Inhaltsverzeichnis - Melanchthon

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Inhalt
Inhaltsverzeichnis
A.
1.
2.
3.
4.
5.
Der Vorlauf
Das Kölner „Nein zur Judenmission“ – Eine Verkaufsskizze
Ein Schreiben der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde
„Gehet hin in alle Welt...“ – Einladung zum Gottesdienst
Pfingsten 2006
Einladung zum Pressegespräch
„Juden für Jesus“ – Eine Warnung, „wenn Sie die Juden
wirklich lieben...“
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
6. Der Pfingstgottesdienst
7. Bericht über den Besuch in den jüdischen Gemeinden
C. Reaktionen auf Gottesdienst und Sendungstext
8. „Wer Juden den Glauben an Jesus vorenthalten will,
handelt judenfeindlich“
9. „Eine neue Form antisemitischer Diskriminierung“
10. Stellungnahme der Akademie
11. „....liebe Grüße Enrico“ – Ein typisches mail
12. Bericht in „Nes Ammim International“
13. Aus dem Gemeindeblatt der Synagogengemeinde und
von der jüd. Liberalen Gemeinde
14. Reaktionen aus Presbyterien der ev. Gemeinden im EKV
5
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D. Das Seminar im November 2007
15. Prof. Klaus Wengst, Nein zur Judenmission
16. Pfr. Dr. Robert Brandau, Nein zur Judenmission –
Stimmen aus der EKD und systematische Reflexionen
17. Pfr. Dr. Robert Brandau, Tabellarische Übersicht der
Argumente Pro und Contra
18. Prof. Johann Michael Schmidt, Nein zur Judenmission –
Gedankensplitter zu einer alttestamentlichen Sicht
113
Ausblick:
19. Der christlich-jüdische Dialog und unser Verhältnis zu den
messianischen Juden
122
66
83
110
A. Der Vorlauf
A. Der Vorlauf
Das Kölner Nein zur
Judenmission
– eine Verlaufsskizze
Zum Begriff „Judenmission“1
Judenmission als die systematisch betriebene Bemühung, Juden zum
Christentum zu bekehren und zur Annahme der Taufe zu bewegen,
bedeutet aus jüdischer Sicht den Versuch, Menschen ihrer eigenen Tradition zu entfremden, sie aus ihrer jüdischen Tradition und aus dem
Synagogenverband herausbrechen und damit das Judentum systematisch zu schwächen. Judenmission ist aus jüdischer Sicht ein Angriff auf
das Judentum.
In dieser Weise haben christliche Judenmissionare des 19. Jh., deren
Wurzeln in den Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jh. liegen,
ihre Bemühungen nicht gesehen. Als im Jahr 1842 hier in Köln, in der
Christophgasse 4, der „Rheinisch-Westfälische Verein für Israel“ gegründet wurde, waren die Vereinschristen getrieben von einer tiefen Liebe zu
Israel, dem Volk, dem sie „die größten und wunderbarsten Verheißungen“ verdanken und das den Heidenchristen „auf das Herz gelegt ist“.
(vgl. unten Seite 42)
Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland wieder vermehrt judenmissionarische Aktivitäten, die sich mit besonderer Intensität an Emigranten aus der früheren Sowjetunion richten. Diese Menschen haben u. a.
auf Grund der politischen Verhältnisse wenig oder gar kein Wissen über
ihre eigene Tradition; sie eigenen sich daher besonders leicht für missionarische Offensiven, weil sie der christlichen Werbung oft geistig und
geistlich nichts entgegenzusetzen wissen.
1) Vgl. Heinz Kremers, Was ist „Judenmission“?, in: ders. Judenmission heute?, Neukirchen 1979, S. 10 ff
5
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Der Auslöser
Vor etwa zwei Jahren erreichte uns aus der Kölner Synagogengemeinde
in der Roonstraße die Bitte, doch einmal eindeutig eine evangelische
Position in dieser Frage zu formulieren und öffentlich zu machen, damit unsere jüdischen Gesprächspartner in dieser Sache wissen, woran
sie mit uns sind. Die folgenden Einladungszettel wurden uns als Beleg
überreicht.
6
A. Der Vorlauf
Zwar sind die Träger dieser neuen judenmissionarischen Initiativen
nicht Gemeinden aus dem Bereich der ev. Landeskirche; aber es sind
doch eben auch evangelische Gruppierungen, die von außen zumindest
so lange mit der Ev. Kirche im Rheinland in Verbindung gebracht werden, solange wir nicht eine klare und eindeutig andere Position in dieser
Frage bezogen haben.
7
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Der Rheinische Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses
von Christen und Juden“ (RSB) von 1980 hatte ja eine gewisse Unklarheit in der Frage hinterlassen, ob die Rheinische Kirche künftig
noch Judenmission betreiben dürfe. Einerseits heißt es, das besondere
Verhältnis zwischen Kirche und Israel verlange, dass wir das christliche
Zeugnis gegenüber Israel anders wahrnehmen als die Mission unter den
anderen Völkern (4,6). Die rheinische Kirche hat daraus auch tatsächlich die Konsequenz gezogen, dass sie per Beschluss 1986 die Verpflichtung zur Judenmission aus ihrer Kirchenordnung entfernt hat. – Andererseits aber hat sie sich noch nicht zu einer eindeutigen und für ihren
ganzen Bereich verbindlichen Ablehnung und damit zu einem Verbot
der Judenmission durchringen können. Die jüdischen Gemeinden
haben an uns also in dieser Frage noch keinen eindeutig erkennbaren
Partner. Darum haben wir uns verpflichtet gefühlt, die Anfrage aus der
Roonstraße sehr ernst zu nehmen und eine angemessene Antwort zu
geben.
Die Optionen
Zunächst haben der Kölner evangelische Ökumenepfarrer Dr. Martin
Bock und der Leiter der Melanchthon-Akademie, Pfr. Marten Marquardt, nach Handlungsmöglichkeiten gesucht. Am besten geeignet
schien eine gemeinsame Stellungnahme der beiden großen christlichen
Kirchen in Köln. Die katholischen Partner waren zunächst zur Kooperation bereit, zogen sich dann aber aus einer konkreten Veranstaltungsplanung zurück mit dem Hinweis, das sei für die römisch katholische
Kirche kein wichtiges Thema, da es auf katholischer Seite ja niemals
eine derart systematisch betriebene Judenmission gegeben habe.
Auch in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Köln wurde
die Kölner Problematik diskutiert, insbesondere da die Vertreterin des
ev.-kath. Arbeitskreises, Frau Margret Müller, schon frühzeitig auf Einladungszettel der Freien Evangeliumschristen in Köln und auf die Hinweise in der jüdischen Gemeinde aufmerksam geworden war. Zusammen besuchten Frau Müller und Herr Bock einen Gottesdienst in dieser
Gemeinde und sprachen mit den Verantwortlichen. Eine gemeinsame
Stellungnahme der ACK gegen diese Form der Judenmission schien
8
A. Der Vorlauf
jedoch nicht möglich. Die freikirchlichen ACK-Mitglieder machten
vielmehr deutlich, dass sie deratige judenmissionarische Aktivitäten
selbst verurteilen und sich davon distanzieren; ein eindeutiges Nein zur
Judenmission generell könne aber aus theologisch-biblischen Gründen
auch nicht ausgesprochen werden.
Für die vier ev. Kirchenkreise in Köln und Region wäre der Versuch einer gemeinsamen theologisch begründeten öffentlichen Stellungnahme
gegen die Judenmission nur über den Weg der vier Kreissynoden gegangen, die bei ihrem Tagungsrhythmus und den langfristigen Festlegungen im besten Falle erst nach zwei oder drei Jahren zu einem Votum
hätten gelangen können. Darum haben wir einen anderen Weg gewählt.
Im Gespräch mit dem ev. Stadtsuperintendenten von Köln wurde vereinbart, dass wir gemeinsam mit ihm zu Pfingsten 2006 in der ev. Trinitatiskirche einen öffentlich angekündigten Gottesdienst feiern wollten,
der den sog. Missionsbefehl aus Matthäus 28, 16-20 zum Thema haben
sollte und an dessen Ende ein vorbereiteter sog. Sendungstext verlesen
werden sollte, den wir dann direkt im Anschluss den beiden jüdischen
Gemeinden von Köln persönlich überbringen wollten. – Im Vorlauf
zu diesem Gottesdienst sollte der „Sendungstext“ unter den Kölner
Superintendenten zirkulieren und in einem Einladungsblatt für diesen
Pfingstgottesdienst auch öffentlich bekannt gemacht werden2. Am 29.
Mai 2006 fand im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region
eine Pressekonferenz statt unter dem Thema „Pressegespräch zu einem
evangelischen Wort gegen die ‚Judenmission‘“. Hierbei wurde u. a.
noch einmal öffentlich zu dem Pfingstgottesdienst eingeladen.3
Ein erstes Echo auf diese Pressekonferenz erfahren wir durch diverse
Einschreibebriefe von Avi Snyder von Juden für Jesus an die Trinitatiskirche, in denen wir noch vor dem geplanten Gottesdienst dringend
aufgefordert werden, „diesen schrecklichen Schritt“ nicht zu tun.4
2) S. u. S. 17-24
3) S. u. S. 25
4) S. u. S. 26-27
9
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
10
A. Der Vorlauf
11
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Der Gottesdienst und die pfingstliche Delegation in den jüdischen Gemeinden
Am Pfingstsonntag 2006 findet vormittags der angekündigte Gottesdienst in der Trinitatiskirche statt. Die drei Theologen Bock, Fey, Marquardt legen in ihrer gemeinsamen Predigt den Text Mt 28, 16-20 aus.
Die Predigt hat drei Teile: 1. Der Weg zum Berg - 2. Unterwegs in alle
Welt - 3. Bund mit Brief und Siegel. Der Gottesdienst endet mit dem
gemeinsam gesprochenen Gebet, das dem großen Konzilspapst Johannes XXIII. als „Bußgebet kurz vor seinem Tod“ zugeschrieben wird.5
Der Gottesdienst wird u. a. von einer Delegation von „Juden für Jesus“
besucht, die mit vorbereiteten Transparenten vor der Kirche stehen,
dann mit eingerollten Transparenten am Gottesdienst teilnehmen, um
schließlich nach dem Gottesdienst noch einmal für ihre Sicht zu werben.
Direkt im Anschluss an den Gottesdienst fahren die drei Theologen in
Begleitung einiger Gottesdienstbesucherinnen und –besucher zu den
beiden Kölner Synagogen, wo sie bereits von Vorstandsmitgliedern
erwartet werden. Nach kurzer Begrüßung wird jeweils der Sendungstext
verlesen und mit wenigen mündlichen Erläuterungen übergeben. Die
Reaktionen der beiden jüdischen Gemeinden, die sich in den Antworten ausdrücken, sind gezeichnet von Dankbarkeit und Erleichterung
und der Hoffnung, dass diese Stellungnahme immer mehr Verbindlichkeit in allen evangelischen Gemeinden und Gremien erlangen möge.6
Wirkungen und
Auseinandersetzungen
In diversen Zeitungen und Agenturen wird von dem Gottesdienst
berichtet. Aus Süddeutschland und Norddeutschland kommen Bitten
um Übersendung der Texte. Der Idea-Pressedienst schwankt zwischen
5) S. u. S. 48
6) Ein Ausschnitt aus dem Presseecho s. u. S. 51-52
12
A. Der Vorlauf
nüchternem Bericht und heftiger Polemik.7 Anonyme und namentlich
gekennzeichnete E-Mail Reaktionen treffen ein. Wir beantworten, was
wir können.8
Am nachhaltigsten ist aber die Auseinandersetzung in den eigenen Reihen. Der Superintendent des Kirchenkreises Köln-Süd protestiert auf
verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Argumenten.
Vor allem dieser interne Streit, aber auch die noch immer nicht ganz
eindeutige Haltung der EKiR bringen uns zu der Überzeugung, dass
wir das Thema nach einem Jahr noch einmal auf andere Weise aufgreifen müssen. Dieses Mal ist geplant, mit einer eher fachspezifischen Veranstaltung die These zu überprüfen, es gäbe biblische und theologische
Gründe für unser Nein zur Judenmission. Dieses Mal sollen der stärkste
interne Kritiker und ein Vertreter der Kirchenleitung der EKiR einbezogen werden. Bei den Teilnehmenden wollen wir vor allem auf Pfarrerinnen und Pfarrer sowie auf Religionslehrerinnen und –lehrer zielen.
Die Zusage des Vertreters der Kirchenleitung, Herrn OKR Neusel
bekommen wir sofort und die Zusage des Superintendenten von Köln
Süd, Herrn Dr. Hübner, erhalten wir nach fast zweistündigem persönlichem Vorgespräch. - Im Nachhinein beweist allerdings sein persönlich
formuliertes, aber internetweites offenes E-Mail-Schreiben9 an etwa 160
Adressen im Kölner Raum, dass auch dieses Vorgespräch noch nicht
genug war, um eine sachliche Kontroverse beginnen zu können:
…
verwundert nehme ich zur Kenntnis, daß Sie von einem „Das Kölner Nein zur Judenmission“ wissen und es so drucken lassen. Für wen sprechen Sie?
… setzen Sie etwas durch, was mit der presbyterial-synodalen Verfassung unserer Kirche nur wenig zu tun hat. Es gibt kein „Kölner Nein zur Judenmission“. Es gibt keinen Kreissynodenbeschluß in Köln-Süd, es gab keinerlei Vorbereitung Ihrer Erklärung
seinerzeit vor Pfingsten in Trinitatis, das haben wir alles besprochen: …. „Das Kölner
Nein“ heißt klipp und klar: Die Melanchthon Akademie und andere Einrichtungen
des Verbandes ignorieren zumindest den Kirchenkreis Köln-Süd. Ich persönlich habe
keinerlei Probleme damit, Minderheit in meiner Kirche zu sein; das hat in meiner
Familie Tradition. Ich habe aber Probleme damit, daß Sie sich - wie andere auch,
7) S. u. S. 54-55
8) S. u. S. 56-61
9) Dieses mail ist allerdings vom Absender bis heute nicht an den zu Beginn angesprochenen Adressaten geschickt worden.
13
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
deshalb fällt es ja gar nicht mehr auf - synodal-demokratisch gerieren, es aber nicht
sind. Mit der synodalen Verfassung hatte unsere ev. Kirche in Köln schon Probleme in
einer Zeit, die wir beide ablehnen. Dafür wurde ja 1934 der Verband von den Deutschen Christen in Köln gegründet: Man hat erfolgreich die Kreissynode um ihre Würde
gebracht, das Sagen hatte nun der Verband und damit die Nazis. Heute ist es etwas
verborgener formuliert: Sprecher für alle sei der Verband. Aber das stimmt nicht: Der
Verband ist ein Dienstleister für die ihm angeschlossenen Kirchenkreise und Gemeinde,
nicht aber ihr theologischer Sprecher. Dazu fehlt es am Mandat (Kirchenordnung).
Denjenigen, die Sie angeschrieben haben, geht auch mein Antwortschreiben zu, dem
Verband und Presseamt vorsichtshalber auch; denn ich möchte, daß nun, nachdem Sie
in einer theologisch tiefen Frage für uns alle meinen sprechen zu können, Ihrem Adressatenkreis mein Nein nicht verborgen bleibt. ...
Das Thema scheint vor allem auf Seiten der Missionsverfechter besonders emotional aufgeladen zu sein.
Die referierenden Fachleute sind sehr schnell und problemlos gefunden:
Herr Prof. Wengst aus Bochum hat seit Jahren theologisch begründet,
warum Judenmission nicht sein darf.
Herr Dr. Brandau hat gerade seine Promotion zum Thema Judenmission veröffentlicht, in der er sehr ausführlich und materialreich die
Geschichte der Judenmission und zugleich die theologische Debatte
für und gegen Judenmission darstellt. Sein Fazit ist eindeutig und klar:
Die christlichen Kirchen können sich an einer irgendwie organisierten
Judenmission aus theologischen Gründen nicht beteiligen.
Herr Prof. Schmidt untermauert das Nein zur Judenmission mit exegetischen Gründen aus einer gesamtkanonischen Lektüre der Bibel.
Bei einer abschließenden Podiumsdiskussion sollen dann die Fachleute
gemeinsam mit Herrn Dr. Hübner und Herrn OKR Neusel die Frage
beantworten: „Müssen wir denn da eindeutig Stellung beziehen?“ Die
Gesprächsleitung hat der WDR-Redakteur Arnd Henze.
Stichworte aus dem Podiumsgespräch unter der
Frage: „Müssen wir denn da eindeutig Stellung
beziehen?“
An der Veranstaltung nehmen etwa 30 Interessierte teil. Die drei jeweils
ca. 60-minütigen Impulse dienen der theologischen Klärung der ein-
14
A. Der Vorlauf
deutigen Ablehnung der Judenmission.10 In der Grundthese sind sich
alle drei Referenten trotz unterschiedlicher Akzentuierung einig. Herr
Dr. Hübner nimmt erst an der zweiten Veranstaltungshälfte mit dem
Schwerpunkt des Podiumsgesprächs teil.
Seine Vorbehalte gegen das „Kölner Nein zur Judenmission“ sind überwiegend formaler Art:
Es gebe kein „Kölner Nein“, weil es keinen organisatorisch legitimierten Abstimmungsprozess der kirchlichen Gremien gegeben habe.
Er sei von Anfang gegen den RSB von 1980 und gegen die
daraus folgenden kirchlichen Verlautbarungen gewesen; der
Kirchenkreis Süd habe sich bisher auch konsequent dagegen
ausgesprochen. Darum könnten die Gegner der Judenmission
auch nicht in seinem Namen oder im Namen des Kirchenkreises
Köln-Süd sprechen.
Der von der presbyterial-synodalen Kirchenordnung vorgesehene Entscheidungsweg sei nicht eingehalten worden. Der ganze
Vorgang sei ein Angriff auf die presbyterial-synodale Ordnung.
Hübner trägt dann auch einen inhaltlichen Einwand vor:
Das Nein zur Judenmission übergehe in verräterischer Weise die
Existenz der getauften Juden, die als Christen zu unserer Kirche
gehörten und denen durch die Absage an die Judenmission das
Existenzrecht bestritten werde.
Auf dem Podium wird Herrn Hübner zugestanden, dass das Thema des
Verhältnisses der heute fast ausschließlich aus nicht aus dem Judentum
stammenden Christen (sog. Heidenchristen) bestehenden Kirche zu
den wenigen getauften Juden dringend weiter bedacht werden müsse.
Auch in dieser Frage müsse der RSB von 1980 heute fortgeschrieben
werden. Soweit habe Herr Dr. Hübner den Finger zu Recht auf eine
offene Stelle gelegt.
Allerdings kann das Podium nicht sehen, inwiefern die Absage an die
Judenmission, die ja faktisch heute die Mission von Heidenchristen unter den Juden wäre, tatsächlich als eine Aufkündigung der christlichen
Solidarität mit getauften Juden sein solle.
Wengst erklärt, es gebe keinen einzigen biblischen Beleg dafür, dass
dort jemals Heidenchristen Mission unter Juden getrieben hätten. Die
10) S. u. S. 66 bis 121
15
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Gemeindebildungsarbeit von jesusgläubigen Juden unter Juden in den
ersten zwei oder drei Generationen sei aber etwas kategorial anderes als
die von Heidenchristen der späteren Generationen betriebene Missionsarbeit unter Juden, die Jesus nicht als ihren Messias annehmen können
oder wollen.
Etwas kategorial anderes sei das Gespräch, das möglicherweise Juden
mit Juden über Jesus führen wollen; das sei aber hier und heute nicht
unser Thema.
Die von den Podiumsteilnehmern dann vorgetragenen und diskutierten
Argumente für ein eindeutiges Nein gegen die Judenmission unter den
Bedingungen einer heidenchristlich dominierten christlichen Kirche
führen zu drei beachtenswerten und für die Zukunft zu erinnernden
Feststellungen:
•
•
•
Superintendent Pfr. Dr. Thomas Hübner erklärt, er sei genauso
wie alle hier gegen die Judenmission
OKR Wilfried Neusel weist auf die Offenheit des RSB hin
(„Zeugnis und Dialog“), die allerdings das Missverständnis
ermöglicht, immer noch nach Nischen für eine judenmissionarische Aktivität zu suchen. Neusel stellt in Aussicht, dass die EKiR
in dieser Frage bald mit der westfälischen Kirche gleichziehen
werde.
Neusel ergänzt, es sei unsere künftige Aufgabe, unsere Erkenntnisse in Sachen Judenmission auch in die Arbeit der VEM und
in unsere ökumenischen Partnerkirchen hineinzutragen.
Mit diesen drei Feststellungen hat sich der ganze Weg gelohnt. Uns
bleibt nur noch zu wünschen, dass er in diesem Sinne nun auch in unseren Gemeinden und Kirchen weiter gegangen wird.
Ernst Fey, Stadtsuperintendent
Dr. Martin Bock, Ökumenepfarrer
Marten Marquardt, Akademieleiter
16
A. Der Vorlauf
Ökumenepfarrstelle
im Ev. Kirchenverband
Köln und Region
"GEHET HIN IN ALLE WELT":
LERNT MIT ISRAEL, LEHRT IN DER WELT!
Unser biblisch begründetes Nein zur Judenmission
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Gottesdienst, Pfingstsonntag, 4. Juni 2006, 10 Uhr, Trinitatiskirche
Predigt: Stadtsuperintendent Ernst Fey,
Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock, Pfarrer Marten Marquardt
17
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Einladung zum ev. Pfingstgottesdienst am 4. Juni
um 10 Uhr in die Trinitatiskirche
Der Gottesdienst am Pfingstsonntag wird in diesem Jahr - ausgehend vom
sog. Missionsbefehl (Mt 28, 16-20) - einen Beitrag zu dem in Köln in
jüngster Zeit besonders bedrängend gewordenen Thema der
„Judenmission“ leisten. Der aktuelle Hintergrund für diese Fragestellung
sind die in jüngster Zeit verstärkt vorkommenden Versuche, Juden zu missionieren und zu Christen zu machen. Zwar sind es nur einzelne christlichen Gruppierungen, die auf diese Weise systematisch die jüdischen
Wurzeln von oft schlecht informierten jüdischen Migrantinnen und
Migranten ausreißen wollen, aber diese Kampagnen sind geeignet, das
jüdisch-christliche Verhältnis grundlegend zu stören. Darum wollen wir
mit diesem Gottesdienst die biblisch begründete Entscheidung der evangelischen Kirche im Rheinland gegen die Judenmission untermauern und
noch einmal öffentlich bekannt machen: Die Ev. Kirche im Rheinland hat
Nein zur Judenmission gesagt.
In dem Pfingstgottesdienst werden die drei ev. Theologen in Form einer
trialogischen Predigt den sog. Missionsbefehl auslegen und dabei erklären, warum die ev. Kirche im Rheinland mit biblischen Gründen die
systematische Mission von Juden kategorisch ablehnt.
Anschließend an den Pfingstgottesdienst werden Abgesandte direkt aus
dem Gottesdienst persönlich eine entsprechende Entschließung zu unseren jüdischen Partnern bringen und sie mündlich erläutern.
Die folgenden Seiten enthalten exemplarische Texte zum Thema „Judenmission“. – Auf der letzten Seite folgt der Text der Entschließung.
18
A. Der Vorlauf
Zur Vorgeschichte der Judenmission in Köln
Äußerer Anlass für die Aufnahme dieses Themas ist das Auftreten judenmissionarischer Aktivitäten an verschiedenen Stellen des Kölner Stadtgebietes.
Vor allem in Kölner Stadtvierteln, in denen massiv und in kurzer Zeit jüdische Menschen aus Russland und anderen GUS-Staaten zugezogen sind, mehren sich seit einigen Monaten Aktivitäten, die einen ausdrücklichen missionarischen Charakter haben
und zugleich den Anschein erwecken, es handele sich um Angebote einer jüdischen
Institution: Regelmäßige sogenannte Schabbat-Nachmittage, Vorträge über biblische
Themen, Sprachunterricht und gesellige Einladungen sollen jüdische Einwanderer
nicht nur in sozialer Hinsicht ‚auffangen’, sondern sie in eine christliche Gemeinschaft
einbinden.
Die Gruppen, die diese missionarische Arbeit tragen, gehören weder zur evangelischen Kirche im Rheinland noch zur römisch-katholischen Kirche, auch nicht zu den
freikirchlichen Mitgliedern der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“. Doch wie
deutlich ist dies den betroffenen Juden, die erst seit kurzer Zeit in Köln wohnen?
Dazu kommt, dass das Thema „Judenmission“ im Bereich des evangelischen Rheinlandes durchaus ein eigenes Kapitel der ambivalenten Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses ist. Es ist eine – vom heutigen Standpunkt aus gesehen – tragische
Vermischung aus sozialem Engagement von Christen gegenüber ihren jüdischen
Geschwistern und einem Versuch, das Judesein solange als defizitär zu verstehen, als
es nicht mit einem Bekenntnis zur Messianität Jesu verbunden ist:
In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen auf dem Nährboden der protestantischen
Erweckungsbewegungen sogenannte Judenmissions-Vereine. In Köln wird im Jahr
1844 der „Rheinisch-Westfälische Verein für Israel“ gegründet: Von vorneherein ist
den Akteuren dieses Vereines an einer Verbindung von Sozialarbeit und Missionstätigkeit gelegen. Sie beschäftigen sich so intensiv wie kaum ein anderer Christ und Theologe mit der Bibel Israels und seiner rabbinischen Auslegung, sie sind am gottesdienstlichen Leben der jüdischen Gemeinden interessiert, sie treten mutig gegen den
gesellschaftlichen und kirchlichen Antisemitismus an und entwickeln auch Verständnis
für die entstehende zionistische Bewegung: insofern könnte man ihre Tätigkeit auch
als Vorläufer des heutigen christlich-jüdischen Dialoges bezeichnen. Gepaart ist dieses
19
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Bemühen aber mit einem unbedingten Willen zur Bekehrung zum Glauben der christlichen Kirche und deshalb mit einem gänzlich fehlenden Respekt vor der Identität und
Integrität des jüdischen Glaubens.
Diese ambivalente Geschichte der Judenmission in der evangelischen Kirche (auch) in
Köln ist bis in die Zeit nach 1945 zu verfolgen: Einerseits setzen sich „Hilfstellen“
dafür ein, dass aus dem Holocaust zurückgekehrte getaufte Juden durch die evangelische Kirche diakonisch unterstützt werden, andererseits ist man ungeachtet der christlichen Schuld am Holocaust weiterhin der Meinung, dass Christen „den Juden das
Evangelium schuldig seien; man müsse ihnen zurückgeben, was man von ihnen empfangen habe“.1
Theologische Arbeit in den Gemeinden, Synoden, Fachkommissionen und Kirchenleitungen der Ökumene ist durch den christlich-jüdischen Dialog auf einem anderen
Weg, der von der EKD-Studie III aus dem Jahr 2000 so resümiert wird:
„Gott hat Israels Bund zu keinem Zeitpunkt gekündigt. Israel bleibt Gottes erwähltes
Volk, obwohl es den Glauben an Jesus als seinen Messias nicht angenommen hat. ...
Diese Einsicht lässt uns – mit dem Apostel Paulus – darauf vertrauen, Gott werde sein
Volk die Vollendung seines Heils schauen lassen. Es bedarf dazu unseres missionarischen Wirkens nicht“.2
Es bedarf jedoch der ständigen ökumenischen Arbeit an dieser Selbstreflexion „unseres missionarischen Wirkens“ und des Protestes gegen eine unbekümmerte Fortsetzung nicht-reflektierter missionarischer Aktivität gegenüber dem jüdischen Volk,
gerade wenn gemeinsame soziale Herausforderungen auftauchen.
1
P.G. Aring, Christliche Judenmission, Neukirchen-Vluyn 1980, 235.
Christen und Juden III. Schritte zur Erneuerung im Verhältnis zum Judentum, Eine Studie der EKD,
Gütersloh 2000, 60.
2
20
A. Der Vorlauf
Beispielhafte Texte aus den letzten zwei Generationen protestantischer Theologie- und Kirchengeschichte und aus dem jüdisch-christlichen Gespräch in Deutschland zur veränderten Wahrnehmung der „Judenmission“
1938 „Das Neue Testament sagt nichts anderes, es sagt genau genommen nicht mehr
als das Alte Testament.“
1957 “Kommt das Neue Testament auf die Welt der Völker zu sprechen, so sind die
Völker in der Regel Gegenbegriff zu Israel. Die Völkerwelt wird von Israel her anvisiert. ... Israel ist das Volk der Tora, während die Völkerwelt die Tora nicht hat.“
1959 ”Es kann einmal keine Rede davon sein, dass die Gemeinde im Verhältnis zur
Synagoge den wahren gegenüber dem falschen Glauben zu verkündigen, einem falschen den wahren Gott entgegenzustellen hätte.“
1964 “Die Prüfung des Ernstes dessen, was wir Glaube nennen, werden Christen und
Juden in Zukunft gemeinsam zu bestehen haben. Gegensätze des Glaubens in unserer
irdischen Zeit sollen darüber weder vergessen noch wegdiskutiert werden. Dass wir
nur noch gemeinsam aus den Verließen unserer Melancholie über die furchtbare und
dennoch geliebte Welt herausfinden können, muss einmal ins Bewusstsein gehoben
werden. Eines aber muss ganz deutlich bleiben. Alles Verheißungsvolle würde verspielt, wenn Christen an dem Prinzip der Judenmission festhalten und Juden in sehr
begreiflicher Reaktion einem ehrlichen christlich-jüdischen Gespräch sich versagen.
Man kann dem Judentum seinen Zeugnischarakter ebenso wenig bestreiten wie dem
Christentum, es ist genug des Spiels, da man Juden umwirbt, bezirzt, als Aushängeschild missbraucht – und letztlich nicht ernst nimmt.“
1979 „Wir handeln gegen die eindeutige Botschaft des Neuen Testamentes, wenn wir
die Juden wie die Heiden ‚missionieren’. Nach dem Neuen Testament können wir gar
nicht zum jüdischen Volk hin gesandt werden (missio), weil wir schon immer mit ihm
verbunden sind und bleiben.“
21
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
1980 “Nicht Judenmission ist das Gebot der Stunde – war es nie - , sondern staunende Anerkennung der missio Israels: Zeuge zu sein für Gott, zu der wir hinzukommen
durften.“
1980 “Die bleibende Berufung und Sendung Israels verbietet es der Kirche, ihr Zeugnis ihm gegenüber in derselben Weise wie ihre Sendung (Mission) zu allen anderen
Völkern zu verstehen“.
1987 hat die EKiR darum ihre Kirchenordnung (KO) in den Artt. 5, 140, 169 und 215
geändert und den Auftrag zur Mission an Israel ersatzlos aus ihrer Ordnung entfernt.
1996 “Sie (die Kirche) bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes
Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“
2000 Zwar gilt: „Christlicher Glaube ist seinem Wesen nach missionarisch“, aber „Judenmission ... gehört heute nicht mehr zu den von der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD) und ihren Gliedkirchen betriebenen oder gar geförderten Arbeitsfeldern“.
2001 “Christliche Verkündigung geschieht öffentlich und richtet sich an alle
Menschen. Sie geschieht im Kontext des Dialogs mit den Religionen der Welt und im
Gespräch mit nichtreligiösen Weltanschauungen. Ihnen allen gegenüber bezeugen
Christen selbstverständlich ihren Glauben.
Das gilt auch in der Begegnung mit Juden. Die Gemeinsamkeit des Zeugnisses von
dem Gott Israels und das Bekenntnis zu dem souveränen Erwählungshandeln dieses
Einen Gottes ist ein gewichtiges Argument dafür, dass sich die Kirchen jeglicher gezielt
auf die Bekehrung von Juden zum Christentum gerichteten Aktivität enthalten.“
2005 hat die EKiR ihre diesbezüglichen Beschlüsse allesamt bestätigt, vertieft und in
den Zusammenhang mit entsprechenden Beschlüssen anderer Landeskirchen, der
EKD und der Leuenberger Kirchengemeinschaft (LKG) gestellt.
Fazit:
Für die EKiR und alle ihre Gemeinden und Einrichtungen ist in Übereinstimmung mit dem größten Teil der protestantischen Kirchen
Europas deshalb Judenmission heute aus theologischen Gründen ausgeschlossen.
22
A. Der Vorlauf
Quellen
1938 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, S. 115
1957 Georg Eichholz, Der Begriff ‚Volk’ im Neuen Testament, in: TB 29, 79
1959 Karl Barth, KD IV,3, S. 1005
1964 Robert Raphael Geis, Eine Purim-Betrachtung zur Woche der Brüderlichkeit, in: D.
Goldschmidt, (Hg.), Leiden an der Unerlöstheit der Welt, München1984, S.247
1979 Heinz Kremers, Judenmission heute?, Neukirchen, 1979, S. 58
1980 Alfred Wittstock, Zeugen für Gott – Missio Israels oder Mission an Israel? _: Erwägungen zu
Matthäus 28, 16-20, in: Ev. AK der EKHN (Hg.), Materialien zum Verhältnis von Christen und Juden, Nr.
73, S. 3 (MM: 61h):
1980 Rheinischer Synodalbeschluss (RSB) der Ev. Kirche im Rheinland (EKiR). Die letzte These ist
überschrieben: „VI. Zur Frage der Judenmission“
1996 Im Jahr 1996 hat die EKiR den Grundartikel ihrer KO ergänzt und den Glauben an die „bleibende
Erwählung Israels“ zu den Grundlagen des Bekenntnisses in unserer Kirche hinzugefügt
2000 EKD, Christen und Juden III. Das ganze Kapitel 3 dieser Denkschrift ist dem Thema „Die bleibende Erwählung Israels und der Streit um die Judenmission“ gewidmet, S. 49 und 47.
2001 H. Schwier (Hg.), Leuenberger Texte 6, Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen
Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, S. 72:
“Man darf ja nur das Wort Gottes aufschlagen, wo man
will, um inne zu werden, dass das Volk Israel die
größten und wunderbarsten Verheißungen hat, und,
was das Wichtigste ist, dass es uns, die wir Christen
aus den Heiden sind, auf das Herz gelegt ist.”
P.G. Aring, Christliche Judenmission, Neukirchen-Vluyn 1980, S. 100
23
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Sendungstext zum Pfingstgottesdienst in der ev.
Trinitatiskirche zu Köln am 4. 6. 2006
Anlässlich ihres Gottesdienstes am Pfingstsonntag 2006 in der ev. Trinitatiskirche zu Köln
haben sich die hier versammelten Christinnen und Christen ihrer besonderen Nähe zu
den Jüdinnen und Juden vergewissert, denen Gottes Bund und Verheißungen für Abraham, Isaak und Jakob gelten. Den folgenden Sendungstext, mit dem wir unseren Gottesdienst beschlossen haben, übergeben wir den jüdischen Gemeinden als Gruß und als
Erklärung unserer Haltung zu dem jüngst auch in Köln wieder aufgebrochenen Thema
der sog. Judenmission.
1.
Ja zur Mission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung zur Mission,
d.h. zur Lehr- und Lerngemeinschaft mit Menschen in aller Welt, und ggf. zu ihrer
Besiegelung durch Taufe und verbindliche Lebensführung.
2.
Nein zur Judenmission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung,
jeder Form von organisierter Judenmission grundsätzlich entgegenzutreten und
dadurch das besondere Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel anzuerkennen.
3.
Aus dem besonderen Verhältnis Gottes zu dem Volk Israel folgt die Anerkennung
des besonderen Verhältnisses zwischen Christen und Juden in aller Welt.
4.
So und mit gleicher Eindeutigkeit, wie wir zu missionarisch verbindlichem Leben verpflichtet sind, so und mit gleicher Eindeutigkeit ist uns Mission an den Juden verwehrt.
5.
Mit dieser Einsicht wenden wir uns entschlossen von unserer früheren judenmissionarischen Tradition ab und bitten alle evangelischen Kirchen, diese Abkehr mit gleicher Entschlossenheit und Eindeutigkeit zu vollziehen.
Köln, am Pfingstsonntag, dem 4. Juni 2006
Trinitatiskirche
Filzengraben 4
50676 Köln
24
A. Der Vorlauf
Pressegespräch
zu einem Evangelischen Wort gegen die „Judenmission“
im Ev. Kirchenverband Köln und Region (EKV)
am 29. 5. 2006
Moderation:
Günter A. Menne, Leiter des Amtes für Presse u. Öffentlichkeitsarbeit im EKV
Gesprächsteilnehmer vom EKV:
Pfr. Ernst Fey, Stadtsuperintendent
Dr. Martin Bock, Ökumenepfarrer
Pfr. Marten Marquardt, Leiter der Melanchthon-Akademie
Diese Pressemappe enthält folgende Beispieltexte zum Thema
1. Melanchthon-Akademie und Ökumenepfarramt, Hg., „Gehet hin in alle
Welt“ – (Roter Flyer mit der Einladung zum Pfingstsonntag)
2. Martin Bock, Der Rheinisch-Westfälische Verein für Israel in Köln, in:
Köln grüßt Jerusalem, 55-63
(aus: M. Marquardt, Hg., Köln grüßt Jerusalem, 2002, S. 54-63)
3. Klaus Wengst, Soll die Kirche Juden missionieren?
(aus: F. Crüsemann, U. Theismann, Hg., Ich glaube an den Gott Israels,
1998, S. 107-109)
4. H. Kremers, Judenmission heute?
(aus: H. Kremers, Judenmission heute?, 1979, S. 10-11 und 78-80)
25
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
26
A. Der Vorlauf
27
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Gottesdienst
am Pfingstsonntag 2006
in der Trinitatiskirche zu Köln
Begrüßung durch den Stadtsuperintendenten Pfr. Ernst Fey
Querflöte
EG 136, 1 – 4 (O komm, du Geist der Wahrheit ...)
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen
Psalm 125 i. W.:
Ein Wallfahrtslied.
Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen,
sondern ewig bleiben wie der Berg Zion.
Wie um Jerusalem Berge sind,
so ist der Herr um sein Volk her von nun an bis in Ewigkeit.
Denn der Gottlosen Zepter wird nicht bleiben
über dem Erbteil der Gerechten,
damit die Gerechten ihre Hand nicht ausstrecken zur Ungerechtigkeit.
Herr, tu wohl den Guten
und denen, die frommen Herzens sind.
Die aber abweichen auf ihre krummen Wege,
wird der Herr dahinfahren lassen mit den Übeltätern.
Friede sei über Israel!
30
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Kommt und lasst uns anbeten ...
Ehr sei dem Vater und dem Sohn ...
Anrufung:
•
Du Geist der Wahrheit, Dich preisen wir an diesem Morgen
in Erinnerung an die ganze Torah, die Jesu Jünger in dieser
Pfingstnacht gelesen haben.
Dich preisen wir an diesem Morgen in der Gemeinschaft
mit allen Jüdinnen und Juden, die gestern hier in Köln
ebenso wie damals Jesu Jünger in Jerusalem die ganze Tora
gelesen haben zu Schawuoth.
•
Du Geist der Liebe, Dich preisen wir an diesem Morgen in
Dankbarkeit für alle kleinen und großen Zeichen der Gottesund der Menschenliebe, die uns durch Jesus Christus begegnet
sind.
Dich preisen wir an diesem Morgen für alle Taten der Liebe,
die noch durch Juden und Christen in dieser Welt vollbracht
werden können.
Du Geist des Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens,
Dich preisen wir an diesem Morgen für das Geschenk des
Lebens, der Schöpfung, der Versöhnung und rufen Dich an:
•
•
Kyrie eleison
Zuspruch: „Siehe ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende..“
EG 179, 1:
Allein Gott in der Höh’ sei Ehr und Dank für seine Gnade
darum, dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein
Schade.
31
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn
Unterlass,
all Fehd hat nun ein Ende.
Gebet:
Nun wollen wir gerne unsere Ohren auftun und unsere Herzen
stark machen für Dein Wort und für unsere Welt. Lass uns doch
hören und verstehen durch Deinen Geist. Amen
EG 657, 1- 6 zur ersten Tafel der „Zehn Gebote“:
(Erheb dein Herz, tu auf dein Ohren...)
Lesung zu Schawuoth und Pfingsten: Exodus 19, 16 –25
Querflöte
EG 657, 7- 12 zur zweiten Tafel der „Zehn Gebote“:
(Du sollst nicht töten, ich geb’ Leben...)
Das Apostolische Glaubensbekenntnis
EG 124, 1 (Nun bitten wir den Heiligen Geist...)
32
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Predigt über Mt 28, 16-20
Stadtsuperintendent Pfr. Ernst Fey
Pfr. Dr. Martin Bock
Pfr. Marten Marquardt
1. DER WEG ZUM BERG
1.1 Der WEG Israels
Zwölf Stämme Israels auf ihrem WEG. Auf dem WEG zum Berg.
Der WEG zum Berg: das ist in Israel immer zuerst der WEG aus der
Sklaverei in die Freiheit, der WEG von Ägypten zum Sinai, der WEG
unter Gottes Geleit, der in Wolkensäule und Feuerschein Sein Volk
begleitet, der WEG in Begleitung des beWEGten und beWEGenden
Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs.
In dieser Zeit ist der WEG Israels „Kirchenraum und Gemeindesaal“.
Auf dem WEG begegnen sie Gott. Auf dem WEG flehen und beten,
murren und jubeln die Israeliten vor ihrem Gott.
Und der Berg auf diesem WEG ist der Ort, an dem Gott ihnen die
Zehn Grundlegenden WEGweiser für das weitere Leben aufrichtet, die
Zehn Worte – wir nennen sie die „Zehn Gebote“ - die aller Welt zur
Orientierung dienen sollen.
Auch als das Volk Israel schließlich im Land angekommen war, auch als
sie in festen Häusern lebten und auch als sie einen Tempel hatten, haben Sie den WEG nicht verlassen. Bis heute wird alles religiöse jüdische
Leben von dem WEG bestimmt. Hebräisch heißt das „HALACHAH“.
Jede entscheidende Weichenstellung im religiösen Leben, jede religiöse
Zielvorgabe wird in der Form der Halachah vermittelt, der WEGweisung.
Es ist mehr als ein Sprachbild, es ist der Kern des jüdischen Lebensmodells, dass der WEG, die HALACHAH, eine so entscheidende Rolle
33
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
spielt. Viele Denkweisen, die wir unter uns so kennen, vertreten Standpunkte, machen Feststellungen, besetzen Positionen - heute sagt man
oft: „sie positionieren sich“ - und entwickeln Anschauungen, oft ganze
Weltanschauungen. Das ist nicht der WEG Israels.
Auf dem WEG Israels gibt es keine Feststellungen, keine theologischen
Grundsätze, in diesem Sinne natürlich auch keine ewigen Wahrheiten.
Der WEG Israels bedeutet immer neue Weichenstellungen, immer
neue Blickrichtungen, immer neue Aufbrüche, natürlich auch immer
neue Verlockungen: was kommt danach? - immer neue Ermunterungen
durch immer neue Aussichten: es lohnt sich, zu gehen! – immer neue
BeWEGungen, die zu immer neuen Erfahrungen führen. Und auf dem
WEG mit seinem Gott macht Israel auch immer neue Gotteserfahrungen, überraschende, widersprüchliche und oft verwirrende Erfahrungen
mit Gott, die sich jedem System verweigern.
Und darum sind Glaube und Theologie auf diesem WEG immer auch
ein wagemutiger Aufbruch zu immer neuen Ufern und Zielen. Und
desWEGen, das heißt auf diesen WEGen, sehen sich der Glaube Israels
und die Glaubensgespräche in der Auslegung der Torah immer wieder
von Diskussionen, Widersprüchen, Streitgesprächen und lebendigen
Auseinandersetzungen begleitet. Auf Israels WEG geht es darum zu
„wie in einer Judenschule“, lebendig, intensiv und beWEGt.
1.2 Der WEG der Christen
Elf Juden auf ihrem WEG. Auf dem WEG zum Berg.
Der WEG zum Berg, das ist für Jesu Jünger immer zuerst der WEG
nach Galiläa, zum Ort der Bergpredigt, der WEG nach Galiläa zum
Berg der Verklärung, Berg Tabor heißt er in der Geographie Israels, und
nun eben auch auf Jesu Befehl hin der WEG nach Galiläa, zu diesem
Berg der Welt, dem Berg des Abschieds und der Beauftragung. Jüngerschaft Jesu, das heißt WEGgenossenschaft Jesu. Nachfolge, das heißt,
auf dem WEG sein mit Jesus zwischen Jerusalem und Galiläa zunächst.
Jüngerinnen und Jünger, das sind WEG-Gefährten Jesu.
34
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Und Jesus selber ist ein Wanderprediger, etwas wagemutig könnten wir
sagen: ein WEGelagerer, einer, der auf dem WEG lagert: „Die Füchse
haben Gruben, die Vögel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht,
wo ER sein Haupt lagere“ (Mt 8, 20). – Das haben diese jüdischen Jünger Jesu und das hat Jesus selbst mit dem Volk Israel vom Sinai gemeinsam: Der WEG zum Berg, der WEG zur Freiheit der Kinder Gottes ist
ihr Lebensmodell.
Und darum ist es schon besonders augenfällig, dass die erste und älteste
Bezeichnung für das Christentum im NT heißt „der WEG“ oder „der
neue WEG“.1
Wir haben durch Jesus und diese elf Juden, die da unterWEGs zum
Berg sind, die ganze jüdische WEGorientierung geerbt. Auch das Christentum ist eine GottesbeWEGung, die die ganze Welt durchziehen
will. Und so können wir schon von Anfang an diese Worte Jesu auf
dem Berg in Galiläa verstehen als Seine WEGweisung für uns: Gehet
hin in alle Welt, bildet WEGgemeinschaften, sucht WEGgefährten in
aller Welt, damit die Torah vom Sinai und das Evangelium von Christus alle Menschen erreichen kann. – So ist das Christentum wirklich
eine WeltbeWEGung Gottes geworden, die nun Israels Grenzen weit
überschritten und Israels Erfahrung weit hinausgetragen hat bis an die
Grenzen der Erde.
Mit dieser Grenzüberschreitung des Christentums war von Anfang an
die Frage verbunden: Werden die Christen damit ihre alte WEGgefährtenschaft mit Israel verlieren oder aufgeben oder gar vergessen und
bestreiten, oder werden sie sich auch dann, auch außerhalb Israels der
ursprünglichen Gemeinschaft mit Israel erinnern? – Wir alle wissen nur
zu gut heute, dass die Vergesslichkeit der späteren Christen, die keinen
Anteil an der Geschichte Israels und keinerlei jüdische Erinnerungen
mehr hatten, wir nennen sie Heidenchristen, dass die Vergesslichkeit
der Heidenchristen gegenüber unserer ursprünglichen WEGgefährtenschaft mit Israel groß war. Und als die meisten Juden aus der heidenchristlichen schnell wachsenden Kirche herausgedrängt waren, wurde
sehr schnell aus dieser Vergesslichkeit eine mörderische Hässlichkeit.
Die alten Spuren der jüdisch-christlichen WEGgenossenschaft wurden
1) (Apg 9, 2; 19,9; 22,4; 24,14+22: οδος oder καινη οδος)
35
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
systematisch getilgt, der WEG wurde von jüdischer Erfahrung möglichst gründlich „gereinigt“, ja schließlich wurde die Kirche sesshaft und
übernahm die Herrschaft über die damals bekannte Welt.
Aus Berg und Erfahrung auf dem WEG wurden Thron und Altar in der
Welt.
1.3 Der WEG der Juden und der Christen
Elf Juden und Christen, elf „Judenchristen“ auf ihrem WEG. Auf dem
WEG zum Berg.
Natürlich bestand die Urgemeinde aus Juden, und zwar nur aus Juden.
Die da mit Ihm gekreuzigt wurden, waren Juden, rechts und links am
Kreuz, die ersten, die Jesu Schicksal in engster Verbindung mit Ihm
und in letzter Konsequenz mit Ihm geteilt haben. – Die dann kamen
ans leere Grab, die dann von Ihm sprachen, die das große Ostergeschrei
anfingen: Er lebt, Er ist nicht tot, Er ist auferstanden und lebt für die
Welt! - das waren Jüdinnen und Juden, die da das christliche Urbekenntnis ausgerufen und hinausgetragen haben aus dem Grab. Pharisäer, Schriftgelehrte und ungelehrte Fischer und Bauern: die Urgemeinde
wurde von Juden gebildet. Von ihnen haben wir ja alles, was uns bis
heute beWEGt. Sie waren von Anfang an und sind bis heute in vieler
Hinsicht Jesus näher als die Heiden aus allen Völkern.
Natürlich nicht alle. Natürlich gab es ganz andere, die Jesu WEG gerade nicht teilen wollten. Natürlich gab es heftige Gegner Jesu. Paulus,
der von vielen Christen so genannte „heilige Paulus“, war ursprünglich
ein solcher Gegner Jesu. Thomas war ein Skeptiker und Kritiker Jesu.
Petrus, der heilige Petrus, sogar sein Verräter. Natürlich gab es unter
Heiden und Juden viele, bis heute wohl noch die Mehrheit der Menschen, die Jesu WEG nicht teilen, nicht mitgehen wollen. – Aber weder
Verrat, noch Zweifel, noch Skepsis, noch Verfolgungswut haben diese
anderen Menschen untauglich gemacht in Gottes Augen. Und als sie
ihre WEGe in Gottes Namen suchten, da gab es sehr unterschiedliche
Um- und Ab- und HolzWEGe auch. Sie führten unsere jüdischen Vorgänger in ganz verschiedene Richtungen:
36
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
•
Petrus ging zu den Juden, blieb in seinem eigenen Umfeld.
•
Paulus wurde nach vielen Querelen der WEG zu den Heiden
freigestellt; Paulus kam bis nach Europa und fand in Lydia die
erste europäische Christin.
•
Und Thomas soll seinen WEG bis nach Indien gewandert sein
und ein östliches Christentum gegründet haben, das wir dort
heute noch finden.
•
Und wieder andere blieben auf ihrem jüdischen WEG der
Treue zum Gott Israels und Seiner Verheißung. Auch sie auf
einem biblischen WEG der Treue zu Gott.
Juden und Christen anfangs zusammen, dann immer deutlicher getrennte WEGe gehend. Christen schließlich in der Übermacht, zu
immer unbeWEGlicheren Gegnern Israels geworden und am Ende nur
noch den ScheideWEG zwischen Hölle und Taufe für die Juden offen
haltend. Und in dieser selbstgebauten Falle konnten Christen nur noch
die Chance der Judenmission erkennen, wenn sie Juden retten wollten.
Und nun gehört es zu den schrecklichsten WEGen unserer Kirche, die
wir erst heute in aller Konsequenz als WEG in den Abgrund erkennen,
dass wir hier in Köln in den Jahren zwischen 1941 und 1943 auch noch
getaufte Jüdinnen und Juden mit sog. Schlussgottesdiensten auf den
WEG in die Vernichtung verabschiedet haben.2 Juden und Christen
sind seit dem Erstarken des Christentums in Europa auf getrennten und
schließlich sogar auf tödlich entgegengesetzten WEGen gewandert. Es
waren auch WEGe zum Schafott, WEGe der Verachtung, WEGe in die
Hölle.
EG 124, 2 (Du wertes Licht ...)
2) Köln grüßt Jerusalem, S. 123 ff; H. Prolingheuer, RR 1/1994, S. 43
37
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
2. UNTERWEGS IN ALLE WELT
2.1. Israel unterWEGs
„Gehet hin …“, sagt der auferstandene Christus zu den elf „Judenchristen“ auf dem WEG.
Das ist kein unvertrautes Wort für ihre Ohren. Nicht nur hatte Jesus
sie in den vergangenen Zeiten immer wieder ‚geschickt’: Menschen zu
fischen, und dann ganz konkret: Ähren zum Essen zu suchen, Brot zu
finden, Brotbrocken einzusammeln, Kranke aufzusuchen, probeweise
allein bzw. zu zweit vom ‚Reich der Himmel’ zu erzählen usw.. Das
„Gehet hin …“ kennen also die Schülerohren, die ihn nun wieder sehen
und –hören. Es hat für sie nicht den ‚außergewöhnlichen’ Charakter,
den es für uns Völkermenschen hat: Das ‚unterWEGs-sein’ ist etwas
Vertrautes, das die 11 gerne gehört haben werden. Israeliten sind selbstverständlich in BeWEGung – der Hebräerbrief im Neuen Testament
singt im 11. Kapitel ein Loblied auf das UnterWEGs-Sein Israels quer
durch die alttestamentliche Geschichte von Abel über Rahab bis Daniel.
UnterWEGs-Sein „ist“ Glauben, „ist“ Vertrauen auf einen mitgehenden
Gott – mit dieser Botschaft soll die christliche Gemeinde zu Recht wieder ‚auf den WEG’ gebracht werden.
Das UnterWEGs-Sein Israels hat nichts, aber auch gar nichts mit der
Chimäre des ‚Ahasver’, des Ewigen Juden zu tun, die spätestens seit dem
Mittelalter durch die christlichen Köpfe Europas wandert und das ‚unterWEGs-Sein’ zu einer Strafe, zu einem prädestinierten Schicksal, ja zu
einem Verdammnis macht. Der Mythos des ‚Ewigen Juden’ bestimmt
das sogenannte christliche Denken europäischer Christen in einem solchen Maße, dass sogar noch nach dem Holocaust ein Schuldbekenntnis
evangelischer Christen im Jahr 1948 formuliert, dass „Gottes Gericht
Israel in der Verwerfung bis heute nachfolgt“3. Das UnterWEGs-Sein
Israels als unaufhörliche Verfolgung durch einen strafenden Gott – wie
viel Bibelferne gehört zu einem solchen Urteil!
Israel wird „gerufen“, wird an einen neuen, von Gott verheißenen Platz
„gerufen“ – diese Erfahrung Abrahams, der in einer ähnlich ausdrück3) Wort zur Judenfrage des Bruderrates der EKD, 1948.
38
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
lichen Weise wie die 11 Jünger das „Gehe hin, mache dich auf!“ Gottes
hört, dieses UnterWEGs-Sein hat sich in die Seele und Gestalt Israels
bis in seine Namen eingebrannt: Jesus aus Nazareth, hebräisch heißt
das eigentlich: „Jesus aus Nazareth WEG“. Oder der Prophet Amos,
der „aus Tekoa (WEG)“ berufen wurde zu seiner Aufgabe. Diese hebräischen Namen sagen keinen unverrückbaren „Standpunkt“ an, sondern
einen Ausgangspunkt, den ich noch am rückwärtigen Horizont sehe,
aber von dem ich ‚gelöst’ bin. Jesus kommt aus Nazareth, aber er ist
eben unterWEGs zu den Menschen im Land, über den See, über die
Grenze, bis nach Jerusalem – und dann überschreitet er auch in dem
Wunder aller Wunder die Grenzen von Tod und Leben. Ist es da nicht
sonnenklar, dass Jesus seine Jünger nicht auffordert, an der Stelle seiner
Erscheinung ein Heiligtum zu bauen, sondern sie ‚WEGschickt’!?
Als Gott sein Volk durch das Rote Meer geführt hat und Israel erfährt,
dass das Wunder seiner Lebensrettung mit dem Preis des Todes der
ägyptischen Soldaten erkauft war, darf das Volk nicht zurückblicken,
sondern wird ‚WEGgeschickt’, auf den rettenden, aber auch zu fürchtenden Gott ausgerichtet.
Israel macht seine Erfahrungen ‚unterWEGs’: Die ganze Thora, die
fünf Bücher Mose, sind eine einzige UnterWEGs-Katechese: Israel lernt
seinen Gott unterWEGs kennen. Und dies gilt auch umgekehrt: Gott
lernt sein Volk unterWEGs kennen. Der Exodus und die 40 Jahre Wüstenwanderung sind auch für den Gott Israels eine ‚Bewährungsprobe’,
die ihn nicht unberührt lässt. Israel erzählt die zentrale Offenbarungsgeschichte Gottes nicht sozusagen im Sanctuarium des Tempels von Jerusalem, sondern in der glühenden Sonne des Sinai, im Überlebenskampf
der Wüste. Diese Geschichte ist für Israel nicht zu überholen!
Vielleicht müssten wir Christen das für unser ‚Bild’ von Gott
und für unsere ‚Zeichenhandlungen’, zum Beispiel in den
Sakramenten noch viel stärker bedenken, dass Gott nicht im
Tempel ‚zu Hause’ ist, sondern in den Lebensbedingungen unterWEGs: Im Wasser der Sinaiwüste, das er hervorquellen lässt
- im Zelt, das vor der Hitze und der Kälte schützt …
Seltsamerweise kann dieses UnterWEGs-Sein Israels in der Wüste, diese
zentrale Erfahrung, dass Gott nicht „greifbar“, sondern mir voraus „da“
39
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
ist, für das heutige Judentum nicht wiederholt werden. Während Christen Pilgerfahrten machen, heilige Orte aufsuchen und auf den Sinai
steigen, um „näher daran“ zu sein, machen Juden keine Wallfahrten in
den Sinai. Sie können nicht ‚rückwärts unterWEGs sein’. Gottes Weisung, seine Offenbarung am Sinai, ist mit unterWEGs in den WORTEN der Thora und in aller lebendigen, körperlichen Lern- und Lebensgemeinschaft, die die Thora umgibt. Luther hat es das „mündliche
Geschrei“ genannt, das Hin- und Her-Besprechen der Worte Gottes in
unseren Worten und im Herzensschlag der Gebete durch die Zeit.
So ist für Israel die Thora mit unterWEGs durch die Zeit; die ‚mündliche Thora’ ist solange nicht abgeschlossen, als sich Gott noch nicht zur
Vollendung der Welt geoffenbart hat. Solange redet Gott vom Sinai aus
mit seinem Volk – und Israel geht und hört mit.
2.2. Christen unterWEGs
Auch Judenchristen gehen und hören mit – das will uns das Matthäusevangelium im „Missionsbefehl“ sagen.
Die Offenbarung Gottes am Sinai ist noch nicht zu Ende – „hört weiter
zu, geht weiter mit, werdet nicht müde, euer ‚mündliches Geschrei’ von
diesem wunderbaren Gott weiter zu tragen!“
Die Jünger Jesu sind nicht zum ‚heiligen Berg’ nach Galiläa gepilgert,
um „noch einmal“ an die Stätte seines Wirkens zu kommen. Sie können
nicht ‚rückwärts unterWEGs’ sein, sondern nur vorwärts. So werden sie
an diesem Ort in eine Art ‚neue Offenbarung’ verwickelt, die so noch
nicht am Sinai zu hören war: Geht hin zu allen Völkern und macht sie
zu neuen Gemeinschaften in meinem Namen!
Doch jetzt ist diese Stimme zu hören: Gott selbst geht weiter
mit seiner Schöpfung. Noch tiefer verwickelt der Gott Israels
und Vater Jesu Christi die Menschen in sein Werk, dass er nun
40
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
den Ruf an Abraham neu aufnimmt und sagt: Geht WEG aus
eurem ‚Vaterhaus’, und verwickelt alle Völker in meine Liebe,
sagt ihnen von meiner Treue und rollt ihnen den roten Teppich
meiner Weisungen aus!
Gott ist erneut unterWEGs zu ‚seiner Welt’: Das ist der tiefste Grund
dafür, dass an dieser Stelle der dreieinige Name Gottes ausgesprochen
wird. Der Evangelist Matthäus will uns Christen sagen: Gott holt ‚ganz
tief Luft’, geht in sein Innerstes und zugleich weit nach ‚draußen’, um
diesen gewagten Schritt in die Völkerwelt zu gehen, er zieht mit und in
seinem Namen einen weiten Kreis um die Völker, die nun die ‚Hinzugekommenen’ sind.
Und ist es nicht auch so: Da, wo die Völker den Ruf hören und eine
Lerngemeinschaft um die Thora herum bilden, kommt es zu einer neuen Bewährungsprobe zwischen Gott und den Christen-Völkern, die bis
heute nicht beendet ist?!
Die Missionsgeschichte des Christentums: Ist sie nicht eine einzige Bewährungsprobe auf die Treue zum Namen Gottes? Christen sind von
vorneherein keine Kurzstrecken gegangen durch die geistige Welt des
Hellenismus, der Spät-Antike mit ihren Mysterienkulten und ihren
Philosophien! Christliche Theologie unterWEGs hat es sehr ernst gemeint mit dem Bilden neuer Lern- und Lebensgemeinschaften: Unsere
Trinitätslehre und die Denkversuche zu Jesus, zur Bibel aus zwei Teilen,
zur Kirche, zu den Sakramenten sind immer höchst intensive Gespräche
mit den Zeitgenossen, die man ‚einwandern’ lassen wollte in die Exodusgeschichte, in die man selber ‚eingewandert’ war.
Doch zugleich ist diese Bewährungsprobe gerade an dieser Stelle oft
genug schief gegangen: Christen haben sich zuviel vorgenommen,
wollten zu sehr auf ‚eigenen Füßen’ stehen und haben sich dann den
Magen verdorben an der neuen Kost. Anstatt bei der biblischen Speise
und ihren Speiseregeln zu bleiben, haben sie alles verschlungen, was am
WEGe lag.
Deshalb ist Missionsgeschichte bis heute auch immer Umkehr-Geschichte, Suche nach dem Elementaren, das Gott den Völkern zu sagen
hat.
41
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
2.3 Juden und Christen gemeinsam unterWEGs
Die Geschichte der christlichen Mission ist leider auch ein immer
wieder unternommener Versuch der Völkerchristen, den WEG Israels
gewissermaßen ‚links zu überholen’ und Israel in die eigenen Missionsbemühungen einzuschließen.
Wenn ich versuche, dies ‚gutwillig’ zu verstehen, dann hat dieses LinksÜberholen mit dem Enthusiasmus zu tun, den der Missionsbefehl Jesu
auslöst: „Geht hin …“ – daraus spricht auch ein Geist des Aufbruchs,
der „Erweckung“ und des Enthusiasmus, den Juden- und Völker-Christen von Anfang an gesehen und gespürt haben.
Der amerikanische Theologe Jonathan Edwards und der deutsche Pietist
Philipp Jacob Spener im 18. Jahrhundert waren zum Beispiel von einer
ganz nahen ‚Erfüllung’ aller biblischen Gottesverheißungen fest überzeugt. Gemeinsames Beten, so Edwards, „überwinde alle Entfernungen
und Grenzen“, vor allem die der christlichen Konfessionen, aber auch
die zum jüdischen Volk. So entwarf er einen Heilsplan, zu dem auch die
Bekehrung des jüdischen Volkes gehörte.
Die Judenmissionsvereine, die in dieser Zeit der „Erweckung“ in Europa und in den USA entstanden, sind auf solchem Boden entstanden.
Sie wollten und wollen die Israel-Vergessenheit der Christen überwinden und haben Israel auf seinem eigenen WEG zugleich vergessen.
Wenn wir heute das UnterWEGs-Sein von Christen und Juden anders
verstehen wollen, wenn wir Gottes WEG mit seinem Volk nicht korrigieren und verbessern, ändern und vervollkommnen wollen, sondern
an seiner Seite gehen wollen, dann nicht mehr so, als müssten nun
beide immer auf den gleichen Weg gelockt, überredet oder gezwungen
werden. Unterwegs soll nun heißen, das gleiche Ziel auf verschiedenen
Wegen, die gleiche Aufgabe mit verschiedenen Mitteln, die gleiche
Mission durch verschiedene Menschen zu übernehmen. Vielleicht so
wie Diakonie und Caritas, wie Rotes Kreuz und Roter Davidsstern, wie
Kirche und Synagoge: nebeneinander mit einander zu arbeiten. Das
sind ganz verschiedene Wege und das ist doch das gleiche Ziel:
42
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
•
•
•
Gottes Menschenfreundlichkeit unter die Menschen bringen
Gottes Gerechtigkeit mit unseren Händen und Füßen unter
die Leute tragen
Gottes Anspruch an alle Menschen vertreten, indem Juden
und Christen die Zehn Worte vom Sinai immer wieder einklagen, einüben, einfleischen.
EG 124, 3 (Du süße Lieb...)
3. BUND MIT BRIEF UND SIEGEL
3.1 BUND UND VERHEISSUNG für Israel
Mit der Taufe werden wir nun herangeführt an die Bundesgeschichte,
die Gott mit Sara und Abraham und Rebekka und Isaak und Rahel
und Jakob begonnen hat, in die später die Könige David und Salomo
hineingewachsen sind, und die uns Menschen aus der Völkerwelt durch
Christus auch vermittelt worden ist. Der Taufbefehl des Auferstandenen
ist der Auftrag an uns, dafür zu sorgen, dass möglichst vielen Menschen
aus der Völkerwelt Brief und Siegel für diese Bundesgeschichte Gottes
mit Israel und allen Menschen gegeben werde. Aber dazu müssen wir
die Geschichte des unverändert bestehenden Bundes zwischen Gott
und seinem Volk Israel zuerst bedenken.
Abraham war ein umherirrender Aramäer4, ein landloser Nomade: ihm
hat Gott Seinen Bund angeboten: „Ich will dich segnen ...und du sollst
ein Segen sein...und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf
Erden.“5 Da ist keine Rede von irgendeiner besonderen Qualität bei
Abraham. Und alle nach ihm waren nicht anders. Gottes Bundespartner
in Israel sind sehr durchschnittliche, höchst normale Menschen. Nicht
weil sie etwas Besonderes wären, sondern weil Gott sie grundlos erwählt
hat, haben sie Bund und Verheißung und Hoffnung für Israel.
4) Dt 26, 5
5) Gen 12, 2-3
43
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Nicht weil sie etwas Besonderes wären, nimmt Gott sie in Seinen Bund
auf. Aber weil sie in Gottes Bund hineingenommen sind, haben sie nun
etwas Besonderes. Sie haben nun als erste die Last, vor allen Menschen
der Erde Gottes Bundeszeichen zu tragen, am eigenen Leib Gottes Zugriff zu spüren, vor aller Welt Gottes WEGzeichen hochzuhalten, Gottes Verheißungen weiterzurufen und Gottes Anspruch an alle Menschen
zu vertreten. In Israel sagt man: das Joch der Torah zu tragen, das ist es,
was sie von diesem Bund haben.
Schon seit Menschengedenken haben sich aber auch immer wieder
Menschen in Israel gegen diesen Bund gewehrt, haben ihn gebrochen,
gekündigt, vergessen. Und Propheten haben in allen Generationen darüber geklagt, dass Israel treulos war. - Aber gekündigt wurde ihnen von
Gott nie. Niemals hat Gott sie aus dem Bund entlassen.
Auch als mit Jesus von Nazareth ein ganz neues Kapitel der Bundesgeschichte eröffnet wird, und auch als viele damals in Israel den WEG
Jesu nicht mitgehen wollten, auch da hat Gott ihnen niemals den Bund
aufgekündigt. Paulus hat diese undenkbare Möglichkeit ausdrücklich
erwogen und eindeutig verworfen: „die Herrlichkeit und der Bund, die
Torah und die Verheißungen“ gehören ihnen und bleiben gültig, auch
wenn und obwohl sie Jesu WEG nicht mitgehen konnten. – Das ist das
erste, was wir beim Lehren in aller Welt zu bedenken und zu vermitteln
haben: Der Bund mit Israel ist der ungekündigte Bund Gottes mit Jüdinnen und Juden bis heute.
3.2 BUND UND VERHEISSUNG für die Christenheit
Und nun hat der auferweckte Christus durch seine späteren Jüngerinnen und Jünger uns aus der Völkerwelt hinzugerufen. Die Missionsreisen des Paulus galten vor allem diesem Ziel, dass nun auch die Heiden
in die von Jesus uns allen vermittelte Bundesgeschichte hineingenommen werden sollten. Predigt, Lehre und Mission des Paulus richten sich
an Heiden, die nicht aus Israel kamen und die nichts von der jüdischen
Geschichte wussten. Ihnen predigt Paulus von Abraham, Isaak und Ja-
44
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
kob, von Jesus, der gekreuzigt wurde und auferweckt worden ist in Gottes Namen, im Namen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Paulus
wollte, dass wir hinzukommen und mit Israel und neben Israel und in
produktiver Konkurrenz gegenüber Israel die Königsherrschaft Christi
allen Menschen der Erde glaubwürdig verkündigen, vorleben und nahe
bringen. Christliche Predigt, Lehre und Taufe sollen nun Heiden herzuholen und an der Seite Israels in Gottes Bundesgeschichte einbinden.
Nun könnten Sie fragen: Aber was ist denn mit dem Missionsbefehl
„und lehret alle Völker“? – Ja, alle Völker. Der Evangelist Matthäus hat
eine sehr präzise Sprache, präziser als unser abgeschliffener Alltagsjargon. Niemals benutzt Matthäus das gleiche Wort für die Völker aller
Welt und für das Volk Israel.
Israel, das heißt bei Matthäus immer ‚laós’. - ‚Laós’ ist ein ganz altes
Wort aus der lyrischen Welt, ein poetisches Wort, das Matthäus immer
und ausschließlich für das Volk Israel reserviert, das Volk Gottes.
Alle anderen Völker heißen in gut biblischer Tradition: ‚ta ethnä’. ‚Ta
ethnä’, das sind alle Völker der Erde, ausgenommen Israel.
Und der sog. Missionsbefehl weist uns nun ausdrücklich an ‚ta ethnä’,
an die Völker. Und hier ist ganz offensichtlich nicht die Rede vom ‚laós’
Israel. Denn für Matthäus ist ja völlig klar, dass es keine Sinn hätte,
dem Volk der Torah, von dem wir ja die Lehre Jesu bekommen haben,
nun diese Lehre bringen zu wollen. Und wenn der Missionsbefehl uns
aufträgt: „geht hin in alle Welt und lehret alle Völker...“, dann haben
alle Zeitgenossen des Matthäus sehr genau verstanden: „lehren“, das
heißt Torah lehren, und zwar die Torah Israels in ihren verschiedenen
Auslegungen. Jesus hat immer gesagt, er wolle nicht, dass auch nur ein
I-Tüpfelchen der Torah Israels verloren gehe6; und er hat den Jüngern
eingeschärft, sie sollen auf jeden Fall hören und tun, was die Pharisäer
und Schriftgelehrten ihnen aus der Lehre des Mose aufgeben7.
Das ist unser neuer Bund: Die Torah Israels in der Auslegung und
in der Verkörperung Jesu Christi nun in aller Welt zu leben und zu
vertreten. Und nun steht es mit uns ja ähnlich, wie es mit Abraham,
Isaak und Jakob und dem ganzen Volk Israel steht: Nichts Besonderes
6) Mt 5, 17ff
7) Mt 23, 2-3
45
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
ist an uns. Keine hervorragende Qualität wäre da, die uns Christen
nun etwa auszeichnen könnte vor dem Rest der Menschheit. Viele, im
Blick auf unsere Kirchengeschichte müssen wir sogar sagen: schrecklich
viele Fehler, Verbrechen und Sünden sind uns ins christliche Gesicht
geschrieben. Aber um Christi Willen sind wir nun mit im BUND, im
Wort und in der Verpflichtung. Wir, die wir von uns aus nicht allzu
viel taugen, Sünder sind wir nach biblischem Sprachgebrauch, wir sind
jetzt einbezogen in Gottes Menschheitsplan, den er mit Israel und den
Völkern, mit ‚ho laós’ und mit ‚ta ethnä’ hat. Das ist unser Missionsbefehl: Wir sollen in aller Welt Bünde schmieden zwischen den Menschen, Bündnisse zum Frieden, zur Versöhnung, zur Gerechtigkeit, also
Torah-bündnisse. Wir sind dazu da, Lebensverhältnisse zu entwickeln,
in denen Menschen diese Grundbegriffe der hebräischen Sprache lernen
und Grund haben, mit Juden und Christen gemeinsam „Hallelujah“
und „Amen“ singen zu lernen. So könnte das dann aussehen, wenn wir
Salz der Erde und Licht der Welt werden, wie uns Jesus verheißen hat.
3.3 BUND, VERHEISSUNG und AUFTRAG für Juden und Christen
Das ist ein neuer Anlauf, eine neue Bundesgeschichte. Wir sollen jetzt
dazu gehören, Seite an Seite mit Israel, Wand an Wand mit der Synagoge. So wie wir es nun schon seit ein paar Jahren in Wuppertal sehen
können: Kirche und Synagoge auf einem Grundstück und mit einem
gemeinsamen Zaun umgeben. – Das ist BUND und Verheißung für
beide heute. Das kommt dabei heraus, wenn wir heute Jesu Weltauftrag
an uns Christen da von dem Berg in Galiläa übernehmen: Kirchen
Wand an Wand mit Synagogen, sodass – wenn jemals wieder Synagogen brennen sollten, unsere Kirchen mit gefährdet wären, sodass – wo
immer wir unsere Kirchen bauen, schützen und erhalten, wir zugleich
und mit gleicher Energie Synagogen in unserem Land bauen, erhalten
und schützen. Um diese Bundesgenossenschaft mit den Juden geht es.
Der Zaun ist abgebrochen, so sagt es der Epheserbrief8, die Mauer ist
eingerissen und wir lassen uns nicht mehr trennen von unseren jüdischen Nächsten. Das ist die Perspektive der seit Jesus und Paulus begonnenen neuen WEGgemeinschaft von Juden und Christen.
8) Eph 2, 14
46
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Über dem Volk Israel ist ausgerufen, es soll das Licht für die Völker,
ein ‚or lagojim’, sein und der Knecht Gottes aus Israel soll ein Panier
für die Völker, ein ‚nes ammim’9, werden. Und über der Gemeinde Jesu
ist ausgerufen, wir sollen das „Salz der Erde“ sein, „das Licht der Welt“
werden, das man nicht länger unter einen Scheffel stellt, sondern auf
einen Leuchter, damit es allen im Haus der Welt leuchten kann. Und
das ist unsere gemeinsame Aufgabe, unsere gemeinsamer Missionsbefehl
für Juden und Christen, dass wir einander das Licht weiterreichen, das
in unserer Welt für alle Menschen leuchten will. Juden und Christen
sind gemeinsam in die Welt gesandt, haben gemeinsam diesen Auftrag
Gottes, auf je eigene Weise und in produktiver Konkurrenz miteinander die Torah und ihre jüdische und ihre christliche Auslegung zu tun.
Das ist die „Missio Iudaica“, der Missionsauftrag an Israel, in den wir
Christinnen und Christen nun durch unseren Missionsauftrag Jesu
mit eingebunden werden. Gemeinsam haben wir Juden und Christen
einen Weltmissionsauftrag. Wir sind nicht zum Herrschen durch Beherrschen, auch nicht zum Lehren durch Belehren, sondern zum Hören durch Gehören, zum Leben durch Beleben berufen. Das ist unser
gemeinsamer Auftrag in Gottes Namen. Und wo Menschen aus der
Völkerwelt das erfahren und ihre Erfahrung mit der Taufe besiegeln
wollen, sodass sie nun an der Mission Gottes für Juden und Christen
teilnehmen, da ist die Freude auf allen Seiten groß.
Amen
EG 124, 4 (Du höchsterTröster in aller Not...)
9) Jes 49,6 und 22
47
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Fürbitte und Vaterunser
Du Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Du Vater Jesu Christi:
Wir erkennen heute,
dass viele Jahrhunderte der Blindheit
unsere Augen verhüllt haben,
so dass wir die Schönheit
deines auserwählten Volkes
nicht mehr sehen,
und in deinem Gesicht
nicht mehr die Züge
unseres erstgeborenen Bruders
wiedererkennen.
Wir erkennen, dass ein Kainsmal
auf unserer Stirn steht.
Im Laufe der Jahrhunderte
hat unser Bruder Abel
in dem Blut gelegen, das wir vergossen,
und er hat Tränen geweint,
die wir verursacht haben,
weil wir deine Liebe vergaßen.
Vergib uns den Fluch,
den wir zu Unrecht
an den Namen der Juden hefteten.
Vergib uns,
dass wir Feinde Israels und Deine Feinde geworden sind.
Denn wir wussten nicht ,
was wir taten.10
Wir beten für alle Menschen unserer Welt gemeinsam:
Vater unser im Himmel ... Amen.
EG 435 (Dona nobis pacem...)
Sendungswort (s.u.)
Segensbitte
Querflöte
10) In Anlehnung an das Papst Johannes XXIII. zugeschriebene Gebet, das als ein „Bußgebet kurz vor seinem Tod“ aus dem Jahr 1963 bezeichnet wird. Die Quelle ist nicht
eindeutig belegt.
48
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Sendungstext zum
Pfingstgottesdienst in der
ev. Trinitatiskirche
zu Köln am 4. 6. 2006
Anlässlich ihres Gottesdienstes am Pfingstsonntag
2006 in der ev. Trinitatiskirche zu Köln haben sich
die hier versammelten Christinnen und Christen ihrer besonderen Nähe zu den Jüdinnen und Juden
vergewissert, denen Gottes Bund und Verheißungen für Abraham, Isaak und Jakob gelten.
Den folgenden Sendungstext, mit dem wir unseren
Gottesdienst beschlossen haben, übergeben wir
den jüdischen Gemeinden als Gruß und als Erklärung unserer Haltung zu dem jüngst auch in Köln
wieder aufgebrochenen Thema der sog. Judenmission.
1. Ja zur Mission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung zur Mission,
d.h. zur Lehr- und Lerngemeinschaft mit
Menschen in aller Welt, und ggf. zu ihrer Besiegelung durch Taufe und verbindliche Lebensführung.
2. Nein zur Judenmission: Wir verstehen und
unterstreichen unsere Verpflichtung, jeder
Form von organisierter Judenmission grund49
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
sätzlich entgegenzutreten und dadurch das
besondere Verhältnis Gottes zu seinem Volk
Israel anzuerkennen.
3. Aus dem besonderen Verhältnis Gottes zu
dem Volk Israel folgt die Anerkennung des
besonderen Verhältnisses zwischen Christen
und Juden in aller Welt.
4. So und mit gleicher Eindeutigkeit, wie wir zu
missionarisch verbindlichem Leben verpflichtet sind, so und mit gleicher Eindeutigkeit ist
uns Mission an den Juden verwehrt.
5. Mit dieser Einsicht wenden wir uns entschlossen von unserer früheren judenmissionarischen Tradition ab und bitten alle evangelischen Kirchen, diese Abkehr mit gleicher
Entschlossenheit und Eindeutigkeit zu vollziehen.
Köln, am Pfingstsonntag, dem 4. Juni 2006
___________________________________
Stadtsuperintendent Pfr. Ernst Fey
___________________________________
Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock
___________________________________
Akademieleiter Pfr. Marten Marquardt
50
B. Der Pfingstgottesdienst 2006
Köln, 8. Juni 2006
Zum ersten Mal geht eine Delegation aus einem christlichen Gottesdienst direkt in eine Synagoge
Anfang dieser Woche, im Anschluss an den evangelischen Pfingstgottesdienst in der Trinitatiskirche im Filzengraben, überreichte eine Delegation von Kölner Protestanten zwei jüdischen Gemeinden in Köln einen
Sendungstext. Die Delegation, unter Leitung von Stadtsuperintendent
Ernst Fey, bestand aus Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Gottesdienstes und aus Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock und Pfarrer Marten
Marquardt, Leiter der Melanchthon-Akademie. Man überbrachte der
Synagogen-Gemeinde in der Roonstraße und der Jüdischen Liberalen
Gemeinde in Köln-Riehl den Sendungstext „als Gruß und als Erklärung
unserer Haltung zu dem jüngst auch in Köln wieder aufgebrochenen
Thema der so genannten Judenmission“ .
Der Sendungstext beinhaltet insgesamt fünf Punkte. „Ja zur Mission“,
lautet der erste: „Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung
zur Mission, das heißt zur Lehr- und Lerngemeinschaft mit Menschen
in aller Welt, und gegebenenfalls zu ihrer Besiegelung durch Taufe und
verbindliche Lebensführung.“ Zweitens heißt es: „Nein zur Judenmission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung, jeder Form
von organisierter Judenmission grundsätzlich entgegenzutreten und
dadurch das besondere Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel anzuerkennen.“
In der Synagoge in der Roonstraße begrüßten Vorstand Dr. Michael
Rado und Rabbiner Netanel Teitelbaum die Gesandtschaft. Er freue
sich sehr über die öffentliche Thematisierung des Problems und über
dessen Behandlung im Pfingstgottesdienst, sagte Rado eingangs des
freundschaftlich-entspannten Gesprächs. Der Rabbiner dankte den
Delegationsmitgliedern, dass sie an dem hohen christlichen Feiertag
den Weg in die jüdische Gemeinde auf sich genommen hätten. Er
dankte ihnen für die Initiative und die deutliche Stellungnahme, die
von jüdischer Seite außerordentlich begrüßt werde. „Das tut sehr gut“,
meinte Rado.
51
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Marquardt erläuterte die Entschließung. Das „Nein“ der evangelischen
Landeskirche zur Judenmission sei unumstößlich. Diesen Standpunkt
wolle die evangelische Kirche in Köln nun aus aktuellem Anlass noch
einmal unterstreichen, öffentlich bekannt machen und zugleich einen
Hinweis geben für andere evangelische Gemeinden und Gruppen.
In den Räumen der Jüdischen Liberalen Gemeinde Köln „Gescher
Lamassoret“ (Brücke zur Überlieferung) in der Stammheimer Straße
wurden die Delegation (Stadtsuperintendent Ernst Fey konnte wegen
anderweitiger Verpflichtungen zu seinem großen Bedauern dieses Mal
nicht dabei sein) von Michael Lawton empfangen. Das Vorstandsmitglied dankte den Abgesandten des Kirchenverbandes für ihren Besuch.
„Wir sind sehr berührt von dieser Botschaft“, sagte Lawton.
Mit dem Gottesdienst und einem abschließend verlesenen Sendungstext reagieren Protestanten in Köln auf Hinweise aus der SynagogenGemeinde Köln. Diese hatte auf aktuelle judenmissionarische Aktivitäten der Freien Evangeliumsgemeinde in Köln-Rath/-Ostheim und der
Siebenten-Tages-Adventisten aufmerksam gemacht. Beide christlichen
Gruppierungen gehören weder zum Evangelischen Kirchenverband
Köln und Region, noch zur Evangelischen Kirche im Rheinland oder
zur römisch-katholischen Kirche.
Weitere Informationen unter www.kirche-koeln.de
Fotos von der Übergabe des Sendungstextes können Sie im Amt für
Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Kartäusergasse 9-11, Telefon 0221/33
82-117, E-Mail: [email protected] anfordern.
52
C. Reaktionen auf den Gottesdienst
Aus: ideaSpektrum 23/2006
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
54
C. Reaktionen auf den Gottesdienst
55
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Stellungnahme der MelanchthonAkademie zu Text und Leserbriefen in
Idea Spektrum 23/2006
Martin Bock, Marten Marquardt
1.
2.
3.
4.
5.
6.
56
Die Frage der Judenmission hängt entscheidend an der Frage, ob
das rabbinische Judentum in Kontinuität mit dem biblischen Judentum gesehen wird oder nicht.
Wer diese Kontinuität im Widerspruch zum Selbstverständnis des
heutigen rabbinischen Judentums und zum Verständnis der paulinischen Gemeinden z. Z. des NT in Frage stellt, wird die Judenheit
heute in die Reihe der Völker einordnen und entsprechend auch
von einem „Missionsbefehl“ an Israel sprechen.
Wer die Kontinuität des biblischen Israel mit dem rabbinischen
Judentum annimmt, muss mit Paulus (Römer 9-11) anerkennen,
dass die Tora und die Verheißungen unverändert für Israel gelten,
auch post Christum.
Die EKiR hat mit der Ergänzung ihrer Kirchenordnung im Jahr
1996 genau dieses Verständnis als verbindlich für die ev. Kirche im
Rheinland erklärt: „Wir bezeugen die Treue Gottes, der an der
Erwählung seines Volkes Israel festhält...“
Wenn auch das rabbinische Judentum post Christum und mit ihm
das heutige Israel „Israel“ im biblischen Sinne ist, dann dürfen wir
Israel nicht in die Reihe der Völker einordnen, denn es ist bis heute
das Volk der Verheißungen, der Tora und der besonderen Aufmerksamkeit Gottes. Das ist die unzweideutige Aussage des Apostels
Paulus (vgl. neben Römer 9-11 auch Eph 2). Dann kann es keinen
Missionsbefehl geben, der „Juden und Heiden“ gleichermaßen
beträfe.
Wenn zudem der Evangelist Matthäus so eindeutig unterscheidet
zwischen der Bezeichnung „laos“ für das jüdische „Volk“ und „ethnos“ für jedes andere Volk, und wenn Matthäus an keiner einzigen
Stelle das Wort „ethnos“ (Volk) benutzt, wenn Israel gemeint ist,
dann haben wir kein Recht, in Mt 28, 16-20 entgegen dem ganzen
übrigen Sprachgebrauch im Matthäus-Evangelium unter „ethnä“
auch die Juden zu verstehen. Vielmehr ist aus dem ganzen übrigen
C. Reaktionen auf den Gottesdienst
Evangelium klar, dass Matthäus hier ausdrücklich Israel ausgenommen wissen will.
7. Der sog. Missionsbefehl gibt den Jüngern auf, alle Völker zu „lehren“. Dieser Lehrauftrag wird ausdrücklich auf dem „Berg“ erteilt.
Jeder Zeitgenosse des Matthäus sollte verstehen und hat verstanden, dass es bei dieser Lehre um die Tora Israels geht, die wir den
Völkern bringen sollen. Das ist im vollen Einklang mit Mt 23, 1-3:
„Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach
ihren Werken sollt ihr nicht tun...“ – Der „Missionsbefehl“ trägt
uns also auf, die Tora Israels in verbindlicher Weise ( d.h. so, dass
wir als ‚Heiden aus den Völkern’ uns selbst verbindlich ihr unterstellen, soweit sie uns betrifft, vgl. z. B. die noachidischen Gebote!)
zu lehren und zu tun.
8. Es hat durchaus keinen Sinn, dass wir „Heiden-Christen“ aus den
Völkern dem Volk Israel die Tora Israels bringen sollten.
9. Die Praxis eines solchen zwanghaft aus Mt 28 herausgelesenen sog.
Missionsbefehls auch gegenüber Israel ist durch ihre überwiegend
zwanghafte Ausführung im Verlaufe der bisherigen Kirchengeschichte völlig desavouiert. Diese für unzählbar viele Juden in allen
Generationen immer wieder auch tödlich verlaufene christliche
Praxis erweist sich in ihrem Zwangs- und Gewaltcharakter als das
Ergebnis einer zwanghaften Auslegung, wie sie bis jetzt viele Christen beherrscht hat. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von dieser
Auslegung und der ihr folgenden Praxis endgültig verabschieden.
10. Selbstverständlich haben Juden – Gott sei Dank – zu Beginn unserer Kirchengeschichte andere Juden zu Jesus gerufen, sie gelehrt
und auch getauft. Diesen jüdischen Zeugen Jesu Christi verdanken
wir die Fundamente unseres Christentums. Wir danken Gott für
diese Zeugen Jesu Christi. – Aber die seit dem 2. Jh. heidenchristlich dominierte Kirche hat die Judenchristen von Anfang an an
den Rand der Kirche gedrängt und bald faktisch aus der Kirche
ausgeschieden.
11. Selbstverständlich kann es auch heute noch, bzw. wieder jüdische
Zeugen Christi geben, die unter Juden oder Heiden das Evangelium Christi bezeugen und verkörpern.
12. Selbstverständlich kann es auch heute geschehen, dass Christen
oder Heiden aus den Völkern vom Zeugnis jüdischen Lebens derart angesprochen werden, dass sie sich auf den Weg des Mose geru-
57
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
13.
14.
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16.
17.
18.
58
fen finden, das Joch der Tora auf sich nehmen und zum Judentum
übertreten wollen.
Aber es kann und soll keine systematische Anstrengung unserer
Kirche mehr geben, Juden aus ihrer jüdischen Welt herauszulösen,
sie zum Christentum zu „bekehren“ und sie zu taufen. Wir können und wollen dem Geist Gottes nicht wehren, wo er weht. Aber
wir können und wollen Gottes Erwählung und Verheißung für
sein Volk auch nicht in Frage stellen durch eine dem verbindlichen
Wort und Geist der Schrift des Alten und des Neuen Testaments
zuwiderlaufende Mission an Israel.
Der Apostel Paulus hat Juden und Christen einander zugeordnet
als die, die auf einander angewiesen sind (Röm 11), die sich nicht
von einander absetzen oder übereinander erheben sollen. Systematische Mission an den Juden unsererseits würde ebenso wie eine
systematische Mission der Juden an den Christen dieses biblische
Modell zerstören. Dazu haben wir auf beiden Seiten kein Recht.
Da es seit der Antike keine systematische jüdische Mission unter
den Heiden oder Christen gegeben hat, da aber umgekehrt das
Heidenchristentum seit Jahrhunderten systematische Judenmission betrieben hat (und in Teilen noch immer betreibt), ist es nicht
Sache der Juden, sondern der Christen, dieser falschen Praxis endgültig abzuschwören.
Der sog. Missionsbefehl hat die Gestalt einer Doxologie, die in
einen trinitarischen Lobpreis Gottes mündet. Aus diesem Lobpreis
Gottes wird der Auftrag zur Weltmission begründet. Der Sinn der
trinitarischen Doxologie ist aber gerade der, dass die Gemeinde
Jesu einstimmen kann in das Gotteslob des Volkes Israel, wie es in
den Psalmen Israels vorgegeben und von Jesus und Paulus uns weitergegeben ist. Gerade die trinitarisch ausgeführte Doxologie weist
uns darauf, dass wir als Christen aus der Heidenwelt, den Gott
Israels und keinen anderen meinen, anbeten und lobpreisen. So
werden wir aus Antipoden zu Weggefährten der Juden.
Mit den offensichtlich kommunikationsverweigernden Epitheta
„antisemitische Diskriminierung“, „Funktionäre der rheinischen Kirche“, „religiöse Sekte, von der sich Christen zu trennen haben“ befassen wir uns hier nicht; sie sprechen in ihrer Tonart für sich selbst.
Aber auf eine wiederholt auftauchende Redewendung wollen wir
hier eingehen: „die den Juden das Evangelium von Jesus vorenthalten wollen“. – Vorenthalten kann ich einem anderen nur etwas,
C. Reaktionen auf den Gottesdienst
worüber ich selber verfüge, oder das, was ein anderer rechtmäßig
besitzt, dem ich diesen Besitz aber verweigere. Weder verfügt aber
die Kirche über das Evangelium, noch klopfen Juden an unsere
Kirchentür, die das Evangelium haben wollen und denen wir es
nicht herausgeben wollten. Es geht ja gerade nicht um einen jüdischen Wunsch, den wir großzügig erfüllen oder verweigern könnten. Es geht vielmehr um einen christlichen Wunsch, die Juden
möchten doch endlich unsere Wahrheit anerkennen, indem sie sich
taufen lassen. – Die Redeweise vom angeblichen „vorenthalten“
suggeriert also einen gänzlich anderen Sachverhalt. Und natürlich
impliziert unser Nein zur organisierten und systematischen Judenmission nicht, dass wir der Bitte eines Juden nach Erklärung unseres Glaubens nicht nachkommen sollten (1.Petr. 3, 15)1. Wir wenden uns lediglich gegen den unsererseits geförderten christlichen
Drang, Juden die Verheißungen und den ungekündigten Bund
abzusprechen, sie auf eine Stufe mit anderen Religionen und Weltanschauungen, mit Atheismus und Heidentum zu stellen. Dies
gehört unseres Erachtens zentral zur „Rechenschaft über die Hoffnung, die in uns ist“ (1. Petr. 3, 15) und zum „Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber“ (Rhein. Synodalbeschluss). Dem Volk Israel
gelten der Bund, die Verheißungen und die unveränderte Liebe
und der noch immer präsente Auftrag (Missio Iudaica) Gottes; und
wir sind durch Gottes Gnade und Christi Bund aufgefordert, uns
an der Seite der Juden diesem Auftrag (Mission) anzuschließen.
19. Die Differenzierung, nach der zwar „deutsche Christen“ heute
nicht die Aufgabe der Judenmission hätten, dafür aber die anderen, fällt hinter die Erkenntnis zurück, dass die Schoah nicht
nur das Ergebnis eines historischen Betriebsunfalls der deutschen
Geschichte war, sondern dass sie durch die Jahrtausende alte christliche Judenfeindschaft entscheidend mit vorbereitet war. Die entsprechenden Erkenntnisse und Bekenntnisse so vieler Kirchen werden mit einer solchen Argumentation einfach übergangen. Wer so
argumentiert, unterläuft und widerruft die entsprechenden christlichen Schuldbekenntnisse.2 Das ist theologischer Revisionismus.
Darum sollten die Autoren solcher Argumente offen aussprechen,
dass und was sie alles wieder zurücknehmen wollen.
1) H. Kremers, Judenmission heute?, Neukirchen 1979, S. 78f
2) Vat. II, EKD, Christen und Juden I, II, III , 1975-2000 ....
59
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
20. Zu den „Tönen aus Köln“ (J. Blunck): Als Kölner Protestanten ist
uns eine besondere geschichtliche Verantwortung mit dem Thema
Judenmission bewusst: In Köln wurde im Zuge der Erweckungsbewegung 1842 der Rheinisch-Westfälische Verein für Israel gegründet, als einer von vielen Judenmissionsvereinen innerhalb der
evangelischen Kirche. In diesen Vereinen wurde eine große Liebe
zum Volk Israel, zum Alten Testament, zur rabbinischen Auslegung
der Bibel und auch ein großes Interesse am Fortgang der zeitgenössischen jüdischen Geschichte gepflegt, die wir bis heute zu würdigen wissen. Aber die Judenmissionsvereine sind zugleich Einfallstor
für einen (s.o.) lange gepflegten kirchlichen Antijudaismus und
Ausdruck einer theologischen Besitzergreifung, die das besondere
„Amt Israels“ (M. Buber) nicht wirklich wahrgenommen hat. In
unseren Augen muss sich das besondere Verhältnis der Kirche zu
Israel heute anders, d.h. dialogisch und im Respekt vor dem WEG
Gottes mit seinem Volk und vor der Gegenwart Gottes in und mit
seinem Volk, darstellen.
21. Zum Vorwurf der Zurücknahme des Solus Christus: Nach dem
Zeugnis des Paulus in 2. Kor 1,20 ist in Christus „das Ja auf alle
Gottesverheißungen“. Gerade um Christi Willen müssen wir die
besondere Wirklichkeit Israels, das die Gottesverheißungen empfangen hat, sie im Joch der Thora und in der messianischen Erwartung eines ‚neuen Himmels und einer neuen Erde’ bewahrt und
sie in der Person des Juden Jesus von Nazareth „bereitet hat vor allen
Völkern“ (Luk 2,31)‚ ernst nehmen und anerkennen. Wie kämen
wir Heidenchristen dazu, Christus allein gegen Israel ins Feld zu
führen, die Liebe des Sohnes gegen die Liebe des Vaters?! – Die
Trinitätslehre hat doch – wenn auch mit zweifelhaften Mitteln –
gerade das versucht, dass wir den Sohn nicht gegen den Vater, den
neuen Bund nicht gegen den alten, also unser Heidenchristentum
nicht gegen das Judentum, auch nicht als Keil zwischen Judentum
und Judenchristentum ausspielen dürfen. Um des trinitarischen
Lobpreises willen können wir nicht Ja zur Judenmission als einem
organisierten Widerspruch gegen den Weg Israels und Gottes Bund
mit diesem Volk sagen.
60
C. Reaktionen auf den Gottesdienst
61
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
62
Das „Gemeindeblatt der Synagogen-Gemeinde Köln“
6/2006 berichtet auf Seite 32:
C. Reaktionen auf den Gottesdienst
63
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Reaktionen aus den Gemeinden
Alle Presbyterien und Kirchengemeinden waren eingeladen sich vor
oder nach dem Pfingstgottesdienst mit dem Thema zu befassen und auf
geeignete Weise zu reagieren.
Einige Presbyterien im Bereich des Evangelischen Kirchenverbands
Köln und Region haben sich mit dem sog. „Sendungstext“ aus dem
Pfingstgottesdienst befasst und haben dazu Beschlüsse formuliert.
Schriftliche Rückmeldungen haben wir aus drei Presbyterien bekommen:
•
•
•
64
Als erstes hat sich demnach das Presbyterium der Evangelischen
Matthäus-Kirchengemeinde Hürth bereits am 10. 5. 2006 mit
unserer Einladung beschäftigt und beschlossen: „Wir sagen Nein
zur Judenmission“.
Am 16.5. 2006 hat das Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Pulheim sich mit der Einladung zum Pfingstgottesdienst befasst und beschlossen: „Das Presbyterium stimmt
einstimmig den Punkten 1-5 des Entschließungstextes zu“.
Das Presbyterium der Gemeinde Lindenthal arbeitet in seiner
Sitzung vom 18. 5. 2006 an dem gleichen Thema, und macht
„sich folgende Erklärung zu Eigen“. Es folgend die fünf Punkte
des sog. Entschließungstextes.
D. Das Seminar im November 2007
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Nein zur Judenmission
1
Klaus Wengst
1. Einführende Überlegungen zur
Frage, ob das Neue Testament
christliche Judenmission verlangt
Nach Apostelgeschichte 4,12 sagt der Jude Petrus im Synhedrium in
Jerusalem, also vor ausschließlich jüdischen Ohren, im Blick auf Jesus
Christus: „Und Rettung gibt es in keinem anderen, noch ist ja auch
irgendein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in
dem wir gerettet werden sollen.“ Nach Römer 9,3 „wünschte“ der Jude
Paulus, „selbst verflucht und so von Christus getrennt zu sein zugunsten
meiner Geschwister, meiner Landsleute der Abstammung nach“. Nach
Johannes 14,6 sagt Jesus: „Niemand kommt zum Vater außer durch
mich.“ Muss angesichts dessen die Frage, ob das Neue Testament christliche Judenmission verlange, nicht mit einem klaren und schlichten
„Ja“ beantwortet werden? Das scheint sich aufzudrängen - und wäre
dennoch ein Kurzschluss, der das Licht des biblischen Zeugnisses in
seiner ganzen Fülle zum Erlöschen brächte.
Statt einer schnellen Antwort ist daher zunächst ein Bedenken dieser
Frage angebracht. Der Begriff „christliche Judenmission“ - und auch
die mit ihm gemeinte Sache - setzt voraus, dass sich Christentum und
Judentum als zwei unterschiedliche Religionen gegenüberstehen. Niemand kann gleichzeitig in beiden Mitglied sein. Die offizielle jüdische
Position mag uns sehr schmerzen: Ein Jude, der sich zu Jesus Christus
bekennt, ist kein Jude mehr, sondern bewegt sich damit außerhalb des
Judentums. Das ist gewordene historische Realität - eine Realität, zu der
am meisten das Verhalten des Christentums gegenüber dem Judentum
beigetragen hat. Denn die mächtig gewordene Kirche aus den Völkern
hat Situationen geschaffen, in denen das ausdrückliche Nein von Jüdinnen und Juden zu Jesus Bedingung war für ihre Treue zum Juden-
1) Den folgenden Text hat uns der Referent zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Er
entspricht dem § 10 „Die Nagelprobe: Nein zur Judenmission“ der zweiten Auflage
seines Buches „Jesus zwischen Juden und Christen“, Stuttgart 2004
66
D. Das Seminar im November 2007
tum und damit zu Gott als dem Gott Israels.2 Ich halte fest: Es muss
als Realität anerkannt werden, dass Judentum und Christentum zwei
unterschiedliche Größen sind und dass niemand gleichzeitig Mitglied
einer Kirche und einer jüdischen Synagogengemeinde sein kann.
Das ist eine grundsätzlich andere Situation als zu der Zeit, über die
die neutestamentlichen Schriften schreiben und in der sie geschrieben
wurden. In seiner Entstehungsphase war „das Christentum“ - wie im
vorigen Paragraphen deutlich geworden ist - nichts sonst als ein Teil
des Judentums. Der entscheidende Unterschied zwischen der heutigen
Situation und der im ersten Jahrhundert ist der, dass die Gruppen, die
sich auf Jesus als Messias bezogen, ganz aus Juden bestanden oder „Kirche aus Juden und Menschen aus den Völkern“ waren, in der also Juden
als Juden leben konnten. Wie sich ebenfalls im vorigen Paragraphen
zeigte, begann sich diese Situation in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts grundlegend zu ändern. Jüdinnen und Juden wurde es in der
Kirche zunehmend unmöglich gemacht, jüdisch zu leben. Judentum
und Christentum wurden zu zwei einander ausschließenden Religionen.
Die Alte Kirche hat ihren Bezug auf Israel, der ihr durch die kanonische
Schriftgrundlage vorgegeben ist, so interpretiert, dass sie sich selbst als
das „wahre Israel“ behauptete und sich also an Israels Stelle setzte, die
Geschichte Israels als ihre Vorgeschichte reklamierte, dem weiter existierenden Judentum das Israelsein absprach, es als verstockt und defizitär
verstand und sich daher auch zur Mission ihm gegenüber genötigt sah.
Das aber heißt: Die Selbstbehauptung der Kirche aus den Völkern als
das „wahre Israel“ und „christliche Judenmission“ sind zwei Seiten
derselben Medaille. Wird aber die Vorstellung, dass die Kirche Israel
abgelöst und ersetzt habe, hinterfragt, steht auch „christliche Judenmission“ in Frage. Dass solche Infragestellung geschieht, dafür sprechen
gewichtige, gerade auch aus dem Neuen Testament - und natürlich aus
der ganzen Bibel - gewonnene Einsichten.
2) Dass auf der anderen Seite - vom Christentum aus gesehen - zugleich aber auch gilt,
dass Judentum keine Religion wie jede andere ist, dass es schlechterdings nicht unter
„Fremdreligionen“ abgehandelt werden kann, dass es für Christen, wenn sie sich mit
dem Judentum beschäftigen, zugleich um ihr eigenes Selbstverständnis geht, ist in
diesem Büchlein schon mehrfach deutlich geworden und sei jetzt nur noch einmal
angemerkt.
67
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
2. Die Erkenntnis der Treue Gottes
zu seinem Volk Israel
Die Behauptung der Kirche, das „wahre Israel“ zu sein, machte das
faktisch existierende Judentum zum „falschen Israel“. Daraus speiste
sich immer wieder theologisch begründete Judenfeindschaft. Aus der
Einsicht in diesen Zusammenhang wurde in den letzten vierzig Jahren
das Modell, die Kirche habe Israel ersetzt, immer stärker in Frage gestellt und positiv hervorgehoben, dass Gott Israel als sein Volk erwählt
hat und - da er ein treuer Gott ist - es auch nicht fallen lässt. Besonders
Aussagen des Paulus aus den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefes kamen
und kommen zur Wirkung. So trägt etwa die Hauptvorlage 1999 der
Evangelischen Kirche von Westfalen zum Verhältnis der Kirche zum
Judentum programmatisch als Titel den Satz aus Römer 11,2: „Gott hat
sein Volk nicht verstoßen.“ Wer die Stelle dort nachsieht, könnte ein
Argument dagegen finden, diesen Satz als Überschrift der Hauptvorlage
zu verwenden. Denn in den Versen 1 bis 10 argumentiert Paulus mit
dem Restgedanken, angewandt auf Juden seinesgleichen, also solche,
die Jesus für den Messias halten. Danach beginnt er jedoch eine neue
Argumentation, die auf die grundlegenden Aussagen in Römer 11,2829 hinführt. In V.28 nimmt Paulus seine jüdischen Landsleute unter
zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten in den Blick: „In Hinsicht
auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen, in Hinsicht
auf die Erwählung aber sind sie Geliebte um der Väter willen.“ Beide
Gesichtspunkte stehen nicht einfach nebeneinander. Sie werden durch
„zwar - aber“ unterschiedlich gewichtet. Was mit „zwar“ eingeführt
wird, ist gewiss auch zu sagen. Aber darauf liegt nicht das Gewicht; es
wird sozusagen nur eben eingeräumt. Das Gewicht liegt auf dem, was
mit „aber“ folgt. Das Erstaunliche ist nun, dass in diesem Zusammenhang das weniger Gewichtige das Evangelium ist, also die Verkündigung
von Jesus Christus. Das aber heißt: Wenn es um Israel, wenn es um die
Juden geht, ist nicht das Evangelium der entscheidende Gesichtspunkt.
In Hinsicht darauf, sagt Paulus sehr hart, sind sie zwar Feinde. Damit
jedoch fängt er sofort etwas Positives an, indem er hinzufügt: „um euretwillen“. Dahinter steht die im elften Kapitel des Römerbriefes mehrmals eingespielte historische Erfahrung, dass die Verkündigung von
Jesus als Messias überhaupt erst aufgrund ihrer Erfolglosigkeit bei der
68
D. Das Seminar im November 2007
jüdischen Mehrheit außerhalb des jüdischen Volkes gelangte und dort
Anklang fand.
Im Blick auf die Charakterisierung der das Evangelium nicht akzeptierenden Juden als „Feinde“ wäre allerdings weiter zu fragen, an was
Paulus dabei konkret denkt. Kann er damit etwas anderes meinen als
das, was er selbst vor seiner Berufung zum Apostel für die Völker getan
und was er dann als so berufener Apostel etliche Male von der Mehrheit seiner Landsleute erfahren hat? In 2. Korinther 11,24 erwähnt er,
dass er fünfmal die „Vierzig weniger einen“ bekommen habe, also die
synagogale Prügelstrafe. Die Feindschaft, von der Paulus spricht, äußert
sich also in konkreten Strafmaßnahmen innerhalb des Bereichs der Synagoge. Von diesen Erfahrungen her nennt Paulus „in Hinsicht auf das
Evangelium“ seine Landsleute „Feinde“. Das sind jedoch schon lange
nicht mehr unsere Erfahrungen. Feindschaft hat sich vielmehr jahrhundertelang in umgekehrter Richtung und in ganz anderen Dimensionen
ereignet. Daher meine ich, dass wir eine solche Aussage des Paulus aus
dem ersten Jahrhundert nicht nachsprechen dürfen.
Als die in dieser Frage wichtigere Perspektive führt Paulus an: „In
Hinsicht auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.“ Er
begründet das sofort in V.29: „Denn unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes.“ Weil Gott Abraham, Isaak und Jakob
berufen hat und weil er ein treuer Gott ist, gilt das in dieser Generationenfolge Zugesagte auch weiterhin.
Wir können also von Paulus lernen: Wenn es um Israel geht, ist nicht
das Evangelium von Jesus Christus das entscheidende Kriterium. Unter
dem Gesichtspunkt des erwählenden Handelns Gottes, der Bindung
Gottes an sein Volk, gerät es in eine ganz andere Perspektive. Sie ermöglicht es, die Fixierung auf die Frage aufzubrechen, ob Jesus der Messias
ist oder nicht – eine Fixierung, die in der Geschichte der Kirche nicht
nur ein wirkliches Gespräch mit Juden von vornherein unmöglich gemacht, sondern auch viel Unheil angerichtet hat. Sie macht vielmehr
frei für die Erkenntnis, dass Israel seinerseits auf die Treue Gottes mit
Treue zu antworten sucht. Die Gnadengaben, die Paulus in Römer
9,4-5 aufzählt, sieht er seinen nicht an Jesus als Messias glaubenden
Landsleuten unverbrüchlich zugesprochen (vgl. 11,29). Einiges davon
bezieht er an anderen Stellen auf Jesus und durch ihn vermittelt auch
69
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
auf die Menschen in den christusgläubigen Gemeinden.3 Sie haben
diese Gaben durch den Messias Jesus, Israel hat sie ohne ihn.
Aber gibt nicht Paulus in Römer 9,1-2 seinem großen Schmerz darüber
Ausdruck, dass seine Landsleute in ihrer großen Mehrheit nicht so
glauben wie er? Wünschte er nicht gar in V.3, „selbst verflucht und so
von Christus getrennt zu sein zugunsten seiner Geschwister“? Gewiss,
das tut er. Das Erstaunliche ist jedoch in meinen Augen, dass er trotz
dieses Schmerzes und trotz dieses Wunsches die dargelegten positiven
Aussagen über seine nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleute
machen kann.
Warum liegt Paulus eigentlich so daran, die bleibende Gültigkeit der
Erwählung Israels durch Gott und also die Treue Gottes zu betonen?
Daran hängt die eigene Gewissheit derer, die sich an Jesus Christus
festmachen. Denn bevor Paulus diesen Zusammenhang Römer 9 bis 11
beginnt, endet ja Römer 8 mit der emphatischen Aussage: „Denn ich
bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte, weder Hohes
noch Tiefes noch irgendeine andere Schöpfung uns trennen kann von
der Liebe Gottes in Jesus Christus, unserem Herrn.“
Man könnte ja fragen, wieso diese Gewissheit gelten sollte, wenn Gott
seine Zusagen gegenüber seinem Volk Israel nicht eingehalten hätte.
Wenn Gott sich in seinen Zusagen vom Verhalten derer abhängig
machte, denen er sich zusagt, wie sollte dann ausgerechnet die Kirche
Gewissheit haben? Es ist ja keinesfalls ohne Anhalt an der Geschichte,
wenn gesagt wurde, dass mit keiner bekannten Organisation so viele
Verbrechen verbunden sind wie mit der Kirche. Wenn wir dennoch und ich denke: zu Recht - in Anspruch nehmen: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes in Jesus Christus“, dann gilt erst recht, was
Gott Israel zugesagt hat, wie es etwa Jesaja 54,10 heißt: „Ja, die Berge
werden weichen und die Hügel wanken, aber meine Freundlichkeit
wird nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht, wer sich deiner erbarmt: Adonaj.“ Also gilt, was Paulus in
Römer 11,2 sagt: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“
Was Paulus hier sagt, ist nicht seine freie Erfindung und eigene Behauptung, sondern das weiß er aus seiner jüdischen Bibel. In Psalm 94,14-15
heißt es: „Ja, nicht wird Adonaj sein Volk verstoßen noch sein Erbteil
verlassen. Ja, zur Gerechtigkeit wird das Recht zurückkehren, und ihm
3) Für die „Sohnschaft“, die Gotteskindschaft, ist das o. in § 6 Abschnitt 4c gezeigt
worden.
70
D. Das Seminar im November 2007
werden alle folgen, die aufrechten Herzens sind.“ Was eine Aussage
gewisser Hoffnung in seiner Bibel ist, dass Gott sein Volk nicht verstoßen wird, hat Paulus angesichts des Hochmuts nichtjüdischer Christusgläubiger, der die Juden verstoßen sah, umgewandelt in eine Aussage in
Vergangenheitsform: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“ Dass Gott
treu ist, ist eine Grundaussage der Bibel. Deshalb ist sein Bund mit
seinem Volk Israel ungekündigt. Diese Aussage findet sich daher auch
in allen neueren kirchlichen Erklärungen zum Thema.
3. Der in der Bibel bezeugte Gott ist
der Gott Israels und bleibt es auch
als Vater Jesu Christi
Wenn es denn gilt, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, dass er
also Gott nur sein will mit seinem Volk Israel, ist damit als wesentliche
Aussage über Gott gemacht, dass er eben der Gott Israels ist. Indem die
Kirche an der jüdischen Bibel als dem ersten Teil ihres Kanons festhält,
bleibt sie auch bezogen auf Gott als den Gott Israels. Wer Gott ist,
darf daher in der Kirche nicht ausschließlich von Jesus Christus her
bestimmt werden. Wir müssen wegkommen von falschen Vorstellungen
derart, als sei Gott vor Jesus Christus unbekannt und unerkannt gewesen und erst durch ihn offenbart worden - jedenfalls, wie er „eigentlich“
sei. Wo immer noch in solcher Weise gedacht und also Gott ausschließlich von Jesus Christus her bestimmt wird, ergibt sich sehr schnell theologische Israelvergessenheit, weil Gott dann eben nicht mehr als Gott
Israels wahrgenommen wird. Und auch das Judesein Jesu gerät alsbald
aus dem Blick zugunsten einer allgemeinen Rede von der Menschwerdung Gottes. Denn Jesus lässt sich nicht isoliert als Jude wahrnehmen,
sondern nur in der Gemeinschaft mit seinem Volk.
Wir haben am Beispiel Luthers gesehen: Wo Gott ausschließlich von
Jesus Christus her beschrieben wird, ergibt sich notwendig theologische
Judenfeindschaft.4 Denn da können die Juden, weil sie diesen einen,
dann alles entscheidenden Punkt nicht akzeptieren, theologisch nur
4) Vgl. o. § 6 Abschnitt 4b.
71
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
negativ als Leugner wahrgenommen werden. Demgegenüber wäre zu
betonen, dass der erste Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses
nicht vom zweiten aufgesogen werden darf, sondern der zweite dem
ersten zugeordnet werden muss.
Für seine Behauptung, dass die Juden Gottesleugner seien, hat sich
Luther selbstverständlich auf Aussagen des Neuen Testaments berufen,
besonders auf Stellen des Johannesevangeliums, die ich den johanneischen Umkehrschluss nenne.5 Die exklusiven Aussagen über Jesus in
diesem Evangelium sind in einem innerjüdischen Konflikt formuliert
worden und sollten eine bedrängte Minderheit der Gegenwart Gottes
in Jesus vergewissern. Wenn wir solche Aussagen aufnehmen, dürfen
wir nicht davon absehen, dass wir weder in einem innerjüdischen Konflikt leben noch eine bedrängte Minderheit sind, sondern müssen dabei
die veränderte eigene Situation und die Geschichte, die zu ihr führte,
mitbedenken.
In diesen Zusammenhang gehört auch Johannes 14,6, wonach Jesus
sagt: “Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Ich kann diesen
Vers heute - in meiner veränderten Situation - nicht anders verstehen,
als ihn der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig in seinem
berühmt gewordenen Brief vom 1. November 1913 an seinen zum
Christentum konvertierten Vetter Rudolf Ehrenberg verstanden hat. Er
gesteht zu: „Es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt
niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu
kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall
des Volkes Israel“. Er fügt in Klammern hinzu: „nicht des einzelnen
Juden“.6 Ich finde diesen Klammerzusatz höchst beachtlich. Mit ihm
konnte es Rosenzweig respektieren, dass Ehrenberg, der seiner religiösen Tradition entfremdet war, durch Jesus Christus den Weg zum
Vater gefunden hat. Ich frage, ob wir es respektieren können, daß Rosenzweig mit seinem Volk beim Vater geblieben ist.
5) Vgl. o. § 6 Abschnitt 4a.
6) Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher I (1900-1918), hg.v. Rachel Rosenzweig u.
Edith Rosenzweig-Scheinmann, 1979, S. 135.
72
D. Das Seminar im November 2007
4. Judentum darf und kann nicht als
defizitär gegenüber dem Christentum beschrieben werden
Es ist in der christlichen Tradition ein beliebtes Schema, das Neue Testament gegen das Alte Testament auszuspielen. Dem Neuen Testament
kommen dann Gnade und Liebe zu, dem Alten Gerechtigkeit, Gericht
und Vergeltung, dem Neuen das Evangelium, dem Alten das Gesetz,
dem Alten die Verheißung, dem Neuen die Erfüllung. Was gut ist am
Alten Testament, münde ins Neue und finde sich dort klarer und besser.
Die jüdische Tradition habe dieses Gute nicht verstanden; auf ihr als
dunkler Folie können dann vor allem Jesus und Paulus um so leuchtender abgehoben werden. Diese jetzt gewiss nur grob dargestellte Sicht
entspringt auch in ihren Feinheiten nichts sonst als christlichem Hochmut und christlicher Ignoranz.
Wir müssen uns fragen, was es bedeutet, dass wir unsere Glaubenserfahrungen, die wir in Jesus Christus machen, ganz und gar mit alttestamentlichen Texten beschreiben können. Daraus ergibt sich auch, dass
diese Glaubenserfahrungen schon vorher - also ohne Jesus - in Israel
gemacht wurden und dass sie auch weiterhin im Judentum - also wiederum ohne Jesus - gemacht werden. Ich erinnere an die schon zitierte
Aussage, wie sie in Jesaja 54,10 als Anrede Gottes an Israel steht und
die wir doch so gerne auch uns gesagt sein lassen: „Ja, die Berge werden
weichen und die Hügel wanken, aber meine Freundlichkeit wird nicht
von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht,
wer sich deiner erbarmt: Adonaj.“ Oder: Die bei Christen so beliebte
Aussage aus Jesaja 43,1, verwendet als Spruch zu Taufe, Konfirmation
und Beerdigung, ist nach dem biblischen Zusammenhang Zusage Gottes an Israel: „Und jetzt, so spricht Adonaj, der dich, Israel, geschaffen,
dich, Jakob, gebildet hat: Fürchte dich nicht, ich habe dich doch befreit; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Wer will
den traurigen Mut aufbringen, diese Zusage - an jedem ersten Schabbat
im Jahreszyklus als Prophetenlesung in jeder Synagoge der Welt gelesen - ließen sich Jüdinnen und Juden zu Unrecht gesagt sein, weil sie in
Jesus nicht den Messias erkennen können?
Oder: Was bedeutet es, dass Luther das Evangelium von der Rechtfertigung in der Vorlesung über die Psalmen entdeckte? Doch dies, dass
das, was er da erkannte, in den Psalmen da ist und weiter wirkt, wenn
73
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
sie von Jüdinnen und Juden gebetet werden. „Lobe den Herrn, meine
Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn,
meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat! ... Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte... Er
handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach
unsrer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, läßt er
seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. So fern der Morgen
ist vom Abend, läßt er unsre Übertretungen von uns sein. Wie sich
ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die
ihn fürchten“ - um nur einige Verse aus Psalm 103 in der Übersetzung
Luthers zu zitieren (V.2-3.8.10-13). Aus Gottes ungeschuldeter Barmherzigkeit erfolgende Sündenvergebung wurde in Israel lange vor Jesus
und wird im Judentum lange nach Jesus bis heute erfahren. Wieder
frage ich: Wer will den traurigen Mut aufbringen zu behaupten: Weil in
Matthäus 1,21 im Blick auf Jesus steht, er werde „sein Volk retten von
ihren Sünden“, und Jüdinnen und Juden Jesus nicht beanspruchen, sei
das, was etwa am Versöhnungstag in den Synagogen geschieht und dort
als Sündenvergebung erfahren wird, ungültig?
Ich könnte fortfahren und an Texten der jüdischen Bibel und der
jüdischen Tradition aufzeigen: Was wir durch Jesus Christus an Vertrauen auf Gott gewinnen, an Vergebung der Sünden, an Erbarmen
und Rechtfertigung erfahren, kennt und erfährt das Judentum in Vergangenheit und Gegenwart auch ohne Jesus. Ich will dafür nur noch
ein Beispiel aus unserer Gegenwart nennen. Was bedeutet es, das im
Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 237 im Abschnitt über
Beichte - also im theologischen Zentrum, wo es um Schuld und Vergebung und unbedingtes Vertrauen auf den barmherzigen Gott geht - das
Gedicht eines Juden, nämlich Schalom Ben-Chorins, steht?
„Und suchst Du meine Sünde,
flieh ich von Dir zu Dir,
Ursprung, in den ich münde,
Du fern und nah bei mir.
Wie ich mich wend und drehe,
geh ich von Dir zu Dir;
die Ferne und die Nähe
sind aufgehoben hier.
74
D. Das Seminar im November 2007
Von Dir zu Dir mein Schreiten,
mein Weg und meine Ruh,
Gericht und Gnad, die beiden
bist Du - und immer Du.“
Wir können dieses Gedicht nachsprechen und es als Lied im Gottesdienst singen, weil wir darin unsere durch Jesus Christus vermittelten
Erfahrungen ausgedrückt finden. Das sind dann ganz offensichtlich
dieselben Erfahrungen - Erfahrungen im innersten Zentrum der Existenz vor Gott -, die Juden ohne die Vermittlung durch Jesus Christus
machen.7 Unser Bekenntnis, dass Jesus für alle gestorben und auferstanden ist, muss und darf nicht die Annahme zur Konsequenz haben,
Juden fehle etwas, wenn sie das nicht für sich beanspruchen.
Weil es sich so verhält, müssen wir es akzeptieren, dass Jüdinnen und
Juden die Verkündigung Jesu als Messias für ihr Heil nicht als nötig
erachten. Man kann und muss auch umgekehrt fragen, was denn der
Messias Jesus dem Judentum bisher gebracht hat, und darf dann nicht
die Augen davor verschließen, dass mit ihm eine schreckliche Leidensgeschichte für das Judentum verbunden ist. Es hilft in diesem Zusammenhang wenig, darauf hinzuweisen, dass das Juden von Christen zugefügte Unrecht nicht im Gehorsam gegenüber Jesus Christus geschah,
sondern im Widerspruch zu ihm. So leicht kommen wir nicht davon.
Denn die Kirche und Jesus Christus sind nicht so leicht zu trennen wenn anders nach Paulus die Kirche „Leib Christi“ ist, messianische
Verkörperung, und Dietrich Bonhoeffer deshalb von „Christus als
Gemeinde existierend“ sprechen konnte.8 Lassen wir den Schrecken
darüber, wie die Kirche Christus den Juden hat begegnen lassen, wirklich an unser Herz heran, werden wir gegenüber dem Judentum erst
7) Mein Bochumer Kollege Ansgar Franz, Liturgiewissenschaftler in der Kath.-Theol.
Fakultät, weist mich auf ein Gebet für die Feier der Osternacht hin (Das vollständige
Römische Meßbuch lateinisch und deutsch, Freiburg XXXX, S. 418; Der große
Sonntags-Schott, Freiburg u.a. XXXX, S. 230), nach dem auch für Christen das Heil
nicht über Israel hinausgeht. Das Höchste, worauf gehofft wird, ist ein Übergang zur
„Würde Israels“: „Gott, dessen uralte Wunder wir auch zu unseren Zeiten herüberblitzen sehen, wenn du das, was du einem einzigen Volk zur Befreiung aus der ägyptischen Verfolgung durch die Macht deiner Rechten gewährt hast, zum Heil der Völker
durch das Wasser der Wiedergeburt wirkst: Gewähre, dass zur Abrahamssohnschaft
und zur Würde Israels (in Israeliticam dignitatem) die Fülle der ganzen Welt übergehe. Durch Christus, unsern Herrn“ (Übersetzung Franz).
8) Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur
Soziologie der Kirche, hg.v. Joachim von Soosten, München 1986, S 76 und öfter.
75
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
einmal schweigen und nicht ungefragt reden und endlich darauf hören,
was es selbst zu sagen und zu bezeugen hat.
Gewiss, es gibt Konversionen vom Judentum zum Christentum. Wenn
Jüdinnen und Juden Jesus Christus für sich in Anspruch nehmen wollen - wer bin ich, dass ich ihnen das verbieten könnte und dürfte? Aber
ich werde daraus keinen ideologischen Honig saugen, indem ich behaupte, der Weg vom Judentum zum Christentum sei sozusagen der natürliche. Ich lasse mir auch umgekehrt von Christinnen und Christen,
die zum Judentum konvertieren, aufgrund dessen nicht einreden, also
sei mein Christentum ein bedauerlicher Irrtum. Ich respektiere Konversionen als persönlich verantwortete Entscheidungen und habe sie nicht
zu beurteilen und werte sie weder so noch so als „Argumente“.
Für mich selbst erscheint mir eine Konversion zum Judentum aus den folgenden
beiden wesentlichen Gründen nicht vorstellbar: Erstens bin ich getauft und habe es
deshalb nicht nötig, mich beschneiden zu lassen. Ich bin durch Jesus Christus nicht in
den Bund Gottes mit seinem Volk Israel hineingekommen, sodass er mir nach erfolgter
Mittlerschaft entbehrlich würde. Ich bin in die Kirche als den Leib Christi getauft
und habe so – in dieser bleibenden Christusverbundenheit - meine gültige Beziehung
zu Gott, dem einen Gott, der Israels Gott ist. Zweitens stehe ich als Christ und als
Deutscher in einer geschichtlichen Verantwortung gegenüber dem Judentum. Ich habe
mir diesen Platz nicht ausgesucht; allein durch meine Existenz bin ich an ihn gestellt.
Diese Verantwortung muss und will ich wahrnehmen. In diesem Gegenüber durch
Konversion auf die andere Seite zu wechseln, erschiene mir als Versagen vor der mir
aufgegebenen Verantwortung und als Flucht vor ihr.
Wenn also Judentum gegenüber dem Christentum nicht als defizitär
beschrieben werden kann und darf, was ist dann das Neue am Neuen
Testament? Es ist schlicht dies, dass wir Menschen aus den Völkern
- ohne jüdisch werden zu müssen - durch Jesus Christus im heiligen
Geist uns von den Götzen abwenden können und dem einen Gott, dem
Gott Israels, zuwenden dürfen, um einzustimmen in sein Lob und teilzuhaben an der Hoffnung, die er schenkt.
Aber noch einmal: Verlangen nicht Zeugnisse des Neuen Testaments,
Jesus Christus auch gegenüber Juden zu verkündigen? Petrus, Paulus
und andere Juden in neutestamentlicher Zeit haben das getan; für sie
war das selbstverständlich. Und so wird rhetorisch gefragt, was sie wohl
zu dem im vorangehenden Ausgeführten sagen würden. Stellt man sich
vor, sie wären damit in ihrer Zeit konfrontiert worden, hätten sie mit
76
D. Das Seminar im November 2007
Unverständnis reagiert - wie Mose im Lehrhaus Rabbi Akivas.9 Setzt
man aber voraus, sie hätten die Erfahrungen der inzwischen abgelaufenen Geschichte gemacht, müssten auch sie nachdenken, was nun zu
sagen wäre. Das zu wiederholen, was sie damals gesagt haben, wäre in
dieser völlig anderen Situation nicht mehr dasselbe. Das aber heißt:
Wir müssen uns schon selbst darum bemühen, wie ihre Aussagen heute
gesagt werden können und müssen. Wir sprechen doch auch etwa Johannes 8,44, „die Juden“ seien die Kinder des Teufels, und die Verwünschung von Matthäus 27,25, Jesu Blut komme auf das jüdische Volk,
nicht nach, sondern suchen diese Stellen aus ihren historischen Entstehungsbedingungen zu verstehen und damit auch zu relativieren - weil
wir sie schlechterdings nicht nachsprechen dürfen. Es ergäbe sich sonst
im Falle von Matthäus 27,25 die Ungeheuerlichkeit, den Massenmord
am europäischen Judentum durch Deutschland als Strafe Gottes für
„den Unglauben der Juden“ gegenüber Jesus als Messias zu „erklären“.
Paulus hatte die Funktion der christusgläubigen Menschen aus den
Völkern gegenüber seinen nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleuten so beschrieben, dass sie diese zur Eifersucht reizen sollten (Römer
11,11.13-14). Die Kirche aus den Völkern ist gegenüber Israel über
viele Jahrhunderte hin kein Ort der freundlichen Herausforderung
gewesen, sondern eine Quelle der Angst und des Schreckens. Es gibt
gründlich verspielte Möglichkeiten.
Ich nehme wahr, dass das jüdische Volk seinen Weg im Bund mit Gott
weiter gegangen und Zeuge Gottes vor der Welt geblieben ist. Statt es
mit der eigenen Botschaft zu bedrängen, käme es für die Kirche darauf
an, endlich die Rolle geduldigen und um Verstehen bemühten Hörens
einzunehmen.
5. Unser eigenes Defizit als
Völkerkirche erkennen
An keiner Stelle des Neuen Testaments gibt es auch nur den geringsten
Hinweis darauf, dass in dieser Zeit je ein christusgläubiger Nichtjude
gegenüber Juden missionarisch gewirkt hätte. Paulus nimmt Titus nicht
als Judenmissionar mit zum Apostelkonvent nach Jerusalem, sondern
als lebendigen Beweis dafür, dass durch die Verkündigung Jesu Christi
9) Vgl. o. § 3 Abschnitt 2b.
77
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Gottes Geist Menschen aus den Völkern zu Gott ruft, ohne dass sie
zuvor durch die Beschneidung in das jüdische Volk integriert wurden.
Es ist alles andere als verwunderlich, dass diejenigen, die doch erst zum
Gott Israels hinzugekommen waren, gegenüber Juden nicht als Missionare auftraten.
Wir hatten gesehen, dass die Völkerkirche, wenn sie nicht mehr im
antijüdischen Exzess leben will, ihren ihr eingestifteten Bezug auf Israel
nur so leben kann, dass sie die Jüdinnen und Juden außerhalb ihrer
wahrnimmt und ein Verhältnis zu diesem außerhalb ihrer lebenden
Israel sucht, das auch für dieses erträglich ist.
Dieses Verhältnis kann dann schlechterdings kein missionarisches
sein. Denn missionarische Aktivität gleich welcher Art wird von den
jüdischen Gemeinden als Bedrohung empfunden. Messianische Juden
dürfen für Christen nicht zum Vorwand werden, die heute geforderte
radikale Umkehr von der eigenen antijüdischen Geschichte zu verweigern. Christinnen und Christen sollten sich darüber freuen, dass
jüdische Gemeinden in diesem Land jetzt wieder die Möglichkeit haben
zu wachsen. Sie sollten deshalb alles unterlassen, was dem schwierigen
Prozess der Festigung dieser Gemeinden als jüdischer Gemeinden entgegenwirkt. Dazu gehören ohne Zweifel alle Arten judenmissionarischer
Aktivitäten.
Natürlich muss ich es auch als Teil der Wirklichkeit wahrnehmen und
respektieren, dass es Juden gibt, die Jesus als Messias bekennen und Juden bleiben wollen. Aber im Hören auf die ganze Bibel und im Hören
auf das jüdische Zeugnis bestreite ich es, dass ihre Entscheidung die für
alle Juden verbindliche sein müsste.
Ich hatte zu Beginn dieses Abschnitts gesagt, dass es keinen Hinweis auf Mission unter
Juden durch christusgläubige Nichtjuden in neutestamentlicher Zeit gibt. Auch der
sogenannte Missionsbefehl am Ende des Matthäusevangeliums verpflichtet nicht zur
Judenmission. Die dort angegebene Aufforderung des auferweckten Jesus an seine elf
Schüler, zu allen Völkern zu gehen und sie zu seinen Schülern zu machen, wird oft so
verstanden, dass die Bezeichnung „alle Völker“ doch selbstverständlich auch das Volk
Israel einschließe. Aber dieser scheinbar logische Schluss hat gegen sich, dass es in der
Bibel - auch im Neuen Testament - die grundlegende Unterscheidung zwischen „dem
Volk“ im Singular, nämlich Israel als dem Volk Gottes, und „den Völkern“ im Plural
gibt, also allen übrigen Völkern außer Israel.10 Der „Missionsbefehl“ bezieht sich
demnach auf alle nichtjüdischen Völker. Dagegen die Stelle Matthäus 10,5-6
10) Vgl. o. § 8.
78
D. Das Seminar im November 2007
anzuführen, verfängt nicht. Dort schickt Jesus während seines irdischen
Lebens die zwölf Schüler im Land Israel mit einem sehr konkreten Auftrag
aus. Sie sollen die Nähe des Himmelreiches ankündigen, also die Nähe
des Reiches und der Herrschaft Gottes, und sie sollen Kranke heilen, Tote
erwecken, Aussätzige reinigen und Dämonen austreiben (10,7-8). Er verbietet ihnen, „auf den Weg der Völker“ wegzugehen und „in eine Stadt der
Samariter“ hineinzugehen, „sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus
dem Hause Israel“ (10,5-6) - so die prägnante Übersetzung Luthers. „Zu
den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“: Damit wird nicht das ganze
Haus Israel als verloren vorausgesetzt, sondern es gibt Verlorene in ihm.
Für sie erklärt Jesus sich auch selbst nach Matthäus 15,24 zuständig: „Ich
bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ - und erbarmt
sich dann doch auch der kanaanäischen Frau. „Zu den verlorenen Schafen
des Hauses Israel“ übersetzt Luther dieselbe Wendung jetzt wörtlich. Diese
Genitivverbindung lässt rein grammatisch auch die Deutung zu, dass das
ganze „Haus Israel“ als verloren betrachtet wird. Aber die Stellen in den
Evangelien vom Verlorenen zeigen, dass es um Verlorene in Israel und nicht
etwa um das verlorene Israel als ganzes geht. Luthers Übersetzung in 10,6
- „die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel“ - ist eine zutreffende Deutung. Die matthäische Fassung des Gleichnisses vom verirrten Schaf stellt
dem einen verirrten die 99 nicht verirrten gegenüber. „So will auch euer
Vater im Himmel nicht, dass eins dieser Kleinen verloren geht“ (18,12-14).
Dem entsprechen bei Lukas die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und verlorenen Denar mit ihren Deutungen von der Freude im Himmel über den einen
Sünder, der umkehrt (15,7.10). Dabei heißt es von den 99 Gerechten in V.7
ausdrücklich, dass sie der Umkehr nicht bedürfen. Dem entspricht auch das
Wort Jesu, dass nicht die Starken den Arzt nötig haben, sondern diejenigen,
die schlecht dran sind; „ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern
Sünder“ (Matthäus 9,12-13; Markus 2,17; Lukas 5,32).
6. Die Treue des Volkes Israel
wahrnehmen
Ich hatte im dritten Abschnitt herausgestellt, daß nach biblischem
Zeugnis Gott treu ist; und das meint vor allem die Treue zu seinem
Volk Israel. Paulus hat die Aussage gewisser Hoffnung aus Psalm 94,14,
dass Gott „sein Volk nicht verstoßen wird“, angesichts des Hochmuts
79
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
christusgläubiger Nichtjuden, der die Juden verstoßen sah, umgewandelt in eine Aussage in Vergangenheitsform: „Gott hat sein Volk nicht
verstoßen“ (Römer 11,2). Weil Gott treu ist, ist sein Bund mit seinem
Volk Israel ungekündigt. Das ist eine Einsicht, die in der Kirche zunehmend Raum gewinnt.
Weil Gott sein Volk Israel nicht loslässt, sondern nur Gott ist und sein
will mit seinem Volk, dürfen wir ihn nicht losgelöst von seinem Volk
betrachten. Daher geht es nicht an, Jüdinnen und Juden nach ihrer
Stellung zu Jesus als dem Messias zu beurteilen. Diese Einsicht öffnet
Christen die Augen dafür, dass das Volk Israel bis heute auf Gottes
Treue baut und seinen eigenen Weg im Bund mit Gott geht. Darin ist
das jüdische Volk ein einzigartiger Zeuge Gottes vor der Welt - auch
gegenüber der christlichen Kirche.11 Als ein auch für uns unmittelbar
bedeutsames Zeichen der Treue des Volkes Israel hatte ich in § 2 seine
Treue zum hebräischen Text der Bibel genannt12, der in unserer theologischen Forschung und theologischen Ausbildung eine wichtige Rolle
spielt.
Die Treue Gottes zu seinem Volk Israel sucht und braucht als ihre
Entsprechung die Treue des Volkes. Ohne die Treue des Volkes Israel
zu Gott bliebe Gott nicht als Gott Israels kenntlich, als den ihn doch
die Bibel bezeugt. Um dieser Kenntlichkeit Gottes als des Gottes Israels willen dürfen Christen es nicht wollen, dass Juden ihr Judentum
aufgeben und Christen werden. Was hindert uns, das Judentum als ein
älteres Geschwister zu achten und auf sein Zeugnis zu hören und so im
Gegenüber Nähe und Ähnlichkeiten zu entdecken, aber auch Unterschiede und Gegensätze auszuhalten? Wenn Christinnen und Christen
wirklich auf jüdisches Zeugnis hören, wird sie das - dessen bin ich
gewiss, und das ist meine Erfahrung - in ihrem eigenen Glauben nicht
beeinträchtigen und verunsichern, sondern reicher machen. Ich habe als
Christ meine Glaubensgewissheit durch Jesus Christus, wie sie etwa in
eindrücklicher Weise in der sechsten Strophe des Osterliedes „Auf, auf,
mein Herz, mit Freuden“13 von Paul Gerhard zum Ausdruck gebracht
11) Hier sind Formulierungen aufgenommen, die auf dem Deutschen Evangelischen
Kirchentag in Stuttgart 1999 in der Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Juden
und Christen gegen Judenmission als Resolution beschlossen wurden. Vgl. Deutscher
Evangelischer Kirchentag Stuttgart 1999. Dokumente, hg.v. Konrad von Bonin u.
Anne Gidion, Gütersloh 1999, S. 539-540.
12) Vgl. o. § 2 Abschnitt 4.
13) Evangelisches Gesangbuch Nr. 112.
80
D. Das Seminar im November 2007
wird, worauf ich mich jedes Ostern wieder freue, sie in der Gemeinde
zu singen:
„Ich hang und bleib auch hangen
an Christo als ein Glied;
wo mein Haupt durch ist gangen,
da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
durch Welt, durch Sünd, durch Not,
er reißet durch die Höll,
ich bin stets sein Gesell.“
Ich nehme aber auch wahr, wie Juden, ohne sich auf Jesus zu beziehen,
in ganz analoger Weise ihre Hoffnung und Gewissheit auf Gott setzen.
So heißt es etwa in einem Midrasch zu Psalm 1,4:
„Einst kommen alle Fürsten der Völker der Welt und erheben Anklage gegen Israel vor
dem Heiligen, gesegnet er, und sagen vor ihm: Herr der Welt, worin unterscheiden sich
die Israeliten von den Völkern? Diese sind Götzendiener, und jene sind Götzendiener;
diese sind Blutvergießer, und jene sind Blutvergießer; diese sind Unzüchtige, und jene
sind Unzüchtige. Diese steigen hinab zum Gehinnom - und jene steigen nicht hinab
zum Gehinnom? Der Heilige, gesegnet er, sagte zu ihnen: Wenn es sich so verhält,
soll jedes Volk - und seine Götter mit ihnen - zum Gehinnom hinabsteigen und sich
selbst prüfen; und auch die Israeliten sollen gehen und sich selbst prüfen. Die Israeliten
antworten und sagen vor dem Heiligen, gesegnet er: Du bist unsere Hoffnung, und
du bist unsere Zuversicht. Wer sollte uns Sicherheit geben, wenn nicht Du? Wenn es
Dein Wille ist, zieh Du an unserer Spitze! Und der Heilige, gesegnet er, sagte zu ihnen:
Fürchtet euch nicht, denn ihr seid alle mit Purpur bekleidet - das meint den Bund der
Beschneidung.“14
Ich versuche zum Schluss eine knappe Zusammenfassung:
Ich sage Nein zur Judenmission in Erkenntnis der Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Da Gott nur Gott mit seinem Volk sein will, kann ich
es nicht wollen, dass Juden aus ihren Gemeinden herausgelöst werden.
Ich sage Nein zur Judenmission in Respekt vor der Treue, mit der das
jüdische Volk seinerseits auf Gottes Treue baut und seinen Weg im
Bund mit Gott geht und ihn so bezeugt. Zeugen Gottes kann ich nicht
14) Midrasch Tehilim 1,20 (vgl. die deutsche Übersetzung von August Wünsche, Midrasch Tehillim I, Hildesheim 1967 [= Trier 1892], S. 19).
81
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
bekehren wollen. Auf Zeugen Gottes will ich hören. Wenn Jüdinnen
und Juden im Gespräch mein Zeugnis hören wollen, werde ich es
selbstverständlich geben. Aber ich werde das tun ohne den leisesten
Hintergedanken einer Missionsabsicht. Und natürlich kann es sein, dass
unser Zeugnis im gegenseitigen Hören andere Betonungen erhalten und
andere Dimensionen gewinnen wird.
Ich sage Nein zur Judenmission aus tiefer Scham vor dem, was Christen
in der Geschichte, in die ich eingebunden bin, Juden angetan haben,
wovon der Name Jesu Christi und das Zeugnis über ihn nicht unberührt geblieben sind.
Ich sage Nein zur Judenmission aus großer Dankbarkeit dafür, dass
ich als Nichtjude durch Jesus Christus, meinen Herrn, „nach Jakobs
Gott und Heil“ schaue15 und mich ihm im Leben und im Sterben anvertraue und ihn lobe. Das setzt mich ins Verhältnis zu seinem Volk.
Die Richtungsanzeige dafür, wie dieses Verhältnis zu gestalten ist, finde
ich in der Aufforderung wieder, wie Paulus sie in Römer 15,10 an die
römische Gemeinde richtet. Ich wiederhole sie ein weiteres Mal. In
meinen Augen ist das die schönste Verhältnisbestimmung von Juden
und Christen - eine Verhältnisbestimmung, in die ich mich selber gerne
weiter einüben und in der ich leben möchte: „Freut euch, ihr Völker,
mit seinem Volk!“
15) Vgl. Evangelisches Gesangbuch Nr. 302, Strophe 2.
82
D. Das Seminar im November 2007
Nein zur Judenmission – Stimmen aus
der EKD und systematische Reflexion
Robert Brandau
Kölner Studientag zur Judenmission
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin gebeten worden, Ihnen heute Abend die Diskussionslage in der
EKD zu präsentieren. Dieser Auftrag ist sehr eng gefasst, weil dadurch
die Gefahr besteht, die theologischen und historischen Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Deshalb werde ich versuchen, die Linien
etwas weiter auszuziehen. Ich kann dies nur – angesichts des äußerst
knappen Zeitrahmens – in Stichworten darbieten. Ich werde versuchen,
die unterschiedlichen Positionen zu systematisieren und Ihnen am Ende
meine eigenen Ideen, wie mit der Problematik umgegangen werden
kann, nicht vorenthalten. Ich verweise Sie auf mein Buch (Innerbiblischer Dialog und dialogische Mission. Die Judenmission als theologisches Problem, Neukirchen 2006) und auf den Reader, dort finden Sie
einige Auszüge.
Im Folgenden werde ich Ihnen einige Modelle und Motive judenmissionarischer Theologie vorstellen, anhand derer ein tief greifender Transformationsprozess derselben deutlich wird. Ich beziehe dabei die in der
EKD und in akademischen Kreisen (Tübinger und Göttinger Streit)
aufgebrochenen Konflikte um die Judenmission ein. Im Anschluss daran werde ich Ihnen die Argumente der Gegner vortragen. Einige exegetische Ausführungen und systematische Überlegungen beschließen das
Ganze (vgl. handouts 1-3).
83
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
I Problemanzeige
Die Kirche ist missionarische Kirche, oder sie ist nicht Kirche. Die Alternative „Dialog oder Mission“, das werden wir nachher am Beispiel
der ökumenischen Missions- und Dialogtheologie sehen, ist ein künstlicher Gegensatz.
Wenn das stimmt, dass die Kirche immer eine missionarische Kirche
ist – wobei das Verständnis und die Praxis der Mission sich grundlegend
verändert haben, auch darauf werde ich eingehen –, wie steht es dann
um die „Judenmission“? Können wir dann theologisch und nicht nur
emotional und affektiv begründet, die „Judenmission“ ablehnen? Oder
steht mit der Verneinung der Judenmission die missionarische Identität
der Kirche und damit die Kirche insgesamt zur Disposition? Können
wir, so höre ich es immer wieder, den Juden das Evangelium von Jesus
Christus vorenthalten, ja, ist das nicht „theologischer Rassismus“? Ist
die Form der Mission nicht der Dialog? Wenn wir mit dem Judentum
einen Dialog führen, wie sollte der nicht missionarisch sein? Das sind
die Leitfragen, die uns beschäftigen und die uns die moderne Missionstheologie aufgibt.
II Modelle und Motive
judenmissionarischer Theologie
a) Kirchliche und staatliche Gewaltmaßnahmen1
Die erste Gestalt judenmissionarischer Theologie und Praxis – wobei
der Begriff „Judenmission“ hier gar nicht fällt - fußt theologisch auf
dem Antijudaismus der Kirchenväter und der Entwicklung hin zu einem imperialen Missionsverständnis.
Bei Chrysostomos in seinen „Traktaten wider die Juden“ und anderen
finden sich folgende Vorstellungen:
1) Vgl. R. Brandau: Innerbiblischer Dialog und dialogische Mission. Die Judenmission
als theologisches Problem, Neukirchen 2006, 61, Anm. 301
84
D. Das Seminar im November 2007
Die Juden haben Christus gekreuzigt und sind deshalb als „Gottesmörder“ anzusehen.
Mit der Verwerfung Christi durch die Juden ist deren Erwählung zum
Volk Gottes hinfällig geworden und die Kirche hat diese Stellung als
Volk Gottes eingenommen (Substitutionstheorie).
Die Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n.Chr. und die folgende Zerstreuung des jüdischen Volkes gilt als der geschichtswirksame
Beweis des Gerichtes Gottes über die Juden.
Parallel dazu entwickelt sich ein Verständnis der Mission als „Ausbreitung des christlichen Imperiums“. Das Heil der Völker liegt demnach
in ihrer Unterwerfung unter die heilige Herrschaft des christlichen
Kaisers. Das Motto für Jahrhunderte lautet nun: Taufe oder Tod. Die
Kirche wird zur sakramentalen Heilsanstalt, die Kirchenväter Cyprian
und Augustinus prägen die Vorstellung: „Außerhalb der Kirche gibt es
kein Heil.“
b) Die Kerygmatisierung des Evangeliums:
Erwählung versus Rechtfertigung bei M. Luther2
Für Luther gilt grundlegend der eben schon genannte und auf Cyprian
und Augustin zurückgehende ekklesiologische Grundsatz: »salus extra
ecclesiam non est«,3 wenn es bei ihm heißt: »Kein Jude, Ketzer, Heide
oder Sünder wird selig, ohne sich mit der Gemeinde der Gläubigen
versöhnt und vereint zu haben.«4 Dies setzt die Subsumierung des Judentums unter das Allgemeine der Völkerwelt voraus. Die Kategorie der
»Erwählung« wird zugunsten der »Rechtfertigung allein aus Glauben«
relativiert, indem sie kerygmatisiert und individualisiert wird. »Infolge
dieser Ineinssetzung von Prädestination und kerygmatischem Zuspruch
bei Luther verlagert sich aber die eschatologische Entscheidung über
Verwerfung und Erwählung ganz in die durch Wort und Glaube bestimmte kerygmatische Situation.«5 In der Predigt allein (Kerygmatisierung) ergeht der Ruf an den Einzelnen (Individualisierung). Im Hören
2) Vgl. R. Brandau: a.a.O., 56 ff.
3) Augustin: Über die Taufe 4, 17, 24. In: A.M. Ritter: Alte Kirche. Kirchen- undTheologiegeschichte in Quellen, 204.
4) WA 7.219, 6–10; zitiert nach H.A. Oberman: Wurzeln des Antisemitismus, 138.
5) B. Klappert: Erwählung und Rechtfertigung, 398.
85
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
und Glauben an das verkündigte Wort geschieht die Rechtfertigung des
Gottlosen und damit die Erwählung: »Im Hören bin ich Erwählter.«6
Glaube oder Unglaube als Reaktion auf das verkündigte Wort der Vergebung der Sünden entscheiden über Heil oder Unheil. Angesichts des
»Nein« Israels zur christlichen Predigt hat diese Sicht notwendigerweise
die Negierung der Erwählung Israels als Volk Gottes zur Folge. »Aus
dem Zusammenhang von Erwählung und Predigt wird auch verständlich, in welchem Sinne man von einem erwählten Kollektiv – Israel
– reden (bzw. nicht reden) kann. Frei erwählt werden kann ja nur ein
einzelner. Würde ein Kollektiv erwählt, wäre Gott gebunden.«7
Dieses Verständnis impliziert als Ziel christlicher Predigt die Bekehrung
der Juden, ihre Ausgliederung aus der jüdischen Gemeinschaft und ihre
Integration in die Kirche unter Aufgabe ihres Judeseins. Heil gibt es nur
im je aktuellen Hören und Glauben innerhalb der Kirche. Die evangelische Verkündigung bringt die letzte Chance auf Bekehrung für die
irregeführten Juden wie für Christen.8
Dieses Schema „Rechtfertigung aus Glauben versus Erwählung“
zieht sich seitdem durch die theologische Diskussion bis in die
Gegenwart hinein. Sie finden hier die klassische evangelische Begründung der Judenmission vor, sie wird uns in allen Konflikten begegnen.
Das Judentum ist seiner besonderen Berufung als Volk Gottes seit Jesu
Tod und Auferweckung verlustig gegangen und wird der Völkerwelt
zugeordnet. Die Kirche – seit dem 4. Jahrhundert die heidenchristlich
gewordene Kirche – steht Juden und „Heiden“ in gleicher Weise gegenüber (dagegen: Röm 11,28).
6) So H. Conzelmann: Grundriß der Theologie des NT, 278, der damit Luthers Position wiedergibt.
7) H. Conzelmann: a.a.O., 275.
8) H.A. Oberman: a.a.O., 145.
86
D. Das Seminar im November 2007
c) Die organisierte Judenmission des
19. Jahrhunderts9
Die beiden bedeutendsten Gestalten der Judenmission im 19. Jahrhundert sind die beiden Theologieprofessoren und Judaisten Franz Delitzsch (1813-1890) und dessen Schüler Gustav Dalman (1855-1941),
die auch im zeitgenössischen Judentum hohes Ansehen genossen.
Ich nenne hier nur die zentralen Aspekte ihrer judenmissionarischen
Theologie, die einerseits von einer tiefen emotionalen Hinwendung
zum Judentum und andererseits von einer Tradierung antijudaistischer,
mitunter auch antisemitischer Klischees geprägt ist.
1.
2.
3.
Das Motiv der Liebe. Mit außerordentlich scharfen Worten
kritisiert Delitzsch das „himmelschreiende“, hochnotpeinliche
Verhalten von Staat und Kirche gegenüber den Juden. Sein
Grundsatz lautet: Man kann nur lieben, was man kennt, und
nur denjenigen missionieren, den man liebt. Sein Institutum
Judaicum in Leipzig dient der Ausbildung judenmissionarischer Fachkräfte, er lehrt Judaistik und bemüht sich um eine
wahrheitsgemäße Vermittlung jüdischer Religion und Tradition.
Die Verpflichtung zur Judenmission: „Wie die Heidenmission,
so die Judenmission“. Delitzsch und Dalman schärfen ein,
dass es nur eine Mission der Kirche gibt. Das Evangelium gilt
universal, Juden und sog. „Heiden“. Sie werden nicht müde,
dies gegenüber der sich entwickelnden „Weltmission“ in Übersee und gegenüber einer missionsmüden Kirche einzuschärfen.
Der Missionsbefehl Mt 28 und Apg 1,6-9 dienen ihnen als
biblischer Beleg: Jesu Wort „gehet hin zu allen Völkern“ wird
so interpretiert, dass „alle Völker“ die Juden einschließt. Ich
komme auf diese Auslegung zurück. Entscheidend: Es geht
um Heil oder Unheil!
Judenmission heißt: Juden müssen ihr Judesein aufgeben. Die
Judenmission zielt auf die Negation des Jüdischen. Die Taufe
wird damit zum Symbol der Trennung vom Judentum und zur
Eintrittskarte in die christlich-bürgerliche Gesellschaft.
9) R. Brandau: a.a.O., 19 ff.
87
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Hier wird ein Motivwechsel der Judenmission deutlich: Es geht nicht
mehr um die Ausbreitung des christlichen Imperiums, sondern um die
Rettung verlorener Seelen und die Abwehr der „jüdischen Gefahr“ für
Volk und Vaterland.
Auch hier: Die Universalisierung der christlichen Botschaft, die heidenchristliche Kirche hat das Judentum in die Kirche hinein aufzulösen. Die Kategorie der Erwählung wird, wie bei Luther, zugunsten der
Individualisierung des Heils preisgegeben.
d) Der Göttinger Streit 199210 und der Tübinger
Streit 199911 um die Judenmission
1992 kommt es innerhalb der Göttinger Theol. Fakultät zu einem
Konflikt zwischen Georg Strecker, Neutestamentler in der Tradition R.
Bultmanns, und dem Neutestamentler und Judaisten Berndt Schaller,
der die Fakultät zu spalten droht. 13 Professoren votieren mit Verweis
auf die alte Belegstelle der Judenmission des 19. Jahrhunderts, Apg 1,8
wie folgt: „Die christliche Kirche ist durch den Missionsauftrag des auferstandenen Christus ‚Ihr werdet die Kraft des Hl. Geistes empfangen,
der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde’ zum
Zeugnis gegenüber allen Menschen und Völkern aufgerufen.“
Im Tübinger Streit geht es letztlich um den Ansatz der evangelikalen
Judenmission, der sich, wenn sie die Einzelheiten des Konflikts nachlesen, kaum von der akademischen Argumentation unterscheidet. Der
Spitzensatz in Tübingen lautete: „Die Psalmen müssen erst getauft
werden, bevor sie im christlichen Gottesdienst gebetet werden können“
(Hofius). In der evangelikalen Argumentation geht es um die bekannte
Logik: Heil gibt es nur in Christus, bzw. – und diese Differenzierung
ist wichtig – nur im Glauben an Christus. Das Evangelium Juden nicht
zu verkündigen bedeutet, sie von der Möglichkeit des Heils in Christus
auszuschließen.
10) R. Brandau: a.a.O., 371 ff.
11) R. Brandau: a.a.O., 403 ff.
88
D. Das Seminar im November 2007
Neu ist: Die Bundesbeziehung Israels wird nicht geleugnet, aber: Seinem Auftrag, Licht der Welt zu sein, kann Israel ohne Christusglauben
nicht nachkommen. Den Juden die Gute Nachricht vorzuenthalten
hieße, ihnen „das Beste zu verweigern, was wir anzubieten haben.“12
Diese Argumentation geht davon aus, dass die heidenchristliche Kirche
zu Israel gesendet ist und dass das Heil in der Glaubensentscheidung
des Einzelnen und nicht im Handeln Gottes begründet ist.
Sie sehen hier die theologische Nähe zwischen der lutherischen, der
Bultmannschen Kerygmatheologie und evangelikaler Argumentation.
R. Bultmann:
Im christlichen Kerygma wird dem Menschen die Möglichkeit angeboten, von der existentiellen Uneigentlichkeit (Entfremdung von Gott)
zur Eigentlichkeit seiner Existenz vorzudringen. Das Judentum ist paradigmatisches Beispiel für die Uneigentlichkeit der Existenz, nämlich
sein Leben aus dem Verfügbaren (Gesetz) leben zu wollen.
e) Die ökumenische Missionstheologie13
Die Missionstheologie hat den Antijudaismus überwunden. Es geht
nicht mehr um „Unheil oder Heil“ anderer Religionen und Weltanschauungen oder deren „falsche(n) Glaube(n)“, sondern um Respekt
und dialogische Beziehung auf gleicher Augenhöhe. In gleicher Weise
steht die Kirche Judentum, Islam und allen anderen Religionen in
dialogisch-missionarischer Konvivenz gegenüber, bzw. lebt mit diesen
zusammen. Das dialogisch-missionarische Zeugnis kann nicht auf verschiedene Gruppen oder Religionen nach dem Motto: hier Dialog, da
Mission aufgeteilt werden. Dialog und Mission sind reziprok, unteilbar.
Das Judentum wird dem universalen interreligiösen Dialog zu- und
eingeordnet. Wenn die dialogische Mission in Konvivenz (Sundermeier) die moderne, jeglichen Absolutheitsanspruch preisgebende Form
der Mission ist, und Mission sich an den religiös und weltanschaulich
„Fremden“ richtet, dann wird das Judentum zur Fremdreligion. D.h.:
Der Dialogbegriff alleine beinhaltet noch keine Kritik der Judenmissi12) R. Brandau: a.a.O., 394
13) R. Brandau: a.a.O., 111 ff., 165 ff.
89
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
on, er ist vielmehr, in undifferenzierter Weise universalistisch gebraucht,
die Gestalt der Mission. Dies muss man immer mitbedenken, wenn
man heute recht vorschnell von einem „Trialog“ zwischen Juden, Christen und Muslimen redet.
Die fundamentale Erkenntnis, dass die Mission der Kirche und der
Dialog zwei Dimensionen der einen „missio dei“, der Mission Gottes
sind, wird schon von der ersten großen Studie der EKD „Christen
und Juden“ von 1975, rezipiert. Dort heißt es: „Mission und Dialog
sind zwei Dimensionen des christlichen Zeugnisses. Diese Einsicht
entspricht auch dem neueren Verständnis von christlicher Mission
überhaupt.“14 Die jüdischen Gesprächspartner im Umfeld des Entstehens dieser in vielfacher Hinsicht Bahn brechenden Studie haben das
sehr schnell erkannt: Hier begegnet im Gefolge ökumenischer Theologie eine neue Form der Judenmission, der missionarische Dialog bzw.
die dialogische Mission.
f) EKD Texte 77 „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“
Das Judentum wird den nichtchristlichen Religionen zugeordnet. Es
wird zum Urbild des Unglaubens: Das Evangelium ist den Juden zu
verkündigen, damit „Glaube aufs neue entstehe.“
14) R. Rendtorff/H.H. Henrix (Hg.): Die Kirchen und das Judentum Bd.1, Gütersloh
³2001, 578
90
D. Das Seminar im November 2007
III Modelle und Argumentationsstrukturen judenmissionskritischer
Theologien
a) Der radikale Pietismus
Ich komme noch einmal auf die Anfänge der organisierten Judenmission und den Pietismus zurück. Ihm erwachsen zwei Modelle einer
judenmissionskritischen Haltung, die heute weithin – gerade auch im
Pietismus selber – vergessen sind. Zum einen ist es der „Radikale Pietismus“ und zum anderen die in vielfacher Hinsicht unorthodoxe Haltung
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorffs (1700-1760) zur Judenmission.
Eine nicht nur emotionale, das Motiv der Liebe gegen jede Form der
Gewalt in der Mission stark machende, sondern theologisch gänzlich
andere Auffassung vom Judentum vertritt der sog. Radikalpietismus.15
Eine besondere Bedeutung erlangt dabei die von der Amtskirche verworfene Anschauung des sog. „Chiliasmus“, der Hoffnung auf das „tausendjährige Reich Christi.“
Nach dieser Vorstellung wird Israel nicht durch die Kirche, sondern
durch den wiederkommenden Christus bekehrt. So wie durch die Ablehnung des Evangeliums durch Israel die Heidenmission erwachsen ist,
so geht nach diesem Verständnis diese Mission zu Ende, wenn sich Israel zu Christus bekehrt bzw. bekehrt wird. Daraus kann man folgenden
»Heilsplan« aus der Geschichte ablesen: Auf Israels Verstockung folgt
die Heidenmission – dann erfolgt die Bekehrung Israels durch den Messias Jesus – dann kommt das tausendjährige Reich Christi auf Erden.
Die paulinische Theologie in Röm 9-11 spielt hier eine große Rolle.
Im radikalen Pietismus wird zum ersten Mal in der Christentumsgeschichte seit dem Auseinandergehen der Wege von Juden und Christen
und in der Neuzeit auf lange Zeit zum letzten Mal aus grundsätzlichen,
theologischen Überlegungen heraus die Judenmission programmatisch
und grundsätzlich abgelehnt.16
15) R. Brandau: a.a.O., 14ff.
16) H. Schneider: Kirche und Israel von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In: E.
Giesler/J. Beisheim (Hg.), Kirche und Israel, Didaskalia 34, Kassel 1989, 97.
91
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
b) Zinzendorf
Zinzendorfs17 nonkonformistische Haltung zum Judentum zeigt sich
insbesondere darin, dass er nach dem Scheitern früherer judenmissionarischer Versuche ein ganz eigenes missionarisches „Modell“ entwickelt:
Ziel der Mission ist es nunmehr, „Erstlinge“ zu sammeln, also einzelne
Juden zu gewinnen, denen dann die Verantwortung für die Mission
obliegt. Diese sollen nun nicht – und das ist der entscheidende Punkt
– in die heidenchristliche Herrnhuter Brüdergemeine integriert, sondern in einer sog. „Judenkehille“ gesammelt werden. Zinzendorf geht
es also um ein Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen, ohne
dass Juden ihr Judesein aufgeben müssen. Dazu befolgt er die jüdischen
Speiseregeln und führt die Feier des Schabbat ein, um das Zusammenleben von orthodoxen Juden und Christen zu ermöglichen. Theologisch
setzt er sich von der lutherischen Lehre deutlich ab: So ist das jüdische
Gesetz weder Last noch Fluch, sondern Ausdruck der Gnade Gottes,
die in Judentum und Christentum identisch sei. Das Judentum ist somit nicht eine gesetzliche Religion der Werkgerechtigkeit, sondern eine
Gnadenreligion.
Zinzendorf belebt somit den urchristlichen Gedanken der Kirche aus
Juden und Heiden und eröffnet eine für die Judenmissionsdebatte völlig ungewohnte, aber dringend notwendige Perspektive: Er eröffnet die
Möglichkeit, dass Juden Christen werden können, ohne ihr Judesein
verleugnen oder gar aufgeben zu müssen.
c) Karl Barth
Karl Barth (1886-1968) gilt als der bedeutendste Theologe des 20.
Jahrhunderts. Er hat, wie es der römisch-katholische Theologe Franz
Mußner einmal formuliert hat, die Israelfrage für die Theologie wie-
17) R. Brandau: a.a.O., 17ff.; C. Dithmar: Zinzendorfs nonkonformistische Haltung
zum Judentum, Heidelberg 2000
92
D. Das Seminar im November 2007
derentdeckt.18 Diese hier differenziert darstellen zu wollen, würde den
Rahmen sprengen. Ich benenne nur einige wichtige Aspekte:19
Wir haben eben kurz dargestellt, wie die ökumenische Missions- und
Dialogtheologie nach dem 2. Weltkrieg entscheidende Impulse für
den interreligiösen Dialog und das Verständnis der Mission der Kirche
entwickelt hat, die auch Eingang in den christlich-jüdischen Dialog
gefunden haben. Parallel dazu und mit deutlich anderen Konsequenzen
entwickelt sich durch den Einfluss Karl Barths in den sog. „Opferstaaten“ des Nationalsozialismus, vor allem in Ungarn und den Niederlanden, eine Israeltheologie, die der Judenmission gegenüber zunehmend
kritisch eingestellt war. Dieser barthsche Einfluss wird in den 60-iger
Jahren in Deutschland vermittelt über die AG „Christen und Juden
beim DEKT“ sowie den Rheinischen Synodalbeschluss von 1980, der
Barth sowie die niederländische Tradition aufnimmt, ohne allerdings
kenntlich zu machen, dass seine missionstheologische Begrifflichkeit
von Barth stammt.20
Ich skizziere im Folgenden kurz die entscheidenden Aspekte der barthschen Israeltheologie, ohne auf ihre durchaus auch kritischen Punkte
näher einzugehen:
In reformierter Tradition stehend denkt Karl Barth streng bundestheologisch und interpretiert, anders als Luther, die Christologie im Kontext
des Bundes des Gottes Israels mit seinem Volk Israel. Von Gott ist nicht
philosophisch-metaphysisch zu reden, Bundespartner Gottes ist nicht
zuerst die Welt, nicht „der“ Mensch im Allgemeinen, sondern der eine
Mensch Jesus und das in ihm, dem Juden Jesus, repräsentierte Menschenvolk Israel.21
Wer im christlichen Sinne „Gott“ sagt, muss immer auch „Jesus“ und
„Israel“ sagen. Deshalb ist für ihn Jesus als der „Messias Israels“ der
Christus, der den Bund Gottes mit Israel als der „wahre Israelit“ hält
und erneuert. So kann er 1942, im Jahr der „Endlösung der Judenfrage“
sagen, dass Israel und die Kirche zwei Gestalten der einen Gemeinde
Gottes sind. Als wahrer Mensch und wahrer Gott – Barth denkt von
der Christologie her streng trinitarisch – bedeuten Kreuz und Aufer18) F. Mußner: Traktat über die Juden, München 1979, 208.
19) R. Brandau: a.a.O., 71ff.
20) Vgl. dazu meine ausführliche und kritische Würdigung des Rheinischen Synodalbeschlusses (RSB), in: R. Brandau, a.a.O., 274ff.
21) K. Barth: Kirchliche Dogmatik (KD) II/2, 6.
93
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
weckung Jesu Christi die Versöhnung des bundesbrüchigen Israel und
erst dann auch der ganzen Menschheit. Der in Christus erfüllte ewige,
unvergängliche Israelbund ist der Grund für die Voraussetzung der
Versöhnung der Welt. D.h.: Nicht der Glaube des Einzelnen ist heilsentscheidend und die Kirche ist keine sakramentale Institution, die das
Heil quasi verwaltet. Vielmehr dokumentieren Kreuz und Auferwekkung Jesu Christi die Wirklichkeit des Heils. Damit ist – gegen alle
bisher vorgestellten Missionsprogramme – Israel nicht „heillos“, sondern steht unter der versöhnenden Wirklichkeit Jesu Christi. Christus
hat den Israelbund erfüllt und bekräftigt.
Das „Nein“ Israels ist grundsätzlicher Natur und kann nicht durch die
Mission der Kirche aufgehoben werden, sondern allein durch Christus
selber. Die „Berufung“ des Paulus (Gal 1,15f.; Apg 9) ist dafür das sprechende Beispiel. Die eschatologische „Rettung“ Israels nach Röm 11,
25 ff. versteht Barth als Aufgehen Israels in der Kirche.
d) Niederlande, Rheinischer Synodalbeschluss
(RSB), Christen und Juden II (EKD 1991, CuJ II)
und Christen und Juden III (EKD 2000, CuJ III)
Die niederländische reformierte Kirche hat schon 1951 Grundzüge der
barthschen Israeltheologie von 1942 aus KD II/2 aufgenommen und
eine, wie ich denke, Weg weisende Differenzierung eingeführt:
Sie unterscheidet (1) das Gespräch mit Israel von dem (2) Werk der
Mission, die sich an die von Israel unterschiedene nichtchristliche Welt
richtet sowie (3) der Evangeliumsverkündigung innerhalb der postchristlichen, säkularen Welt zur „Verchristlichung des Volkslebens.22
Grundlegend für diese Differenzierung ist eine Auslegung von Mt 28,
18ff., wonach „die Völker“ im Missionsbefehl die nichtjüdische Völkerwelt meint. Ich komme später darauf zurück. In einer Handreichung
der niederländisch-reformierten Kirche von 1970 heißt es:
22) R. Brandau: a.a.O., 252 f.
94
D. Das Seminar im November 2007
„Jesus Christus bedeutet für die Völker etwas fundamental anderes als
für Israel. Das jüdische Volk wird von ihm zurückgerufen zu dem Gott,
der sich von Anfang an mit diesem Volk verbunden hatte. Dagegen
bedeutet Jesus Christus für die Völker nicht, dass sie zu ihrem Ursprung
zurückgerufen werden, sondern, im Gegenteil, zu etwas ganz Neuem in
ihrer Geschichte.“23
Diese Differenzierung hat seitens der modernen Missionstheologie
scharfen Widerspruch erfahren. Gespräch sei nichts anderes als Dialog
und Dialog und Mission seien nicht auf verschiedene Völker aufzuteilen, sondern untrennbar miteinander verbunden.24 Diese Kritik hat,
was die Sprachregelung angeht, Recht. Sie übersieht jedoch die theologische Dimension, die sprachlich nur sehr tastend ausgedrückt werden
kann. Den Holländern geht es um eine sachlich-theologische Differenz
zwischen dem Judentum und der Welt der nichtchristlichen Religionen,
die gut biblisch ist. In der Bibel gibt es nie „die Menschheit“, sondern
immer die Polarität von Israel und Völkerwelt. Meine Differenzierung
des Dialogbegriffes, die ich am Ende kurz skizzieren werde, nimmt dies
auf.
Der RSB von 1980 ist ein Ergebnis sowohl dieser niederländischen
Erkenntnisse sowie der Theologie K. Barths und zugleich eine Kritik
an der ersten EKD Studie „Juden und Christen“ von 1975. Mit der
dort verwandten ökumenischen Formel „Mission und Dialog sind zwei
Dimensionen des christlichen Zeugnisses“ und deren Übertragung auf
das christlich-jüdische Gespräch plädiert die erste EKD-Studie zum
Verhältnis von Christen und Juden für die ökumenische Variante der
Judenmission.
Im RSB heißt es im missionstheologischen Satz:
„ Wir glauben, dass Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen
Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt,
23) R. Rendtorff/H.H. Henrix: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 19451985, Gütersloh 1988, 469; R. Brandau: a.a.O., 265.
24) So A. Feldtkeller: Pluralismus – was nun?, in: ders./ T. Sundermeier (Hg.), Mission
in pluralistischer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, 46
95
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
dass die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie
ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann (4,6).“25
Ich kann jetzt nicht auf die durchaus problematische Begrifflichkeit des
RSB eingehen. Auch hier macht er sich angreifbar durch den Gebrauch
des Begriffes „Zeugnis“ im Unterschied zur „Mission“, die so in der
Missionstheologie unüblich ist. Intendiert ist zweierlei:
Zum einen gibt es kein Schweigeverbot der Christen gegenüber den
Juden. Beide sind auch Zeugen Gottes voreinander. Aber dies ist keine
heidenchristliche Mission mit dem Ziel der Integration des Judentums
in die heidenchristliche Kirche. Die klassische Judenmission des 19.
Jahrhunderts wird hier deutlich abgelehnt. Die Kirche kann nur Kirche
sein und bleiben, wenn sie vom Judentum lernende Kirche ist.
Bedeutet „Mission“ Konversion, so deutet sich hier an: Selbst wenn
ein Jude Christ wird, bleibt er Jude, insofern ist das (heiden)christliche
Zeugnis nicht missionarisch. Offenes Problem: Das sog. „Judenchristentum“ ist theologisch nicht im Blick!
Missio Judaica: Der RSB würdigt den bleibenden Missions- und Zeugnisauftrag des Judentums. Nicht nur die Kirche, auch Israel hat weiterhin Anteil an der „missio Dei“.
CuJ II:
Röm 15,8 ff. ist der Schlüsseltext der Studie: Christus ist der Diener der
Juden, um die Verheißungen zu bestätigen und die Heiden zum Lob
Gottes zu führen.
CuJ III:
Die von der EKD verfasste dritte große Studie zum Verhältnis von Juden und Christen nimmt angesichts der judenmissionarischen Versuche
unter jüdischen Kontingentflüchtlingen das Thema der Judenmission
auf und kommt zu einer für EKD-Verhältnisse relativ klaren Absage.
Die Begründung fußt auf Röm 9-11, erinnert an die bleibende Erwählung des Volkes Israel auch post christum natum und macht deutlich:
Wer das Volk Israel judenmissionarisch in die Kirche auflösen will,
tastet den Gott Israels an. Denn wie der „Bund Gottes mit Israel ein
25) B. Klappert/H. Starck (Hg.): Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980, Neukirchen 1980, 265; R. Brandau:
a.a.O., 274 ff.
96
D. Das Seminar im November 2007
Identitätsmerkmal Israels ist, so ist der Bund mit Israel ein Identitätsmerkmal Gottes selbst. Christen – präziser wäre von Heidenchristen zu
sprechen – kommen durch Jesus Christus zu dem Gott, der sich unverbrüchlich mit Israel verbündet hat.“26
e) Göttingen, Tübingen, Kirchentag 1999, Pfalz
1992 kommt es innerhalb der Theologischen Fakultät der Universität
Göttingen zu einem Streit um die Judenmission. Die Position der Befürworter („Göttinger 13“) habe ich unter II.d vorgestellt, hier nun die
Antwort der „Göttinger 7“ auf die judenmissionarische Position der
„Göttinger 13“ um G. Strecker:
„In der Begegnung mit Juden haben Christen sich der engen, unlösbaren Verbindung der Kirche mit Israel als dem Bundesvolk Gottes
bewußt zu sein. Die wegen der Treue Gottes bleibende Erwählung des
jüdischen Volkes gibt dem Verhältnis von Christen und Juden einen
besonderen Charakter. Christliches Zeugnis gegenüber Juden kann
daher nicht einfach dem allgemeinen Zeugnis gegenüber allen anderen
Menschen zugeordnet werden.
›Judenmission‹ war und ist für Juden entscheidend verbunden mit der
Erinnerung an gewaltsame Unterdrückung, zwangsmäßig durchgeführte oder gesellschaftlich aufgenötigte Übertritte und Taufen. Angesichts
dessen müssen die Kirchen alle judenmissionarischen Aktivitäten
grundsätzlich überdenken. Der ›Judenmission‹ ist abzusagen, da der Vater Jesu Christi der Gott Israels ist und Christen daher mit Juden eine
wesentliche Grundlage des Glaubens gemeinsam haben.“27
Die bleibende Erwählung und der Glaube an den Gott Israels machen
„Judenmission“ unmöglich. Problem: Die Christologie bleibt merkwürdig unterbestimmt (vgl. CuJ II und meine kritische Würdigung28).
26) CuJ III, 44 f.
27) R. Brandau: a.a.O., 382 f.
28) R. Brandau: a.a.O., 389 f.
97
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Im Tübinger Streit (vgl. II.d) antworten die drei Professoren Janowski,
Schreiner und Lichtenberger auf die judenmissionarischen Äußerungen
auf dem Studientag der Fachschaft Ev. Theologie in Form eines offenen
Briefes:
„Juden und Christen sind je auf ihre Weise zu Zeugen des Einen Gottes, zu Zeugen des Gottes in unserer Welt berufen, der Juden der Gott
Abrahams und den Christen zugleich der Vater Jesu Christi ist. Wenn
Christen dieses Zeugnis mit den Psalmen der hebräischen Bibel ablegen, rezitieren sie keine ›getauften Psalmen‹, sondern stimmen ein in
das Gotteslob Israels, in das Bekenntnis zu dem Einen Gott.
Judenmission, in welchem Gewand auch immer sie daherkommt, lehnen wir ab, ohne Wenn und Aber, aus exegetisch-theologischen Gründen ebenso wie aus historischen und moralischen. Der Versuch von
Heiden(christen), das Volk Gottes zu missionieren, ist ein aberwitziges
Unterfangen, das in den kanonischen Schriften der Kirche keinerlei
Rechtfertigung hat. Das Judentum ist keine defizitäre Religion; es ist
dies heute ebenso wenig, wie es dies je war. Jüdisches Selbstverständnis
lebt von der gottgeschenkten Heilsgewissheit, ›dass ganz Israel an der
zukünftigen Welt Anteil hat‹ (Mischna, Traktat Sanhedrin, Kapitel
10).“29
Es werden sowohl theologische als auch historische Gründe für die Ablehnung der Judenmission benannt:
Juden und Christen sind Zeugen Gottes vor der Welt (vgl. RSB).
Heidenchristen haben nicht den Auftrag, das Judentum zu missionieren, das ist neutestamentlich nicht belegt.
Judentum ist keine defizitäre Religion.
Die Praxis der Judenmission hat ihren Zweck „entheiligt“.
Kirchentag 1999, AG „Christen und Juden“:30
Die AG „Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ gibt angesichts judenmissionarischer Bemühungen evangelikaler
29) R. Brandau: a.a.O., 405
30) R. Brandau: a.a.O., 396 ff.
98
D. Das Seminar im November 2007
Kreise unter jüdischen Kontingentflüchtlingen eine Erklärung mit folgenden inhaltlichen Schwerpunkten ab:
Ungekündigter Bund und bleibende Erwählung Israels.
Der Missionsbefehl Mt 28 gilt nicht Israel, sondern der Völkerwelt.
NT kennt keine heidenchristliche Judenmission.
Tendenz: Israel ist nicht „heillos“, es „braucht“ die Christusverkündigung nicht.
Problem: Die Christologie wird negiert. Was hat Christus noch mit
Israel zu tun? Dahinter steht das Modell der „Zwei Heilswege“, Jesus ist
der Messias „aus“ Israel „für“ die Völker (K. Wengst). Es wird zwischen
„Christusverkündigung“ und „Christologie“ nicht unterschieden.
Dagegen: Röm 15,8ff.; Jesus ist der Repräsentant Israels (vgl. unten
IV.b); die eschatologische Christologie (Röm 11,25 ff.) wird negiert,
ebenso die Bedeutung und der Sinn der Verkündigung Jesu in Israel;
das Heidenchristentum wird zur Norm dessen, was „christlich“ ist.
Pfalz 1990:31
In der Erklärung der Pfälzer Synode stehen folgende Überlegungen im
Mittelpunkt:
Das Judesein Jesu führt die Kirche dazu, am jüdischen Volk als „Volk
Gottes“ festzuhalten.
Lk 2,32: Jesus ist ein Licht der Heiden zum Lobpreis Israels.
Reflexion des jüdischen „Nein“:
• Ausdruck der messianischen Hoffnung.
• Folge des Versagens der Kirche.
• Röm 11,11 f.: Das jüdische „Nein“ ist heilsgeschichtlich relevant, es erfolgt „Uns [den Christen] zum Heil“.
31) R. Brandau: a.a.O., 315 ff.
99
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
IV Christologie32
a) Die Teilnahme Israels am messianischen Leidensweg Jesu
Ich beziehe mich noch einmal zurück auf Barths großartigen theologischen Neuentwurf der gesamten kirchlich-dogmatischen Tradition und
seiner Kreuzestheologie. Barth versteht Kreuz und Auferweckung Jesu
Christi im Zusammenhang des Bundes Gottes mit Israel: Der Gottessohn Jesus ist zugleich der Gottesknecht aus Jes 53 und erleidet stellvertretend die Gerichtsleiden Israels und der Welt. In Jes 53,4f heißt es:
„Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.
Wir aber hielten ihn für den, der von Gott geplagt, geschlagen und
gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und
um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass
wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“
Die Auferweckung als eine neue Tat Gottes ist dann verstanden als die
bundesrechtliche Inkraftsetzung und Anerkennung dieses stellvertretenden Leidens und bedeutet die Rechtfertigung des gottlosen Menschen,
seine Versöhnung.
Allein, diese rein bundesrechtliche Dimension des Kreuzes Jesu Christi
stellt eine Verkürzung der neutestamentlichen Kreuzestheologie dar.
Denn Jesus erleidet nicht nur die Gerichtsleiden Israels und aller Menschen, sondern er erleidet im „Tod des Juden“ Jesus von Nazareth die
Leiden Israels bis auf diesen Tag mit. Nicht ohne Grund betet Jesus am
Kreuz den 22. Psalm. Er tritt damit in die tausend-, ja millionenfache
Leiderfahrung seines Volkes ein. So erscheint uns das Leiden des verfolgten und geächteten Judentums als ein Leiden im Raum des Leidens
Christi und umgekehrt. Der amerikanische Theologe Franklin Littell
kann sagen: „Die tragische Wahrheit ist, dass die meisten Märtyrer für
Christus in unserem Jahrhundert Juden waren.“33
Es geht also darum, nicht nur den in der christlichen Abendmahlstradition dominierenden Charakter des stellvertretenden Leidens Jesu Chri-
32) R. Brandau: a.a.O., 424ff.
33) In: Handreichung Nr. 39 der Ev. Kirche im Rheinland “Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden”, 19
100
D. Das Seminar im November 2007
sti zu bedenken, sondern, so J. Moltmann, das Mitleiden des Gekreuzigten mit seinem Volk und dann auch mit allen Leidenden dieser Welt.
Das bedeutet für die Christologie, also die kirchliche Lehre von Jesus
Christus: Der Gekreuzigte Herr der Kirche ist nicht zu glauben ohne
das „gekreuzigte“ Israel.
b) Der Messias Jesus als Repräsentant Israels
Im AT gibt es Tendenzen, die einzelnen herausragenden Figuren der
Geschichte Israels eine quasi messianische und damit über das individuelle hinausweisende kollektive, das ganze Volk Gottes darstellende
und repräsentierende Bedeutung zuschreiben. In der alttestamentlichen
Exegese spricht man von einer „messianischen relecture“ einzelner
individueller Gestalten34: Dies betrifft etwa die historische Figur des
David, mit dem als dem „idealtypischen“ König angesichts des realen
Scheiterns des Königtums in Israel die Erwartung der messianischen
Welt verbunden wird. In den Psalmen wird das deutlich, wenn das davidische „Ich“ zum kollektiven „Wir“ des betenden Israel hin geöffnet
wird. In gleicher Weise betrifft das die uns unbekannte historische Figur
des Gottesknechtes in Jes 53, der zum Sinnbild des Leidens Israels wird,
das stellvertretend für andere leidet. M. Buber schreibt dazu:
„Es ist überhaupt ein Irrtum, in der Schrift kollektives und individuelles
Ich streng zu scheiden. Das Ich des Einzelnen bleibt durchsichtig ins ich der
Gemeinschaft.“35
In diese Messianisierung und Kollektivierung zentraler Figuren der Geschichte Israels zeichnet das NT nun die Geschichte Jesu Christi ein. So
wird sie dargestellt als „Weg-in-Beziehung“ zum Gott Israels und zum
Volk des Gottes Israel.
Mit dem Neutestamentler U. Luz kann man sagen: Die Evangelien
erzählen die Geschichte Jesu auch als „kollektive Biografie Israels“.36
Das „Ich“ Jesu und das „Wir“ Israels durchdringen und „repräsentieren“
34) B. Janowski: „Verstehst du auch, was du liest?“, in: W. Härle/M. Heesch/ R. Preul
(Hg.), Befreiende Wahrheit. FS für Eilert Herms, Marburg 2000, 16
35) M. Buber: Der Glaube der Propheten, Zürich 1950, 260.
36) U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/4, Neukirchen 2002, 470.
101
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
sich wechselseitig. Ich nenne die wichtigsten Aspekte stichwort- und
thesenartig:
1.
2.
3.
4.
Nach dem Stammbaum Jesu in Mt 1 ist Jesus der Davidssohn. Der Stammbaum stellt Jesus mit diesem messianischen
Hoheitstitel als den verheißenen Messias Israels vor, der über
die königliche Abstammungslinie in die Kontinuität der Geschichte Israels hineingestellt und als König Israels vorgestellt
wird. Als „Davidsohn“ ist Jesus Repräsentant des ganzen Volkes, dem er zugleich als der messianische Lehrer der Tora (Mt
5-7) und als der Helfer und Heiland (8-9) entgegentritt.
In der alttestamentlichen Jakobstradition erhält der Patriarch
Jakob den Ehrennamen „Israel“ (Gen 32,29; 35,10). Jakob
wird so zum Sinnbild des ganzen Volkes, bei den QumranEssenern wird Jakob (11 QTR 29,4-10) zur Symbolfigur des
endzeitlichen, Gott wohlgefälligen Israel. Joh 1,51 nimmt
dies auf, indem dort auf die Geschichte von der Himmelsleiter (Gen 28,10ff) angespielt wird: „Ihr werdet den Himmel
offen sehen und die Engel Gottes werden hinaufsteigen und
herabsteigen auf den Menschensohn“. Jesus wird zum „wahren
Jakob, zum Ort der Gegenwart Gottes und zum personalen
Inbegriff des Volkes Gottes. Er ist der den Gott Israels und das
Volk Israel idealtypisch Darstellende (Repräsentierende), er ist
der wahre Israelit.37
Im AT können Israel und der König „Sohn Gottes“ genannt
werden (Ex 4,22f.; Ps 2,7). In der Taufe Jesu werden diese
Prädikate auf ihn übertragen. Die Gottessohnschaft Israels
und der Gottessohn Jesus stehen in Kontinuität und in einer
lebendigen Beziehung zueinander. In Jesus begegnet uns Israel.
Hier wird besonders deutlich, dass die Jesusgeschichte nicht
nur eine individuelle Geschichte ist, sondern der Evangelist
Matthäus diese Geschichte als gemeinschaftliche Biografie
Israels erzählt. Dies wird in der Weihnachtsgeschichte bei Mt
sehr schön anschaulich. Nach der Flucht der heiligen Familie
vor Herodes nach Ägypten heißt es dann: „Aus Ägypten rief
ich meinen Sohn (Mt 2,15)“.
In den Worten vom „Menschensohn“ begegnet uns in den
Evangelien eine herausragende Titulatur Jesu, weil es der ein-
37) C. Thoma: Das Messiasprojekt, Augsburg 1994, 282; R. Brandau: a.a.O., 448 f.
102
D. Das Seminar im November 2007
5.
zige Hoheitstitel Jesu ist, den er selber verwandt hat. Er ist
demnach der kommende Menschensohn nach Dan 7, durch
den Gottes abschließendes Gericht (Lk 12,8 ff.) offenbar wird.
Er ist zugleich der gegenwärtige Menschensohn, in dem die
Zuwendung Gottes zu den Verlorenen deutlich wird, er ist
der leidende Menschensohn, der die Leiden des Volkes teilt
(Mk 10,33) und stellvertretend für es eintritt (Mk 10,45).
Der Menschensohntitel drückt also zuerst die Gottesbeziehung Jesu aus, aber nach Dan 7 ist der Menschensohn (7,27)
zugleich der Repräsentant des erwählten Israel. Trinitätstheologisch ist dies von großer Bedeutung: In Jesus wohnt also
zum Einen die Herrlichkeit Gottes ein – das drückt seinen
Gottesbezug aus - und zum anderen stellt er das Volk Israel
vor Gott dar.
Auf den Gottesknecht in Jes 53 bin ich schon eingegangen.
Schon in der jüdischen Interpretation der Gottesknechtslieder
Jes 42-53 stehen sich ein individuelles und ein kollektives Verständnis gegenüber. Die neutestamentliche Tradition interpretiert ihrerseits das Kreuz Jesu als stellvertretendes Leiden des
Gottesknechtes. Was bedeutet es nun, wenn der Gottesknecht
sowohl ganz Israel meint als auch – im NT – die Person Jesu
und beide sich wechselseitig durchdringen? Paulus nimmt
diesen Gedanken auf und kommt zu Formulierungen, die in
der christlichen Theologie weithin ignoriert werden: In Röm
11,15 spricht Paulus davon, dass Israel durch die Ablehnung
des Messias Jesus einen „Verlust“ erlitten habe, der „die Versöhnung der Welt bedeutet.“ Paulus spricht also an zentraler
Stelle davon, dass der von uns Heidenchristen als „Unglaube“
bzw. als „Verwerfung“ verstandene Tatbestand, dass Israel
mehrheitlich nicht an seinen Messias glaubt, ein gottgewolltes
„Nein“ ist und eine Heilsbedeutung für die ganze Welt hat.38
Machen wir uns die Dimensionen klar, wenn Paulus in dem
zentralen ntl. Text 2Kor 5,19 andererseits von der „Versöhnung der Welt“ in Christus spricht. Beide, Christus und das
Nein Israels zu Christus im Verbund, bedeuten die Versöhnung der Welt.
38) K. Haacker: Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 229.
103
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Was bedeutet das alles nun für das Problem der Judenmission oder des
missionarischen Dialogs mit Israel? Ich denke, es ist deutlich geworden,
dass der von der Kirche verkündigte Jesus Christus seinem Volk Israel
nicht nur gegenübertritt, sondern aufs Engste mit ihm verbunden ist,
und zwar unabhängig von der Frage des Glaubens oder Unglaubens
Israels. Ganz im Gegenteil: Der Unglaube ist nicht einfach Unglaube,
sondern ist für Paulus geradezu heilsnotwendig. Das bedeutet für die
dialogische Mission der Kirche: Israel kann nicht Adressat der Mission
sein, sondern ist Inhalt des aller Welt zu verkündigenden Evangeliums.
Aber, so der nicht ganz unberechtigte Einwand, hat Jesus denn Israel
nichts zu sagen? Tritt er dem Volk nicht auch gegenüber, wie wir eben
hörten, hat er nicht zur Umkehr gerufen und hat er nicht am Ende im
Missionsbefehl die Jünger zu „allen Völkern“ gesandt, zählt Israel da
nicht hinzu?
V Exegetische Einsichten
a) Die messianische Sendung zu Israel
Das NT lässt überhaupt keinen Zweifel daran:
Der Messias Jesus sieht sich „gesandt zu den verlorenen Schafen des
Hauses Israel“ (Mt 15,24). Er sendet seine (jüdischen!) Jünger und Jüngerinnen zur Verkündigung des angebrochenen Reiches Gottes genau
dorthin (Mt 10,5) und verwehr ihnen den Weg zu den „Heiden“ (Mt
10,6). Was bedeutet diese Verkündigung in Israel theologisch? Diese
Sendung Jesu ist als Dienst an Israel, als konkrete Durchführung und
Bestätigung der Erwählung Israels aus freier Gnade und als die Bezeugung der Treue Gottes seinem Volk gegenüber zu verstehen.39 Der an
ganz Israel gerichtete Umkehrruf geschieht in dem Sinn, „in dem auch
die Propheten Israels das Gottesvolk zur Umkehr aufgefordert haben,
im Sinn der Bewährung und Bewahrung der Zugehörigkeit zum Gottesvolk und des Bundes der Erwählung.“40
39) P. Stuhlmacher: Biblische Theologie des Neuen Testaments Band 1, Göttingen 1992,
158.
40) B. Schaller: „Judenmission“ und Neues Testament, in: S. Kortzfleisch/R. Meister-Karanikas (Hg.), „Räumet die Steine hinweg“. Beiträge zur Absage an die Judenmission,
Hamburg 1997, 29.
104
D. Das Seminar im November 2007
Es gibt keinen Beleg dafür, dass die rein jüdische Urgemeinde den
Auftrag Jesu „gehet hin zu den verlorenen Schafen Israels“ aus Mt 10,5
nicht weiter verfolgt hätte. Das Pfingstfest ist der Beleg dafür (Apg
2,14ff): Was als Geburtsstunde der Kirche verstanden wird ist in Wahrheit nichts anderes als die Bekräftigung der eschatologischen Sammlung
des Gottesvolkes Israel um seinen auferstandenen Messias.41 Die Anrede
des Petrus in der Pfingstpredigt Apg 2,14 macht das deutlich: „Ihr Juden, die ihr in Jerusalem wohnt…“
Aber, ich betone es noch einmal: Diese innerjüdische Sendung und
Predigt vor und nach Ostern ist ihrer Intention nach keine „missionarische“ Predigt im Sinne eines intendierten Religionswechsels und der
Hinwendung zu einer anderen Gottheit (vgl. 1Thess 1,9f ).
Und dennoch, und darauf kommen wir im Blick auf den Missionsbefehl jetzt zu sprechen, hat sich, wenn auch sehr zögerlich, nach Ostern
etwas Grundlegendes verändert. Nun vollzieht sich der heftig umstrittene und umkämpfte Übergang von einer rein innerjüdischen Bewegung
zur Gemeinde aus Juden und Heiden. Der Gal und die Apg berichten
davon, dass dies außerordentlich konfliktträchtig war. Es wurde intensiv
und kontrovers diskutiert, ob „Heiden“ Christen werden konnten, ohne
zuvor Juden werden zu müssen (vgl. Gal 2; Apg 10-11; 15).
b) Die missionarische Sendung an die Völker –
Mt 28,18–2042
Es wurde bereits dargelegt, dass die von der Erweckungsbewegung stark
geprägte Judenmission des 19. Jahrhunderts Mt 28,18–20 gegen alle
Einwände historischer oder chiliastischer Motive als universalen, Israel
einbeziehenden kirchlichen, also auch die heidenchristlich gewordene
Kirche betreffenden Auftrag zur Mission verstanden hat.
Wenn wir uns nun der exegetischen Debatte um den „Missionsbefehl“
zuwenden, dann geht es um die Frage, ob sich daraus ein Missionsauf41) J. Roloff: Die Kirche im Neuen Testament. NTD Ergänzungsreihe 10, Göttingen
1993, 63
42) R. Brandau: a.a.O., 465ff.
105
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
trag der heidenchristlichen ökumenischen Christenheit gegenüber Israel
ableiten lässt.
Für das Verständnis von Mt 28,18–20 hinsichtlich unseres Problems ist
es wichtig zu entscheiden, wie das ›παντα τα εθνη‹ (alle Völker) in V.
19a zu verstehen ist. Zwei Auslegungsmodelle stehen einander gegenüber: Es kann verstanden werden als »alle Völker« inklusive Israel oder
im Sinne von »alle Heiden« unter Ausschluss von Israel.43
Folgt man dem biblischen Sprachgebrauch,44 dann legt sich eine exklusive Fassung von »παντα τα εθνη«, also die Fassung, die Israel nicht
mitmeint, nahe. Es gibt kein biblisches Buch und keinen Beleg in den
übrigen hellenistisch-jüdischen Schriften, in dem Israel nicht im Gegenüber zu den Völkern im Sinne von »Heiden« (εθνη) gesehen wird.45
Für die Missionsfrage ist es nun von nicht zu überschätzender Bedeutung zu erkennen, dass es einen theologisch grundlegenden Unterschied
gibt zwischen der eben schon erwähnten innerjüdisch-messianischen
Bezeugung in Israel einerseits und dem Hinzukommen der Völker
andererseits. Im dargestellten Szenarium des „Missionsbefehls“ geht es
nunmehr um die Begründung eines weiteren Auftrags. Diese Szene soll
die Legitimität der Sendung der matthäischen Gemeinde als innerjüdische Sendung nicht bestreiten, sondern vielmehr jetzt, im Übergang zur
Heidenmission der Gemeinde, diese ausdrücklich legitimieren.46
Die Frage, ob mit „παντα τα εθνη“ Israel inklusiv gemeint ist, ist
deshalb zu bestreiten. In Mt 28,18–20 geht es ausschließlich um die
Sendung der Gemeinde durch den auferstandenen Menschensohn zu
den „Völkern“.
43) U. Luz: Matthäus I/4, 447.
44) So G. Eichholz: Der Begriff »Volk« im Neuen Testament, 79.
45) „Für die zur Debatte stehende Frage ergibt sich dabei ein klarer Befund: Während der
Sing. ethnos (»Völkerschaft«) in der Septuaginta-Version der Heiligen Schriften (LXX)
auch Israel bezeichnen kann (vgl. z.B. Ex 19,6), meint der Ausdruck panta ta ethne
bei weit über 100 Belegen durchgängig ›alle Weltvölker‹ im Gegenüber zu Israel. ...
Ein ähnliches Bild lassen die übrigen hellenistisch-jüdischen Schriften erkennen.“ (F.
Wilk: Eingliederung von „Heiden“ in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams, ZNT
15/2005, 52, Kurs. Wilk)
46) U. Luz: Matthäus I/4, 451, Anm. 125; M. Vahrenhorst: „Ihr sollt überhaupt nicht
schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, Neukirchen 2002, 15f.
106
D. Das Seminar im November 2007
Das bedeutet nun aber nicht, dass die innerjüdische Sendung zu Israel
in Mt 10,6 durch den Auftrag des Auferstandenen zur Völkermission
hinfällig geworden wäre.47 Davon kann bei Mt keine Rede sein! Beides
ist jedoch nicht miteinander zu identifizieren. Die alles entscheidende
Frage lautet: Wer ist zu wem gesandt? Der Auftrag zur Israelsendung
ergeht grundsätzlich und ausschließlich an jesusgläubige Juden. In diesen
Auftrag der innerjüdischen messianischen Bezeugung des Messias Israels
im Sinne eines „innerjüdischen Dialogs“ können Heidenchristen aus
der ökumenischen Völkerkirche nicht eintreten. Und: Die matthäische
(judenchristliche) Gemeinde ist nun nicht mehr nur zu den „verlorenen
Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10,6) gesandt, sondern sie vollzieht den
Übergang zur Völkermission.
Aber dieser innerjüdische Dialog um den Messias Jesus ist damit nicht
aufgehoben:
„Daß auch christus-gläubige Heidenchristen für eine Art ›Judenmission‹
zuständig seien, besagt das aber nun gerade nicht.“48
Eine heidenchristliche Judenmission ist im gesamten NT nicht bezeugt.49
VI Zusammenfassung
Ich habe versucht deutlich zu machen, dass auf Grund der Christologie
und des ntl. Befundes die Beziehung der ökumenischen heidenchristlich gewordenen Kirche zum Judentum etwas grundsätzlich anderes ist
als die Beziehung zu den Weltvölkern. Der gekreuzigte Auferstandene
repräsentiert und vergegenwärtigt Israel in der Völkermission der Kirche. Die Beziehung zu Israel gehört somit zum Bekenntnis der Kirche,
nicht zu ihrem missionarischen Auftrag. Eine Judenmission gleich
welcher Art – durch Gewalt oder Zwangsbekehrung, durch liebevolle
47) Mit B. Schaller: a.a.O., 19 ist zu betonen, „daß Matthäus keineswegs der Meinung
war, die Botschaft Jesu vom Reich Gottes ginge die jüdischen Zeitgenossen nichts an,
sondern nur die Weltvölker.“ Zwischen Mt 28,19a und 10,5f bestehen Beziehungen
bis in den Wortlaut hinein (»gehen«). Im matthäischen Kontext kann 10,5 (»geht
nicht den Weg zu den Heiden«) jetzt, angesichts der neuen Herausforderung der
Heidenmission und des Auftrags des Auferstandenen, nicht mehr gelten. So zu Recht
U. Luz: a.a.O., 450. Aber zwischen 10, 6 (»geht hin zu den verlorenen Schafen aus
dem Hause Israel«) und 28, 19a muss kein Widerspruch bestehen. 10,6 meint das innerjüdische Christuszeugnis gegenüber Israel, 28,19a die Mission an die Völkerwelt.
48) B. Schaller: a.a.O., 27, Kursivierung R.B.
49) Zur Exegese von Apg 1,6-9 vgl. R. Brandau: a.a.O., 472-475
107
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Zuwendung judaistisch gebildeter Missionare (19. Jahrh.) oder durch
einen missionarischen Dialog, der voller Respekt und Toleranz geführt
wird – ist abzulehnen. Alle Formen und Gestalten der Judenmission
negieren faktisch die Erwählung und Berufung Israels zum Volk Gottes
und seine Zeugenschaft für Gott vor der Welt, wie immer die auch
interpretiert werden mag. Auf Grund des Glaubens an den einen Gott
Israels, in dessen Machtbereich Israel und die Kirche leben, auf Grund
der gemeinsamen Heiligen Schrift des AT – mit keiner anderen Religion (auch nicht dem Islam) teilen wir in „kanonischer Dialogizität“
eine „Heilige Schrift“ -, auf Grund der Christologie, die uns die unlösbare Verbindung Jesu mit Israel vor Augen stellt, und auf Grund des
Auftrags des Auferstandenen in Mt 28 ist jede Form heidenchristlicher
Mission in und an Israel ausgeschlossen. Hier ist vom „radikalen Pietismus“ und vor allem von Paulus zu lernen: Wenn das Reich Gottes
anbricht und aus Zion der Erlöser der Welt kommen wird (aus Zion
wohlgemerkt, nicht aus Rom oder Wittenberg!), dann wird Israel die
Herrlichkeit des Messias schauen! Bis dahin braucht die Kirche Israel,
denn dieses hält die Hoffnung auf die Erlösung, und zwar die sichtbare,
alles verändernde Erlösung und Rettung der Welt wach.
Auch und gerade angesichts der aktuellen Diskussion um den interreligiösen Dialog und die Frage nach einem theologischen Trialog zwischen
Juden, Christen und Muslimen warne ich vor einer Vermischung der
dialogischen Beziehungsebenen und schlage deshalb eine Ausdifferenzierung der verschiedenen Dialogebenen vor, damit wir sowohl der
besonderen Beziehung zum Judentum als auch dem missionarischdialogischen Auftrag der Kirche gerecht werden. Folgende dialogische
Beziehungsebenen sollten wir theologisch unterscheiden:50
1. Ein „innerjüdischer Dialog“ innerhalb Israels:
Es steht der heidenchristlichen Mehrheitskirche nicht zu, das innerjüdische messianische Zeugnis von Juden an Juden zu behindern oder zu
desavouieren. Denn: Die unabgeschlossene messianische Sendung der
jüdischen JüngerInnengemeinde zu Israel (Mt 10,6) ist keine Judenmis50) R. Brandau: a.a.O., 475ff.; vgl. auch meine Thesen zur Arbeitsgruppe 3 „Judenmission“ auf dem Symposion „25 Jahre Rheinischer Synodalbeschluss“ 2005 auf
der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Jetzt in: S. Kreuzer/F. Ueberschaer (Hg.),
Gemeinsame Bibel – Gemeinsame Sendung. 25 Jahre Rheinischer Synodalbeschluss,
Neukirchen 2006, 120ff.
108
D. Das Seminar im November 2007
sion und keine judenchristliche Mission. Es geht nicht um einen Religions- oder Glaubenswechsel, sondern um den prophetischen Umkehrruf
in Israel. Er ist ein Zeugnis innerjüdischen Ringens um Jesus Christus,
den Messias Israels im Horizont der Hoffnung Israels (Apg). Es gibt
heute messianische Gemeinden in Israel, die vom Rabbinat als „Juden“
anerkannt sind. Judenchristliche Existenz ist eine Doppelexistenz.
2. Ein „innerbiblischer“ Dialog der ökumenischen Völkerkirche mit
Israel:
Das vorher Ausgeführte vorausgesetzt bedeutet dies nun nicht, im innerbiblischen Dialog den Glauben an Jesus Christus schamhaft zu verschweigen. Allein die Christologie ist die Klammer zwischen Israel und
der Völkerkirche. Eine Judenmission, die auf Konversion angelegt ist,
ist streng abzulehnen. Kritische Frage: Können Heidenchristen Juden
Jesus so bezeugen, dass er im Sinne von Röm 15,8 ff. (Erfüllung der Väterverheißungen) zu glauben und eine jüdische Existenz in der Völkerkirche möglich ist ohne Entfremdung und Trennung vom Judentum?
3. Ein „interkonfessioneller Dialog“ der christlichen Konfessionen
untereinander.
4. Ein „dialogisch-missionarisch-interreligiöser Dialog“ ...
... der ökumenischen Völkerkirche mit den Religionen (auch dem
Islam!) und Weltanschauungen. Allein dieser Dialog steht in einer unauflösbaren dialektischen Beziehung zur unaufgebbaren Mission der
Kirche. Er gilt den religiös „Fremden“ oder den innerhalb der ökumenischen Völkerkirche religiös „Entfremdeten.“
109
110
Kirche = sakramentale
Heilsanstalt:
„salus extra ecclesiam
non est.“ (Cyprian und
Augustin)
Mission = Ausbreitung
des christlichen Imperiums.
Taufe oder Tod.
Judenmission
heißt: Juden müssen ihr Judesein
aufgeben. Taufe
Symbol der Trennung vom Judentum, Eintrittskarte
in die christlichbürgerliche Gesellschaft.
Evangelikale
Judenmission:
Heil nur im
Glauben an
Christus. Das
Evangelium
Juden nicht zu
verkündigen
bedeutet, sie von
der Möglichkeit
des Heils auszuschließen.
Tübingen 1999:
„Die Psalmen
müssen getauft
werden, bevor sie
im christlichen
Gottesdienst
gebetet werden
können“ (Hofius).
Göttinger „13“:
Apg 1,8: Universaler Zeugnisauftrag gegenüber
allen Menschen
und Völkern.
Motiv der Liebe:
Man kann nur
lieben, was man
kennt, und nur
denjenigen missionieren, den man
liebt.
Außerhalb der Kirche
kein Heil: „Kein Jude,
Ketzer, Heide oder
Sünder wird selig,
ohne sich mit der Gemeinde der Gläubigen
versöhnt zu haben“
(WA 7.219,6-10).
Erwählung wird
zugunsten der „Rechtfertigung allein aus
Glauben“ relativiert,
indem sie kerygmatisiert und individualisiert wird.
In der Predigt (Kerygma) allein ergeht der
Ruf an den Einzelnen
(Individualisierung).
Im Hören ist man
Erwählter.
Negierung Israels als
Volk Gottes.
Juden als Gottesmörder.
Durch Verwerfung
Christi ist Erwählung
hinfällig und auf die
Kirche übergegangen
(Substitutionstheorie).
Zerstreuung der Juden
geschichtsmächtiger
Erweis des Gerichtes
Gottes über die Juden.
Wie die „Heidenmission“ so die
„Judenmission“:
Das Evangelium
gilt universal wie
der Missionsbefehl
Mt 28/Apg 1,6-9.
In der Mission
geht es um Heil
oder Unheil.
Göttingen 1992
Tübingen 1999
Organisierte Judenmission des 19.
Jahrhunderts
Martin Luther
Luth. Tradition
Alte Kirche/Mittelalter
Judentum exempl.
Beispiel des Verharrens in der „Uneigentlichkeit“ der
Existenz (Leben aus
dem Verfügbaren,
Gesetz).
Evangelium Möglichkeit zur Eigentlichkeit der Existenz
durchzudringen
(Leben aus dem
Unverfügbaren,
Gnade).
Existentiale Interpretation (Bultmann)
Ökumenische Missionstheologie
EKD Texte 77
„
Mission und Dialog
sind zwei Dimensionen des christlichen
Zeugnisses.“
Mission = Dialog,
Zeugnis, Konvivenz.
Dialog und „Zeugnis“
nicht aufteilbar auf
Gruppen oder Religionen, denkt grundsätzlich universalistisch.
Mission = Eröffnung
von Freiheit (Sundermeier), gilt den weltanschaulich und religiös
„Fremden“: Judentum
wird zur nichtchristlichen „fremden“
Religion.
EKD 77:
Judentum=Unglaube
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Pro Judenmission
Tübingen 1999:
Juden und Christen
zeugen Gottes vor
der Welt.
Heidenchristliche
Judenmission unbiblisch.
Judentum keine „defizitäre“ Religion.
Göttinger „7“:
Enge, unlösbare
Verbindung mit
Gottesvolk Israel.
„Judenmission“ war
Gewalt und Zwang.
Ablehnung Judenmission weil der Gott
Israels der „Vater“
Jesu Christi ist.
Gemeinsame Grundlage des Glaubens.
Problem: Defizitäre
Christologie
CuJ II:
Bleibende Erwählung
Israels.
Röm 15,8ff. Schlüsseltext; Röm 9-11
„orientierende Mitte“
des ntl. Zeugnisses im
Blick auf Judentum.
Funktionale Christologie.
Nicht von ökumenischer Missionstheologie (Dialog=Mission)
geprägt, sondern
von Barth („Messias
Israels“) und Niederlande.
Ziffer 4(6):
Juden und Christen
Zeugen Gottes vor
der Welt und voreinander. Christliches
zeugnis gegenüber
Israel anders als Mission an die Völkerwelt.
Ablehnung der
Parallelisierung von
„Judenmission“ und
„Heidenmission“,
Ablehnung der Konversion von Juden,
missio Judaica gehört
zur missio Die.
Problem: Judenchristen (nicht erwähnt).
Niederlande:
Differenzierung
(1) Gespräch mit
Israel. (2) Werk
der Mission in der
Völkerwelt, (3)
Evangelisierung der
postchristlichen
säkularen Welt.
Mt 28: Meint
die nichtjüdische
„Völkerwelt“.
J.Chr. bedeutet für
Israel etwas anderes
als für die Völker:
hier Umkehr im
Bund, da Hinwendung zum Gott
Israels.
Versöhnung in
Christus = Erfüllung des Bundes
mit Israel. Gott
nicht ohne Jesus
und sein Volk
Israel.
Wirklichkeit des
Heisl in Chr., nicht
Möglichkeit (gegen
Bultmann).
„Nein“ Israels
grundsätzlich und
notwendig, Heil
kommt so zu den
Heiden.
Kirche kann das
„Nein“ nicht aufheben, Sache Christi
(s. Paulus).
Eschatologische
„Rettung“ Israels
= Aufgehen Israels
in der Kirche aus
Juden und Heiden.
Radikaler Pietismus:
Chiliasmus;
Israel wird nicht durch
die Kirche, sondern
den wiederkommenden Christus „bekehrt“.
Heilsgeschichte: Verstockung Israels-Heidenmission-Bekehrung
Israels durch Christustausendj. Reich Christi. Grundsätzliche
Ablehnung der Judenmission, nicht Aufgabe
der Kirche.
Zinzendorf:
Gründung einer „Judenkehille“, Kaschrut
und Sabbat, damit Juden- und Heidenchristen zusammen leben
können. Judenchristen
bleiben Juden!
CuJ III:
Bleibende Erwählung
Israels. „So wie der
Bund Gottes mit Israel ein Identitätsmerkmal Israels ist, so ist
der Bund mit Israel
ein Identitätsmerkmal
Gottes selbst.“
Wer israel in die
Kirche hinein „aufheben“ will, tastet die
Identität Gottes an.
Göttinger „7“
Tübingen 1999
CuJ II
CuJ III
RSB
Niederlande
Karl Barth
Radikaler Pietismus
Zinzendorf
D. Das Seminar im November 2007
Contra Judenmission 1
111
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Contra Judenmission 2
112
D. Das Seminar im November 2007
Nein zur Judenmission –
Gedankensplitter zu einer
alttestamentlichen Sicht
Johann Michael Schmidt
1. Das Alte Testament
„Grund und Beweisung des Neuen“.
Hermeneutische Grundlagen
Durchgehend beruft sich das NT auf die „Schriften“ (1Kor 15, 3- 5)
oder auf „Mose, Propheten und Schriften“ (Luk 24, 27 u. 44), um das
Evangelium von Jesus als dem Christus, dem „König der Juden“, dem
„Messias Israels“, auszusagen.
Mit Recht nennt Luther darum das AT „Grund und Beweisung des
Neuen ... Und was ist das Neue Testament anders denn ein öffentliche Predigt und Verkündigung der Sprüche, im AT gesetzt und durch Christum
erfüllet“1. Für ihn ist das AT die grundlegende Schrift, grundlegend
und maßgebend für das NT und die Urchristenheit; das NT dagegen
ist für ihn Evangelium, d.h. mündliche, aktuelle Predigt – mit Hilfe
und in der Sprache der „Schriften“, unseres ATs.
Dieser Grundsatz ist heute zu praktizieren mit den heute üblichen
Methoden und unter den heutigen geschichtlichen Bedingungen. Das
heißt für mich: Das Neue Testament hat zu seiner Zeit mit seinen damals üblichen Methoden und unter seinen geschichtlichen Bedingungen die „Schriften“ benutzt und dementsprechend interpretiert, um je
aktuell und dh vielfältig und verschieden bis gegensätzlich „das Evangelium“ (1Kor 15, 3- 5) auszusagen und zu verbreiten. Genauso versuche
ich heute das Evangelium von Jesus Christus in biblischer Sprache, der
Sprache des ATs, auszusagen, allerdings mit heutigen Methoden und
unter heutigen geschichtlichen Bedingungen.
Als die heute maßgebliche Methode gilt die historisch- kritische Methode. Sie zielt darauf, die Texte so wahrzunehmen und zu verstehen,
wie sie zur Zeit ihrer Entstehung und darüber hinaus während ihrer z.T.
1) Vorrede auf das Alte Testament (1523), MA 6, 1958, S. 21.
113
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
jahrhundertelangen Weitergabe bis hin zu ihrer Festlegung im Kanon
verstanden und verwendet worden sind. Für sie ist der Wortlaut, der
Literalsinn maßgebend, und sie bedient sich aller Mittel und Möglichkeiten, die die wissenschaftliche Erforschung von Texten und Sprache
benutzen und bereitstellen.
Ich definiere sie so:
„Wie hat die einzelne Überlieferung in den Ohren der Menschen geklungen,
unter denen er entstanden ist,
unter denen sie von Generation zu Generation weitergegeben,
dabei verändert, erweitert, gekürzt und mit anderen verbunden
worden ist,
und die das über Jahrhunderte Gewachsene schließlich im Rahmen
einmal der jüdischen „Schriften“ und dann der christlichen Bibel im
Wortlaut festgeschrieben und zum Bestandteil des jeweiligen Kanons
gemacht haben“?
Die heute herrschenden geschichtlich politischen Bedingungen werden
durch die systematische Verfolgung und Vernichtung des Judentums bestimmt, dh. durch die größte Katastrophe des Christentums (!). Durch
die Shoa und den Anteil von Christen daran haben wir Christen die uns
tragende Grundlage verloren oder, biblisch gesprochen, die lebendige
Verbindung zur Wurzel abgeschnitten. Neu- Einwurzelung, ganz- vonvorn- Beginnen ist für mich das Gebot der Stunde.
Aus dem Programm, den Grundsatz M. Luthers mit heutigen Methoden und unter heutigen geschichtlich-politischen Bedingungen zu praktizieren, folgere ich: Das Neue Testament mit seinen zahlreichen Benutzungen „alttestamentlicher“ Texte gilt mir in methodischer Hinsicht
als maßgebliches (kanonischen) Modell und Vorbild für eine je aktuelle,
dh eine immer wieder neu zu leistende Verstehensweise und Ausrichtung des Evangeliums in biblischer Sprache, der Sprache des AT.
Anders steht es mit den inhaltlichen Ergebnissen, zu denen ntl. Auslegung und Benutzung atl. Texte gekommen sind. Sie sind für mich nur
so weit aussagekräftig, als sie im Einklang stehen mit den Eigenaussagen
der benutzten atl. Texte. Die Orientierung am Wortlaut der atl. Texte,
an ihren eigenen Stimmen wird mir damit zu einem wichtigen Mittel
kanonkritischen Umgangs mit Benutzungen atl. Texte im NT.
In etlichen Fällen lassen sich ntl. Benutzung atl. Texte mit deren heutiger historisch kritischen Auslegung nicht vereinbaren. Das ergibt sich
zwangsläufig aus der damals allgemein von Juden und Griechen prak-
114
D. Das Seminar im November 2007
tizierten allegorischen und/ oder typologischen Auslegungsweise: Vereinfacht lässt sie sich mit der Rede von einem übertragenen oder auch
geistlichen Sinn erklären. Die Verpflichtung auf historisch kritische
Arbeitsweise veranlasst mich, solche Benutzung atl. Texte als zeitbedingt
und zeitgebunden einzustufen; ihre Ergebnisse sind für mich heute
nicht mehr relevant.
Solche Relativierung gilt vor allem für solche Texte, die atl. Zitate oder
Anspielungen für polemische Zwecke gegen Juden missbrauchen. Frage
ich, wie solche Texte atl. Zitate oder Anspielungen gegen Juden wenden
konnten, so zeigt sich: Nur mit Hilfe der damals allgemein geübten
allegorischen oder typologischen Auslegungsweise; d.h. sie missachten
bewusst und gewollt den Wortlaut und die ursprüngliche Aussageabsicht der herangezogenen Texte. Musterbeispiele sind Gal 4, 21ff
und 2Kor 3, 7ff. Auch um ihrer verheerenden Wirkung willen will ich
solche Texte auf ihre damalige Geltung begrenzen. Sie gehen uns heute
nichts mehr an!
Umso mehr fällt die Benutzung atl. Texte in Röm 15, 8- 12 (und
9- 11) auf: In Röm 15, 7- 13, „der „Summe des Römerbriefs“2 bringt
Paulus die Bedeutung des Christus für die „Beschneidung“ und für die
Völker auf den Punkt: Im Blick auf Israel nennt er „Christus Diener
der Beschneidung um der (Bundes)Treue willen“. Im Blick auf die Völker verweist er darauf, „dass die Völker den Gott Israels loben“, und
versteht es als Erweis der „Gnade“. Den Begriff „(Bundes)Treue“ bezieht
er auf die Heilsbedeutung Christi für die „Beschneidung“, den Begriff
der „Gnade“ auf die Heilsbedeutung Christi für die Völker. Beide Begriffe „(Bundes)Treue und Gnade“ entnimmt Paulus vermutlich aus Ps
117: „Lobet JHWH alle Völker, preiset ihn alle Nationen, denn seine
Gnade und Treue walten über uns in Ewigkeit“. Beide Aussagen von der
Bundestreue Gottes zu seinem Volk und von der Gnade für die Völker
stellt er unter den Sinn , „damit die Verheißungen an die Väter bestätigt
werden ... wie geschrieben steht“; und dann folgen vier Schriftzitate,
die die Beteiligung der Völker am Lobpreis Israels und die Teilhabe an
seinem Heil bezeugen. Diese Schriftzitate führt er mit ihrem Wortlaut
an, er argumentiert mit ihrem Wortlaut! Eine Umdeutung der atl. Texte
ist überflüssig: Die wörtliche Verstehensweise, der Literalsinn allein sind
entscheidend.
2) G. Saß, Röm 15, 7- 13 – als Summe des Römerbriefs gelesen, EvTh 93 (1993) S.
510- 525.
115
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Verallgemeinert ergibt sich aus den verschiedenen Benutzungen atl.
Text im NT dieses Bild: Judenfeindlich benutzte Texte basieren auf
allegorischer oder typologischer Auslegung und stehen im Widerspruch
zu ihrer eigenen Stimme, so weit sie mit Hilfe historisch kritischer
Auslegung vernehmbar ist. Heilvolle Aussagen über das jüdische Volk
können sich auf den Wortlaut der betr. atl. Texte und wortwörtliche
(literarische) Auslegung berufen, entsprechen heutigen methodischen
Anforderungen.
Was folgt daraus? Die judenfeindlich missbrauchten Texte müssen mit
ihrer Benutzung atl. Texte denen untergeordnet werden, die die Treue
Gottes zu seinem Volk und den bleibenden Bestand seines Bundes mit
ihm aussagen und sich dazu auf den Wortlaut, auf die eigene Stimme
der herangezogenen atl. Texte berufen können. Jene will ich als zeitbezogene und – begrenzte Aussagen nehmen; unter ihren geschichtlich
politischen Bedingungen mögen sie ihren Sinn gehabt haben. Unter
heutigen geschichtlich politischen Bedingungen sind für mich nur die
ntl. Benutzungen atl. Texte massgeblich, die ihren Wortlaut achten und
die Treue des Gottes Israels zu seinem Volk bezeugen.
2. Christologie auf der Basis und im
Rahmen der ntl. und urchristlichen
Bibel
Alle ntl. messianischen Würdenamen und Titel, die im NT Jesus von
Nazareth beigelegt werden, stammen aus dem AT. Nach dem o.g. methodischen Grundsatz sind sie dementsprechend biblisch, d.h. atl. und
zwar im Sinn der eigenen Stimmen der betr. atl. Texte zu verstehen und
auszulegen, soweit sie mit heutigen Methoden vernehmbar sind.
Die zahlreichen messianischen Würdenamen und Titel lassen sich ordnen nach ihrem je vorherrschenden Bezug: Eine Gruppe von ihnen zielt
gemäss ihrer biblischen (atl.) Basis mehr auf den Gott Israels selbst,
dazu gehört v.a. „kyrios“, die griech. Umschreibung des JHWH- namens; dazu gehören ferner die königlichen Namen wie König, Messias,
Hirte, zumal in johanneischer Überlieferung. – Andere messianische
Würdenamen zielen mehr auf das Gottesvolk Israel: Gottesknecht,
Sohn Gottes, Menschensohn.
116
D. Das Seminar im November 2007
Alle Würdenamen in beiden Gruppen sind auf das einzigartige Verhältnis zwischen dem Gott Israels und seinem Volk gerichtet. Alle
benennen und beschreiben Funktionen und Aufgaben, sind keine Wesensaussagen im philosophischen Sinn. Alle Funktionen und Aufgaben
lassen sich zusammenfassen unter dem sie alle verbindenden Aspekt der
Repräsentanz und der Vermittlung.
Die Rede von dem „Juden Jesus“ als „Messias Israels“ im Synodalbeschluss der Ev. Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses
von Christen und Juden“ von 19803 verstehe ich danach so: Der Jude
Jesus von Nazareth ist der Repräsentant und Mittler des Gottes Israels
und seines Volkes – für wen? Die Antwort gibt einmal das AT mit seinen Segensaussagen und Verheißungen für die Völker; die Antwort gibt
zum anderen die Entstehungsgeschichte des NT und des Christentums:
Schnell wurde aus einer auf den Juden Jesus von Nazareth zentrierten
Gruppierung innerhalb des vielgestaltigen Judentums des 1. Jh.s die
weltweite Kirche aus den Völkern. Im gleichen Zug wurden die ältesten
noch aus dem vielgestaltigen Judentum stammenden Jesus- Überlieferungen spätestens durch ihre Kanonisierung in der Zeit vom zweiten bis
vierten Jahrhundert Bekenntnis- und Lehraussagen für die völkerchristliche Kirche.
3. Ekklesiologie auf der Basis und
im Rahmen des AT
Aus dem letztem Gedanken ergibt sich, dass auch für das Verständnis
der Kirche, der Kirche aus den Völkern, das „AT“ als grundlegende
Schrift Basis und Rahmen bietet. Basis und Rahmen sind konkret die
vielfältigen Aussagen des AT zu den Völkern, eingebettet in diejenigen, die für alle Menschen, die Schöpfung und alle Kreatur gelten (vor
allem, Urgeschichte Gen 1- 11 und Weisheit). Von Gen 12, 3, dem
Auftrag an Abraham und seine Nachkommen „Segen für alle Generationen der Erde“ zu sein, spannt sich ein Bogen bis zur Vision von der
endzeitlichen Wallfahrt der Völker zum Zion (Jes 2, 2- 5 u. Mi 4, 1- 5).
Unter ihn fügt sich die Geschichte der Kirche in der Nachfolge des
Juden Jesus, des „Messias Israels“. Er wird noch einmal überwölbt von
3) Abschn. 4 (3), Handreichung Nr. 39, 2. Aufl. 1985, S. 10.
117
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
dem Rahmen der Bibel, vom Anfang, an dem „Gott Himmel und Erde
schuf“ (Gen 1, 1), bis zur Vision von dem „neuen Himmel und der
neuen Erde“, die die christliche Bibel abrundet (OffbJohs 21, 1).
Aus diesem Ansatz ergeben sich mehrere Folgerungen:
•
•
•
Zu den Aussagen des AT über die Völker gehören auch die
unheilvollen Worte, die die unheilvollen Erfahrungen widerspiegeln, die Israel mit den Völkern gemacht hat. Denke ich daran,
dass solche Erfahrungen auch die mit christlich gewordenen
Völkern einschließen, fällt es mir leichter, auch solche Aussagen
des AT auszuhalten.
Beschränke ich die Geltung des AT auf die Aussagen, die direkt
oder indirekt von den Völkern handeln, dann folgt daraus, dass
wir Völkerchristen alle anderen Aussagen, die Israel gelten, auch
so gelten lassen: Sie gehen uns nichts an! Das entlastet auch,
wenn ich an die strengen Toravorschriften etwa in den mittleren
Büchern des Pentateuch denke. Heilsworte etwa aus den Psalmen und Propheten, die ebenfalls im Sinn ihrer eigenen Stimmen Israel gelten, müssen eigens bedacht werden: Sie bedürfen
eigener Vermittlung durch den Juden Jesus, den Messias Israels,
den Repräsentanten und Mittler des Gottes Israels und seines
Volkes für die Völker.
Das „Neue“ am NT und seinen Inhalten ist die Erweiterung der
Erwählungsgeschichte des Gottes Israels mit seinem Volk. Anders formuliert: Das Neue ist die Bestätigung der Verheißungen,
dass die Völker teilhaben werden an der Erwählungsgeschichte
des Gottes Israels mit seinem Volk, und der Beginn ihrer Erfüllung.
Das hat sich in der Geschichte der Kirche bewahrheitet: Die Kirche in
der Nachfolge des Juden Jesus von Nazareth, des Messias Israels, oder
als sein Leib ist Kirche aus den Völkern geworden, aufbauend auf der
im jüdischen Volk verwurzelten Urgemeinde. Die damit einhergehende Loslösung vom jüdischen Mutterboden hat dem jüdischen Volk
unendliches Leid und der Kirche unendlichen Schaden zugefügt. Im
rheinischen Synodalbeschluss heißt es: „Wir glauben die bleibende Er-
118
D. Das Seminar im November 2007
wählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die
Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist“. Die Erwählung des Gottesvolkes Israel ist also die
Basis der Kirche Jesu Christi aus den Völkern, ihr Kirche- Sein beruht
auf ihrer Teilhabe an der Erwählungs- und Bundesgeschichte des Gottes
Israels mit seinem Volk. Von „Hineinnahme in den Bund“ möchte ich
nicht sprechen, schon darum nicht, weil die Rede vom Bund im Singular der Mehrzahl der „Bünde“ im AT nicht gerecht wird: Die Christen
aus den Völkern sind in den Abraham- und Davidbund aufgenommen,
wie es im AT verheißen ist: Gen 12, 3 u. Jes 55, 3- 5. Der Sinai- oder
torabezogene Bund bleibt Israel vorbehalten. Statt von „Hineinnahme“ spreche ich lieber von „Teilhabe“. Ihr liegt der zentrale Begriff,
der meist mit „erkennen“ wiedergegeben wird, zu Grunde. Klassischer
Beleg ist Ps 100, 3. „Erkennet, dh habt daran teil (angeredet sind „alle
Lande“, alle Völker), dass JHWH Gott ist. Er hat uns (Israel) gemacht,
ihm gehören wir, sein Volk und Schafe seiner Weide“: Vgl. dazu die
„Erkenntnis“ - aussagen in Ez 36, 23 u. 37, 28: Die Heiligung des Namens durch den Gott Israels selbst geschieht in aller Weltöffentlichkeit
vor den Völkern, „damit sie erfahren (teilhaben daran), dass ich JHWH
bin“. Wenn wir im Vater Unser um die Heiligung des Namens bitten,
dh uns auf sie verpflichten, dann erfüllt sich an uns jene prophetische
Verheißung – durch den Juden Jesus, den Messias Israels, dem wir dieses Gebet verdanken.
4. Das Alte Testament als Basis und
Maßstab unserer Wahrnehmung des
jüdischen Volkes
Ich weiß wohl, dass das AT für Juden nur die eine Hälfte der Tora ist,
die schriftliche Tora, und dass für ihr Selbstverständnis die mündliche
Tora insofern noch wichtiger ist, als sie in einem fortfliessenden, nicht
abreissenden Strom das konkrete Leben regelt. Gleichwohl nehme ich
als Völkerchrist nur das „AT“ als Basis und Maßstab meiner theologischen Wahrnehmung des jüdischen Volkes und meiner Bemühungen
um ein neues Verhältnis zu ihm: Die mündliche Tora ist Tora für Israel,
119
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
die schriftliche, unser AT, in Teilen zumindest auch Tora für die Völker.
Was heißt das? Meine hier verkürzte Antwort enthält zweierlei:
Einmal ist der cantus firmus in der bewegten Geschichte Israels und
dessen kritischen Vergegenwärtigungen die Treue des Gottes Israels zu
seinem Volk. Alle Prophetenbücher, so radikal sie auch mit Israel ins
Gericht gehen, gründen auf der Rede von „meinem Volk“ (Am 8, 2
„gekommen ist das Ende für mein Volk Israel“ oder „reif zur Ernte ist
mein Volk Israel“). Ferner enden auch die Bücher der sog. Unheilspropheten und ihre bewegte Entstehungsgeschichte mit der Zusage der
endgültigen Rettung und der Heilung des zerrütteten Verhältnisses. Die
Verheißung des „neuen Bundes“ nach Jer 31, 31- 34 gilt in der ältesten
Fassung nur dem Nordreich Israel, in der späteren, vorliegenden dann
auch Juda! Daraus ergibt sich mir der Glaube, dass Israel „beim Vater
ist“ (F. Rosenzweig zu Joh 14, 6) oder, wie es Paulus formuliert: „Ihnen
gehören die (Gottes)Kindschaft und die Herrlichkeit (Gottes) und die
Bundesschlüsse (!) und die Tora und der Gottesdienst und die Verheißungen, auch die Väter, aus denen Christus herkommt nach seiner
irdischen Abkunft (nach dem Fleisch) – Gott zum Lobe über alles in
Ewigkeit“ (Röm 9, 4f.).
Zum anderen kann ich mir kritische Auseinandersetzung mit Juden nur
nach dem Vorbild und Maßstab prophetischer Kritik vorstellen: Unabdingbare Grundlage ist die uneingeschränkte Solidarität mit denen, die
die Kritik trifft, begründet in ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Volk. Für
die Propheten ist sie selbstverständlich; sie äussert sich in ihrer Verzweiflung und ihrem Leiden, mustergültig bei Jeremia. Bei Paulus finde ich
diesen Maßstab (noch) gewahrt, vgl. Röm 9, 2f. Da wir als Christen
aus den Völkern diese Bedingung nicht erfüllen können, kann allenfalls
uneingeschränktes Vertrauen der jüdischen Gesprächspartner Fragen
und Kritik ermöglichen.
5. Resümee:
Was wollen wir Völkerchristen Juden eigentlich sagen, was sie nicht
längst wüssten und was für sie seit biblischen Tagen gilt?
Wenn Christsein und Kirchesein auf der Teilhabe an dem einzigartigen
Verhältnis zwischen dem Gott Israels und seinem Volk beruht und
darin besteht, kann Mission nur Mission unter den Völkern heißen.
120
D. Das Seminar im November 2007
Ihr Erfolg ist dann Erfüllung der Verheißungen, die solche Teilhabe der
Völker zum Inhalt haben – klassisch formuliert in Röm 15, 7- 13, der
„Summe des Römerbriefs“: Hier finden sich mehrere Stellen, die für
Paulus die Grundlage seiner Mission unter den Völkern und der Gründung völkerchristlicher Gemeinden bilden.
Wir können im Gespräch mit Juden allerdings unser Selbstverständnis
i. S. der Teilhabe äussern, wenn wir es denn glaubwürdig tun können,
wenn sie uns glauben können. Wir können uns auch mit Juden über
unser jeweiliges Verstehen „alttestamentlicher“ Texte austauschen, ja
streiten, wenn, ja wenn wir die Bedingung jeden Gesprächs erfüllen,
dass wir uns unserer eigener Fehlbarkeit und Irrtumsfähigkeit bewusst
sind, auf jegliche Besserwisserei verzichten und frei sind von jeglichem
Überlegenheitsgefühl. Und auch hier gilt: Entscheidend für das Gelingen solcher Gespräche ist das wechselseitige Vertrauen.
121
Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission
Der christlich-jüdische Dialog
und unser Verhältnis zu den
messianischen Juden
Marten Marquardt
Am 30. 11. 2007 nimmt das Mitglied der Unterkommission für die
religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz, Aachen, Dr. Phil. h. c. Hans Hermann Henrix in einem Leserbrief
Stellung zur schwierigen Frage, wie sich denn die Partner im christlichjüdischen Dialog, die Judenmission mit guten Gründen ablehnen, zu
den messianischen Juden verhalten sollten.1
Er plädiert dafür, das Phänomen der messianischen Juden sehr ernst
zu nehmen. Dabei bezieht er sich auf Mark S. Kinzer2, der „die Gemeinschaft jener, die an Jesus als Messias glauben, als Ekklesia mit einer
besonderen und einzigartigen Beziehung sowohl zu Jesus als auch zum
jüdischen Volk und zur jüdischen orthodoxen Lebensweise“ beschreibt.
Henrix sagt dazu: „Ein solcher Entwurf steht an der Schwelle zwischen
Christentum und Judentum und hat sich noch der Rezeption innerhalb
der jesusgläubigen jüdischen messianischen Gruppen auszusetzen.“
Im Blick auf die christlichen Gesprächspartner aus den Völkerkirchen
fährt Henrix fort:
„Kirchenleute und Frauen und Männer christlicher Theologie, die den
christlich-jüdischen Dialog aktiv führen und ihn in deutlicher Unterscheidung zur Mission verstehen, werden das Phänomen des gegenwärtigen jesusgläubigen messianischen Judentums gewiss nüchtern weiter
zu verfolgen haben. Sie werden aber den Bedingungen treu bleiben
wollen, die für sie im Dialog gewachsen sind. Wenn sie das Dasein des
gegenwärtigen messianischen Judentums achten, so werden sie in ihm
1) Hans Hermann Henrix, Leserbrief an die FAZ, abgedruckt in FAZ vom 30.11.2007,
Nr. 279, S. 11 unter der Überschrift „Kardinal Schönborn und die messianischen
Juden“
2) Postmissionary Messianic Judaism: Redefining Christian Engagement with the Jewish
People by Mark S. Kinzer (Paperback - Nov 1, 2005) (Postmissionarisches messianisches Judentum)
122
Ausblick
nicht den heimlichen Zielpunkt des christlich-jüdischen Dialogs sehen
können. Denn dieser Dialog ist Austausch von Glaube zu Glaube –
ohne unausgesprochene Absicht als Hintersinn. Deshalb ist auch die
insinuierte Arbeitsteilung – hier (auf Diözesanebene, MM) Kontakt mit
messianischen Juden, dort (in Rom, MM) christlich-jüdischer Dialog
– nicht hilfreich. Schaden ist von dem für die Kirche der Gegenwart
vitalen Dialog nur fernzuhalten, wenn der Kontakt mit messianischen
Juden in der Gegenwart von jüdischen Partnern des Dialogs gepflegt
wird.“
Wir werden ungeachtet unserer eindeutigen Ablehnung der Judenmission an dieser Stelle im Sinne dieser und entsprechender weiterführender
Überlegungen von Henrix3 noch sehr intensiv weiter arbeiten müssen.
Für diese künftige Weiterarbeit würde sich sicher eine regelmäßigere
Zusammenarbeit der evangelischen und der römisch-katholischen Partner im christlich-jüdischen Dialog empfehlen.
3) Vgl. Hans Hermann Henrix, Von der Mission ohne Dialog zum Dialog ohne Mission, in: Kirche und Israel 1 / 2007
123
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