dem BGSA um ein Rahmengesetz, welches
die Durchsetzung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen unterstützen will.
Im Jahr 2008 stellten die Kantone dem
Bund die Lohnkosten von etwas über 50 Inspektoren2 in Rechnung.3 Sechs Jahre später waren bereits knapp 70 Inspektoren im
Einsatz. In diesem Zeitraum wurden jeweils
zwischen ca. 34 000 und 37 000 Personenkontrollen pro Jahr durchgeführt. In rund
einem Viertel der Fälle wurden Verdachtsfälle an die Spezialbehörden weitergeleitet.
Hinzu kommen zahlreiche Meldungen an
die Spezialbehörden seitens der Inspektoren ohne vorgängige Kontrollen.
Die Inspektoren prüfen sämtliche Branchen. Einer Kontrolle kann dabei ein eingegangener Hinweis zugrunde liegen. Es gibt
aber auch Spontankontrollen ohne vorbestehenden Verdacht. Zu den meistgeprüften Branchen zählen das Bauhaupt- und
das Baunebengewerbe sowie das Gastgewerbe. Diese werden von den Kantonen
als risikobehafteter betrachtet als andere
Branchen.
Evaluation zeigt Verbesserungs­
potenzial beim BGSA auf
In den Jahren 2011 und 2012 befragte ein
externes Büro die Inspektoren sowie weitere beteiligte Behörden und Instanzen.
Der daraus entstehende Bericht folgerte:
Die Massnahmen des BGSA sind grundsätzlich erfolgversprechend, ihr Beitrag
zur Eindämmung der Schwarzarbeit kann
jedoch noch verbessert werden.4
Auch das vom Bundesrat darauf kontaktierte Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) kam – in Zusammenarbeit mit den
weiteren betroffenen Bundesämtern –
2Vollzeitäquivalente.
3 Der Bund übernimmt 50% der bei den Kantonen anfallenden Personalkosten für die Kontrolltätigkeit.
4 Das Parlament hat im BGSA eine Evaluationspflicht
verankert. Die Massnahmen sollten innert fünf Jahren
nach Inkrafttreten geprüft werden. Der Bericht ist auf
der Internetseite des Seco abrufbar.
66 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Das vereinfachte Abrechnungsverfahren bewährt sich
Mit dem BGSA wurde auch das
vereinfachte Abrechnungsverfahren eingeführt. Dadurch sollte ein Anreiz geschaffen werden,
Arbeitnehmende (insbesondere
im Bereich der Anstellungen im
Privathaushalt; Stichwort: Putzhilfen) bei den Ausgleichskassen
abzurechnen.
Mit der Benutzung des ver­
einfachten Abrechnungsverfahrens werden gleichzeitig die
vorgesehenen Sozialversicherungsabgaben geleistet sowie
das Einkommen der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers
versteuert. Seit 2008 sind die
abgerechneten Beiträge stetig
zum Schluss: Das Gesetz sollte punktuell
revidiert werden. Einig war man sich, dass
die vorhandenen Instrumente des BGSA
und dessen Ansatz zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit beizubehalten und zu stärken sind. Da sich das Gesetz grundsätzlich bewährt hat, sollte davon abgesehen
werden, die Ausrichtung des BGSA grundlegend zu ändern. Die Arbeiten wurden zu
Beginn dieses Jahres abgeschlossen, sodass der Bundesrat die Vernehmlassung
zur Revision des BGSA am 1. April 2015 eröffnen konnte.5
Kontrolleure sollen Bussen
­aus­sprechen dürfen
Eine der Stärken des BGSA ist die Vernetzung sowie der Austausch von Informationen. Die Kontrollorgane sind aufgrund ihrer Vernetzung mit den direkt betroffenen
Behörden zu einer wichtigen Anlaufstelle
für Verdachtsmeldungen geworden. Dieser Vorteil soll mit der Revision ausgebaut
werden: Weitere Behörden, welche mit
Schwarzarbeitstatbeständen konfrontiert
sein können, sollen ebenfalls zur Verdachtsmeldung an das Kontrollorgan befugt werden (beispielsweise die Sozialhilfebehörden).
Gleichzeitig soll den Kontrollorganen ermöglicht werden, Hinweise auf strafbares Verhalten in Zusammenhang mit der
Verrichtung von Arbeit, die aber nicht als
Schwarzarbeit zu taxieren ist, den dafür
zuständigen Behörden zu melden. Da sie
vor Ort Kontrollen vornehmen und befugt
sind, in verschiedene Unterlagen Einblick
zu erhalten, stossen sie auch auf Tatbestände, welche ausserhalb des Sozialversicherungs-, des Ausländer- oder des Quellensteuerrechts liegen.
5 Die Unterlagen sind auf www.admin.ch abrufbar.
gestiegen: Während im ersten
Jahr des Bestehens rund 5,8 Mio.
Franken über das vereinfachte
Abrechnungsverfahren abgerechnet wurden, stieg diese Zahl
bis ins Jahr 2012 auf über 15,6
Mio. Franken. Die Tendenz ist
weiterhin steigend.
Neu sollen die kantonalen Kontrollorgane – und das ist eine Abkehr des geltenden Systems – Bussen aussprechen dürfen.
Diese beziehen sich auf Verstösse gegen
die Anmeldepflicht neuer Arbeitnehmender bei den Ausgleichskassen: Die bereits
heute bestehende Pflicht ist zeitlich gesehen die erste, welche nach Abschluss eines Arbeitsvertrages von einem Arbeitgeber erfüllt werden muss und welche von
den kantonalen Kontrollorganen überprüft
werden kann. Allerdings wird das präventive Potenzial dieser Pflicht nicht ausgeschöpft.
Wer diese Meldung innert Frist unterlässt, kann zukünftig gestützt auf das
BGSA direkt von den Inspektoren gebüsst
werden. Die kantonalen Ausgleichskassen
sowie die Verbandsausgleichskassen geben den Arbeitgebern die Möglichkeit, die
Anmeldung neuer Arbeitnehmender sowie
die Meldung der Jahreslohnabrechnung
online vorzunehmen, sodass sich der Aufwand in engen Grenzen hält.
Insgesamt soll also die Stellung der Kontrollorgane verstärkt werden. Dies ist aus
heutiger Sicht angezeigt, sind sie es doch,
welche täglich direkt vor Ort Kontrollen
durchführen und damit am stärksten mit
Schwarzarbeit konfrontiert werden.
Peter Jakob
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Ressort
Arbeitsmarktaufsicht, Staatssekretariat für
Wirtschaft SECO, Bern.
STEUERN
Schattenwirtschaft in der Schweiz
geht zurück
Die Schattenwirtschaft in der Schweiz ist im internationalen Vergleich tief. Neuste Zahlen
zeigen: Im laufenden Jahr dürfte sie weiter zurückgehen. Rückschlüsse auf die Steuerhinter­
ziehung lassen sich daraus aber kaum ableiten. Friedrich Schneider, Christoph A. Schaltegger,
Felix Schmutz
I n den letzten Jahren ist die Bekämpfung
der Schattenwirtschaft und der Steuerhinterziehung vermehrt in den Fokus der
Politik gerückt. Deren Erfassung ist naturgemäss schwierig, da die Aktivitäten darauf abzielen, im Verborgenen zu bleiben.
Um Massnahmen zur Stärkung der Steuermoral möglichst effizient zu gestalten, ist
es wichtig, relativ genaue Informationen
über Ausmass und Struktur der Schatten-
KEYSTONE
Abstract Auf der Spur des Unsichtbaren:
Dank Kenntnissen über die Schattenwirtschaft und die Steuerhinterziehung kann
die Politik mit gezielten Massnahmen
Gegensteuer geben. Unsichtbares oder
schwer Fassbares zu messen, ist aber anspruchsvoll. Im Idealfall werden für eine
fundierte Analyse mehrere Methoden
miteinander kombiniert. Aus umfassenden Resultatvergleichen können bessere
Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Prognosen zur Schweiz zeigen: Im
Jahr 2015 reduziert sich die Schattenwirtschaft voraussichtlich weiterhin leicht. Sie
bewegt sich damit im unteren Drittel der
OECD-Staaten. Aufgrund dieser Zahlen
kann aber nur beschränkt auf das Ausmass
der Steuerhinterziehung geschlossen werden.
Für das laufende Jahr wird von einem Umfang der Schattenwirtschaft in der Schweiz von 30,7 Mrd. Franken ausgegangen. Das entspricht rund 6,5% des BIP.
wirtschaft und der Steuerhinterziehung
zu ermitteln. Auch sind die Daten von gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Bedeutung. So kann eine zunehmende Schat-
Messmethoden
Makromethoden
Mikromethoden
Makro-Indikatoren:
einzelner Indikator;
monetäre Ansätze;
– Elektrizitätsverbrauch / Physikalischer-InputAnsatz;
– Erwerbsquote;
– mehrere Indikatoren / Modellierung mit multiple
indicator multiple causes (Mimic) / latente Schätzverfahren
Individuelle Steuerprüfungen
Umfragen
Mikro-Diskrepanzen-Methoden
Indikationen aufgrund des Konsumverhaltens
Diskrepanzen basierend auf der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR):
– VGR versus Steuerdaten;
– VGR-Einkommensdaten versus VGR-Verwendungs- oder Produktionsdaten.
Weitere Mikromethoden:
– L aborexperimente und kontrollierte Feldexperimente;
– Steueramnestien, Nach- und Strafsteuerverfahren.
Weitere Makro-Diskrepanzen-Methoden
Nicht zurückgeforderte Verrechnungssteuer
SCHNEIDER, SCHALTEGGER, SCHMUTZ
tenwirtschaft aus gesellschaftlicher Sicht
Ausdruck einer erhöhten Unzufriedenheit
mit dem Staat sein. Finanzpolitisch verringert sie die Steuer- und die Sozialversicherungsbasis.1 Die in der Literatur oft genannten Methoden zur Messung des Ausmasses
der Schattenwirtschaft oder der Steuerhinterziehung können in Makro- und Mikromethoden unterschieden werden (siehe
Kasten und Tabelle).2
Obwohl einzelne Schätzungen zur Höhe
der nicht versteuerten Vermögen auf Kantonsebene bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen3, sind für die Schweiz insgesamt
nur wenige Zahlen vorhanden. Die seit den
1970er-Jahren erstellten Schätzungen zur
Höhe der nicht versteuerten Vermögen
1 Schaltegger und Schneider (2005).
2 Siehe z. B. Schneider und Enste (2000); Gemmell and
Hasseldine (2012) und Schneider (2015a) für weitere
Ausführungen zu den Methoden sowie Schmutz (2015)
zu deren Anwendbarkeit im Falle der Schweiz.
3 Vgl. z. B. Cohn (1884, S. 22/25).
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 67
STEUERN
Grösse in % des BIP
20,1
22,5
22,4
Grösse der Schattenwirtschaft in 21 OECD-Ländern für 2015
17,6
18,2
20
16,2
17,5
8,4
8,2
12,6
12,4
12,3
12,3
12,2
12,0
11,3
10,3
9,4
SCHNEIDER (2015B) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
8,0
5,9
6,5
7,5
9,0
10
10,3
12,5
13,0
15
5
2,5
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Als Methoden wurden die Bargeldnachfrage und das Mimic-Verfahren verwendet.
wurden fast ausschliesslich aufgrund der
nicht zurückgeforderten Verrechnungssteuer berechnet. Sie variieren mit 40
Mrd. Franken bis über 500 Mrd. Franken
erheblich.4 Hinsichtlich nicht deklarierter
Einkommen ging der Bundesrat in seinem
Bericht im Jahr 1962 davon aus, dass «die
Differenz zwischen dem Sollbetrag gemäss
Volkseinkommensrechnung und steuerlich
erfasstem Einkommen [ … ] mindestens 2
Milliarden Franken betragen dürfte».5 Spätere Vergleiche der aggregierten Einkom-
4 Vgl. Bundesrat (1974); Howald (2010).
5 Bundesrat (1962, S. 1075).
men gemäss Steuerstatistiken versus Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
weisen je nach Kanton und Jahr Differenzen
zwischen rund 13% und 35% aus.6
6 Vgl. Feld and Frey (2004); siehe Schmutz (2015) für eine
Übersicht zu den Schätzungen nicht deklarierter Vermögen und Einkommen in der Schweiz.
Schwierige Wahl: Makro- oder Mikromethode?
Makromethoden stützen sich
entweder auf aggregierte Daten, wie
die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) und aggregierte
Steuerdaten, oder auf beobachtbare
makroökonomische Indikatoren.
Mikromethoden basieren hingegen
auf Individualdaten. Eine eindeutige
Meinung bzw. ein eindeutiges Ergebnis, welche Methoden zu bevorzugen
sind, gibt es in der Literatur nicht.
Der Entscheid für eine oder mehrere
Methoden hängt von diversen Faktoren ab: Welche Steuerart und welche
Schattenwirtschaft steht im Fokus?
Soll lediglich das Ausmass geschätzt
werden, oder werden detaillierte
Ergebnisse erwartet, beispielsweise
zum Hintergrund der nicht gesetzeskonformen Steuerpflichtigen oder
Schwarzarbeiter? Welche Daten und
Mittel sind verfügbar? Ein wichtiger
Vorteil von Mikromethoden ist, dass
diese Informationen zur Struktur
der Schattenwirtschaft oder der
Steuerhinterziehung liefern. Diese
Detailliertheit geht jedoch oft mit
wesentlich höheren Kosten einher.
68 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
Zahlreiche Autorena bevorzugen
unter den Mikromethoden zufällige,
individuelle Steuerprüfungen mit
anschliessender Hochrechnung auf
die Gesamtbevölkerung, um das
Ausmass der Einkommenshinterziehung zu schätzen. Ebenfalls spricht
für diese Methode, dass Steuerprüfungen zentraler Bestandteil
von Tax-Gap-Schätzungen durch
Steuerbehörden in Dänemarkb,
Grossbritannienc und den USAd sind.
Von den Makromethoden sind neben
dem Bargeldansatz und den latenten
Schätzverfahrene auch die auf der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) basierenden Diskrepanzenmethoden hervorzuheben. Bei der
Anwendung des Bargeldansatzes und
den latenten Schätzungsverfahren
basieren die Schätzungen des Umfangs der Schattenwirtschaft meistens auf einer Kombination dieser
beiden Methoden. Der «multiple indicator multiple causes»-(Mimic)-Ansatz
geht von der Annahme aus, dass die
Schattenwirtschaft eine nicht direkt
beobachtbare, latente Grösse ist, die
näherungsweise aufgrund von quantitativ erfassbaren Ursachen (z. B.
Steuerbelastung, Regulierungsdichte,
Good Governance), im Schatten zu
arbeiten, und Indikatoren (Bargeld
pro Kopf, offizielle Arbeitszeit etc.),
in denen sich Schattenwirtschaftsaktivitäten widerspiegeln, berechnet
werden kann. Da mit dem Mimic-Verfahren nur relative Grössenordnungen der Schattenwirtschaft der
einzelnen Länder berechnet werden
können, werden zur Umrechnung der
Schattenwirtschaft in absolute Werte
(in % des offiziellen BIP oder in Mrd.
Geldeinheiten) Startwerte, die beispielsweise mithilfe des Bargeldverfahrens errechnet wurden, benötigt.
Der Bargeldeinsatz fusst auf der Idee,
dass die in der Schattenwirtschaft
erbrachten Leistungen bar entlohnt
werden und dass es mithilfe einer
Bargeldnachfragefunktion gelingt,
diese bar entlohnten Leistungen
zu schätzen und das Volumen der
Schattenwirtschaft zu berechnen.
Bei den auf der VGR basierenden
Diskrepanzmethoden wird beispiels-
weise Einkommen gemäss VGR mit
aggregiertem Einkommen gemäss
Steuerdaten verglichen. Die Anforderungen an die verfügbaren Daten und
an die Dokumentation für einen entsprechenden Abgleich sind hoch, und
die Umsetzbarkeit muss im konkreten
Fall geprüft werden. Grundsätzlich
basiert diese Methode jedoch auf
einer fundierten theoretischen
Grundlagef. Auch die OECDg vertritt
die Meinung, dass eine Differenz zwischen den Gesamteinkommen gemäss
Steuer- und VGR-Daten, welche nach
Berücksichtigung von statistischen
und rechtlichen Unterschieden übrig
bleibt, auf die Schattenwirtschaft und
die Steuerhinterziehung zurückzuführen ist.
a
b
c
d
e
Vgl. z.B. Gemmell and Hasseldine (2012)
SKAT (2009).
IMF (2013).
Black et al. (2012)
Diese Methoden, wie andere, werden in
Schneider (2015a) und in Schneider und
Enste (2000) ausführlich dargestellt und
einer kritischen Wirkung unterzogen.
f Vgl. Schmutz (2015).
g OECD (2002) S. 52.
STEUERN
Prognose: Schattenwirtschaft
in der Schweiz sinkt im
laufenden Jahr
Weitaus mehr Schätzungen liegen zum
Ausmass der Schattenwirtschaft vor. Diese beruhen oft auf einer Makro-Indikatoren-Methode (siehe Kasten).7 Nachdem
das Ausmass der geschätzten Schattenwirtschaft in der Schweiz über eine längere Periode hinweg angestiegen war,
wurde zwischen 2004 und 2005 erstmals
ein Rückgang von 9,5% auf 9,1% des BIP
beobachtet. Bis 2008 folgte eine weitere
Reduktion auf 8,0% des BIP, bevor diese
infolge der Wirtschaftskrise wieder leicht
anstieg. Ausgehend von den aktuellen
Prognosen, wird auch für das Jahr 2015 mit
einem Rückgang der Schattenwirtschaft
auf 6,5% des BIP (auf 30,7 Mrd. Franken)
gerechnet. Damit bleibt die Schweiz im
unteren Drittel der OECD-Länder (siehe
Abbildung 1). Die Schweiz hat im OECD-Vergleich eine sehr niedrige Steuerbelastung,
und in vielen Bereichen ist sie auch weniger reguliert.
Aufgrund oben genannter Zahlen zur
Schattenwirtschaft nun auf das Ausmass
der Steuerhinterziehung zu schliessen,
ist zwar verlockend, sollte jedoch vermieden werden: Obwohl es Überschnei-
dungen zwischen den beiden Phänomenen gibt, sind Rückschlüsse nur sehr
beschränkt möglich.8
Da es keine einzelne beste Methode
gibt, um die Höhe der Steuerausfälle zu
schätzen,9 gilt es vielmehr einen wirksamen Gesamtrahmen zu erschaffen. Dieser sollte alle potenziellen Steuerzahler,
alle potenziell zu versteuernden Aktivitäten sowie alle Formen der steuerlichen
Nichtkonformität erfassen, dabei jedoch
Überlappungen der verschiedenen Komponenten vermeiden.10 Folglich – und
da jegliche Schätzungen im Idealfall als
Annäherungen zu betrachten und mit
8 Vgl. OECD (2002, S. 140-146).
9 OECD (2008).
10 IMF (2013).
Friedrich Schneider
Professor für Volkswirtschaftslehre, Johannes
Kepler Universität in Linz.
7 Schneider (2015a, 2015b) kombiniert beispielsweise
das MIMIC-Verfahren und den Bargeldansatz, um den
Umfang der Schattenwirtschaft und dessen Entwicklung
zu schätzen; siehe Schneider (2015a) für Ausführungen
zu den beiden Methoden.
Vorsicht zu geniessen sind – sollten Makro-, Mikro- und Datenquellen-Methoden kombiniert werden. Dies gestattet,
die resultierenden Zahlen auf Konsistenz
hin zu überprüfen und die Steuerhinterziehung möglichst vollständig – im Rahmen des Möglichen – zu erfassen.11 Die
Tax-Gap-Schätzungen durch die Steuerbehörden in Dänemark12, Schweden13,
Grossbritannien14 und den USA15 zeugen
von der Relevanz, die Steuerlücke zu analysieren, und vom Nutzen, dabei mehrere
Methoden zu kombinieren.
11 Schmutz (2015).
12 Vgl. z. B. SKAT (2009).
13 Vgl. Skatteverket (2008).
14 Vgl. HM Revenue & Customs (2013).
15 Vgl. Black et al. (2012).
Christoph A.
Schaltegger
Professor (Ordinarius) für
Politische Ökonomie an
der Universität Luzern und
Direktor des Instituts für
Finanzwissenschaft und
Finanzrecht der Universität
St. Gallen.
Felix Schmutz
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Finanzdienstleistungen Zug
IFZ der Hochschule Luzern
– Wirtschaft und Doktorand am ökonomischen
Seminar der Universität
Luzern.
Literatur
Black, Theodore, Kim Bloomquist, Edward
Emblom, Andrew Johns, Alan Plumley
und Esmeralda Stuk (2012). Federal Tax
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an die Bundesversammlung zur Motion
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Bekämpfung der Steuerdefraudation
(vom 25. Mai 1962), Bundesblatt, 114(23),
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Bundesrat (1974). Kleine Anfrage Eggenberger vom 27. November 1973: Steuerdefraudation, Amtliches Bulletin der
Bundesversammlung, 1, 17/18.
Cohn, Gustav (1884). Die Steuerreform im
Kanton Zürich und der Bundeshaushalt
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J.G. Cotta’schen Buchhandlung.
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Gemmell, Norman und John Hasseldine
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texte/11/Denknetz_Steuerhinterziehung_
Juni11.pdf (21.08.2014).
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Entwicklungen der letzten 20 Jahre, in:
Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band
16, Heft 1.
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der Wirtschaftslage auf die Schattenwirtschaft in Deutschland und anderen
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Sweden: How Was It Created and How
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National Tax Agency.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 69
ZAHLEN
Infografik – Entwicklung privater und staatsnaher
Dienstleistungssektor
Die Zahl der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor ist zwischen 2010 und 2014 um gut acht
Prozent auf 3,65 Millionen gestiegen. Das sind 277 000 zusätzliche Angestellte im Dienstleistungssektor – 127 000 im staatsnahen und 150 000 im privaten Bereich. Die Zunahme der Erwerbstätigkeit fiel
damit in den letzten vier Jahren rund doppelt so stark aus wie im ersten und zweiten Sektor, welche
um insgesamt 3,9 % wuchsen.
Im Jahr 2010 arbeiteten 69,1 % im privaten Dienstleistungsbereich (z. B. Handel, Banken, Versicherungen,
Gastgewerbe, Beratung) und 30,9 % im staatsnahen Bereich (öffentliche Verwaltung, Erziehung und
Unterricht sowie Gesundheits- und Sozialwesen). Im Jahr 2014 haben sich die Anteile im Vergleich dazu
zugunsten des staatsnahen Dienstleistungssektors verschoben (siehe Kuchendiagramm). Der Anteil der
Erwerbstätigen im staatsnahen Dienstleistungssektor stieg um 1,5 Prozentpunkte auf 32,4 Prozent.
Tertiärer Sektor
staatsnaher
Dienstleistungssektor
privater
Dienstleistungssektor
67,6 %
2,47 Mio. Erwerbstätige
32,4 %
1,18 Mio. Erwerbstätige
2014
Entwicklung der Erwerbstätigkeit (saisonbereinigt) im privaten und staatsnahen Dienstleistungsbereich
15 Veränderung der Erwerbstätigenzahlen, in %
12,5
10
7,5
5
2,5
0
öffentliche Verwaltung
Private Dienstleistungen
Erziehung und Unterricht
20
14
20
13
20
12
20
11
20
1
0
–2,5
Gesundheits- und Sozialwesen
Bei den staatsnahen Dienstleistungen wächst die Erwerbstätigkeit in erster Linie im Gesundheitsund Sozialwesen sowie im Bereich Erziehung und Unterricht kräftig. In der öffentlichen Verwaltung
entwickelt sich die Erwerbstätigkeit insgesamt ähnlich wie im privaten Dienstleistungsbereich.
70 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
BFS, SECO
Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Arbeitslosenquote und Inflation von sieben Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf der Internetseite www.dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.
Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr
Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
2014
1/2014
2/2014
3/2014
4/2014
Schweiz
2,0
Schweiz
0,4
0,3
0,6
0,6
Deutschland
1,6
Deutschland
0,8
–0,1
0,1
0,7
Frankreich
0,4
Frankreich
0,0
–0,1
0,3
0,1
Italien
–0,4
Italien
–0,1
–0,2
–0,1
0,0
Grossbritannien
2,6
Grossbritannien
0,7
0,8
0,7
0,5
EU
1,3
EU
0,4
0,2
0,3
0,4
USA
2,4
USA
–0,5
1,1
1,2
0,5
Japan
0,0
Japan
1,3
–1,6
–0,7
0,4
China
7,4
China
1,5
2,0
1,9
1,5
OECD
1,8
OECD
0,2
0,4
0,6
0,5
Bruttoinlandprodukt:
In Dollar pro Einwohner 2013 (PPP*)
Arbeitslosenquote:
in % der Erwerbstätigen, Jahreswert
2013
Arbeitslosenquote:
in % der Erwerbstätigen, Quartalswert1
2014
4/2014
Schweiz
56940
Schweiz
4,5
Schweiz
4,3
Deutschland
43108
Deutschland
5,0
Deutschland
4,9
Frankreich
37556
Frankreich
10,2
Frankreich
10,5
Italien
34836
Italien
12,7
Italien
13,0
Grossbritannien
38256
Grossbritannien
6.2
Grossbritannien
5,6
EU
35211
EU
10,2
EU
10,0
USA
52985
USA
6,2
USA
5,7
Japan
36225
Japan
3,6
Japan
3,5
China
11874
China
–
China
–
OECD
37871
OECD
7,3
OECD
7,1
* kaufkraftbereinigt
Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem
­Vorjahresmonat
2014
Februar 2015
0,0
Schweiz
0,9
Deutschland
Frankreich
0,5
Frankreich
–0,3
Italien
0,2
Italien
–0,1
Grossbritannien
1,5
Grossbritannien
0,0
EU
–
EU
–0.2
USA
1,6
USA
0,0
Japan
2,7
Japan
2,2
China
2,0
China
1,4
OECD
1,7
OECD
0,6
Schweiz
Deutschland
–0,8
0,1
SECO, BFS, OECD
Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr
www.dievolkswirtschaft.ch d Zahlen
1 Saisonbereinigt und arbeitstäglich bereinigte Daten.
Die Volkswirtschaft 5 / 2015 71
CARTOON
72 Die Volkswirtschaft 5 / 2015
VORSCHAU
88. Jahrgang Nr. 1/2015 sFr. 12.–
Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik
88e année N°
5 /2015
88. Jahrgang
Nr. 1/2015
sFr.Frs.
12.–12.–
88. Jahrgang Nr. 1/2015 sFr. 12.–
La
économique
DieVie
Volkswirtschaft
Die
Volkswirtschaft
STRUKTURPOLITIK
FINANZPOLITIK
ARBEITSMARKT
STANDORTFÖRDERUNG
Vertiefte Zusammenarbeit
der Wettbewerbsbehörden
zwischen der Schweiz
und der EU
13
Die Unternehmenssteuerreform III ist ein komplexes
Grossprojekt
15
Die Arbeitsbeteiligung
älterer Erwerbstätiger ist
ausbaufähig
19
Strukturwandel fordert
die Grossregion Ostschweiz
heraus
66
Plateforme
de
politique
économique
Plattform
für
Wirtschaftspolitik
Plattform
für
Wirtschaftspolitik
STRUKTURPOLITIK
FINANZPOLITIK
ARBEITSMARKT
STANDORTFÖRDERUNG
STRUKTURPOLITIK
FINANZPOLITIK
ARBEITSMARKT
STANDORTFÖRDERUNG
Vertiefte Zusammenarbeit
Die
UnternehmenssteuerDie Arbeitsbeteiligung
Strukturwandel fordert
Vertiefte
Zusammenarbeit
Die UnternehmenssteuerArbeitsbeteiligung
fordert
der Wettbewerbsbehörden
reform III ist ein komplexes Die älterer
Erwerbstätiger ist Strukturwandel
die Grossregion
Ostschweiz
der Wettbewerbsbehörden
ein komplexes
älterer Erwerbstätiger
die Grossregionheraus
Ostschweiz
zwischen der Schweiz reform III istGrossprojekt
ausbaufähigist
zwischen der
Grossprojekt
ausbaufähig
heraus 66
undSchweiz
der EU
15
19
und der EU
15
19SCHWERPUNKT
66
13
13
Europa:
Quo vadis?
SCHWERPUNKT
SCHWERPUNKT
Europa:
Europa:
Quo
vadis?
Quo
vadis?
88. Jahrgang Nr. 1/2015 sFr. 12.–
Die Volkswirtschaft
88. Jahrgang Nr. 1/2015 sFr. 12.–
88. Jahrgang Nr. 1/2015 sFr. 12.–
Plattform für Wirtschaftspolitik
DieVolkswirtschaft
Volkswirtschaft
Die
Plattform
Wirtschaftspolitik
Plattform
fürfür
Wirtschaftspolitik
FINANZPOLITIK
ARBEITSMARKT
STRUKTURPOLITIK
STANDORTFÖRDERUNG
Vertiefte Zusammenarbeit
Die UnternehmenssteuerDie Arbeitsbeteiligung
Strukturwandel fordert
der Wettbewerbsbehörden
reform III ist ein komplexes
älterer Erwerbstätiger ist
die Grossregion Ostschweiz
FINANZPOLITIK
ARBEITSMARKT
STANDORTFÖRDERUNG
zwischen der Schweiz
Grossprojekt
ausbaufähig
heraus
66
STRUKTURPOLITIK
STRUKTURPOLITIK
FINANZPOLITIK
ARBEITSMARKT
STANDORTFÖRDERUNG
Vertiefte Zusammenarbeit
Die
UnternehmenssteuerDie Arbeitsbeteiligung
Strukturwandel fordert
Vertiefte
Zusammenarbeit
Arbeitsbeteiligung
fordert
und der EUDie Unternehmenssteuer19 Grossregion
der Wettbewerbsbehörden
reform III ist ein komplexes15 Die älterer
Erwerbstätiger ist Strukturwandel
die
Ostschweiz
der Wettbewerbsbehörden
ein komplexes
älterer Erwerbstätiger
die Grossregionheraus
Ostschweiz
13 reform III istGrossprojekt
zwischen der Schweiz
ausbaufähigist
zwischen der
Grossprojekt
ausbaufähig
heraus 66
undSchweiz
der EU
15
19
und der EU
15
19
66
13
13
SCHWERPUNKT
SCHWERPUNKT
SCHWERPUNKT
Europa: Europa:
Europa:
Quo vadis?
Quo
vadis?
Quo
vadis?
Wichtiger HINWEIS !
Wichtiger HINWEIS !
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
Wichtiger
HINWEIS
! Rahmen)
Innerhalb der Schutzzone
(hellblauer
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kein anderes
Element
platziert
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Element Rahmen)
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Innerhalb der Schutzzone
(hellblauer
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darf
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Abstand
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die Schutzzone
nicht verletzen!
die Schutzzone
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Schutzzone
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Rahmen
Schutzzone
drucken! nie drucken!
Hellblauen
Rahmen
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Schutzzone
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
„Corporate
Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Siehe
auch Handbuch
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
„Corporate Design der Schweizerischen
Bundesverwaltung“
Kapitel
„Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www.
Kapitel „Grundlagen“,
1.5cdbund.admin.ch
/ Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
www. cdbund.admin.ch
SCHWERPUNKT
Wichtiger HINWEIS !
Wichtiger
HINWEIS
! Rahmen) darf
Innerhalb der Schutzzone
(hellblauer
Energie- und Klimapolitik:
lenken statt subventionieren
kein anderes
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platziert werden!
Innerhalb der Schutzzone
(hellblauer
darf
kein
anderes
Element
platziert
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Ebenso
darf
der Abstand
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die Schutzzone
Ebenso darf der Abstand
zu Format-nicht
resp. verletzen!
Papierrand
die
Schutzzone
nicht der
verletzen!
Hellblauen
Rahmen
Schutzzone nie drucken!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Wichtiger HINWEIS !
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Siehe auch Handbuch
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Innerhalb
der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
www.
Kapitel „Grundlagen“,
1.5cdbund.admin.ch
/ Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
kein anderes Element platziert werden!
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
Die zweite Etappe der Energiestrategie 2050 ist eröffnet. Der Verfassungsartikel dazu befindet
sich in der Vernehmlassung. Die Klima- und Energiepolitik sollen gemeinsam neu ausgerichtet
werden. Ab 2021 wird das heutige Fördersystem schrittweise überführt in ein Lenkungssystem.
Vorgesehen sind Abgaben auf Brenn-, Treibstoffen und Strom. Ziel ist eine Verminderung der
Treibhausgasemissionen und die effiziente und sparsame Nutzung von Energie. Was gilt es bei
der Ausgestaltung der Abgaben zu berücksichtigen? Wie werden die Erträge an die Haushalte
und Unternehmen rückverteilt? Welche Fehler gibt es zu vermeiden? Lesen Sie mehr dazu in der
nächsten Ausgabe.
Welche Rolle spielt der Staat bei der Lösung der Klimaprobleme?
Damien Vacheron, SECO
Mit intelligenter Lenkung Klima- und Energieziele erreichen
Martin Baur, EFV, Matthias Gysler, BFE und Isabel Junker, BAFU
Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen und Verteilungseffekte eines
Lenkungssystems
André Müller, Ecoplan und Christoph Böhringer, Uni Oldenburg
Internationale Erfahrungen mit Umweltabgaben – ein Überblick
Patrick Brink und Sirini Withana, IEEP, Brüssel
Klimapolitik post 2020 – welche Interdependenzen bestehen zur Lenkungsabgabe?
Isabel Junker und Roman Ramer, BAFU
Auf dem Weg aus dem Kohlenstoff
Phillippe Thalmann und Marc Vielle, EPFL
Sind die Reduktionsziele aus ökonomischer Sicht richtig gewählt?
Patrick Koch, IWSB
Was die Schweiz von der deutschen Energiewende lernen kann
Andreas Löschel, Universität Münster
Zuckerbrot, Peitsche und Predigt – ein politikwissenschaftlicher Blick auf die
Lenkungsabgabe
Andreas Balthasar, Interface Politikstudien Forschung Beratung
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