Inhalt Inhaltsverzeichnis A. 1. 2. 3. 4. 5. Der Vorlauf Das Kölner „Nein zur Judenmission“ – Eine Verkaufsskizze Ein Schreiben der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde „Gehet hin in alle Welt...“ – Einladung zum Gottesdienst Pfingsten 2006 Einladung zum Pressegespräch „Juden für Jesus“ – Eine Warnung, „wenn Sie die Juden wirklich lieben...“ B. Der Pfingstgottesdienst 2006 6. Der Pfingstgottesdienst 7. Bericht über den Besuch in den jüdischen Gemeinden C. Reaktionen auf Gottesdienst und Sendungstext 8. „Wer Juden den Glauben an Jesus vorenthalten will, handelt judenfeindlich“ 9. „Eine neue Form antisemitischer Diskriminierung“ 10. Stellungnahme der Akademie 11. „....liebe Grüße Enrico“ – Ein typisches mail 12. Bericht in „Nes Ammim International“ 13. Aus dem Gemeindeblatt der Synagogengemeinde und von der jüd. Liberalen Gemeinde 14. Reaktionen aus Presbyterien der ev. Gemeinden im EKV 5 10 17 25 26 30 51 54 55 56 61 62 63 64 D. Das Seminar im November 2007 15. Prof. Klaus Wengst, Nein zur Judenmission 16. Pfr. Dr. Robert Brandau, Nein zur Judenmission – Stimmen aus der EKD und systematische Reflexionen 17. Pfr. Dr. Robert Brandau, Tabellarische Übersicht der Argumente Pro und Contra 18. Prof. Johann Michael Schmidt, Nein zur Judenmission – Gedankensplitter zu einer alttestamentlichen Sicht 113 Ausblick: 19. Der christlich-jüdische Dialog und unser Verhältnis zu den messianischen Juden 122 66 83 110 A. Der Vorlauf A. Der Vorlauf Das Kölner Nein zur Judenmission – eine Verlaufsskizze Zum Begriff „Judenmission“1 Judenmission als die systematisch betriebene Bemühung, Juden zum Christentum zu bekehren und zur Annahme der Taufe zu bewegen, bedeutet aus jüdischer Sicht den Versuch, Menschen ihrer eigenen Tradition zu entfremden, sie aus ihrer jüdischen Tradition und aus dem Synagogenverband herausbrechen und damit das Judentum systematisch zu schwächen. Judenmission ist aus jüdischer Sicht ein Angriff auf das Judentum. In dieser Weise haben christliche Judenmissionare des 19. Jh., deren Wurzeln in den Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jh. liegen, ihre Bemühungen nicht gesehen. Als im Jahr 1842 hier in Köln, in der Christophgasse 4, der „Rheinisch-Westfälische Verein für Israel“ gegründet wurde, waren die Vereinschristen getrieben von einer tiefen Liebe zu Israel, dem Volk, dem sie „die größten und wunderbarsten Verheißungen“ verdanken und das den Heidenchristen „auf das Herz gelegt ist“. (vgl. unten Seite 42) Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland wieder vermehrt judenmissionarische Aktivitäten, die sich mit besonderer Intensität an Emigranten aus der früheren Sowjetunion richten. Diese Menschen haben u. a. auf Grund der politischen Verhältnisse wenig oder gar kein Wissen über ihre eigene Tradition; sie eigenen sich daher besonders leicht für missionarische Offensiven, weil sie der christlichen Werbung oft geistig und geistlich nichts entgegenzusetzen wissen. 1) Vgl. Heinz Kremers, Was ist „Judenmission“?, in: ders. Judenmission heute?, Neukirchen 1979, S. 10 ff 5 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Der Auslöser Vor etwa zwei Jahren erreichte uns aus der Kölner Synagogengemeinde in der Roonstraße die Bitte, doch einmal eindeutig eine evangelische Position in dieser Frage zu formulieren und öffentlich zu machen, damit unsere jüdischen Gesprächspartner in dieser Sache wissen, woran sie mit uns sind. Die folgenden Einladungszettel wurden uns als Beleg überreicht. 6 A. Der Vorlauf Zwar sind die Träger dieser neuen judenmissionarischen Initiativen nicht Gemeinden aus dem Bereich der ev. Landeskirche; aber es sind doch eben auch evangelische Gruppierungen, die von außen zumindest so lange mit der Ev. Kirche im Rheinland in Verbindung gebracht werden, solange wir nicht eine klare und eindeutig andere Position in dieser Frage bezogen haben. 7 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Der Rheinische Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ (RSB) von 1980 hatte ja eine gewisse Unklarheit in der Frage hinterlassen, ob die Rheinische Kirche künftig noch Judenmission betreiben dürfe. Einerseits heißt es, das besondere Verhältnis zwischen Kirche und Israel verlange, dass wir das christliche Zeugnis gegenüber Israel anders wahrnehmen als die Mission unter den anderen Völkern (4,6). Die rheinische Kirche hat daraus auch tatsächlich die Konsequenz gezogen, dass sie per Beschluss 1986 die Verpflichtung zur Judenmission aus ihrer Kirchenordnung entfernt hat. – Andererseits aber hat sie sich noch nicht zu einer eindeutigen und für ihren ganzen Bereich verbindlichen Ablehnung und damit zu einem Verbot der Judenmission durchringen können. Die jüdischen Gemeinden haben an uns also in dieser Frage noch keinen eindeutig erkennbaren Partner. Darum haben wir uns verpflichtet gefühlt, die Anfrage aus der Roonstraße sehr ernst zu nehmen und eine angemessene Antwort zu geben. Die Optionen Zunächst haben der Kölner evangelische Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock und der Leiter der Melanchthon-Akademie, Pfr. Marten Marquardt, nach Handlungsmöglichkeiten gesucht. Am besten geeignet schien eine gemeinsame Stellungnahme der beiden großen christlichen Kirchen in Köln. Die katholischen Partner waren zunächst zur Kooperation bereit, zogen sich dann aber aus einer konkreten Veranstaltungsplanung zurück mit dem Hinweis, das sei für die römisch katholische Kirche kein wichtiges Thema, da es auf katholischer Seite ja niemals eine derart systematisch betriebene Judenmission gegeben habe. Auch in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Köln wurde die Kölner Problematik diskutiert, insbesondere da die Vertreterin des ev.-kath. Arbeitskreises, Frau Margret Müller, schon frühzeitig auf Einladungszettel der Freien Evangeliumschristen in Köln und auf die Hinweise in der jüdischen Gemeinde aufmerksam geworden war. Zusammen besuchten Frau Müller und Herr Bock einen Gottesdienst in dieser Gemeinde und sprachen mit den Verantwortlichen. Eine gemeinsame Stellungnahme der ACK gegen diese Form der Judenmission schien 8 A. Der Vorlauf jedoch nicht möglich. Die freikirchlichen ACK-Mitglieder machten vielmehr deutlich, dass sie deratige judenmissionarische Aktivitäten selbst verurteilen und sich davon distanzieren; ein eindeutiges Nein zur Judenmission generell könne aber aus theologisch-biblischen Gründen auch nicht ausgesprochen werden. Für die vier ev. Kirchenkreise in Köln und Region wäre der Versuch einer gemeinsamen theologisch begründeten öffentlichen Stellungnahme gegen die Judenmission nur über den Weg der vier Kreissynoden gegangen, die bei ihrem Tagungsrhythmus und den langfristigen Festlegungen im besten Falle erst nach zwei oder drei Jahren zu einem Votum hätten gelangen können. Darum haben wir einen anderen Weg gewählt. Im Gespräch mit dem ev. Stadtsuperintendenten von Köln wurde vereinbart, dass wir gemeinsam mit ihm zu Pfingsten 2006 in der ev. Trinitatiskirche einen öffentlich angekündigten Gottesdienst feiern wollten, der den sog. Missionsbefehl aus Matthäus 28, 16-20 zum Thema haben sollte und an dessen Ende ein vorbereiteter sog. Sendungstext verlesen werden sollte, den wir dann direkt im Anschluss den beiden jüdischen Gemeinden von Köln persönlich überbringen wollten. – Im Vorlauf zu diesem Gottesdienst sollte der „Sendungstext“ unter den Kölner Superintendenten zirkulieren und in einem Einladungsblatt für diesen Pfingstgottesdienst auch öffentlich bekannt gemacht werden2. Am 29. Mai 2006 fand im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region eine Pressekonferenz statt unter dem Thema „Pressegespräch zu einem evangelischen Wort gegen die ‚Judenmission‘“. Hierbei wurde u. a. noch einmal öffentlich zu dem Pfingstgottesdienst eingeladen.3 Ein erstes Echo auf diese Pressekonferenz erfahren wir durch diverse Einschreibebriefe von Avi Snyder von Juden für Jesus an die Trinitatiskirche, in denen wir noch vor dem geplanten Gottesdienst dringend aufgefordert werden, „diesen schrecklichen Schritt“ nicht zu tun.4 2) S. u. S. 17-24 3) S. u. S. 25 4) S. u. S. 26-27 9 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 10 A. Der Vorlauf 11 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Der Gottesdienst und die pfingstliche Delegation in den jüdischen Gemeinden Am Pfingstsonntag 2006 findet vormittags der angekündigte Gottesdienst in der Trinitatiskirche statt. Die drei Theologen Bock, Fey, Marquardt legen in ihrer gemeinsamen Predigt den Text Mt 28, 16-20 aus. Die Predigt hat drei Teile: 1. Der Weg zum Berg - 2. Unterwegs in alle Welt - 3. Bund mit Brief und Siegel. Der Gottesdienst endet mit dem gemeinsam gesprochenen Gebet, das dem großen Konzilspapst Johannes XXIII. als „Bußgebet kurz vor seinem Tod“ zugeschrieben wird.5 Der Gottesdienst wird u. a. von einer Delegation von „Juden für Jesus“ besucht, die mit vorbereiteten Transparenten vor der Kirche stehen, dann mit eingerollten Transparenten am Gottesdienst teilnehmen, um schließlich nach dem Gottesdienst noch einmal für ihre Sicht zu werben. Direkt im Anschluss an den Gottesdienst fahren die drei Theologen in Begleitung einiger Gottesdienstbesucherinnen und –besucher zu den beiden Kölner Synagogen, wo sie bereits von Vorstandsmitgliedern erwartet werden. Nach kurzer Begrüßung wird jeweils der Sendungstext verlesen und mit wenigen mündlichen Erläuterungen übergeben. Die Reaktionen der beiden jüdischen Gemeinden, die sich in den Antworten ausdrücken, sind gezeichnet von Dankbarkeit und Erleichterung und der Hoffnung, dass diese Stellungnahme immer mehr Verbindlichkeit in allen evangelischen Gemeinden und Gremien erlangen möge.6 Wirkungen und Auseinandersetzungen In diversen Zeitungen und Agenturen wird von dem Gottesdienst berichtet. Aus Süddeutschland und Norddeutschland kommen Bitten um Übersendung der Texte. Der Idea-Pressedienst schwankt zwischen 5) S. u. S. 48 6) Ein Ausschnitt aus dem Presseecho s. u. S. 51-52 12 A. Der Vorlauf nüchternem Bericht und heftiger Polemik.7 Anonyme und namentlich gekennzeichnete E-Mail Reaktionen treffen ein. Wir beantworten, was wir können.8 Am nachhaltigsten ist aber die Auseinandersetzung in den eigenen Reihen. Der Superintendent des Kirchenkreises Köln-Süd protestiert auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Argumenten. Vor allem dieser interne Streit, aber auch die noch immer nicht ganz eindeutige Haltung der EKiR bringen uns zu der Überzeugung, dass wir das Thema nach einem Jahr noch einmal auf andere Weise aufgreifen müssen. Dieses Mal ist geplant, mit einer eher fachspezifischen Veranstaltung die These zu überprüfen, es gäbe biblische und theologische Gründe für unser Nein zur Judenmission. Dieses Mal sollen der stärkste interne Kritiker und ein Vertreter der Kirchenleitung der EKiR einbezogen werden. Bei den Teilnehmenden wollen wir vor allem auf Pfarrerinnen und Pfarrer sowie auf Religionslehrerinnen und –lehrer zielen. Die Zusage des Vertreters der Kirchenleitung, Herrn OKR Neusel bekommen wir sofort und die Zusage des Superintendenten von Köln Süd, Herrn Dr. Hübner, erhalten wir nach fast zweistündigem persönlichem Vorgespräch. - Im Nachhinein beweist allerdings sein persönlich formuliertes, aber internetweites offenes E-Mail-Schreiben9 an etwa 160 Adressen im Kölner Raum, dass auch dieses Vorgespräch noch nicht genug war, um eine sachliche Kontroverse beginnen zu können: … verwundert nehme ich zur Kenntnis, daß Sie von einem „Das Kölner Nein zur Judenmission“ wissen und es so drucken lassen. Für wen sprechen Sie? … setzen Sie etwas durch, was mit der presbyterial-synodalen Verfassung unserer Kirche nur wenig zu tun hat. Es gibt kein „Kölner Nein zur Judenmission“. Es gibt keinen Kreissynodenbeschluß in Köln-Süd, es gab keinerlei Vorbereitung Ihrer Erklärung seinerzeit vor Pfingsten in Trinitatis, das haben wir alles besprochen: …. „Das Kölner Nein“ heißt klipp und klar: Die Melanchthon Akademie und andere Einrichtungen des Verbandes ignorieren zumindest den Kirchenkreis Köln-Süd. Ich persönlich habe keinerlei Probleme damit, Minderheit in meiner Kirche zu sein; das hat in meiner Familie Tradition. Ich habe aber Probleme damit, daß Sie sich - wie andere auch, 7) S. u. S. 54-55 8) S. u. S. 56-61 9) Dieses mail ist allerdings vom Absender bis heute nicht an den zu Beginn angesprochenen Adressaten geschickt worden. 13 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission deshalb fällt es ja gar nicht mehr auf - synodal-demokratisch gerieren, es aber nicht sind. Mit der synodalen Verfassung hatte unsere ev. Kirche in Köln schon Probleme in einer Zeit, die wir beide ablehnen. Dafür wurde ja 1934 der Verband von den Deutschen Christen in Köln gegründet: Man hat erfolgreich die Kreissynode um ihre Würde gebracht, das Sagen hatte nun der Verband und damit die Nazis. Heute ist es etwas verborgener formuliert: Sprecher für alle sei der Verband. Aber das stimmt nicht: Der Verband ist ein Dienstleister für die ihm angeschlossenen Kirchenkreise und Gemeinde, nicht aber ihr theologischer Sprecher. Dazu fehlt es am Mandat (Kirchenordnung). Denjenigen, die Sie angeschrieben haben, geht auch mein Antwortschreiben zu, dem Verband und Presseamt vorsichtshalber auch; denn ich möchte, daß nun, nachdem Sie in einer theologisch tiefen Frage für uns alle meinen sprechen zu können, Ihrem Adressatenkreis mein Nein nicht verborgen bleibt. ... Das Thema scheint vor allem auf Seiten der Missionsverfechter besonders emotional aufgeladen zu sein. Die referierenden Fachleute sind sehr schnell und problemlos gefunden: Herr Prof. Wengst aus Bochum hat seit Jahren theologisch begründet, warum Judenmission nicht sein darf. Herr Dr. Brandau hat gerade seine Promotion zum Thema Judenmission veröffentlicht, in der er sehr ausführlich und materialreich die Geschichte der Judenmission und zugleich die theologische Debatte für und gegen Judenmission darstellt. Sein Fazit ist eindeutig und klar: Die christlichen Kirchen können sich an einer irgendwie organisierten Judenmission aus theologischen Gründen nicht beteiligen. Herr Prof. Schmidt untermauert das Nein zur Judenmission mit exegetischen Gründen aus einer gesamtkanonischen Lektüre der Bibel. Bei einer abschließenden Podiumsdiskussion sollen dann die Fachleute gemeinsam mit Herrn Dr. Hübner und Herrn OKR Neusel die Frage beantworten: „Müssen wir denn da eindeutig Stellung beziehen?“ Die Gesprächsleitung hat der WDR-Redakteur Arnd Henze. Stichworte aus dem Podiumsgespräch unter der Frage: „Müssen wir denn da eindeutig Stellung beziehen?“ An der Veranstaltung nehmen etwa 30 Interessierte teil. Die drei jeweils ca. 60-minütigen Impulse dienen der theologischen Klärung der ein- 14 A. Der Vorlauf deutigen Ablehnung der Judenmission.10 In der Grundthese sind sich alle drei Referenten trotz unterschiedlicher Akzentuierung einig. Herr Dr. Hübner nimmt erst an der zweiten Veranstaltungshälfte mit dem Schwerpunkt des Podiumsgesprächs teil. Seine Vorbehalte gegen das „Kölner Nein zur Judenmission“ sind überwiegend formaler Art: Es gebe kein „Kölner Nein“, weil es keinen organisatorisch legitimierten Abstimmungsprozess der kirchlichen Gremien gegeben habe. Er sei von Anfang gegen den RSB von 1980 und gegen die daraus folgenden kirchlichen Verlautbarungen gewesen; der Kirchenkreis Süd habe sich bisher auch konsequent dagegen ausgesprochen. Darum könnten die Gegner der Judenmission auch nicht in seinem Namen oder im Namen des Kirchenkreises Köln-Süd sprechen. Der von der presbyterial-synodalen Kirchenordnung vorgesehene Entscheidungsweg sei nicht eingehalten worden. Der ganze Vorgang sei ein Angriff auf die presbyterial-synodale Ordnung. Hübner trägt dann auch einen inhaltlichen Einwand vor: Das Nein zur Judenmission übergehe in verräterischer Weise die Existenz der getauften Juden, die als Christen zu unserer Kirche gehörten und denen durch die Absage an die Judenmission das Existenzrecht bestritten werde. Auf dem Podium wird Herrn Hübner zugestanden, dass das Thema des Verhältnisses der heute fast ausschließlich aus nicht aus dem Judentum stammenden Christen (sog. Heidenchristen) bestehenden Kirche zu den wenigen getauften Juden dringend weiter bedacht werden müsse. Auch in dieser Frage müsse der RSB von 1980 heute fortgeschrieben werden. Soweit habe Herr Dr. Hübner den Finger zu Recht auf eine offene Stelle gelegt. Allerdings kann das Podium nicht sehen, inwiefern die Absage an die Judenmission, die ja faktisch heute die Mission von Heidenchristen unter den Juden wäre, tatsächlich als eine Aufkündigung der christlichen Solidarität mit getauften Juden sein solle. Wengst erklärt, es gebe keinen einzigen biblischen Beleg dafür, dass dort jemals Heidenchristen Mission unter Juden getrieben hätten. Die 10) S. u. S. 66 bis 121 15 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Gemeindebildungsarbeit von jesusgläubigen Juden unter Juden in den ersten zwei oder drei Generationen sei aber etwas kategorial anderes als die von Heidenchristen der späteren Generationen betriebene Missionsarbeit unter Juden, die Jesus nicht als ihren Messias annehmen können oder wollen. Etwas kategorial anderes sei das Gespräch, das möglicherweise Juden mit Juden über Jesus führen wollen; das sei aber hier und heute nicht unser Thema. Die von den Podiumsteilnehmern dann vorgetragenen und diskutierten Argumente für ein eindeutiges Nein gegen die Judenmission unter den Bedingungen einer heidenchristlich dominierten christlichen Kirche führen zu drei beachtenswerten und für die Zukunft zu erinnernden Feststellungen: • • • Superintendent Pfr. Dr. Thomas Hübner erklärt, er sei genauso wie alle hier gegen die Judenmission OKR Wilfried Neusel weist auf die Offenheit des RSB hin („Zeugnis und Dialog“), die allerdings das Missverständnis ermöglicht, immer noch nach Nischen für eine judenmissionarische Aktivität zu suchen. Neusel stellt in Aussicht, dass die EKiR in dieser Frage bald mit der westfälischen Kirche gleichziehen werde. Neusel ergänzt, es sei unsere künftige Aufgabe, unsere Erkenntnisse in Sachen Judenmission auch in die Arbeit der VEM und in unsere ökumenischen Partnerkirchen hineinzutragen. Mit diesen drei Feststellungen hat sich der ganze Weg gelohnt. Uns bleibt nur noch zu wünschen, dass er in diesem Sinne nun auch in unseren Gemeinden und Kirchen weiter gegangen wird. Ernst Fey, Stadtsuperintendent Dr. Martin Bock, Ökumenepfarrer Marten Marquardt, Akademieleiter 16 A. Der Vorlauf Ökumenepfarrstelle im Ev. Kirchenverband Köln und Region "GEHET HIN IN ALLE WELT": LERNT MIT ISRAEL, LEHRT IN DER WELT! Unser biblisch begründetes Nein zur Judenmission Der Ma sogen tthä a us 2 nnte M 8, 1 i 6-2 ssions 0 bef ehl Gottesdienst, Pfingstsonntag, 4. Juni 2006, 10 Uhr, Trinitatiskirche Predigt: Stadtsuperintendent Ernst Fey, Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock, Pfarrer Marten Marquardt 17 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Einladung zum ev. Pfingstgottesdienst am 4. Juni um 10 Uhr in die Trinitatiskirche Der Gottesdienst am Pfingstsonntag wird in diesem Jahr - ausgehend vom sog. Missionsbefehl (Mt 28, 16-20) - einen Beitrag zu dem in Köln in jüngster Zeit besonders bedrängend gewordenen Thema der „Judenmission“ leisten. Der aktuelle Hintergrund für diese Fragestellung sind die in jüngster Zeit verstärkt vorkommenden Versuche, Juden zu missionieren und zu Christen zu machen. Zwar sind es nur einzelne christlichen Gruppierungen, die auf diese Weise systematisch die jüdischen Wurzeln von oft schlecht informierten jüdischen Migrantinnen und Migranten ausreißen wollen, aber diese Kampagnen sind geeignet, das jüdisch-christliche Verhältnis grundlegend zu stören. Darum wollen wir mit diesem Gottesdienst die biblisch begründete Entscheidung der evangelischen Kirche im Rheinland gegen die Judenmission untermauern und noch einmal öffentlich bekannt machen: Die Ev. Kirche im Rheinland hat Nein zur Judenmission gesagt. In dem Pfingstgottesdienst werden die drei ev. Theologen in Form einer trialogischen Predigt den sog. Missionsbefehl auslegen und dabei erklären, warum die ev. Kirche im Rheinland mit biblischen Gründen die systematische Mission von Juden kategorisch ablehnt. Anschließend an den Pfingstgottesdienst werden Abgesandte direkt aus dem Gottesdienst persönlich eine entsprechende Entschließung zu unseren jüdischen Partnern bringen und sie mündlich erläutern. Die folgenden Seiten enthalten exemplarische Texte zum Thema „Judenmission“. – Auf der letzten Seite folgt der Text der Entschließung. 18 A. Der Vorlauf Zur Vorgeschichte der Judenmission in Köln Äußerer Anlass für die Aufnahme dieses Themas ist das Auftreten judenmissionarischer Aktivitäten an verschiedenen Stellen des Kölner Stadtgebietes. Vor allem in Kölner Stadtvierteln, in denen massiv und in kurzer Zeit jüdische Menschen aus Russland und anderen GUS-Staaten zugezogen sind, mehren sich seit einigen Monaten Aktivitäten, die einen ausdrücklichen missionarischen Charakter haben und zugleich den Anschein erwecken, es handele sich um Angebote einer jüdischen Institution: Regelmäßige sogenannte Schabbat-Nachmittage, Vorträge über biblische Themen, Sprachunterricht und gesellige Einladungen sollen jüdische Einwanderer nicht nur in sozialer Hinsicht ‚auffangen’, sondern sie in eine christliche Gemeinschaft einbinden. Die Gruppen, die diese missionarische Arbeit tragen, gehören weder zur evangelischen Kirche im Rheinland noch zur römisch-katholischen Kirche, auch nicht zu den freikirchlichen Mitgliedern der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“. Doch wie deutlich ist dies den betroffenen Juden, die erst seit kurzer Zeit in Köln wohnen? Dazu kommt, dass das Thema „Judenmission“ im Bereich des evangelischen Rheinlandes durchaus ein eigenes Kapitel der ambivalenten Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses ist. Es ist eine – vom heutigen Standpunkt aus gesehen – tragische Vermischung aus sozialem Engagement von Christen gegenüber ihren jüdischen Geschwistern und einem Versuch, das Judesein solange als defizitär zu verstehen, als es nicht mit einem Bekenntnis zur Messianität Jesu verbunden ist: In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen auf dem Nährboden der protestantischen Erweckungsbewegungen sogenannte Judenmissions-Vereine. In Köln wird im Jahr 1844 der „Rheinisch-Westfälische Verein für Israel“ gegründet: Von vorneherein ist den Akteuren dieses Vereines an einer Verbindung von Sozialarbeit und Missionstätigkeit gelegen. Sie beschäftigen sich so intensiv wie kaum ein anderer Christ und Theologe mit der Bibel Israels und seiner rabbinischen Auslegung, sie sind am gottesdienstlichen Leben der jüdischen Gemeinden interessiert, sie treten mutig gegen den gesellschaftlichen und kirchlichen Antisemitismus an und entwickeln auch Verständnis für die entstehende zionistische Bewegung: insofern könnte man ihre Tätigkeit auch als Vorläufer des heutigen christlich-jüdischen Dialoges bezeichnen. Gepaart ist dieses 19 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Bemühen aber mit einem unbedingten Willen zur Bekehrung zum Glauben der christlichen Kirche und deshalb mit einem gänzlich fehlenden Respekt vor der Identität und Integrität des jüdischen Glaubens. Diese ambivalente Geschichte der Judenmission in der evangelischen Kirche (auch) in Köln ist bis in die Zeit nach 1945 zu verfolgen: Einerseits setzen sich „Hilfstellen“ dafür ein, dass aus dem Holocaust zurückgekehrte getaufte Juden durch die evangelische Kirche diakonisch unterstützt werden, andererseits ist man ungeachtet der christlichen Schuld am Holocaust weiterhin der Meinung, dass Christen „den Juden das Evangelium schuldig seien; man müsse ihnen zurückgeben, was man von ihnen empfangen habe“.1 Theologische Arbeit in den Gemeinden, Synoden, Fachkommissionen und Kirchenleitungen der Ökumene ist durch den christlich-jüdischen Dialog auf einem anderen Weg, der von der EKD-Studie III aus dem Jahr 2000 so resümiert wird: „Gott hat Israels Bund zu keinem Zeitpunkt gekündigt. Israel bleibt Gottes erwähltes Volk, obwohl es den Glauben an Jesus als seinen Messias nicht angenommen hat. ... Diese Einsicht lässt uns – mit dem Apostel Paulus – darauf vertrauen, Gott werde sein Volk die Vollendung seines Heils schauen lassen. Es bedarf dazu unseres missionarischen Wirkens nicht“.2 Es bedarf jedoch der ständigen ökumenischen Arbeit an dieser Selbstreflexion „unseres missionarischen Wirkens“ und des Protestes gegen eine unbekümmerte Fortsetzung nicht-reflektierter missionarischer Aktivität gegenüber dem jüdischen Volk, gerade wenn gemeinsame soziale Herausforderungen auftauchen. 1 P.G. Aring, Christliche Judenmission, Neukirchen-Vluyn 1980, 235. Christen und Juden III. Schritte zur Erneuerung im Verhältnis zum Judentum, Eine Studie der EKD, Gütersloh 2000, 60. 2 20 A. Der Vorlauf Beispielhafte Texte aus den letzten zwei Generationen protestantischer Theologie- und Kirchengeschichte und aus dem jüdisch-christlichen Gespräch in Deutschland zur veränderten Wahrnehmung der „Judenmission“ 1938 „Das Neue Testament sagt nichts anderes, es sagt genau genommen nicht mehr als das Alte Testament.“ 1957 “Kommt das Neue Testament auf die Welt der Völker zu sprechen, so sind die Völker in der Regel Gegenbegriff zu Israel. Die Völkerwelt wird von Israel her anvisiert. ... Israel ist das Volk der Tora, während die Völkerwelt die Tora nicht hat.“ 1959 ”Es kann einmal keine Rede davon sein, dass die Gemeinde im Verhältnis zur Synagoge den wahren gegenüber dem falschen Glauben zu verkündigen, einem falschen den wahren Gott entgegenzustellen hätte.“ 1964 “Die Prüfung des Ernstes dessen, was wir Glaube nennen, werden Christen und Juden in Zukunft gemeinsam zu bestehen haben. Gegensätze des Glaubens in unserer irdischen Zeit sollen darüber weder vergessen noch wegdiskutiert werden. Dass wir nur noch gemeinsam aus den Verließen unserer Melancholie über die furchtbare und dennoch geliebte Welt herausfinden können, muss einmal ins Bewusstsein gehoben werden. Eines aber muss ganz deutlich bleiben. Alles Verheißungsvolle würde verspielt, wenn Christen an dem Prinzip der Judenmission festhalten und Juden in sehr begreiflicher Reaktion einem ehrlichen christlich-jüdischen Gespräch sich versagen. Man kann dem Judentum seinen Zeugnischarakter ebenso wenig bestreiten wie dem Christentum, es ist genug des Spiels, da man Juden umwirbt, bezirzt, als Aushängeschild missbraucht – und letztlich nicht ernst nimmt.“ 1979 „Wir handeln gegen die eindeutige Botschaft des Neuen Testamentes, wenn wir die Juden wie die Heiden ‚missionieren’. Nach dem Neuen Testament können wir gar nicht zum jüdischen Volk hin gesandt werden (missio), weil wir schon immer mit ihm verbunden sind und bleiben.“ 21 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 1980 “Nicht Judenmission ist das Gebot der Stunde – war es nie - , sondern staunende Anerkennung der missio Israels: Zeuge zu sein für Gott, zu der wir hinzukommen durften.“ 1980 “Die bleibende Berufung und Sendung Israels verbietet es der Kirche, ihr Zeugnis ihm gegenüber in derselben Weise wie ihre Sendung (Mission) zu allen anderen Völkern zu verstehen“. 1987 hat die EKiR darum ihre Kirchenordnung (KO) in den Artt. 5, 140, 169 und 215 geändert und den Auftrag zur Mission an Israel ersatzlos aus ihrer Ordnung entfernt. 1996 “Sie (die Kirche) bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ 2000 Zwar gilt: „Christlicher Glaube ist seinem Wesen nach missionarisch“, aber „Judenmission ... gehört heute nicht mehr zu den von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihren Gliedkirchen betriebenen oder gar geförderten Arbeitsfeldern“. 2001 “Christliche Verkündigung geschieht öffentlich und richtet sich an alle Menschen. Sie geschieht im Kontext des Dialogs mit den Religionen der Welt und im Gespräch mit nichtreligiösen Weltanschauungen. Ihnen allen gegenüber bezeugen Christen selbstverständlich ihren Glauben. Das gilt auch in der Begegnung mit Juden. Die Gemeinsamkeit des Zeugnisses von dem Gott Israels und das Bekenntnis zu dem souveränen Erwählungshandeln dieses Einen Gottes ist ein gewichtiges Argument dafür, dass sich die Kirchen jeglicher gezielt auf die Bekehrung von Juden zum Christentum gerichteten Aktivität enthalten.“ 2005 hat die EKiR ihre diesbezüglichen Beschlüsse allesamt bestätigt, vertieft und in den Zusammenhang mit entsprechenden Beschlüssen anderer Landeskirchen, der EKD und der Leuenberger Kirchengemeinschaft (LKG) gestellt. Fazit: Für die EKiR und alle ihre Gemeinden und Einrichtungen ist in Übereinstimmung mit dem größten Teil der protestantischen Kirchen Europas deshalb Judenmission heute aus theologischen Gründen ausgeschlossen. 22 A. Der Vorlauf Quellen 1938 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, S. 115 1957 Georg Eichholz, Der Begriff ‚Volk’ im Neuen Testament, in: TB 29, 79 1959 Karl Barth, KD IV,3, S. 1005 1964 Robert Raphael Geis, Eine Purim-Betrachtung zur Woche der Brüderlichkeit, in: D. Goldschmidt, (Hg.), Leiden an der Unerlöstheit der Welt, München1984, S.247 1979 Heinz Kremers, Judenmission heute?, Neukirchen, 1979, S. 58 1980 Alfred Wittstock, Zeugen für Gott – Missio Israels oder Mission an Israel? _: Erwägungen zu Matthäus 28, 16-20, in: Ev. AK der EKHN (Hg.), Materialien zum Verhältnis von Christen und Juden, Nr. 73, S. 3 (MM: 61h): 1980 Rheinischer Synodalbeschluss (RSB) der Ev. Kirche im Rheinland (EKiR). Die letzte These ist überschrieben: „VI. Zur Frage der Judenmission“ 1996 Im Jahr 1996 hat die EKiR den Grundartikel ihrer KO ergänzt und den Glauben an die „bleibende Erwählung Israels“ zu den Grundlagen des Bekenntnisses in unserer Kirche hinzugefügt 2000 EKD, Christen und Juden III. Das ganze Kapitel 3 dieser Denkschrift ist dem Thema „Die bleibende Erwählung Israels und der Streit um die Judenmission“ gewidmet, S. 49 und 47. 2001 H. Schwier (Hg.), Leuenberger Texte 6, Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, S. 72: “Man darf ja nur das Wort Gottes aufschlagen, wo man will, um inne zu werden, dass das Volk Israel die größten und wunderbarsten Verheißungen hat, und, was das Wichtigste ist, dass es uns, die wir Christen aus den Heiden sind, auf das Herz gelegt ist.” P.G. Aring, Christliche Judenmission, Neukirchen-Vluyn 1980, S. 100 23 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Sendungstext zum Pfingstgottesdienst in der ev. Trinitatiskirche zu Köln am 4. 6. 2006 Anlässlich ihres Gottesdienstes am Pfingstsonntag 2006 in der ev. Trinitatiskirche zu Köln haben sich die hier versammelten Christinnen und Christen ihrer besonderen Nähe zu den Jüdinnen und Juden vergewissert, denen Gottes Bund und Verheißungen für Abraham, Isaak und Jakob gelten. Den folgenden Sendungstext, mit dem wir unseren Gottesdienst beschlossen haben, übergeben wir den jüdischen Gemeinden als Gruß und als Erklärung unserer Haltung zu dem jüngst auch in Köln wieder aufgebrochenen Thema der sog. Judenmission. 1. Ja zur Mission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung zur Mission, d.h. zur Lehr- und Lerngemeinschaft mit Menschen in aller Welt, und ggf. zu ihrer Besiegelung durch Taufe und verbindliche Lebensführung. 2. Nein zur Judenmission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung, jeder Form von organisierter Judenmission grundsätzlich entgegenzutreten und dadurch das besondere Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel anzuerkennen. 3. Aus dem besonderen Verhältnis Gottes zu dem Volk Israel folgt die Anerkennung des besonderen Verhältnisses zwischen Christen und Juden in aller Welt. 4. So und mit gleicher Eindeutigkeit, wie wir zu missionarisch verbindlichem Leben verpflichtet sind, so und mit gleicher Eindeutigkeit ist uns Mission an den Juden verwehrt. 5. Mit dieser Einsicht wenden wir uns entschlossen von unserer früheren judenmissionarischen Tradition ab und bitten alle evangelischen Kirchen, diese Abkehr mit gleicher Entschlossenheit und Eindeutigkeit zu vollziehen. Köln, am Pfingstsonntag, dem 4. Juni 2006 Trinitatiskirche Filzengraben 4 50676 Köln 24 A. Der Vorlauf Pressegespräch zu einem Evangelischen Wort gegen die „Judenmission“ im Ev. Kirchenverband Köln und Region (EKV) am 29. 5. 2006 Moderation: Günter A. Menne, Leiter des Amtes für Presse u. Öffentlichkeitsarbeit im EKV Gesprächsteilnehmer vom EKV: Pfr. Ernst Fey, Stadtsuperintendent Dr. Martin Bock, Ökumenepfarrer Pfr. Marten Marquardt, Leiter der Melanchthon-Akademie Diese Pressemappe enthält folgende Beispieltexte zum Thema 1. Melanchthon-Akademie und Ökumenepfarramt, Hg., „Gehet hin in alle Welt“ – (Roter Flyer mit der Einladung zum Pfingstsonntag) 2. Martin Bock, Der Rheinisch-Westfälische Verein für Israel in Köln, in: Köln grüßt Jerusalem, 55-63 (aus: M. Marquardt, Hg., Köln grüßt Jerusalem, 2002, S. 54-63) 3. Klaus Wengst, Soll die Kirche Juden missionieren? (aus: F. Crüsemann, U. Theismann, Hg., Ich glaube an den Gott Israels, 1998, S. 107-109) 4. H. Kremers, Judenmission heute? (aus: H. Kremers, Judenmission heute?, 1979, S. 10-11 und 78-80) 25 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 26 A. Der Vorlauf 27 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Gottesdienst am Pfingstsonntag 2006 in der Trinitatiskirche zu Köln Begrüßung durch den Stadtsuperintendenten Pfr. Ernst Fey Querflöte EG 136, 1 – 4 (O komm, du Geist der Wahrheit ...) Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen Psalm 125 i. W.: Ein Wallfahrtslied. Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen, sondern ewig bleiben wie der Berg Zion. Wie um Jerusalem Berge sind, so ist der Herr um sein Volk her von nun an bis in Ewigkeit. Denn der Gottlosen Zepter wird nicht bleiben über dem Erbteil der Gerechten, damit die Gerechten ihre Hand nicht ausstrecken zur Ungerechtigkeit. Herr, tu wohl den Guten und denen, die frommen Herzens sind. Die aber abweichen auf ihre krummen Wege, wird der Herr dahinfahren lassen mit den Übeltätern. Friede sei über Israel! 30 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Kommt und lasst uns anbeten ... Ehr sei dem Vater und dem Sohn ... Anrufung: • Du Geist der Wahrheit, Dich preisen wir an diesem Morgen in Erinnerung an die ganze Torah, die Jesu Jünger in dieser Pfingstnacht gelesen haben. Dich preisen wir an diesem Morgen in der Gemeinschaft mit allen Jüdinnen und Juden, die gestern hier in Köln ebenso wie damals Jesu Jünger in Jerusalem die ganze Tora gelesen haben zu Schawuoth. • Du Geist der Liebe, Dich preisen wir an diesem Morgen in Dankbarkeit für alle kleinen und großen Zeichen der Gottesund der Menschenliebe, die uns durch Jesus Christus begegnet sind. Dich preisen wir an diesem Morgen für alle Taten der Liebe, die noch durch Juden und Christen in dieser Welt vollbracht werden können. Du Geist des Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens, Dich preisen wir an diesem Morgen für das Geschenk des Lebens, der Schöpfung, der Versöhnung und rufen Dich an: • • Kyrie eleison Zuspruch: „Siehe ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende..“ EG 179, 1: Allein Gott in der Höh’ sei Ehr und Dank für seine Gnade darum, dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. 31 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende. Gebet: Nun wollen wir gerne unsere Ohren auftun und unsere Herzen stark machen für Dein Wort und für unsere Welt. Lass uns doch hören und verstehen durch Deinen Geist. Amen EG 657, 1- 6 zur ersten Tafel der „Zehn Gebote“: (Erheb dein Herz, tu auf dein Ohren...) Lesung zu Schawuoth und Pfingsten: Exodus 19, 16 –25 Querflöte EG 657, 7- 12 zur zweiten Tafel der „Zehn Gebote“: (Du sollst nicht töten, ich geb’ Leben...) Das Apostolische Glaubensbekenntnis EG 124, 1 (Nun bitten wir den Heiligen Geist...) 32 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Predigt über Mt 28, 16-20 Stadtsuperintendent Pfr. Ernst Fey Pfr. Dr. Martin Bock Pfr. Marten Marquardt 1. DER WEG ZUM BERG 1.1 Der WEG Israels Zwölf Stämme Israels auf ihrem WEG. Auf dem WEG zum Berg. Der WEG zum Berg: das ist in Israel immer zuerst der WEG aus der Sklaverei in die Freiheit, der WEG von Ägypten zum Sinai, der WEG unter Gottes Geleit, der in Wolkensäule und Feuerschein Sein Volk begleitet, der WEG in Begleitung des beWEGten und beWEGenden Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. In dieser Zeit ist der WEG Israels „Kirchenraum und Gemeindesaal“. Auf dem WEG begegnen sie Gott. Auf dem WEG flehen und beten, murren und jubeln die Israeliten vor ihrem Gott. Und der Berg auf diesem WEG ist der Ort, an dem Gott ihnen die Zehn Grundlegenden WEGweiser für das weitere Leben aufrichtet, die Zehn Worte – wir nennen sie die „Zehn Gebote“ - die aller Welt zur Orientierung dienen sollen. Auch als das Volk Israel schließlich im Land angekommen war, auch als sie in festen Häusern lebten und auch als sie einen Tempel hatten, haben Sie den WEG nicht verlassen. Bis heute wird alles religiöse jüdische Leben von dem WEG bestimmt. Hebräisch heißt das „HALACHAH“. Jede entscheidende Weichenstellung im religiösen Leben, jede religiöse Zielvorgabe wird in der Form der Halachah vermittelt, der WEGweisung. Es ist mehr als ein Sprachbild, es ist der Kern des jüdischen Lebensmodells, dass der WEG, die HALACHAH, eine so entscheidende Rolle 33 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission spielt. Viele Denkweisen, die wir unter uns so kennen, vertreten Standpunkte, machen Feststellungen, besetzen Positionen - heute sagt man oft: „sie positionieren sich“ - und entwickeln Anschauungen, oft ganze Weltanschauungen. Das ist nicht der WEG Israels. Auf dem WEG Israels gibt es keine Feststellungen, keine theologischen Grundsätze, in diesem Sinne natürlich auch keine ewigen Wahrheiten. Der WEG Israels bedeutet immer neue Weichenstellungen, immer neue Blickrichtungen, immer neue Aufbrüche, natürlich auch immer neue Verlockungen: was kommt danach? - immer neue Ermunterungen durch immer neue Aussichten: es lohnt sich, zu gehen! – immer neue BeWEGungen, die zu immer neuen Erfahrungen führen. Und auf dem WEG mit seinem Gott macht Israel auch immer neue Gotteserfahrungen, überraschende, widersprüchliche und oft verwirrende Erfahrungen mit Gott, die sich jedem System verweigern. Und darum sind Glaube und Theologie auf diesem WEG immer auch ein wagemutiger Aufbruch zu immer neuen Ufern und Zielen. Und desWEGen, das heißt auf diesen WEGen, sehen sich der Glaube Israels und die Glaubensgespräche in der Auslegung der Torah immer wieder von Diskussionen, Widersprüchen, Streitgesprächen und lebendigen Auseinandersetzungen begleitet. Auf Israels WEG geht es darum zu „wie in einer Judenschule“, lebendig, intensiv und beWEGt. 1.2 Der WEG der Christen Elf Juden auf ihrem WEG. Auf dem WEG zum Berg. Der WEG zum Berg, das ist für Jesu Jünger immer zuerst der WEG nach Galiläa, zum Ort der Bergpredigt, der WEG nach Galiläa zum Berg der Verklärung, Berg Tabor heißt er in der Geographie Israels, und nun eben auch auf Jesu Befehl hin der WEG nach Galiläa, zu diesem Berg der Welt, dem Berg des Abschieds und der Beauftragung. Jüngerschaft Jesu, das heißt WEGgenossenschaft Jesu. Nachfolge, das heißt, auf dem WEG sein mit Jesus zwischen Jerusalem und Galiläa zunächst. Jüngerinnen und Jünger, das sind WEG-Gefährten Jesu. 34 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Und Jesus selber ist ein Wanderprediger, etwas wagemutig könnten wir sagen: ein WEGelagerer, einer, der auf dem WEG lagert: „Die Füchse haben Gruben, die Vögel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo ER sein Haupt lagere“ (Mt 8, 20). – Das haben diese jüdischen Jünger Jesu und das hat Jesus selbst mit dem Volk Israel vom Sinai gemeinsam: Der WEG zum Berg, der WEG zur Freiheit der Kinder Gottes ist ihr Lebensmodell. Und darum ist es schon besonders augenfällig, dass die erste und älteste Bezeichnung für das Christentum im NT heißt „der WEG“ oder „der neue WEG“.1 Wir haben durch Jesus und diese elf Juden, die da unterWEGs zum Berg sind, die ganze jüdische WEGorientierung geerbt. Auch das Christentum ist eine GottesbeWEGung, die die ganze Welt durchziehen will. Und so können wir schon von Anfang an diese Worte Jesu auf dem Berg in Galiläa verstehen als Seine WEGweisung für uns: Gehet hin in alle Welt, bildet WEGgemeinschaften, sucht WEGgefährten in aller Welt, damit die Torah vom Sinai und das Evangelium von Christus alle Menschen erreichen kann. – So ist das Christentum wirklich eine WeltbeWEGung Gottes geworden, die nun Israels Grenzen weit überschritten und Israels Erfahrung weit hinausgetragen hat bis an die Grenzen der Erde. Mit dieser Grenzüberschreitung des Christentums war von Anfang an die Frage verbunden: Werden die Christen damit ihre alte WEGgefährtenschaft mit Israel verlieren oder aufgeben oder gar vergessen und bestreiten, oder werden sie sich auch dann, auch außerhalb Israels der ursprünglichen Gemeinschaft mit Israel erinnern? – Wir alle wissen nur zu gut heute, dass die Vergesslichkeit der späteren Christen, die keinen Anteil an der Geschichte Israels und keinerlei jüdische Erinnerungen mehr hatten, wir nennen sie Heidenchristen, dass die Vergesslichkeit der Heidenchristen gegenüber unserer ursprünglichen WEGgefährtenschaft mit Israel groß war. Und als die meisten Juden aus der heidenchristlichen schnell wachsenden Kirche herausgedrängt waren, wurde sehr schnell aus dieser Vergesslichkeit eine mörderische Hässlichkeit. Die alten Spuren der jüdisch-christlichen WEGgenossenschaft wurden 1) (Apg 9, 2; 19,9; 22,4; 24,14+22: οδος oder καινη οδος) 35 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission systematisch getilgt, der WEG wurde von jüdischer Erfahrung möglichst gründlich „gereinigt“, ja schließlich wurde die Kirche sesshaft und übernahm die Herrschaft über die damals bekannte Welt. Aus Berg und Erfahrung auf dem WEG wurden Thron und Altar in der Welt. 1.3 Der WEG der Juden und der Christen Elf Juden und Christen, elf „Judenchristen“ auf ihrem WEG. Auf dem WEG zum Berg. Natürlich bestand die Urgemeinde aus Juden, und zwar nur aus Juden. Die da mit Ihm gekreuzigt wurden, waren Juden, rechts und links am Kreuz, die ersten, die Jesu Schicksal in engster Verbindung mit Ihm und in letzter Konsequenz mit Ihm geteilt haben. – Die dann kamen ans leere Grab, die dann von Ihm sprachen, die das große Ostergeschrei anfingen: Er lebt, Er ist nicht tot, Er ist auferstanden und lebt für die Welt! - das waren Jüdinnen und Juden, die da das christliche Urbekenntnis ausgerufen und hinausgetragen haben aus dem Grab. Pharisäer, Schriftgelehrte und ungelehrte Fischer und Bauern: die Urgemeinde wurde von Juden gebildet. Von ihnen haben wir ja alles, was uns bis heute beWEGt. Sie waren von Anfang an und sind bis heute in vieler Hinsicht Jesus näher als die Heiden aus allen Völkern. Natürlich nicht alle. Natürlich gab es ganz andere, die Jesu WEG gerade nicht teilen wollten. Natürlich gab es heftige Gegner Jesu. Paulus, der von vielen Christen so genannte „heilige Paulus“, war ursprünglich ein solcher Gegner Jesu. Thomas war ein Skeptiker und Kritiker Jesu. Petrus, der heilige Petrus, sogar sein Verräter. Natürlich gab es unter Heiden und Juden viele, bis heute wohl noch die Mehrheit der Menschen, die Jesu WEG nicht teilen, nicht mitgehen wollen. – Aber weder Verrat, noch Zweifel, noch Skepsis, noch Verfolgungswut haben diese anderen Menschen untauglich gemacht in Gottes Augen. Und als sie ihre WEGe in Gottes Namen suchten, da gab es sehr unterschiedliche Um- und Ab- und HolzWEGe auch. Sie führten unsere jüdischen Vorgänger in ganz verschiedene Richtungen: 36 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 • Petrus ging zu den Juden, blieb in seinem eigenen Umfeld. • Paulus wurde nach vielen Querelen der WEG zu den Heiden freigestellt; Paulus kam bis nach Europa und fand in Lydia die erste europäische Christin. • Und Thomas soll seinen WEG bis nach Indien gewandert sein und ein östliches Christentum gegründet haben, das wir dort heute noch finden. • Und wieder andere blieben auf ihrem jüdischen WEG der Treue zum Gott Israels und Seiner Verheißung. Auch sie auf einem biblischen WEG der Treue zu Gott. Juden und Christen anfangs zusammen, dann immer deutlicher getrennte WEGe gehend. Christen schließlich in der Übermacht, zu immer unbeWEGlicheren Gegnern Israels geworden und am Ende nur noch den ScheideWEG zwischen Hölle und Taufe für die Juden offen haltend. Und in dieser selbstgebauten Falle konnten Christen nur noch die Chance der Judenmission erkennen, wenn sie Juden retten wollten. Und nun gehört es zu den schrecklichsten WEGen unserer Kirche, die wir erst heute in aller Konsequenz als WEG in den Abgrund erkennen, dass wir hier in Köln in den Jahren zwischen 1941 und 1943 auch noch getaufte Jüdinnen und Juden mit sog. Schlussgottesdiensten auf den WEG in die Vernichtung verabschiedet haben.2 Juden und Christen sind seit dem Erstarken des Christentums in Europa auf getrennten und schließlich sogar auf tödlich entgegengesetzten WEGen gewandert. Es waren auch WEGe zum Schafott, WEGe der Verachtung, WEGe in die Hölle. EG 124, 2 (Du wertes Licht ...) 2) Köln grüßt Jerusalem, S. 123 ff; H. Prolingheuer, RR 1/1994, S. 43 37 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 2. UNTERWEGS IN ALLE WELT 2.1. Israel unterWEGs „Gehet hin …“, sagt der auferstandene Christus zu den elf „Judenchristen“ auf dem WEG. Das ist kein unvertrautes Wort für ihre Ohren. Nicht nur hatte Jesus sie in den vergangenen Zeiten immer wieder ‚geschickt’: Menschen zu fischen, und dann ganz konkret: Ähren zum Essen zu suchen, Brot zu finden, Brotbrocken einzusammeln, Kranke aufzusuchen, probeweise allein bzw. zu zweit vom ‚Reich der Himmel’ zu erzählen usw.. Das „Gehet hin …“ kennen also die Schülerohren, die ihn nun wieder sehen und –hören. Es hat für sie nicht den ‚außergewöhnlichen’ Charakter, den es für uns Völkermenschen hat: Das ‚unterWEGs-sein’ ist etwas Vertrautes, das die 11 gerne gehört haben werden. Israeliten sind selbstverständlich in BeWEGung – der Hebräerbrief im Neuen Testament singt im 11. Kapitel ein Loblied auf das UnterWEGs-Sein Israels quer durch die alttestamentliche Geschichte von Abel über Rahab bis Daniel. UnterWEGs-Sein „ist“ Glauben, „ist“ Vertrauen auf einen mitgehenden Gott – mit dieser Botschaft soll die christliche Gemeinde zu Recht wieder ‚auf den WEG’ gebracht werden. Das UnterWEGs-Sein Israels hat nichts, aber auch gar nichts mit der Chimäre des ‚Ahasver’, des Ewigen Juden zu tun, die spätestens seit dem Mittelalter durch die christlichen Köpfe Europas wandert und das ‚unterWEGs-Sein’ zu einer Strafe, zu einem prädestinierten Schicksal, ja zu einem Verdammnis macht. Der Mythos des ‚Ewigen Juden’ bestimmt das sogenannte christliche Denken europäischer Christen in einem solchen Maße, dass sogar noch nach dem Holocaust ein Schuldbekenntnis evangelischer Christen im Jahr 1948 formuliert, dass „Gottes Gericht Israel in der Verwerfung bis heute nachfolgt“3. Das UnterWEGs-Sein Israels als unaufhörliche Verfolgung durch einen strafenden Gott – wie viel Bibelferne gehört zu einem solchen Urteil! Israel wird „gerufen“, wird an einen neuen, von Gott verheißenen Platz „gerufen“ – diese Erfahrung Abrahams, der in einer ähnlich ausdrück3) Wort zur Judenfrage des Bruderrates der EKD, 1948. 38 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 lichen Weise wie die 11 Jünger das „Gehe hin, mache dich auf!“ Gottes hört, dieses UnterWEGs-Sein hat sich in die Seele und Gestalt Israels bis in seine Namen eingebrannt: Jesus aus Nazareth, hebräisch heißt das eigentlich: „Jesus aus Nazareth WEG“. Oder der Prophet Amos, der „aus Tekoa (WEG)“ berufen wurde zu seiner Aufgabe. Diese hebräischen Namen sagen keinen unverrückbaren „Standpunkt“ an, sondern einen Ausgangspunkt, den ich noch am rückwärtigen Horizont sehe, aber von dem ich ‚gelöst’ bin. Jesus kommt aus Nazareth, aber er ist eben unterWEGs zu den Menschen im Land, über den See, über die Grenze, bis nach Jerusalem – und dann überschreitet er auch in dem Wunder aller Wunder die Grenzen von Tod und Leben. Ist es da nicht sonnenklar, dass Jesus seine Jünger nicht auffordert, an der Stelle seiner Erscheinung ein Heiligtum zu bauen, sondern sie ‚WEGschickt’!? Als Gott sein Volk durch das Rote Meer geführt hat und Israel erfährt, dass das Wunder seiner Lebensrettung mit dem Preis des Todes der ägyptischen Soldaten erkauft war, darf das Volk nicht zurückblicken, sondern wird ‚WEGgeschickt’, auf den rettenden, aber auch zu fürchtenden Gott ausgerichtet. Israel macht seine Erfahrungen ‚unterWEGs’: Die ganze Thora, die fünf Bücher Mose, sind eine einzige UnterWEGs-Katechese: Israel lernt seinen Gott unterWEGs kennen. Und dies gilt auch umgekehrt: Gott lernt sein Volk unterWEGs kennen. Der Exodus und die 40 Jahre Wüstenwanderung sind auch für den Gott Israels eine ‚Bewährungsprobe’, die ihn nicht unberührt lässt. Israel erzählt die zentrale Offenbarungsgeschichte Gottes nicht sozusagen im Sanctuarium des Tempels von Jerusalem, sondern in der glühenden Sonne des Sinai, im Überlebenskampf der Wüste. Diese Geschichte ist für Israel nicht zu überholen! Vielleicht müssten wir Christen das für unser ‚Bild’ von Gott und für unsere ‚Zeichenhandlungen’, zum Beispiel in den Sakramenten noch viel stärker bedenken, dass Gott nicht im Tempel ‚zu Hause’ ist, sondern in den Lebensbedingungen unterWEGs: Im Wasser der Sinaiwüste, das er hervorquellen lässt - im Zelt, das vor der Hitze und der Kälte schützt … Seltsamerweise kann dieses UnterWEGs-Sein Israels in der Wüste, diese zentrale Erfahrung, dass Gott nicht „greifbar“, sondern mir voraus „da“ 39 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission ist, für das heutige Judentum nicht wiederholt werden. Während Christen Pilgerfahrten machen, heilige Orte aufsuchen und auf den Sinai steigen, um „näher daran“ zu sein, machen Juden keine Wallfahrten in den Sinai. Sie können nicht ‚rückwärts unterWEGs sein’. Gottes Weisung, seine Offenbarung am Sinai, ist mit unterWEGs in den WORTEN der Thora und in aller lebendigen, körperlichen Lern- und Lebensgemeinschaft, die die Thora umgibt. Luther hat es das „mündliche Geschrei“ genannt, das Hin- und Her-Besprechen der Worte Gottes in unseren Worten und im Herzensschlag der Gebete durch die Zeit. So ist für Israel die Thora mit unterWEGs durch die Zeit; die ‚mündliche Thora’ ist solange nicht abgeschlossen, als sich Gott noch nicht zur Vollendung der Welt geoffenbart hat. Solange redet Gott vom Sinai aus mit seinem Volk – und Israel geht und hört mit. 2.2. Christen unterWEGs Auch Judenchristen gehen und hören mit – das will uns das Matthäusevangelium im „Missionsbefehl“ sagen. Die Offenbarung Gottes am Sinai ist noch nicht zu Ende – „hört weiter zu, geht weiter mit, werdet nicht müde, euer ‚mündliches Geschrei’ von diesem wunderbaren Gott weiter zu tragen!“ Die Jünger Jesu sind nicht zum ‚heiligen Berg’ nach Galiläa gepilgert, um „noch einmal“ an die Stätte seines Wirkens zu kommen. Sie können nicht ‚rückwärts unterWEGs’ sein, sondern nur vorwärts. So werden sie an diesem Ort in eine Art ‚neue Offenbarung’ verwickelt, die so noch nicht am Sinai zu hören war: Geht hin zu allen Völkern und macht sie zu neuen Gemeinschaften in meinem Namen! Doch jetzt ist diese Stimme zu hören: Gott selbst geht weiter mit seiner Schöpfung. Noch tiefer verwickelt der Gott Israels und Vater Jesu Christi die Menschen in sein Werk, dass er nun 40 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 den Ruf an Abraham neu aufnimmt und sagt: Geht WEG aus eurem ‚Vaterhaus’, und verwickelt alle Völker in meine Liebe, sagt ihnen von meiner Treue und rollt ihnen den roten Teppich meiner Weisungen aus! Gott ist erneut unterWEGs zu ‚seiner Welt’: Das ist der tiefste Grund dafür, dass an dieser Stelle der dreieinige Name Gottes ausgesprochen wird. Der Evangelist Matthäus will uns Christen sagen: Gott holt ‚ganz tief Luft’, geht in sein Innerstes und zugleich weit nach ‚draußen’, um diesen gewagten Schritt in die Völkerwelt zu gehen, er zieht mit und in seinem Namen einen weiten Kreis um die Völker, die nun die ‚Hinzugekommenen’ sind. Und ist es nicht auch so: Da, wo die Völker den Ruf hören und eine Lerngemeinschaft um die Thora herum bilden, kommt es zu einer neuen Bewährungsprobe zwischen Gott und den Christen-Völkern, die bis heute nicht beendet ist?! Die Missionsgeschichte des Christentums: Ist sie nicht eine einzige Bewährungsprobe auf die Treue zum Namen Gottes? Christen sind von vorneherein keine Kurzstrecken gegangen durch die geistige Welt des Hellenismus, der Spät-Antike mit ihren Mysterienkulten und ihren Philosophien! Christliche Theologie unterWEGs hat es sehr ernst gemeint mit dem Bilden neuer Lern- und Lebensgemeinschaften: Unsere Trinitätslehre und die Denkversuche zu Jesus, zur Bibel aus zwei Teilen, zur Kirche, zu den Sakramenten sind immer höchst intensive Gespräche mit den Zeitgenossen, die man ‚einwandern’ lassen wollte in die Exodusgeschichte, in die man selber ‚eingewandert’ war. Doch zugleich ist diese Bewährungsprobe gerade an dieser Stelle oft genug schief gegangen: Christen haben sich zuviel vorgenommen, wollten zu sehr auf ‚eigenen Füßen’ stehen und haben sich dann den Magen verdorben an der neuen Kost. Anstatt bei der biblischen Speise und ihren Speiseregeln zu bleiben, haben sie alles verschlungen, was am WEGe lag. Deshalb ist Missionsgeschichte bis heute auch immer Umkehr-Geschichte, Suche nach dem Elementaren, das Gott den Völkern zu sagen hat. 41 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 2.3 Juden und Christen gemeinsam unterWEGs Die Geschichte der christlichen Mission ist leider auch ein immer wieder unternommener Versuch der Völkerchristen, den WEG Israels gewissermaßen ‚links zu überholen’ und Israel in die eigenen Missionsbemühungen einzuschließen. Wenn ich versuche, dies ‚gutwillig’ zu verstehen, dann hat dieses LinksÜberholen mit dem Enthusiasmus zu tun, den der Missionsbefehl Jesu auslöst: „Geht hin …“ – daraus spricht auch ein Geist des Aufbruchs, der „Erweckung“ und des Enthusiasmus, den Juden- und Völker-Christen von Anfang an gesehen und gespürt haben. Der amerikanische Theologe Jonathan Edwards und der deutsche Pietist Philipp Jacob Spener im 18. Jahrhundert waren zum Beispiel von einer ganz nahen ‚Erfüllung’ aller biblischen Gottesverheißungen fest überzeugt. Gemeinsames Beten, so Edwards, „überwinde alle Entfernungen und Grenzen“, vor allem die der christlichen Konfessionen, aber auch die zum jüdischen Volk. So entwarf er einen Heilsplan, zu dem auch die Bekehrung des jüdischen Volkes gehörte. Die Judenmissionsvereine, die in dieser Zeit der „Erweckung“ in Europa und in den USA entstanden, sind auf solchem Boden entstanden. Sie wollten und wollen die Israel-Vergessenheit der Christen überwinden und haben Israel auf seinem eigenen WEG zugleich vergessen. Wenn wir heute das UnterWEGs-Sein von Christen und Juden anders verstehen wollen, wenn wir Gottes WEG mit seinem Volk nicht korrigieren und verbessern, ändern und vervollkommnen wollen, sondern an seiner Seite gehen wollen, dann nicht mehr so, als müssten nun beide immer auf den gleichen Weg gelockt, überredet oder gezwungen werden. Unterwegs soll nun heißen, das gleiche Ziel auf verschiedenen Wegen, die gleiche Aufgabe mit verschiedenen Mitteln, die gleiche Mission durch verschiedene Menschen zu übernehmen. Vielleicht so wie Diakonie und Caritas, wie Rotes Kreuz und Roter Davidsstern, wie Kirche und Synagoge: nebeneinander mit einander zu arbeiten. Das sind ganz verschiedene Wege und das ist doch das gleiche Ziel: 42 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 • • • Gottes Menschenfreundlichkeit unter die Menschen bringen Gottes Gerechtigkeit mit unseren Händen und Füßen unter die Leute tragen Gottes Anspruch an alle Menschen vertreten, indem Juden und Christen die Zehn Worte vom Sinai immer wieder einklagen, einüben, einfleischen. EG 124, 3 (Du süße Lieb...) 3. BUND MIT BRIEF UND SIEGEL 3.1 BUND UND VERHEISSUNG für Israel Mit der Taufe werden wir nun herangeführt an die Bundesgeschichte, die Gott mit Sara und Abraham und Rebekka und Isaak und Rahel und Jakob begonnen hat, in die später die Könige David und Salomo hineingewachsen sind, und die uns Menschen aus der Völkerwelt durch Christus auch vermittelt worden ist. Der Taufbefehl des Auferstandenen ist der Auftrag an uns, dafür zu sorgen, dass möglichst vielen Menschen aus der Völkerwelt Brief und Siegel für diese Bundesgeschichte Gottes mit Israel und allen Menschen gegeben werde. Aber dazu müssen wir die Geschichte des unverändert bestehenden Bundes zwischen Gott und seinem Volk Israel zuerst bedenken. Abraham war ein umherirrender Aramäer4, ein landloser Nomade: ihm hat Gott Seinen Bund angeboten: „Ich will dich segnen ...und du sollst ein Segen sein...und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“5 Da ist keine Rede von irgendeiner besonderen Qualität bei Abraham. Und alle nach ihm waren nicht anders. Gottes Bundespartner in Israel sind sehr durchschnittliche, höchst normale Menschen. Nicht weil sie etwas Besonderes wären, sondern weil Gott sie grundlos erwählt hat, haben sie Bund und Verheißung und Hoffnung für Israel. 4) Dt 26, 5 5) Gen 12, 2-3 43 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Nicht weil sie etwas Besonderes wären, nimmt Gott sie in Seinen Bund auf. Aber weil sie in Gottes Bund hineingenommen sind, haben sie nun etwas Besonderes. Sie haben nun als erste die Last, vor allen Menschen der Erde Gottes Bundeszeichen zu tragen, am eigenen Leib Gottes Zugriff zu spüren, vor aller Welt Gottes WEGzeichen hochzuhalten, Gottes Verheißungen weiterzurufen und Gottes Anspruch an alle Menschen zu vertreten. In Israel sagt man: das Joch der Torah zu tragen, das ist es, was sie von diesem Bund haben. Schon seit Menschengedenken haben sich aber auch immer wieder Menschen in Israel gegen diesen Bund gewehrt, haben ihn gebrochen, gekündigt, vergessen. Und Propheten haben in allen Generationen darüber geklagt, dass Israel treulos war. - Aber gekündigt wurde ihnen von Gott nie. Niemals hat Gott sie aus dem Bund entlassen. Auch als mit Jesus von Nazareth ein ganz neues Kapitel der Bundesgeschichte eröffnet wird, und auch als viele damals in Israel den WEG Jesu nicht mitgehen wollten, auch da hat Gott ihnen niemals den Bund aufgekündigt. Paulus hat diese undenkbare Möglichkeit ausdrücklich erwogen und eindeutig verworfen: „die Herrlichkeit und der Bund, die Torah und die Verheißungen“ gehören ihnen und bleiben gültig, auch wenn und obwohl sie Jesu WEG nicht mitgehen konnten. – Das ist das erste, was wir beim Lehren in aller Welt zu bedenken und zu vermitteln haben: Der Bund mit Israel ist der ungekündigte Bund Gottes mit Jüdinnen und Juden bis heute. 3.2 BUND UND VERHEISSUNG für die Christenheit Und nun hat der auferweckte Christus durch seine späteren Jüngerinnen und Jünger uns aus der Völkerwelt hinzugerufen. Die Missionsreisen des Paulus galten vor allem diesem Ziel, dass nun auch die Heiden in die von Jesus uns allen vermittelte Bundesgeschichte hineingenommen werden sollten. Predigt, Lehre und Mission des Paulus richten sich an Heiden, die nicht aus Israel kamen und die nichts von der jüdischen Geschichte wussten. Ihnen predigt Paulus von Abraham, Isaak und Ja- 44 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 kob, von Jesus, der gekreuzigt wurde und auferweckt worden ist in Gottes Namen, im Namen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Paulus wollte, dass wir hinzukommen und mit Israel und neben Israel und in produktiver Konkurrenz gegenüber Israel die Königsherrschaft Christi allen Menschen der Erde glaubwürdig verkündigen, vorleben und nahe bringen. Christliche Predigt, Lehre und Taufe sollen nun Heiden herzuholen und an der Seite Israels in Gottes Bundesgeschichte einbinden. Nun könnten Sie fragen: Aber was ist denn mit dem Missionsbefehl „und lehret alle Völker“? – Ja, alle Völker. Der Evangelist Matthäus hat eine sehr präzise Sprache, präziser als unser abgeschliffener Alltagsjargon. Niemals benutzt Matthäus das gleiche Wort für die Völker aller Welt und für das Volk Israel. Israel, das heißt bei Matthäus immer ‚laós’. - ‚Laós’ ist ein ganz altes Wort aus der lyrischen Welt, ein poetisches Wort, das Matthäus immer und ausschließlich für das Volk Israel reserviert, das Volk Gottes. Alle anderen Völker heißen in gut biblischer Tradition: ‚ta ethnä’. ‚Ta ethnä’, das sind alle Völker der Erde, ausgenommen Israel. Und der sog. Missionsbefehl weist uns nun ausdrücklich an ‚ta ethnä’, an die Völker. Und hier ist ganz offensichtlich nicht die Rede vom ‚laós’ Israel. Denn für Matthäus ist ja völlig klar, dass es keine Sinn hätte, dem Volk der Torah, von dem wir ja die Lehre Jesu bekommen haben, nun diese Lehre bringen zu wollen. Und wenn der Missionsbefehl uns aufträgt: „geht hin in alle Welt und lehret alle Völker...“, dann haben alle Zeitgenossen des Matthäus sehr genau verstanden: „lehren“, das heißt Torah lehren, und zwar die Torah Israels in ihren verschiedenen Auslegungen. Jesus hat immer gesagt, er wolle nicht, dass auch nur ein I-Tüpfelchen der Torah Israels verloren gehe6; und er hat den Jüngern eingeschärft, sie sollen auf jeden Fall hören und tun, was die Pharisäer und Schriftgelehrten ihnen aus der Lehre des Mose aufgeben7. Das ist unser neuer Bund: Die Torah Israels in der Auslegung und in der Verkörperung Jesu Christi nun in aller Welt zu leben und zu vertreten. Und nun steht es mit uns ja ähnlich, wie es mit Abraham, Isaak und Jakob und dem ganzen Volk Israel steht: Nichts Besonderes 6) Mt 5, 17ff 7) Mt 23, 2-3 45 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission ist an uns. Keine hervorragende Qualität wäre da, die uns Christen nun etwa auszeichnen könnte vor dem Rest der Menschheit. Viele, im Blick auf unsere Kirchengeschichte müssen wir sogar sagen: schrecklich viele Fehler, Verbrechen und Sünden sind uns ins christliche Gesicht geschrieben. Aber um Christi Willen sind wir nun mit im BUND, im Wort und in der Verpflichtung. Wir, die wir von uns aus nicht allzu viel taugen, Sünder sind wir nach biblischem Sprachgebrauch, wir sind jetzt einbezogen in Gottes Menschheitsplan, den er mit Israel und den Völkern, mit ‚ho laós’ und mit ‚ta ethnä’ hat. Das ist unser Missionsbefehl: Wir sollen in aller Welt Bünde schmieden zwischen den Menschen, Bündnisse zum Frieden, zur Versöhnung, zur Gerechtigkeit, also Torah-bündnisse. Wir sind dazu da, Lebensverhältnisse zu entwickeln, in denen Menschen diese Grundbegriffe der hebräischen Sprache lernen und Grund haben, mit Juden und Christen gemeinsam „Hallelujah“ und „Amen“ singen zu lernen. So könnte das dann aussehen, wenn wir Salz der Erde und Licht der Welt werden, wie uns Jesus verheißen hat. 3.3 BUND, VERHEISSUNG und AUFTRAG für Juden und Christen Das ist ein neuer Anlauf, eine neue Bundesgeschichte. Wir sollen jetzt dazu gehören, Seite an Seite mit Israel, Wand an Wand mit der Synagoge. So wie wir es nun schon seit ein paar Jahren in Wuppertal sehen können: Kirche und Synagoge auf einem Grundstück und mit einem gemeinsamen Zaun umgeben. – Das ist BUND und Verheißung für beide heute. Das kommt dabei heraus, wenn wir heute Jesu Weltauftrag an uns Christen da von dem Berg in Galiläa übernehmen: Kirchen Wand an Wand mit Synagogen, sodass – wenn jemals wieder Synagogen brennen sollten, unsere Kirchen mit gefährdet wären, sodass – wo immer wir unsere Kirchen bauen, schützen und erhalten, wir zugleich und mit gleicher Energie Synagogen in unserem Land bauen, erhalten und schützen. Um diese Bundesgenossenschaft mit den Juden geht es. Der Zaun ist abgebrochen, so sagt es der Epheserbrief8, die Mauer ist eingerissen und wir lassen uns nicht mehr trennen von unseren jüdischen Nächsten. Das ist die Perspektive der seit Jesus und Paulus begonnenen neuen WEGgemeinschaft von Juden und Christen. 8) Eph 2, 14 46 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Über dem Volk Israel ist ausgerufen, es soll das Licht für die Völker, ein ‚or lagojim’, sein und der Knecht Gottes aus Israel soll ein Panier für die Völker, ein ‚nes ammim’9, werden. Und über der Gemeinde Jesu ist ausgerufen, wir sollen das „Salz der Erde“ sein, „das Licht der Welt“ werden, das man nicht länger unter einen Scheffel stellt, sondern auf einen Leuchter, damit es allen im Haus der Welt leuchten kann. Und das ist unsere gemeinsame Aufgabe, unsere gemeinsamer Missionsbefehl für Juden und Christen, dass wir einander das Licht weiterreichen, das in unserer Welt für alle Menschen leuchten will. Juden und Christen sind gemeinsam in die Welt gesandt, haben gemeinsam diesen Auftrag Gottes, auf je eigene Weise und in produktiver Konkurrenz miteinander die Torah und ihre jüdische und ihre christliche Auslegung zu tun. Das ist die „Missio Iudaica“, der Missionsauftrag an Israel, in den wir Christinnen und Christen nun durch unseren Missionsauftrag Jesu mit eingebunden werden. Gemeinsam haben wir Juden und Christen einen Weltmissionsauftrag. Wir sind nicht zum Herrschen durch Beherrschen, auch nicht zum Lehren durch Belehren, sondern zum Hören durch Gehören, zum Leben durch Beleben berufen. Das ist unser gemeinsamer Auftrag in Gottes Namen. Und wo Menschen aus der Völkerwelt das erfahren und ihre Erfahrung mit der Taufe besiegeln wollen, sodass sie nun an der Mission Gottes für Juden und Christen teilnehmen, da ist die Freude auf allen Seiten groß. Amen EG 124, 4 (Du höchsterTröster in aller Not...) 9) Jes 49,6 und 22 47 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Fürbitte und Vaterunser Du Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Du Vater Jesu Christi: Wir erkennen heute, dass viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so dass wir die Schönheit deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen, und in deinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, dass ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blut gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, dass wir Feinde Israels und Deine Feinde geworden sind. Denn wir wussten nicht , was wir taten.10 Wir beten für alle Menschen unserer Welt gemeinsam: Vater unser im Himmel ... Amen. EG 435 (Dona nobis pacem...) Sendungswort (s.u.) Segensbitte Querflöte 10) In Anlehnung an das Papst Johannes XXIII. zugeschriebene Gebet, das als ein „Bußgebet kurz vor seinem Tod“ aus dem Jahr 1963 bezeichnet wird. Die Quelle ist nicht eindeutig belegt. 48 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Sendungstext zum Pfingstgottesdienst in der ev. Trinitatiskirche zu Köln am 4. 6. 2006 Anlässlich ihres Gottesdienstes am Pfingstsonntag 2006 in der ev. Trinitatiskirche zu Köln haben sich die hier versammelten Christinnen und Christen ihrer besonderen Nähe zu den Jüdinnen und Juden vergewissert, denen Gottes Bund und Verheißungen für Abraham, Isaak und Jakob gelten. Den folgenden Sendungstext, mit dem wir unseren Gottesdienst beschlossen haben, übergeben wir den jüdischen Gemeinden als Gruß und als Erklärung unserer Haltung zu dem jüngst auch in Köln wieder aufgebrochenen Thema der sog. Judenmission. 1. Ja zur Mission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung zur Mission, d.h. zur Lehr- und Lerngemeinschaft mit Menschen in aller Welt, und ggf. zu ihrer Besiegelung durch Taufe und verbindliche Lebensführung. 2. Nein zur Judenmission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung, jeder Form von organisierter Judenmission grund49 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission sätzlich entgegenzutreten und dadurch das besondere Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel anzuerkennen. 3. Aus dem besonderen Verhältnis Gottes zu dem Volk Israel folgt die Anerkennung des besonderen Verhältnisses zwischen Christen und Juden in aller Welt. 4. So und mit gleicher Eindeutigkeit, wie wir zu missionarisch verbindlichem Leben verpflichtet sind, so und mit gleicher Eindeutigkeit ist uns Mission an den Juden verwehrt. 5. Mit dieser Einsicht wenden wir uns entschlossen von unserer früheren judenmissionarischen Tradition ab und bitten alle evangelischen Kirchen, diese Abkehr mit gleicher Entschlossenheit und Eindeutigkeit zu vollziehen. Köln, am Pfingstsonntag, dem 4. Juni 2006 ___________________________________ Stadtsuperintendent Pfr. Ernst Fey ___________________________________ Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock ___________________________________ Akademieleiter Pfr. Marten Marquardt 50 B. Der Pfingstgottesdienst 2006 Köln, 8. Juni 2006 Zum ersten Mal geht eine Delegation aus einem christlichen Gottesdienst direkt in eine Synagoge Anfang dieser Woche, im Anschluss an den evangelischen Pfingstgottesdienst in der Trinitatiskirche im Filzengraben, überreichte eine Delegation von Kölner Protestanten zwei jüdischen Gemeinden in Köln einen Sendungstext. Die Delegation, unter Leitung von Stadtsuperintendent Ernst Fey, bestand aus Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Gottesdienstes und aus Ökumenepfarrer Dr. Martin Bock und Pfarrer Marten Marquardt, Leiter der Melanchthon-Akademie. Man überbrachte der Synagogen-Gemeinde in der Roonstraße und der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Köln-Riehl den Sendungstext „als Gruß und als Erklärung unserer Haltung zu dem jüngst auch in Köln wieder aufgebrochenen Thema der so genannten Judenmission“ . Der Sendungstext beinhaltet insgesamt fünf Punkte. „Ja zur Mission“, lautet der erste: „Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung zur Mission, das heißt zur Lehr- und Lerngemeinschaft mit Menschen in aller Welt, und gegebenenfalls zu ihrer Besiegelung durch Taufe und verbindliche Lebensführung.“ Zweitens heißt es: „Nein zur Judenmission: Wir verstehen und unterstreichen unsere Verpflichtung, jeder Form von organisierter Judenmission grundsätzlich entgegenzutreten und dadurch das besondere Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel anzuerkennen.“ In der Synagoge in der Roonstraße begrüßten Vorstand Dr. Michael Rado und Rabbiner Netanel Teitelbaum die Gesandtschaft. Er freue sich sehr über die öffentliche Thematisierung des Problems und über dessen Behandlung im Pfingstgottesdienst, sagte Rado eingangs des freundschaftlich-entspannten Gesprächs. Der Rabbiner dankte den Delegationsmitgliedern, dass sie an dem hohen christlichen Feiertag den Weg in die jüdische Gemeinde auf sich genommen hätten. Er dankte ihnen für die Initiative und die deutliche Stellungnahme, die von jüdischer Seite außerordentlich begrüßt werde. „Das tut sehr gut“, meinte Rado. 51 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Marquardt erläuterte die Entschließung. Das „Nein“ der evangelischen Landeskirche zur Judenmission sei unumstößlich. Diesen Standpunkt wolle die evangelische Kirche in Köln nun aus aktuellem Anlass noch einmal unterstreichen, öffentlich bekannt machen und zugleich einen Hinweis geben für andere evangelische Gemeinden und Gruppen. In den Räumen der Jüdischen Liberalen Gemeinde Köln „Gescher Lamassoret“ (Brücke zur Überlieferung) in der Stammheimer Straße wurden die Delegation (Stadtsuperintendent Ernst Fey konnte wegen anderweitiger Verpflichtungen zu seinem großen Bedauern dieses Mal nicht dabei sein) von Michael Lawton empfangen. Das Vorstandsmitglied dankte den Abgesandten des Kirchenverbandes für ihren Besuch. „Wir sind sehr berührt von dieser Botschaft“, sagte Lawton. Mit dem Gottesdienst und einem abschließend verlesenen Sendungstext reagieren Protestanten in Köln auf Hinweise aus der SynagogenGemeinde Köln. Diese hatte auf aktuelle judenmissionarische Aktivitäten der Freien Evangeliumsgemeinde in Köln-Rath/-Ostheim und der Siebenten-Tages-Adventisten aufmerksam gemacht. Beide christlichen Gruppierungen gehören weder zum Evangelischen Kirchenverband Köln und Region, noch zur Evangelischen Kirche im Rheinland oder zur römisch-katholischen Kirche. Weitere Informationen unter www.kirche-koeln.de Fotos von der Übergabe des Sendungstextes können Sie im Amt für Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Kartäusergasse 9-11, Telefon 0221/33 82-117, E-Mail: [email protected] anfordern. 52 C. Reaktionen auf den Gottesdienst Aus: ideaSpektrum 23/2006 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 54 C. Reaktionen auf den Gottesdienst 55 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Stellungnahme der MelanchthonAkademie zu Text und Leserbriefen in Idea Spektrum 23/2006 Martin Bock, Marten Marquardt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 56 Die Frage der Judenmission hängt entscheidend an der Frage, ob das rabbinische Judentum in Kontinuität mit dem biblischen Judentum gesehen wird oder nicht. Wer diese Kontinuität im Widerspruch zum Selbstverständnis des heutigen rabbinischen Judentums und zum Verständnis der paulinischen Gemeinden z. Z. des NT in Frage stellt, wird die Judenheit heute in die Reihe der Völker einordnen und entsprechend auch von einem „Missionsbefehl“ an Israel sprechen. Wer die Kontinuität des biblischen Israel mit dem rabbinischen Judentum annimmt, muss mit Paulus (Römer 9-11) anerkennen, dass die Tora und die Verheißungen unverändert für Israel gelten, auch post Christum. Die EKiR hat mit der Ergänzung ihrer Kirchenordnung im Jahr 1996 genau dieses Verständnis als verbindlich für die ev. Kirche im Rheinland erklärt: „Wir bezeugen die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält...“ Wenn auch das rabbinische Judentum post Christum und mit ihm das heutige Israel „Israel“ im biblischen Sinne ist, dann dürfen wir Israel nicht in die Reihe der Völker einordnen, denn es ist bis heute das Volk der Verheißungen, der Tora und der besonderen Aufmerksamkeit Gottes. Das ist die unzweideutige Aussage des Apostels Paulus (vgl. neben Römer 9-11 auch Eph 2). Dann kann es keinen Missionsbefehl geben, der „Juden und Heiden“ gleichermaßen beträfe. Wenn zudem der Evangelist Matthäus so eindeutig unterscheidet zwischen der Bezeichnung „laos“ für das jüdische „Volk“ und „ethnos“ für jedes andere Volk, und wenn Matthäus an keiner einzigen Stelle das Wort „ethnos“ (Volk) benutzt, wenn Israel gemeint ist, dann haben wir kein Recht, in Mt 28, 16-20 entgegen dem ganzen übrigen Sprachgebrauch im Matthäus-Evangelium unter „ethnä“ auch die Juden zu verstehen. Vielmehr ist aus dem ganzen übrigen C. Reaktionen auf den Gottesdienst Evangelium klar, dass Matthäus hier ausdrücklich Israel ausgenommen wissen will. 7. Der sog. Missionsbefehl gibt den Jüngern auf, alle Völker zu „lehren“. Dieser Lehrauftrag wird ausdrücklich auf dem „Berg“ erteilt. Jeder Zeitgenosse des Matthäus sollte verstehen und hat verstanden, dass es bei dieser Lehre um die Tora Israels geht, die wir den Völkern bringen sollen. Das ist im vollen Einklang mit Mt 23, 1-3: „Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht tun...“ – Der „Missionsbefehl“ trägt uns also auf, die Tora Israels in verbindlicher Weise ( d.h. so, dass wir als ‚Heiden aus den Völkern’ uns selbst verbindlich ihr unterstellen, soweit sie uns betrifft, vgl. z. B. die noachidischen Gebote!) zu lehren und zu tun. 8. Es hat durchaus keinen Sinn, dass wir „Heiden-Christen“ aus den Völkern dem Volk Israel die Tora Israels bringen sollten. 9. Die Praxis eines solchen zwanghaft aus Mt 28 herausgelesenen sog. Missionsbefehls auch gegenüber Israel ist durch ihre überwiegend zwanghafte Ausführung im Verlaufe der bisherigen Kirchengeschichte völlig desavouiert. Diese für unzählbar viele Juden in allen Generationen immer wieder auch tödlich verlaufene christliche Praxis erweist sich in ihrem Zwangs- und Gewaltcharakter als das Ergebnis einer zwanghaften Auslegung, wie sie bis jetzt viele Christen beherrscht hat. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von dieser Auslegung und der ihr folgenden Praxis endgültig verabschieden. 10. Selbstverständlich haben Juden – Gott sei Dank – zu Beginn unserer Kirchengeschichte andere Juden zu Jesus gerufen, sie gelehrt und auch getauft. Diesen jüdischen Zeugen Jesu Christi verdanken wir die Fundamente unseres Christentums. Wir danken Gott für diese Zeugen Jesu Christi. – Aber die seit dem 2. Jh. heidenchristlich dominierte Kirche hat die Judenchristen von Anfang an an den Rand der Kirche gedrängt und bald faktisch aus der Kirche ausgeschieden. 11. Selbstverständlich kann es auch heute noch, bzw. wieder jüdische Zeugen Christi geben, die unter Juden oder Heiden das Evangelium Christi bezeugen und verkörpern. 12. Selbstverständlich kann es auch heute geschehen, dass Christen oder Heiden aus den Völkern vom Zeugnis jüdischen Lebens derart angesprochen werden, dass sie sich auf den Weg des Mose geru- 57 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 13. 14. 15. 16. 17. 18. 58 fen finden, das Joch der Tora auf sich nehmen und zum Judentum übertreten wollen. Aber es kann und soll keine systematische Anstrengung unserer Kirche mehr geben, Juden aus ihrer jüdischen Welt herauszulösen, sie zum Christentum zu „bekehren“ und sie zu taufen. Wir können und wollen dem Geist Gottes nicht wehren, wo er weht. Aber wir können und wollen Gottes Erwählung und Verheißung für sein Volk auch nicht in Frage stellen durch eine dem verbindlichen Wort und Geist der Schrift des Alten und des Neuen Testaments zuwiderlaufende Mission an Israel. Der Apostel Paulus hat Juden und Christen einander zugeordnet als die, die auf einander angewiesen sind (Röm 11), die sich nicht von einander absetzen oder übereinander erheben sollen. Systematische Mission an den Juden unsererseits würde ebenso wie eine systematische Mission der Juden an den Christen dieses biblische Modell zerstören. Dazu haben wir auf beiden Seiten kein Recht. Da es seit der Antike keine systematische jüdische Mission unter den Heiden oder Christen gegeben hat, da aber umgekehrt das Heidenchristentum seit Jahrhunderten systematische Judenmission betrieben hat (und in Teilen noch immer betreibt), ist es nicht Sache der Juden, sondern der Christen, dieser falschen Praxis endgültig abzuschwören. Der sog. Missionsbefehl hat die Gestalt einer Doxologie, die in einen trinitarischen Lobpreis Gottes mündet. Aus diesem Lobpreis Gottes wird der Auftrag zur Weltmission begründet. Der Sinn der trinitarischen Doxologie ist aber gerade der, dass die Gemeinde Jesu einstimmen kann in das Gotteslob des Volkes Israel, wie es in den Psalmen Israels vorgegeben und von Jesus und Paulus uns weitergegeben ist. Gerade die trinitarisch ausgeführte Doxologie weist uns darauf, dass wir als Christen aus der Heidenwelt, den Gott Israels und keinen anderen meinen, anbeten und lobpreisen. So werden wir aus Antipoden zu Weggefährten der Juden. Mit den offensichtlich kommunikationsverweigernden Epitheta „antisemitische Diskriminierung“, „Funktionäre der rheinischen Kirche“, „religiöse Sekte, von der sich Christen zu trennen haben“ befassen wir uns hier nicht; sie sprechen in ihrer Tonart für sich selbst. Aber auf eine wiederholt auftauchende Redewendung wollen wir hier eingehen: „die den Juden das Evangelium von Jesus vorenthalten wollen“. – Vorenthalten kann ich einem anderen nur etwas, C. Reaktionen auf den Gottesdienst worüber ich selber verfüge, oder das, was ein anderer rechtmäßig besitzt, dem ich diesen Besitz aber verweigere. Weder verfügt aber die Kirche über das Evangelium, noch klopfen Juden an unsere Kirchentür, die das Evangelium haben wollen und denen wir es nicht herausgeben wollten. Es geht ja gerade nicht um einen jüdischen Wunsch, den wir großzügig erfüllen oder verweigern könnten. Es geht vielmehr um einen christlichen Wunsch, die Juden möchten doch endlich unsere Wahrheit anerkennen, indem sie sich taufen lassen. – Die Redeweise vom angeblichen „vorenthalten“ suggeriert also einen gänzlich anderen Sachverhalt. Und natürlich impliziert unser Nein zur organisierten und systematischen Judenmission nicht, dass wir der Bitte eines Juden nach Erklärung unseres Glaubens nicht nachkommen sollten (1.Petr. 3, 15)1. Wir wenden uns lediglich gegen den unsererseits geförderten christlichen Drang, Juden die Verheißungen und den ungekündigten Bund abzusprechen, sie auf eine Stufe mit anderen Religionen und Weltanschauungen, mit Atheismus und Heidentum zu stellen. Dies gehört unseres Erachtens zentral zur „Rechenschaft über die Hoffnung, die in uns ist“ (1. Petr. 3, 15) und zum „Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber“ (Rhein. Synodalbeschluss). Dem Volk Israel gelten der Bund, die Verheißungen und die unveränderte Liebe und der noch immer präsente Auftrag (Missio Iudaica) Gottes; und wir sind durch Gottes Gnade und Christi Bund aufgefordert, uns an der Seite der Juden diesem Auftrag (Mission) anzuschließen. 19. Die Differenzierung, nach der zwar „deutsche Christen“ heute nicht die Aufgabe der Judenmission hätten, dafür aber die anderen, fällt hinter die Erkenntnis zurück, dass die Schoah nicht nur das Ergebnis eines historischen Betriebsunfalls der deutschen Geschichte war, sondern dass sie durch die Jahrtausende alte christliche Judenfeindschaft entscheidend mit vorbereitet war. Die entsprechenden Erkenntnisse und Bekenntnisse so vieler Kirchen werden mit einer solchen Argumentation einfach übergangen. Wer so argumentiert, unterläuft und widerruft die entsprechenden christlichen Schuldbekenntnisse.2 Das ist theologischer Revisionismus. Darum sollten die Autoren solcher Argumente offen aussprechen, dass und was sie alles wieder zurücknehmen wollen. 1) H. Kremers, Judenmission heute?, Neukirchen 1979, S. 78f 2) Vat. II, EKD, Christen und Juden I, II, III , 1975-2000 .... 59 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 20. Zu den „Tönen aus Köln“ (J. Blunck): Als Kölner Protestanten ist uns eine besondere geschichtliche Verantwortung mit dem Thema Judenmission bewusst: In Köln wurde im Zuge der Erweckungsbewegung 1842 der Rheinisch-Westfälische Verein für Israel gegründet, als einer von vielen Judenmissionsvereinen innerhalb der evangelischen Kirche. In diesen Vereinen wurde eine große Liebe zum Volk Israel, zum Alten Testament, zur rabbinischen Auslegung der Bibel und auch ein großes Interesse am Fortgang der zeitgenössischen jüdischen Geschichte gepflegt, die wir bis heute zu würdigen wissen. Aber die Judenmissionsvereine sind zugleich Einfallstor für einen (s.o.) lange gepflegten kirchlichen Antijudaismus und Ausdruck einer theologischen Besitzergreifung, die das besondere „Amt Israels“ (M. Buber) nicht wirklich wahrgenommen hat. In unseren Augen muss sich das besondere Verhältnis der Kirche zu Israel heute anders, d.h. dialogisch und im Respekt vor dem WEG Gottes mit seinem Volk und vor der Gegenwart Gottes in und mit seinem Volk, darstellen. 21. Zum Vorwurf der Zurücknahme des Solus Christus: Nach dem Zeugnis des Paulus in 2. Kor 1,20 ist in Christus „das Ja auf alle Gottesverheißungen“. Gerade um Christi Willen müssen wir die besondere Wirklichkeit Israels, das die Gottesverheißungen empfangen hat, sie im Joch der Thora und in der messianischen Erwartung eines ‚neuen Himmels und einer neuen Erde’ bewahrt und sie in der Person des Juden Jesus von Nazareth „bereitet hat vor allen Völkern“ (Luk 2,31)‚ ernst nehmen und anerkennen. Wie kämen wir Heidenchristen dazu, Christus allein gegen Israel ins Feld zu führen, die Liebe des Sohnes gegen die Liebe des Vaters?! – Die Trinitätslehre hat doch – wenn auch mit zweifelhaften Mitteln – gerade das versucht, dass wir den Sohn nicht gegen den Vater, den neuen Bund nicht gegen den alten, also unser Heidenchristentum nicht gegen das Judentum, auch nicht als Keil zwischen Judentum und Judenchristentum ausspielen dürfen. Um des trinitarischen Lobpreises willen können wir nicht Ja zur Judenmission als einem organisierten Widerspruch gegen den Weg Israels und Gottes Bund mit diesem Volk sagen. 60 C. Reaktionen auf den Gottesdienst 61 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 62 Das „Gemeindeblatt der Synagogen-Gemeinde Köln“ 6/2006 berichtet auf Seite 32: C. Reaktionen auf den Gottesdienst 63 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Reaktionen aus den Gemeinden Alle Presbyterien und Kirchengemeinden waren eingeladen sich vor oder nach dem Pfingstgottesdienst mit dem Thema zu befassen und auf geeignete Weise zu reagieren. Einige Presbyterien im Bereich des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region haben sich mit dem sog. „Sendungstext“ aus dem Pfingstgottesdienst befasst und haben dazu Beschlüsse formuliert. Schriftliche Rückmeldungen haben wir aus drei Presbyterien bekommen: • • • 64 Als erstes hat sich demnach das Presbyterium der Evangelischen Matthäus-Kirchengemeinde Hürth bereits am 10. 5. 2006 mit unserer Einladung beschäftigt und beschlossen: „Wir sagen Nein zur Judenmission“. Am 16.5. 2006 hat das Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Pulheim sich mit der Einladung zum Pfingstgottesdienst befasst und beschlossen: „Das Presbyterium stimmt einstimmig den Punkten 1-5 des Entschließungstextes zu“. Das Presbyterium der Gemeinde Lindenthal arbeitet in seiner Sitzung vom 18. 5. 2006 an dem gleichen Thema, und macht „sich folgende Erklärung zu Eigen“. Es folgend die fünf Punkte des sog. Entschließungstextes. D. Das Seminar im November 2007 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Nein zur Judenmission 1 Klaus Wengst 1. Einführende Überlegungen zur Frage, ob das Neue Testament christliche Judenmission verlangt Nach Apostelgeschichte 4,12 sagt der Jude Petrus im Synhedrium in Jerusalem, also vor ausschließlich jüdischen Ohren, im Blick auf Jesus Christus: „Und Rettung gibt es in keinem anderen, noch ist ja auch irgendein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir gerettet werden sollen.“ Nach Römer 9,3 „wünschte“ der Jude Paulus, „selbst verflucht und so von Christus getrennt zu sein zugunsten meiner Geschwister, meiner Landsleute der Abstammung nach“. Nach Johannes 14,6 sagt Jesus: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Muss angesichts dessen die Frage, ob das Neue Testament christliche Judenmission verlange, nicht mit einem klaren und schlichten „Ja“ beantwortet werden? Das scheint sich aufzudrängen - und wäre dennoch ein Kurzschluss, der das Licht des biblischen Zeugnisses in seiner ganzen Fülle zum Erlöschen brächte. Statt einer schnellen Antwort ist daher zunächst ein Bedenken dieser Frage angebracht. Der Begriff „christliche Judenmission“ - und auch die mit ihm gemeinte Sache - setzt voraus, dass sich Christentum und Judentum als zwei unterschiedliche Religionen gegenüberstehen. Niemand kann gleichzeitig in beiden Mitglied sein. Die offizielle jüdische Position mag uns sehr schmerzen: Ein Jude, der sich zu Jesus Christus bekennt, ist kein Jude mehr, sondern bewegt sich damit außerhalb des Judentums. Das ist gewordene historische Realität - eine Realität, zu der am meisten das Verhalten des Christentums gegenüber dem Judentum beigetragen hat. Denn die mächtig gewordene Kirche aus den Völkern hat Situationen geschaffen, in denen das ausdrückliche Nein von Jüdinnen und Juden zu Jesus Bedingung war für ihre Treue zum Juden- 1) Den folgenden Text hat uns der Referent zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Er entspricht dem § 10 „Die Nagelprobe: Nein zur Judenmission“ der zweiten Auflage seines Buches „Jesus zwischen Juden und Christen“, Stuttgart 2004 66 D. Das Seminar im November 2007 tum und damit zu Gott als dem Gott Israels.2 Ich halte fest: Es muss als Realität anerkannt werden, dass Judentum und Christentum zwei unterschiedliche Größen sind und dass niemand gleichzeitig Mitglied einer Kirche und einer jüdischen Synagogengemeinde sein kann. Das ist eine grundsätzlich andere Situation als zu der Zeit, über die die neutestamentlichen Schriften schreiben und in der sie geschrieben wurden. In seiner Entstehungsphase war „das Christentum“ - wie im vorigen Paragraphen deutlich geworden ist - nichts sonst als ein Teil des Judentums. Der entscheidende Unterschied zwischen der heutigen Situation und der im ersten Jahrhundert ist der, dass die Gruppen, die sich auf Jesus als Messias bezogen, ganz aus Juden bestanden oder „Kirche aus Juden und Menschen aus den Völkern“ waren, in der also Juden als Juden leben konnten. Wie sich ebenfalls im vorigen Paragraphen zeigte, begann sich diese Situation in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts grundlegend zu ändern. Jüdinnen und Juden wurde es in der Kirche zunehmend unmöglich gemacht, jüdisch zu leben. Judentum und Christentum wurden zu zwei einander ausschließenden Religionen. Die Alte Kirche hat ihren Bezug auf Israel, der ihr durch die kanonische Schriftgrundlage vorgegeben ist, so interpretiert, dass sie sich selbst als das „wahre Israel“ behauptete und sich also an Israels Stelle setzte, die Geschichte Israels als ihre Vorgeschichte reklamierte, dem weiter existierenden Judentum das Israelsein absprach, es als verstockt und defizitär verstand und sich daher auch zur Mission ihm gegenüber genötigt sah. Das aber heißt: Die Selbstbehauptung der Kirche aus den Völkern als das „wahre Israel“ und „christliche Judenmission“ sind zwei Seiten derselben Medaille. Wird aber die Vorstellung, dass die Kirche Israel abgelöst und ersetzt habe, hinterfragt, steht auch „christliche Judenmission“ in Frage. Dass solche Infragestellung geschieht, dafür sprechen gewichtige, gerade auch aus dem Neuen Testament - und natürlich aus der ganzen Bibel - gewonnene Einsichten. 2) Dass auf der anderen Seite - vom Christentum aus gesehen - zugleich aber auch gilt, dass Judentum keine Religion wie jede andere ist, dass es schlechterdings nicht unter „Fremdreligionen“ abgehandelt werden kann, dass es für Christen, wenn sie sich mit dem Judentum beschäftigen, zugleich um ihr eigenes Selbstverständnis geht, ist in diesem Büchlein schon mehrfach deutlich geworden und sei jetzt nur noch einmal angemerkt. 67 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission 2. Die Erkenntnis der Treue Gottes zu seinem Volk Israel Die Behauptung der Kirche, das „wahre Israel“ zu sein, machte das faktisch existierende Judentum zum „falschen Israel“. Daraus speiste sich immer wieder theologisch begründete Judenfeindschaft. Aus der Einsicht in diesen Zusammenhang wurde in den letzten vierzig Jahren das Modell, die Kirche habe Israel ersetzt, immer stärker in Frage gestellt und positiv hervorgehoben, dass Gott Israel als sein Volk erwählt hat und - da er ein treuer Gott ist - es auch nicht fallen lässt. Besonders Aussagen des Paulus aus den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefes kamen und kommen zur Wirkung. So trägt etwa die Hauptvorlage 1999 der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Verhältnis der Kirche zum Judentum programmatisch als Titel den Satz aus Römer 11,2: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“ Wer die Stelle dort nachsieht, könnte ein Argument dagegen finden, diesen Satz als Überschrift der Hauptvorlage zu verwenden. Denn in den Versen 1 bis 10 argumentiert Paulus mit dem Restgedanken, angewandt auf Juden seinesgleichen, also solche, die Jesus für den Messias halten. Danach beginnt er jedoch eine neue Argumentation, die auf die grundlegenden Aussagen in Römer 11,2829 hinführt. In V.28 nimmt Paulus seine jüdischen Landsleute unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten in den Blick: „In Hinsicht auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen, in Hinsicht auf die Erwählung aber sind sie Geliebte um der Väter willen.“ Beide Gesichtspunkte stehen nicht einfach nebeneinander. Sie werden durch „zwar - aber“ unterschiedlich gewichtet. Was mit „zwar“ eingeführt wird, ist gewiss auch zu sagen. Aber darauf liegt nicht das Gewicht; es wird sozusagen nur eben eingeräumt. Das Gewicht liegt auf dem, was mit „aber“ folgt. Das Erstaunliche ist nun, dass in diesem Zusammenhang das weniger Gewichtige das Evangelium ist, also die Verkündigung von Jesus Christus. Das aber heißt: Wenn es um Israel, wenn es um die Juden geht, ist nicht das Evangelium der entscheidende Gesichtspunkt. In Hinsicht darauf, sagt Paulus sehr hart, sind sie zwar Feinde. Damit jedoch fängt er sofort etwas Positives an, indem er hinzufügt: „um euretwillen“. Dahinter steht die im elften Kapitel des Römerbriefes mehrmals eingespielte historische Erfahrung, dass die Verkündigung von Jesus als Messias überhaupt erst aufgrund ihrer Erfolglosigkeit bei der 68 D. Das Seminar im November 2007 jüdischen Mehrheit außerhalb des jüdischen Volkes gelangte und dort Anklang fand. Im Blick auf die Charakterisierung der das Evangelium nicht akzeptierenden Juden als „Feinde“ wäre allerdings weiter zu fragen, an was Paulus dabei konkret denkt. Kann er damit etwas anderes meinen als das, was er selbst vor seiner Berufung zum Apostel für die Völker getan und was er dann als so berufener Apostel etliche Male von der Mehrheit seiner Landsleute erfahren hat? In 2. Korinther 11,24 erwähnt er, dass er fünfmal die „Vierzig weniger einen“ bekommen habe, also die synagogale Prügelstrafe. Die Feindschaft, von der Paulus spricht, äußert sich also in konkreten Strafmaßnahmen innerhalb des Bereichs der Synagoge. Von diesen Erfahrungen her nennt Paulus „in Hinsicht auf das Evangelium“ seine Landsleute „Feinde“. Das sind jedoch schon lange nicht mehr unsere Erfahrungen. Feindschaft hat sich vielmehr jahrhundertelang in umgekehrter Richtung und in ganz anderen Dimensionen ereignet. Daher meine ich, dass wir eine solche Aussage des Paulus aus dem ersten Jahrhundert nicht nachsprechen dürfen. Als die in dieser Frage wichtigere Perspektive führt Paulus an: „In Hinsicht auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.“ Er begründet das sofort in V.29: „Denn unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes.“ Weil Gott Abraham, Isaak und Jakob berufen hat und weil er ein treuer Gott ist, gilt das in dieser Generationenfolge Zugesagte auch weiterhin. Wir können also von Paulus lernen: Wenn es um Israel geht, ist nicht das Evangelium von Jesus Christus das entscheidende Kriterium. Unter dem Gesichtspunkt des erwählenden Handelns Gottes, der Bindung Gottes an sein Volk, gerät es in eine ganz andere Perspektive. Sie ermöglicht es, die Fixierung auf die Frage aufzubrechen, ob Jesus der Messias ist oder nicht – eine Fixierung, die in der Geschichte der Kirche nicht nur ein wirkliches Gespräch mit Juden von vornherein unmöglich gemacht, sondern auch viel Unheil angerichtet hat. Sie macht vielmehr frei für die Erkenntnis, dass Israel seinerseits auf die Treue Gottes mit Treue zu antworten sucht. Die Gnadengaben, die Paulus in Römer 9,4-5 aufzählt, sieht er seinen nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleuten unverbrüchlich zugesprochen (vgl. 11,29). Einiges davon bezieht er an anderen Stellen auf Jesus und durch ihn vermittelt auch 69 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission auf die Menschen in den christusgläubigen Gemeinden.3 Sie haben diese Gaben durch den Messias Jesus, Israel hat sie ohne ihn. Aber gibt nicht Paulus in Römer 9,1-2 seinem großen Schmerz darüber Ausdruck, dass seine Landsleute in ihrer großen Mehrheit nicht so glauben wie er? Wünschte er nicht gar in V.3, „selbst verflucht und so von Christus getrennt zu sein zugunsten seiner Geschwister“? Gewiss, das tut er. Das Erstaunliche ist jedoch in meinen Augen, dass er trotz dieses Schmerzes und trotz dieses Wunsches die dargelegten positiven Aussagen über seine nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleute machen kann. Warum liegt Paulus eigentlich so daran, die bleibende Gültigkeit der Erwählung Israels durch Gott und also die Treue Gottes zu betonen? Daran hängt die eigene Gewissheit derer, die sich an Jesus Christus festmachen. Denn bevor Paulus diesen Zusammenhang Römer 9 bis 11 beginnt, endet ja Römer 8 mit der emphatischen Aussage: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Schöpfung uns trennen kann von der Liebe Gottes in Jesus Christus, unserem Herrn.“ Man könnte ja fragen, wieso diese Gewissheit gelten sollte, wenn Gott seine Zusagen gegenüber seinem Volk Israel nicht eingehalten hätte. Wenn Gott sich in seinen Zusagen vom Verhalten derer abhängig machte, denen er sich zusagt, wie sollte dann ausgerechnet die Kirche Gewissheit haben? Es ist ja keinesfalls ohne Anhalt an der Geschichte, wenn gesagt wurde, dass mit keiner bekannten Organisation so viele Verbrechen verbunden sind wie mit der Kirche. Wenn wir dennoch und ich denke: zu Recht - in Anspruch nehmen: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes in Jesus Christus“, dann gilt erst recht, was Gott Israel zugesagt hat, wie es etwa Jesaja 54,10 heißt: „Ja, die Berge werden weichen und die Hügel wanken, aber meine Freundlichkeit wird nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht, wer sich deiner erbarmt: Adonaj.“ Also gilt, was Paulus in Römer 11,2 sagt: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“ Was Paulus hier sagt, ist nicht seine freie Erfindung und eigene Behauptung, sondern das weiß er aus seiner jüdischen Bibel. In Psalm 94,14-15 heißt es: „Ja, nicht wird Adonaj sein Volk verstoßen noch sein Erbteil verlassen. Ja, zur Gerechtigkeit wird das Recht zurückkehren, und ihm 3) Für die „Sohnschaft“, die Gotteskindschaft, ist das o. in § 6 Abschnitt 4c gezeigt worden. 70 D. Das Seminar im November 2007 werden alle folgen, die aufrechten Herzens sind.“ Was eine Aussage gewisser Hoffnung in seiner Bibel ist, dass Gott sein Volk nicht verstoßen wird, hat Paulus angesichts des Hochmuts nichtjüdischer Christusgläubiger, der die Juden verstoßen sah, umgewandelt in eine Aussage in Vergangenheitsform: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“ Dass Gott treu ist, ist eine Grundaussage der Bibel. Deshalb ist sein Bund mit seinem Volk Israel ungekündigt. Diese Aussage findet sich daher auch in allen neueren kirchlichen Erklärungen zum Thema. 3. Der in der Bibel bezeugte Gott ist der Gott Israels und bleibt es auch als Vater Jesu Christi Wenn es denn gilt, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, dass er also Gott nur sein will mit seinem Volk Israel, ist damit als wesentliche Aussage über Gott gemacht, dass er eben der Gott Israels ist. Indem die Kirche an der jüdischen Bibel als dem ersten Teil ihres Kanons festhält, bleibt sie auch bezogen auf Gott als den Gott Israels. Wer Gott ist, darf daher in der Kirche nicht ausschließlich von Jesus Christus her bestimmt werden. Wir müssen wegkommen von falschen Vorstellungen derart, als sei Gott vor Jesus Christus unbekannt und unerkannt gewesen und erst durch ihn offenbart worden - jedenfalls, wie er „eigentlich“ sei. Wo immer noch in solcher Weise gedacht und also Gott ausschließlich von Jesus Christus her bestimmt wird, ergibt sich sehr schnell theologische Israelvergessenheit, weil Gott dann eben nicht mehr als Gott Israels wahrgenommen wird. Und auch das Judesein Jesu gerät alsbald aus dem Blick zugunsten einer allgemeinen Rede von der Menschwerdung Gottes. Denn Jesus lässt sich nicht isoliert als Jude wahrnehmen, sondern nur in der Gemeinschaft mit seinem Volk. Wir haben am Beispiel Luthers gesehen: Wo Gott ausschließlich von Jesus Christus her beschrieben wird, ergibt sich notwendig theologische Judenfeindschaft.4 Denn da können die Juden, weil sie diesen einen, dann alles entscheidenden Punkt nicht akzeptieren, theologisch nur 4) Vgl. o. § 6 Abschnitt 4b. 71 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission negativ als Leugner wahrgenommen werden. Demgegenüber wäre zu betonen, dass der erste Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses nicht vom zweiten aufgesogen werden darf, sondern der zweite dem ersten zugeordnet werden muss. Für seine Behauptung, dass die Juden Gottesleugner seien, hat sich Luther selbstverständlich auf Aussagen des Neuen Testaments berufen, besonders auf Stellen des Johannesevangeliums, die ich den johanneischen Umkehrschluss nenne.5 Die exklusiven Aussagen über Jesus in diesem Evangelium sind in einem innerjüdischen Konflikt formuliert worden und sollten eine bedrängte Minderheit der Gegenwart Gottes in Jesus vergewissern. Wenn wir solche Aussagen aufnehmen, dürfen wir nicht davon absehen, dass wir weder in einem innerjüdischen Konflikt leben noch eine bedrängte Minderheit sind, sondern müssen dabei die veränderte eigene Situation und die Geschichte, die zu ihr führte, mitbedenken. In diesen Zusammenhang gehört auch Johannes 14,6, wonach Jesus sagt: “Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Ich kann diesen Vers heute - in meiner veränderten Situation - nicht anders verstehen, als ihn der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig in seinem berühmt gewordenen Brief vom 1. November 1913 an seinen zum Christentum konvertierten Vetter Rudolf Ehrenberg verstanden hat. Er gesteht zu: „Es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel“. Er fügt in Klammern hinzu: „nicht des einzelnen Juden“.6 Ich finde diesen Klammerzusatz höchst beachtlich. Mit ihm konnte es Rosenzweig respektieren, dass Ehrenberg, der seiner religiösen Tradition entfremdet war, durch Jesus Christus den Weg zum Vater gefunden hat. Ich frage, ob wir es respektieren können, daß Rosenzweig mit seinem Volk beim Vater geblieben ist. 5) Vgl. o. § 6 Abschnitt 4a. 6) Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher I (1900-1918), hg.v. Rachel Rosenzweig u. Edith Rosenzweig-Scheinmann, 1979, S. 135. 72 D. Das Seminar im November 2007 4. Judentum darf und kann nicht als defizitär gegenüber dem Christentum beschrieben werden Es ist in der christlichen Tradition ein beliebtes Schema, das Neue Testament gegen das Alte Testament auszuspielen. Dem Neuen Testament kommen dann Gnade und Liebe zu, dem Alten Gerechtigkeit, Gericht und Vergeltung, dem Neuen das Evangelium, dem Alten das Gesetz, dem Alten die Verheißung, dem Neuen die Erfüllung. Was gut ist am Alten Testament, münde ins Neue und finde sich dort klarer und besser. Die jüdische Tradition habe dieses Gute nicht verstanden; auf ihr als dunkler Folie können dann vor allem Jesus und Paulus um so leuchtender abgehoben werden. Diese jetzt gewiss nur grob dargestellte Sicht entspringt auch in ihren Feinheiten nichts sonst als christlichem Hochmut und christlicher Ignoranz. Wir müssen uns fragen, was es bedeutet, dass wir unsere Glaubenserfahrungen, die wir in Jesus Christus machen, ganz und gar mit alttestamentlichen Texten beschreiben können. Daraus ergibt sich auch, dass diese Glaubenserfahrungen schon vorher - also ohne Jesus - in Israel gemacht wurden und dass sie auch weiterhin im Judentum - also wiederum ohne Jesus - gemacht werden. Ich erinnere an die schon zitierte Aussage, wie sie in Jesaja 54,10 als Anrede Gottes an Israel steht und die wir doch so gerne auch uns gesagt sein lassen: „Ja, die Berge werden weichen und die Hügel wanken, aber meine Freundlichkeit wird nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht, wer sich deiner erbarmt: Adonaj.“ Oder: Die bei Christen so beliebte Aussage aus Jesaja 43,1, verwendet als Spruch zu Taufe, Konfirmation und Beerdigung, ist nach dem biblischen Zusammenhang Zusage Gottes an Israel: „Und jetzt, so spricht Adonaj, der dich, Israel, geschaffen, dich, Jakob, gebildet hat: Fürchte dich nicht, ich habe dich doch befreit; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Wer will den traurigen Mut aufbringen, diese Zusage - an jedem ersten Schabbat im Jahreszyklus als Prophetenlesung in jeder Synagoge der Welt gelesen - ließen sich Jüdinnen und Juden zu Unrecht gesagt sein, weil sie in Jesus nicht den Messias erkennen können? Oder: Was bedeutet es, dass Luther das Evangelium von der Rechtfertigung in der Vorlesung über die Psalmen entdeckte? Doch dies, dass das, was er da erkannte, in den Psalmen da ist und weiter wirkt, wenn 73 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission sie von Jüdinnen und Juden gebetet werden. „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat! ... Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte... Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, läßt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. So fern der Morgen ist vom Abend, läßt er unsre Übertretungen von uns sein. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten“ - um nur einige Verse aus Psalm 103 in der Übersetzung Luthers zu zitieren (V.2-3.8.10-13). Aus Gottes ungeschuldeter Barmherzigkeit erfolgende Sündenvergebung wurde in Israel lange vor Jesus und wird im Judentum lange nach Jesus bis heute erfahren. Wieder frage ich: Wer will den traurigen Mut aufbringen zu behaupten: Weil in Matthäus 1,21 im Blick auf Jesus steht, er werde „sein Volk retten von ihren Sünden“, und Jüdinnen und Juden Jesus nicht beanspruchen, sei das, was etwa am Versöhnungstag in den Synagogen geschieht und dort als Sündenvergebung erfahren wird, ungültig? Ich könnte fortfahren und an Texten der jüdischen Bibel und der jüdischen Tradition aufzeigen: Was wir durch Jesus Christus an Vertrauen auf Gott gewinnen, an Vergebung der Sünden, an Erbarmen und Rechtfertigung erfahren, kennt und erfährt das Judentum in Vergangenheit und Gegenwart auch ohne Jesus. Ich will dafür nur noch ein Beispiel aus unserer Gegenwart nennen. Was bedeutet es, das im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 237 im Abschnitt über Beichte - also im theologischen Zentrum, wo es um Schuld und Vergebung und unbedingtes Vertrauen auf den barmherzigen Gott geht - das Gedicht eines Juden, nämlich Schalom Ben-Chorins, steht? „Und suchst Du meine Sünde, flieh ich von Dir zu Dir, Ursprung, in den ich münde, Du fern und nah bei mir. Wie ich mich wend und drehe, geh ich von Dir zu Dir; die Ferne und die Nähe sind aufgehoben hier. 74 D. Das Seminar im November 2007 Von Dir zu Dir mein Schreiten, mein Weg und meine Ruh, Gericht und Gnad, die beiden bist Du - und immer Du.“ Wir können dieses Gedicht nachsprechen und es als Lied im Gottesdienst singen, weil wir darin unsere durch Jesus Christus vermittelten Erfahrungen ausgedrückt finden. Das sind dann ganz offensichtlich dieselben Erfahrungen - Erfahrungen im innersten Zentrum der Existenz vor Gott -, die Juden ohne die Vermittlung durch Jesus Christus machen.7 Unser Bekenntnis, dass Jesus für alle gestorben und auferstanden ist, muss und darf nicht die Annahme zur Konsequenz haben, Juden fehle etwas, wenn sie das nicht für sich beanspruchen. Weil es sich so verhält, müssen wir es akzeptieren, dass Jüdinnen und Juden die Verkündigung Jesu als Messias für ihr Heil nicht als nötig erachten. Man kann und muss auch umgekehrt fragen, was denn der Messias Jesus dem Judentum bisher gebracht hat, und darf dann nicht die Augen davor verschließen, dass mit ihm eine schreckliche Leidensgeschichte für das Judentum verbunden ist. Es hilft in diesem Zusammenhang wenig, darauf hinzuweisen, dass das Juden von Christen zugefügte Unrecht nicht im Gehorsam gegenüber Jesus Christus geschah, sondern im Widerspruch zu ihm. So leicht kommen wir nicht davon. Denn die Kirche und Jesus Christus sind nicht so leicht zu trennen wenn anders nach Paulus die Kirche „Leib Christi“ ist, messianische Verkörperung, und Dietrich Bonhoeffer deshalb von „Christus als Gemeinde existierend“ sprechen konnte.8 Lassen wir den Schrecken darüber, wie die Kirche Christus den Juden hat begegnen lassen, wirklich an unser Herz heran, werden wir gegenüber dem Judentum erst 7) Mein Bochumer Kollege Ansgar Franz, Liturgiewissenschaftler in der Kath.-Theol. Fakultät, weist mich auf ein Gebet für die Feier der Osternacht hin (Das vollständige Römische Meßbuch lateinisch und deutsch, Freiburg XXXX, S. 418; Der große Sonntags-Schott, Freiburg u.a. XXXX, S. 230), nach dem auch für Christen das Heil nicht über Israel hinausgeht. Das Höchste, worauf gehofft wird, ist ein Übergang zur „Würde Israels“: „Gott, dessen uralte Wunder wir auch zu unseren Zeiten herüberblitzen sehen, wenn du das, was du einem einzigen Volk zur Befreiung aus der ägyptischen Verfolgung durch die Macht deiner Rechten gewährt hast, zum Heil der Völker durch das Wasser der Wiedergeburt wirkst: Gewähre, dass zur Abrahamssohnschaft und zur Würde Israels (in Israeliticam dignitatem) die Fülle der ganzen Welt übergehe. Durch Christus, unsern Herrn“ (Übersetzung Franz). 8) Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, hg.v. Joachim von Soosten, München 1986, S 76 und öfter. 75 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission einmal schweigen und nicht ungefragt reden und endlich darauf hören, was es selbst zu sagen und zu bezeugen hat. Gewiss, es gibt Konversionen vom Judentum zum Christentum. Wenn Jüdinnen und Juden Jesus Christus für sich in Anspruch nehmen wollen - wer bin ich, dass ich ihnen das verbieten könnte und dürfte? Aber ich werde daraus keinen ideologischen Honig saugen, indem ich behaupte, der Weg vom Judentum zum Christentum sei sozusagen der natürliche. Ich lasse mir auch umgekehrt von Christinnen und Christen, die zum Judentum konvertieren, aufgrund dessen nicht einreden, also sei mein Christentum ein bedauerlicher Irrtum. Ich respektiere Konversionen als persönlich verantwortete Entscheidungen und habe sie nicht zu beurteilen und werte sie weder so noch so als „Argumente“. Für mich selbst erscheint mir eine Konversion zum Judentum aus den folgenden beiden wesentlichen Gründen nicht vorstellbar: Erstens bin ich getauft und habe es deshalb nicht nötig, mich beschneiden zu lassen. Ich bin durch Jesus Christus nicht in den Bund Gottes mit seinem Volk Israel hineingekommen, sodass er mir nach erfolgter Mittlerschaft entbehrlich würde. Ich bin in die Kirche als den Leib Christi getauft und habe so – in dieser bleibenden Christusverbundenheit - meine gültige Beziehung zu Gott, dem einen Gott, der Israels Gott ist. Zweitens stehe ich als Christ und als Deutscher in einer geschichtlichen Verantwortung gegenüber dem Judentum. Ich habe mir diesen Platz nicht ausgesucht; allein durch meine Existenz bin ich an ihn gestellt. Diese Verantwortung muss und will ich wahrnehmen. In diesem Gegenüber durch Konversion auf die andere Seite zu wechseln, erschiene mir als Versagen vor der mir aufgegebenen Verantwortung und als Flucht vor ihr. Wenn also Judentum gegenüber dem Christentum nicht als defizitär beschrieben werden kann und darf, was ist dann das Neue am Neuen Testament? Es ist schlicht dies, dass wir Menschen aus den Völkern - ohne jüdisch werden zu müssen - durch Jesus Christus im heiligen Geist uns von den Götzen abwenden können und dem einen Gott, dem Gott Israels, zuwenden dürfen, um einzustimmen in sein Lob und teilzuhaben an der Hoffnung, die er schenkt. Aber noch einmal: Verlangen nicht Zeugnisse des Neuen Testaments, Jesus Christus auch gegenüber Juden zu verkündigen? Petrus, Paulus und andere Juden in neutestamentlicher Zeit haben das getan; für sie war das selbstverständlich. Und so wird rhetorisch gefragt, was sie wohl zu dem im vorangehenden Ausgeführten sagen würden. Stellt man sich vor, sie wären damit in ihrer Zeit konfrontiert worden, hätten sie mit 76 D. Das Seminar im November 2007 Unverständnis reagiert - wie Mose im Lehrhaus Rabbi Akivas.9 Setzt man aber voraus, sie hätten die Erfahrungen der inzwischen abgelaufenen Geschichte gemacht, müssten auch sie nachdenken, was nun zu sagen wäre. Das zu wiederholen, was sie damals gesagt haben, wäre in dieser völlig anderen Situation nicht mehr dasselbe. Das aber heißt: Wir müssen uns schon selbst darum bemühen, wie ihre Aussagen heute gesagt werden können und müssen. Wir sprechen doch auch etwa Johannes 8,44, „die Juden“ seien die Kinder des Teufels, und die Verwünschung von Matthäus 27,25, Jesu Blut komme auf das jüdische Volk, nicht nach, sondern suchen diese Stellen aus ihren historischen Entstehungsbedingungen zu verstehen und damit auch zu relativieren - weil wir sie schlechterdings nicht nachsprechen dürfen. Es ergäbe sich sonst im Falle von Matthäus 27,25 die Ungeheuerlichkeit, den Massenmord am europäischen Judentum durch Deutschland als Strafe Gottes für „den Unglauben der Juden“ gegenüber Jesus als Messias zu „erklären“. Paulus hatte die Funktion der christusgläubigen Menschen aus den Völkern gegenüber seinen nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleuten so beschrieben, dass sie diese zur Eifersucht reizen sollten (Römer 11,11.13-14). Die Kirche aus den Völkern ist gegenüber Israel über viele Jahrhunderte hin kein Ort der freundlichen Herausforderung gewesen, sondern eine Quelle der Angst und des Schreckens. Es gibt gründlich verspielte Möglichkeiten. Ich nehme wahr, dass das jüdische Volk seinen Weg im Bund mit Gott weiter gegangen und Zeuge Gottes vor der Welt geblieben ist. Statt es mit der eigenen Botschaft zu bedrängen, käme es für die Kirche darauf an, endlich die Rolle geduldigen und um Verstehen bemühten Hörens einzunehmen. 5. Unser eigenes Defizit als Völkerkirche erkennen An keiner Stelle des Neuen Testaments gibt es auch nur den geringsten Hinweis darauf, dass in dieser Zeit je ein christusgläubiger Nichtjude gegenüber Juden missionarisch gewirkt hätte. Paulus nimmt Titus nicht als Judenmissionar mit zum Apostelkonvent nach Jerusalem, sondern als lebendigen Beweis dafür, dass durch die Verkündigung Jesu Christi 9) Vgl. o. § 3 Abschnitt 2b. 77 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Gottes Geist Menschen aus den Völkern zu Gott ruft, ohne dass sie zuvor durch die Beschneidung in das jüdische Volk integriert wurden. Es ist alles andere als verwunderlich, dass diejenigen, die doch erst zum Gott Israels hinzugekommen waren, gegenüber Juden nicht als Missionare auftraten. Wir hatten gesehen, dass die Völkerkirche, wenn sie nicht mehr im antijüdischen Exzess leben will, ihren ihr eingestifteten Bezug auf Israel nur so leben kann, dass sie die Jüdinnen und Juden außerhalb ihrer wahrnimmt und ein Verhältnis zu diesem außerhalb ihrer lebenden Israel sucht, das auch für dieses erträglich ist. Dieses Verhältnis kann dann schlechterdings kein missionarisches sein. Denn missionarische Aktivität gleich welcher Art wird von den jüdischen Gemeinden als Bedrohung empfunden. Messianische Juden dürfen für Christen nicht zum Vorwand werden, die heute geforderte radikale Umkehr von der eigenen antijüdischen Geschichte zu verweigern. Christinnen und Christen sollten sich darüber freuen, dass jüdische Gemeinden in diesem Land jetzt wieder die Möglichkeit haben zu wachsen. Sie sollten deshalb alles unterlassen, was dem schwierigen Prozess der Festigung dieser Gemeinden als jüdischer Gemeinden entgegenwirkt. Dazu gehören ohne Zweifel alle Arten judenmissionarischer Aktivitäten. Natürlich muss ich es auch als Teil der Wirklichkeit wahrnehmen und respektieren, dass es Juden gibt, die Jesus als Messias bekennen und Juden bleiben wollen. Aber im Hören auf die ganze Bibel und im Hören auf das jüdische Zeugnis bestreite ich es, dass ihre Entscheidung die für alle Juden verbindliche sein müsste. Ich hatte zu Beginn dieses Abschnitts gesagt, dass es keinen Hinweis auf Mission unter Juden durch christusgläubige Nichtjuden in neutestamentlicher Zeit gibt. Auch der sogenannte Missionsbefehl am Ende des Matthäusevangeliums verpflichtet nicht zur Judenmission. Die dort angegebene Aufforderung des auferweckten Jesus an seine elf Schüler, zu allen Völkern zu gehen und sie zu seinen Schülern zu machen, wird oft so verstanden, dass die Bezeichnung „alle Völker“ doch selbstverständlich auch das Volk Israel einschließe. Aber dieser scheinbar logische Schluss hat gegen sich, dass es in der Bibel - auch im Neuen Testament - die grundlegende Unterscheidung zwischen „dem Volk“ im Singular, nämlich Israel als dem Volk Gottes, und „den Völkern“ im Plural gibt, also allen übrigen Völkern außer Israel.10 Der „Missionsbefehl“ bezieht sich demnach auf alle nichtjüdischen Völker. Dagegen die Stelle Matthäus 10,5-6 10) Vgl. o. § 8. 78 D. Das Seminar im November 2007 anzuführen, verfängt nicht. Dort schickt Jesus während seines irdischen Lebens die zwölf Schüler im Land Israel mit einem sehr konkreten Auftrag aus. Sie sollen die Nähe des Himmelreiches ankündigen, also die Nähe des Reiches und der Herrschaft Gottes, und sie sollen Kranke heilen, Tote erwecken, Aussätzige reinigen und Dämonen austreiben (10,7-8). Er verbietet ihnen, „auf den Weg der Völker“ wegzugehen und „in eine Stadt der Samariter“ hineinzugehen, „sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“ (10,5-6) - so die prägnante Übersetzung Luthers. „Zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“: Damit wird nicht das ganze Haus Israel als verloren vorausgesetzt, sondern es gibt Verlorene in ihm. Für sie erklärt Jesus sich auch selbst nach Matthäus 15,24 zuständig: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ - und erbarmt sich dann doch auch der kanaanäischen Frau. „Zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ übersetzt Luther dieselbe Wendung jetzt wörtlich. Diese Genitivverbindung lässt rein grammatisch auch die Deutung zu, dass das ganze „Haus Israel“ als verloren betrachtet wird. Aber die Stellen in den Evangelien vom Verlorenen zeigen, dass es um Verlorene in Israel und nicht etwa um das verlorene Israel als ganzes geht. Luthers Übersetzung in 10,6 - „die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel“ - ist eine zutreffende Deutung. Die matthäische Fassung des Gleichnisses vom verirrten Schaf stellt dem einen verirrten die 99 nicht verirrten gegenüber. „So will auch euer Vater im Himmel nicht, dass eins dieser Kleinen verloren geht“ (18,12-14). Dem entsprechen bei Lukas die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und verlorenen Denar mit ihren Deutungen von der Freude im Himmel über den einen Sünder, der umkehrt (15,7.10). Dabei heißt es von den 99 Gerechten in V.7 ausdrücklich, dass sie der Umkehr nicht bedürfen. Dem entspricht auch das Wort Jesu, dass nicht die Starken den Arzt nötig haben, sondern diejenigen, die schlecht dran sind; „ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“ (Matthäus 9,12-13; Markus 2,17; Lukas 5,32). 6. Die Treue des Volkes Israel wahrnehmen Ich hatte im dritten Abschnitt herausgestellt, daß nach biblischem Zeugnis Gott treu ist; und das meint vor allem die Treue zu seinem Volk Israel. Paulus hat die Aussage gewisser Hoffnung aus Psalm 94,14, dass Gott „sein Volk nicht verstoßen wird“, angesichts des Hochmuts 79 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission christusgläubiger Nichtjuden, der die Juden verstoßen sah, umgewandelt in eine Aussage in Vergangenheitsform: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“ (Römer 11,2). Weil Gott treu ist, ist sein Bund mit seinem Volk Israel ungekündigt. Das ist eine Einsicht, die in der Kirche zunehmend Raum gewinnt. Weil Gott sein Volk Israel nicht loslässt, sondern nur Gott ist und sein will mit seinem Volk, dürfen wir ihn nicht losgelöst von seinem Volk betrachten. Daher geht es nicht an, Jüdinnen und Juden nach ihrer Stellung zu Jesus als dem Messias zu beurteilen. Diese Einsicht öffnet Christen die Augen dafür, dass das Volk Israel bis heute auf Gottes Treue baut und seinen eigenen Weg im Bund mit Gott geht. Darin ist das jüdische Volk ein einzigartiger Zeuge Gottes vor der Welt - auch gegenüber der christlichen Kirche.11 Als ein auch für uns unmittelbar bedeutsames Zeichen der Treue des Volkes Israel hatte ich in § 2 seine Treue zum hebräischen Text der Bibel genannt12, der in unserer theologischen Forschung und theologischen Ausbildung eine wichtige Rolle spielt. Die Treue Gottes zu seinem Volk Israel sucht und braucht als ihre Entsprechung die Treue des Volkes. Ohne die Treue des Volkes Israel zu Gott bliebe Gott nicht als Gott Israels kenntlich, als den ihn doch die Bibel bezeugt. Um dieser Kenntlichkeit Gottes als des Gottes Israels willen dürfen Christen es nicht wollen, dass Juden ihr Judentum aufgeben und Christen werden. Was hindert uns, das Judentum als ein älteres Geschwister zu achten und auf sein Zeugnis zu hören und so im Gegenüber Nähe und Ähnlichkeiten zu entdecken, aber auch Unterschiede und Gegensätze auszuhalten? Wenn Christinnen und Christen wirklich auf jüdisches Zeugnis hören, wird sie das - dessen bin ich gewiss, und das ist meine Erfahrung - in ihrem eigenen Glauben nicht beeinträchtigen und verunsichern, sondern reicher machen. Ich habe als Christ meine Glaubensgewissheit durch Jesus Christus, wie sie etwa in eindrücklicher Weise in der sechsten Strophe des Osterliedes „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“13 von Paul Gerhard zum Ausdruck gebracht 11) Hier sind Formulierungen aufgenommen, die auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart 1999 in der Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen gegen Judenmission als Resolution beschlossen wurden. Vgl. Deutscher Evangelischer Kirchentag Stuttgart 1999. Dokumente, hg.v. Konrad von Bonin u. Anne Gidion, Gütersloh 1999, S. 539-540. 12) Vgl. o. § 2 Abschnitt 4. 13) Evangelisches Gesangbuch Nr. 112. 80 D. Das Seminar im November 2007 wird, worauf ich mich jedes Ostern wieder freue, sie in der Gemeinde zu singen: „Ich hang und bleib auch hangen an Christo als ein Glied; wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit. Er reißet durch den Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not, er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell.“ Ich nehme aber auch wahr, wie Juden, ohne sich auf Jesus zu beziehen, in ganz analoger Weise ihre Hoffnung und Gewissheit auf Gott setzen. So heißt es etwa in einem Midrasch zu Psalm 1,4: „Einst kommen alle Fürsten der Völker der Welt und erheben Anklage gegen Israel vor dem Heiligen, gesegnet er, und sagen vor ihm: Herr der Welt, worin unterscheiden sich die Israeliten von den Völkern? Diese sind Götzendiener, und jene sind Götzendiener; diese sind Blutvergießer, und jene sind Blutvergießer; diese sind Unzüchtige, und jene sind Unzüchtige. Diese steigen hinab zum Gehinnom - und jene steigen nicht hinab zum Gehinnom? Der Heilige, gesegnet er, sagte zu ihnen: Wenn es sich so verhält, soll jedes Volk - und seine Götter mit ihnen - zum Gehinnom hinabsteigen und sich selbst prüfen; und auch die Israeliten sollen gehen und sich selbst prüfen. Die Israeliten antworten und sagen vor dem Heiligen, gesegnet er: Du bist unsere Hoffnung, und du bist unsere Zuversicht. Wer sollte uns Sicherheit geben, wenn nicht Du? Wenn es Dein Wille ist, zieh Du an unserer Spitze! Und der Heilige, gesegnet er, sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ihr seid alle mit Purpur bekleidet - das meint den Bund der Beschneidung.“14 Ich versuche zum Schluss eine knappe Zusammenfassung: Ich sage Nein zur Judenmission in Erkenntnis der Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Da Gott nur Gott mit seinem Volk sein will, kann ich es nicht wollen, dass Juden aus ihren Gemeinden herausgelöst werden. Ich sage Nein zur Judenmission in Respekt vor der Treue, mit der das jüdische Volk seinerseits auf Gottes Treue baut und seinen Weg im Bund mit Gott geht und ihn so bezeugt. Zeugen Gottes kann ich nicht 14) Midrasch Tehilim 1,20 (vgl. die deutsche Übersetzung von August Wünsche, Midrasch Tehillim I, Hildesheim 1967 [= Trier 1892], S. 19). 81 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission bekehren wollen. Auf Zeugen Gottes will ich hören. Wenn Jüdinnen und Juden im Gespräch mein Zeugnis hören wollen, werde ich es selbstverständlich geben. Aber ich werde das tun ohne den leisesten Hintergedanken einer Missionsabsicht. Und natürlich kann es sein, dass unser Zeugnis im gegenseitigen Hören andere Betonungen erhalten und andere Dimensionen gewinnen wird. Ich sage Nein zur Judenmission aus tiefer Scham vor dem, was Christen in der Geschichte, in die ich eingebunden bin, Juden angetan haben, wovon der Name Jesu Christi und das Zeugnis über ihn nicht unberührt geblieben sind. Ich sage Nein zur Judenmission aus großer Dankbarkeit dafür, dass ich als Nichtjude durch Jesus Christus, meinen Herrn, „nach Jakobs Gott und Heil“ schaue15 und mich ihm im Leben und im Sterben anvertraue und ihn lobe. Das setzt mich ins Verhältnis zu seinem Volk. Die Richtungsanzeige dafür, wie dieses Verhältnis zu gestalten ist, finde ich in der Aufforderung wieder, wie Paulus sie in Römer 15,10 an die römische Gemeinde richtet. Ich wiederhole sie ein weiteres Mal. In meinen Augen ist das die schönste Verhältnisbestimmung von Juden und Christen - eine Verhältnisbestimmung, in die ich mich selber gerne weiter einüben und in der ich leben möchte: „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“ 15) Vgl. Evangelisches Gesangbuch Nr. 302, Strophe 2. 82 D. Das Seminar im November 2007 Nein zur Judenmission – Stimmen aus der EKD und systematische Reflexion Robert Brandau Kölner Studientag zur Judenmission Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin gebeten worden, Ihnen heute Abend die Diskussionslage in der EKD zu präsentieren. Dieser Auftrag ist sehr eng gefasst, weil dadurch die Gefahr besteht, die theologischen und historischen Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Deshalb werde ich versuchen, die Linien etwas weiter auszuziehen. Ich kann dies nur – angesichts des äußerst knappen Zeitrahmens – in Stichworten darbieten. Ich werde versuchen, die unterschiedlichen Positionen zu systematisieren und Ihnen am Ende meine eigenen Ideen, wie mit der Problematik umgegangen werden kann, nicht vorenthalten. Ich verweise Sie auf mein Buch (Innerbiblischer Dialog und dialogische Mission. Die Judenmission als theologisches Problem, Neukirchen 2006) und auf den Reader, dort finden Sie einige Auszüge. Im Folgenden werde ich Ihnen einige Modelle und Motive judenmissionarischer Theologie vorstellen, anhand derer ein tief greifender Transformationsprozess derselben deutlich wird. Ich beziehe dabei die in der EKD und in akademischen Kreisen (Tübinger und Göttinger Streit) aufgebrochenen Konflikte um die Judenmission ein. Im Anschluss daran werde ich Ihnen die Argumente der Gegner vortragen. Einige exegetische Ausführungen und systematische Überlegungen beschließen das Ganze (vgl. handouts 1-3). 83 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission I Problemanzeige Die Kirche ist missionarische Kirche, oder sie ist nicht Kirche. Die Alternative „Dialog oder Mission“, das werden wir nachher am Beispiel der ökumenischen Missions- und Dialogtheologie sehen, ist ein künstlicher Gegensatz. Wenn das stimmt, dass die Kirche immer eine missionarische Kirche ist – wobei das Verständnis und die Praxis der Mission sich grundlegend verändert haben, auch darauf werde ich eingehen –, wie steht es dann um die „Judenmission“? Können wir dann theologisch und nicht nur emotional und affektiv begründet, die „Judenmission“ ablehnen? Oder steht mit der Verneinung der Judenmission die missionarische Identität der Kirche und damit die Kirche insgesamt zur Disposition? Können wir, so höre ich es immer wieder, den Juden das Evangelium von Jesus Christus vorenthalten, ja, ist das nicht „theologischer Rassismus“? Ist die Form der Mission nicht der Dialog? Wenn wir mit dem Judentum einen Dialog führen, wie sollte der nicht missionarisch sein? Das sind die Leitfragen, die uns beschäftigen und die uns die moderne Missionstheologie aufgibt. II Modelle und Motive judenmissionarischer Theologie a) Kirchliche und staatliche Gewaltmaßnahmen1 Die erste Gestalt judenmissionarischer Theologie und Praxis – wobei der Begriff „Judenmission“ hier gar nicht fällt - fußt theologisch auf dem Antijudaismus der Kirchenväter und der Entwicklung hin zu einem imperialen Missionsverständnis. Bei Chrysostomos in seinen „Traktaten wider die Juden“ und anderen finden sich folgende Vorstellungen: 1) Vgl. R. Brandau: Innerbiblischer Dialog und dialogische Mission. Die Judenmission als theologisches Problem, Neukirchen 2006, 61, Anm. 301 84 D. Das Seminar im November 2007 Die Juden haben Christus gekreuzigt und sind deshalb als „Gottesmörder“ anzusehen. Mit der Verwerfung Christi durch die Juden ist deren Erwählung zum Volk Gottes hinfällig geworden und die Kirche hat diese Stellung als Volk Gottes eingenommen (Substitutionstheorie). Die Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n.Chr. und die folgende Zerstreuung des jüdischen Volkes gilt als der geschichtswirksame Beweis des Gerichtes Gottes über die Juden. Parallel dazu entwickelt sich ein Verständnis der Mission als „Ausbreitung des christlichen Imperiums“. Das Heil der Völker liegt demnach in ihrer Unterwerfung unter die heilige Herrschaft des christlichen Kaisers. Das Motto für Jahrhunderte lautet nun: Taufe oder Tod. Die Kirche wird zur sakramentalen Heilsanstalt, die Kirchenväter Cyprian und Augustinus prägen die Vorstellung: „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil.“ b) Die Kerygmatisierung des Evangeliums: Erwählung versus Rechtfertigung bei M. Luther2 Für Luther gilt grundlegend der eben schon genannte und auf Cyprian und Augustin zurückgehende ekklesiologische Grundsatz: »salus extra ecclesiam non est«,3 wenn es bei ihm heißt: »Kein Jude, Ketzer, Heide oder Sünder wird selig, ohne sich mit der Gemeinde der Gläubigen versöhnt und vereint zu haben.«4 Dies setzt die Subsumierung des Judentums unter das Allgemeine der Völkerwelt voraus. Die Kategorie der »Erwählung« wird zugunsten der »Rechtfertigung allein aus Glauben« relativiert, indem sie kerygmatisiert und individualisiert wird. »Infolge dieser Ineinssetzung von Prädestination und kerygmatischem Zuspruch bei Luther verlagert sich aber die eschatologische Entscheidung über Verwerfung und Erwählung ganz in die durch Wort und Glaube bestimmte kerygmatische Situation.«5 In der Predigt allein (Kerygmatisierung) ergeht der Ruf an den Einzelnen (Individualisierung). Im Hören 2) Vgl. R. Brandau: a.a.O., 56 ff. 3) Augustin: Über die Taufe 4, 17, 24. In: A.M. Ritter: Alte Kirche. Kirchen- undTheologiegeschichte in Quellen, 204. 4) WA 7.219, 6–10; zitiert nach H.A. Oberman: Wurzeln des Antisemitismus, 138. 5) B. Klappert: Erwählung und Rechtfertigung, 398. 85 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission und Glauben an das verkündigte Wort geschieht die Rechtfertigung des Gottlosen und damit die Erwählung: »Im Hören bin ich Erwählter.«6 Glaube oder Unglaube als Reaktion auf das verkündigte Wort der Vergebung der Sünden entscheiden über Heil oder Unheil. Angesichts des »Nein« Israels zur christlichen Predigt hat diese Sicht notwendigerweise die Negierung der Erwählung Israels als Volk Gottes zur Folge. »Aus dem Zusammenhang von Erwählung und Predigt wird auch verständlich, in welchem Sinne man von einem erwählten Kollektiv – Israel – reden (bzw. nicht reden) kann. Frei erwählt werden kann ja nur ein einzelner. Würde ein Kollektiv erwählt, wäre Gott gebunden.«7 Dieses Verständnis impliziert als Ziel christlicher Predigt die Bekehrung der Juden, ihre Ausgliederung aus der jüdischen Gemeinschaft und ihre Integration in die Kirche unter Aufgabe ihres Judeseins. Heil gibt es nur im je aktuellen Hören und Glauben innerhalb der Kirche. Die evangelische Verkündigung bringt die letzte Chance auf Bekehrung für die irregeführten Juden wie für Christen.8 Dieses Schema „Rechtfertigung aus Glauben versus Erwählung“ zieht sich seitdem durch die theologische Diskussion bis in die Gegenwart hinein. Sie finden hier die klassische evangelische Begründung der Judenmission vor, sie wird uns in allen Konflikten begegnen. Das Judentum ist seiner besonderen Berufung als Volk Gottes seit Jesu Tod und Auferweckung verlustig gegangen und wird der Völkerwelt zugeordnet. Die Kirche – seit dem 4. Jahrhundert die heidenchristlich gewordene Kirche – steht Juden und „Heiden“ in gleicher Weise gegenüber (dagegen: Röm 11,28). 6) So H. Conzelmann: Grundriß der Theologie des NT, 278, der damit Luthers Position wiedergibt. 7) H. Conzelmann: a.a.O., 275. 8) H.A. Oberman: a.a.O., 145. 86 D. Das Seminar im November 2007 c) Die organisierte Judenmission des 19. Jahrhunderts9 Die beiden bedeutendsten Gestalten der Judenmission im 19. Jahrhundert sind die beiden Theologieprofessoren und Judaisten Franz Delitzsch (1813-1890) und dessen Schüler Gustav Dalman (1855-1941), die auch im zeitgenössischen Judentum hohes Ansehen genossen. Ich nenne hier nur die zentralen Aspekte ihrer judenmissionarischen Theologie, die einerseits von einer tiefen emotionalen Hinwendung zum Judentum und andererseits von einer Tradierung antijudaistischer, mitunter auch antisemitischer Klischees geprägt ist. 1. 2. 3. Das Motiv der Liebe. Mit außerordentlich scharfen Worten kritisiert Delitzsch das „himmelschreiende“, hochnotpeinliche Verhalten von Staat und Kirche gegenüber den Juden. Sein Grundsatz lautet: Man kann nur lieben, was man kennt, und nur denjenigen missionieren, den man liebt. Sein Institutum Judaicum in Leipzig dient der Ausbildung judenmissionarischer Fachkräfte, er lehrt Judaistik und bemüht sich um eine wahrheitsgemäße Vermittlung jüdischer Religion und Tradition. Die Verpflichtung zur Judenmission: „Wie die Heidenmission, so die Judenmission“. Delitzsch und Dalman schärfen ein, dass es nur eine Mission der Kirche gibt. Das Evangelium gilt universal, Juden und sog. „Heiden“. Sie werden nicht müde, dies gegenüber der sich entwickelnden „Weltmission“ in Übersee und gegenüber einer missionsmüden Kirche einzuschärfen. Der Missionsbefehl Mt 28 und Apg 1,6-9 dienen ihnen als biblischer Beleg: Jesu Wort „gehet hin zu allen Völkern“ wird so interpretiert, dass „alle Völker“ die Juden einschließt. Ich komme auf diese Auslegung zurück. Entscheidend: Es geht um Heil oder Unheil! Judenmission heißt: Juden müssen ihr Judesein aufgeben. Die Judenmission zielt auf die Negation des Jüdischen. Die Taufe wird damit zum Symbol der Trennung vom Judentum und zur Eintrittskarte in die christlich-bürgerliche Gesellschaft. 9) R. Brandau: a.a.O., 19 ff. 87 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Hier wird ein Motivwechsel der Judenmission deutlich: Es geht nicht mehr um die Ausbreitung des christlichen Imperiums, sondern um die Rettung verlorener Seelen und die Abwehr der „jüdischen Gefahr“ für Volk und Vaterland. Auch hier: Die Universalisierung der christlichen Botschaft, die heidenchristliche Kirche hat das Judentum in die Kirche hinein aufzulösen. Die Kategorie der Erwählung wird, wie bei Luther, zugunsten der Individualisierung des Heils preisgegeben. d) Der Göttinger Streit 199210 und der Tübinger Streit 199911 um die Judenmission 1992 kommt es innerhalb der Göttinger Theol. Fakultät zu einem Konflikt zwischen Georg Strecker, Neutestamentler in der Tradition R. Bultmanns, und dem Neutestamentler und Judaisten Berndt Schaller, der die Fakultät zu spalten droht. 13 Professoren votieren mit Verweis auf die alte Belegstelle der Judenmission des 19. Jahrhunderts, Apg 1,8 wie folgt: „Die christliche Kirche ist durch den Missionsauftrag des auferstandenen Christus ‚Ihr werdet die Kraft des Hl. Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde’ zum Zeugnis gegenüber allen Menschen und Völkern aufgerufen.“ Im Tübinger Streit geht es letztlich um den Ansatz der evangelikalen Judenmission, der sich, wenn sie die Einzelheiten des Konflikts nachlesen, kaum von der akademischen Argumentation unterscheidet. Der Spitzensatz in Tübingen lautete: „Die Psalmen müssen erst getauft werden, bevor sie im christlichen Gottesdienst gebetet werden können“ (Hofius). In der evangelikalen Argumentation geht es um die bekannte Logik: Heil gibt es nur in Christus, bzw. – und diese Differenzierung ist wichtig – nur im Glauben an Christus. Das Evangelium Juden nicht zu verkündigen bedeutet, sie von der Möglichkeit des Heils in Christus auszuschließen. 10) R. Brandau: a.a.O., 371 ff. 11) R. Brandau: a.a.O., 403 ff. 88 D. Das Seminar im November 2007 Neu ist: Die Bundesbeziehung Israels wird nicht geleugnet, aber: Seinem Auftrag, Licht der Welt zu sein, kann Israel ohne Christusglauben nicht nachkommen. Den Juden die Gute Nachricht vorzuenthalten hieße, ihnen „das Beste zu verweigern, was wir anzubieten haben.“12 Diese Argumentation geht davon aus, dass die heidenchristliche Kirche zu Israel gesendet ist und dass das Heil in der Glaubensentscheidung des Einzelnen und nicht im Handeln Gottes begründet ist. Sie sehen hier die theologische Nähe zwischen der lutherischen, der Bultmannschen Kerygmatheologie und evangelikaler Argumentation. R. Bultmann: Im christlichen Kerygma wird dem Menschen die Möglichkeit angeboten, von der existentiellen Uneigentlichkeit (Entfremdung von Gott) zur Eigentlichkeit seiner Existenz vorzudringen. Das Judentum ist paradigmatisches Beispiel für die Uneigentlichkeit der Existenz, nämlich sein Leben aus dem Verfügbaren (Gesetz) leben zu wollen. e) Die ökumenische Missionstheologie13 Die Missionstheologie hat den Antijudaismus überwunden. Es geht nicht mehr um „Unheil oder Heil“ anderer Religionen und Weltanschauungen oder deren „falsche(n) Glaube(n)“, sondern um Respekt und dialogische Beziehung auf gleicher Augenhöhe. In gleicher Weise steht die Kirche Judentum, Islam und allen anderen Religionen in dialogisch-missionarischer Konvivenz gegenüber, bzw. lebt mit diesen zusammen. Das dialogisch-missionarische Zeugnis kann nicht auf verschiedene Gruppen oder Religionen nach dem Motto: hier Dialog, da Mission aufgeteilt werden. Dialog und Mission sind reziprok, unteilbar. Das Judentum wird dem universalen interreligiösen Dialog zu- und eingeordnet. Wenn die dialogische Mission in Konvivenz (Sundermeier) die moderne, jeglichen Absolutheitsanspruch preisgebende Form der Mission ist, und Mission sich an den religiös und weltanschaulich „Fremden“ richtet, dann wird das Judentum zur Fremdreligion. D.h.: Der Dialogbegriff alleine beinhaltet noch keine Kritik der Judenmissi12) R. Brandau: a.a.O., 394 13) R. Brandau: a.a.O., 111 ff., 165 ff. 89 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission on, er ist vielmehr, in undifferenzierter Weise universalistisch gebraucht, die Gestalt der Mission. Dies muss man immer mitbedenken, wenn man heute recht vorschnell von einem „Trialog“ zwischen Juden, Christen und Muslimen redet. Die fundamentale Erkenntnis, dass die Mission der Kirche und der Dialog zwei Dimensionen der einen „missio dei“, der Mission Gottes sind, wird schon von der ersten großen Studie der EKD „Christen und Juden“ von 1975, rezipiert. Dort heißt es: „Mission und Dialog sind zwei Dimensionen des christlichen Zeugnisses. Diese Einsicht entspricht auch dem neueren Verständnis von christlicher Mission überhaupt.“14 Die jüdischen Gesprächspartner im Umfeld des Entstehens dieser in vielfacher Hinsicht Bahn brechenden Studie haben das sehr schnell erkannt: Hier begegnet im Gefolge ökumenischer Theologie eine neue Form der Judenmission, der missionarische Dialog bzw. die dialogische Mission. f) EKD Texte 77 „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“ Das Judentum wird den nichtchristlichen Religionen zugeordnet. Es wird zum Urbild des Unglaubens: Das Evangelium ist den Juden zu verkündigen, damit „Glaube aufs neue entstehe.“ 14) R. Rendtorff/H.H. Henrix (Hg.): Die Kirchen und das Judentum Bd.1, Gütersloh ³2001, 578 90 D. Das Seminar im November 2007 III Modelle und Argumentationsstrukturen judenmissionskritischer Theologien a) Der radikale Pietismus Ich komme noch einmal auf die Anfänge der organisierten Judenmission und den Pietismus zurück. Ihm erwachsen zwei Modelle einer judenmissionskritischen Haltung, die heute weithin – gerade auch im Pietismus selber – vergessen sind. Zum einen ist es der „Radikale Pietismus“ und zum anderen die in vielfacher Hinsicht unorthodoxe Haltung Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorffs (1700-1760) zur Judenmission. Eine nicht nur emotionale, das Motiv der Liebe gegen jede Form der Gewalt in der Mission stark machende, sondern theologisch gänzlich andere Auffassung vom Judentum vertritt der sog. Radikalpietismus.15 Eine besondere Bedeutung erlangt dabei die von der Amtskirche verworfene Anschauung des sog. „Chiliasmus“, der Hoffnung auf das „tausendjährige Reich Christi.“ Nach dieser Vorstellung wird Israel nicht durch die Kirche, sondern durch den wiederkommenden Christus bekehrt. So wie durch die Ablehnung des Evangeliums durch Israel die Heidenmission erwachsen ist, so geht nach diesem Verständnis diese Mission zu Ende, wenn sich Israel zu Christus bekehrt bzw. bekehrt wird. Daraus kann man folgenden »Heilsplan« aus der Geschichte ablesen: Auf Israels Verstockung folgt die Heidenmission – dann erfolgt die Bekehrung Israels durch den Messias Jesus – dann kommt das tausendjährige Reich Christi auf Erden. Die paulinische Theologie in Röm 9-11 spielt hier eine große Rolle. Im radikalen Pietismus wird zum ersten Mal in der Christentumsgeschichte seit dem Auseinandergehen der Wege von Juden und Christen und in der Neuzeit auf lange Zeit zum letzten Mal aus grundsätzlichen, theologischen Überlegungen heraus die Judenmission programmatisch und grundsätzlich abgelehnt.16 15) R. Brandau: a.a.O., 14ff. 16) H. Schneider: Kirche und Israel von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In: E. Giesler/J. Beisheim (Hg.), Kirche und Israel, Didaskalia 34, Kassel 1989, 97. 91 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission b) Zinzendorf Zinzendorfs17 nonkonformistische Haltung zum Judentum zeigt sich insbesondere darin, dass er nach dem Scheitern früherer judenmissionarischer Versuche ein ganz eigenes missionarisches „Modell“ entwickelt: Ziel der Mission ist es nunmehr, „Erstlinge“ zu sammeln, also einzelne Juden zu gewinnen, denen dann die Verantwortung für die Mission obliegt. Diese sollen nun nicht – und das ist der entscheidende Punkt – in die heidenchristliche Herrnhuter Brüdergemeine integriert, sondern in einer sog. „Judenkehille“ gesammelt werden. Zinzendorf geht es also um ein Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen, ohne dass Juden ihr Judesein aufgeben müssen. Dazu befolgt er die jüdischen Speiseregeln und führt die Feier des Schabbat ein, um das Zusammenleben von orthodoxen Juden und Christen zu ermöglichen. Theologisch setzt er sich von der lutherischen Lehre deutlich ab: So ist das jüdische Gesetz weder Last noch Fluch, sondern Ausdruck der Gnade Gottes, die in Judentum und Christentum identisch sei. Das Judentum ist somit nicht eine gesetzliche Religion der Werkgerechtigkeit, sondern eine Gnadenreligion. Zinzendorf belebt somit den urchristlichen Gedanken der Kirche aus Juden und Heiden und eröffnet eine für die Judenmissionsdebatte völlig ungewohnte, aber dringend notwendige Perspektive: Er eröffnet die Möglichkeit, dass Juden Christen werden können, ohne ihr Judesein verleugnen oder gar aufgeben zu müssen. c) Karl Barth Karl Barth (1886-1968) gilt als der bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts. Er hat, wie es der römisch-katholische Theologe Franz Mußner einmal formuliert hat, die Israelfrage für die Theologie wie- 17) R. Brandau: a.a.O., 17ff.; C. Dithmar: Zinzendorfs nonkonformistische Haltung zum Judentum, Heidelberg 2000 92 D. Das Seminar im November 2007 derentdeckt.18 Diese hier differenziert darstellen zu wollen, würde den Rahmen sprengen. Ich benenne nur einige wichtige Aspekte:19 Wir haben eben kurz dargestellt, wie die ökumenische Missions- und Dialogtheologie nach dem 2. Weltkrieg entscheidende Impulse für den interreligiösen Dialog und das Verständnis der Mission der Kirche entwickelt hat, die auch Eingang in den christlich-jüdischen Dialog gefunden haben. Parallel dazu und mit deutlich anderen Konsequenzen entwickelt sich durch den Einfluss Karl Barths in den sog. „Opferstaaten“ des Nationalsozialismus, vor allem in Ungarn und den Niederlanden, eine Israeltheologie, die der Judenmission gegenüber zunehmend kritisch eingestellt war. Dieser barthsche Einfluss wird in den 60-iger Jahren in Deutschland vermittelt über die AG „Christen und Juden beim DEKT“ sowie den Rheinischen Synodalbeschluss von 1980, der Barth sowie die niederländische Tradition aufnimmt, ohne allerdings kenntlich zu machen, dass seine missionstheologische Begrifflichkeit von Barth stammt.20 Ich skizziere im Folgenden kurz die entscheidenden Aspekte der barthschen Israeltheologie, ohne auf ihre durchaus auch kritischen Punkte näher einzugehen: In reformierter Tradition stehend denkt Karl Barth streng bundestheologisch und interpretiert, anders als Luther, die Christologie im Kontext des Bundes des Gottes Israels mit seinem Volk Israel. Von Gott ist nicht philosophisch-metaphysisch zu reden, Bundespartner Gottes ist nicht zuerst die Welt, nicht „der“ Mensch im Allgemeinen, sondern der eine Mensch Jesus und das in ihm, dem Juden Jesus, repräsentierte Menschenvolk Israel.21 Wer im christlichen Sinne „Gott“ sagt, muss immer auch „Jesus“ und „Israel“ sagen. Deshalb ist für ihn Jesus als der „Messias Israels“ der Christus, der den Bund Gottes mit Israel als der „wahre Israelit“ hält und erneuert. So kann er 1942, im Jahr der „Endlösung der Judenfrage“ sagen, dass Israel und die Kirche zwei Gestalten der einen Gemeinde Gottes sind. Als wahrer Mensch und wahrer Gott – Barth denkt von der Christologie her streng trinitarisch – bedeuten Kreuz und Aufer18) F. Mußner: Traktat über die Juden, München 1979, 208. 19) R. Brandau: a.a.O., 71ff. 20) Vgl. dazu meine ausführliche und kritische Würdigung des Rheinischen Synodalbeschlusses (RSB), in: R. Brandau, a.a.O., 274ff. 21) K. Barth: Kirchliche Dogmatik (KD) II/2, 6. 93 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission weckung Jesu Christi die Versöhnung des bundesbrüchigen Israel und erst dann auch der ganzen Menschheit. Der in Christus erfüllte ewige, unvergängliche Israelbund ist der Grund für die Voraussetzung der Versöhnung der Welt. D.h.: Nicht der Glaube des Einzelnen ist heilsentscheidend und die Kirche ist keine sakramentale Institution, die das Heil quasi verwaltet. Vielmehr dokumentieren Kreuz und Auferwekkung Jesu Christi die Wirklichkeit des Heils. Damit ist – gegen alle bisher vorgestellten Missionsprogramme – Israel nicht „heillos“, sondern steht unter der versöhnenden Wirklichkeit Jesu Christi. Christus hat den Israelbund erfüllt und bekräftigt. Das „Nein“ Israels ist grundsätzlicher Natur und kann nicht durch die Mission der Kirche aufgehoben werden, sondern allein durch Christus selber. Die „Berufung“ des Paulus (Gal 1,15f.; Apg 9) ist dafür das sprechende Beispiel. Die eschatologische „Rettung“ Israels nach Röm 11, 25 ff. versteht Barth als Aufgehen Israels in der Kirche. d) Niederlande, Rheinischer Synodalbeschluss (RSB), Christen und Juden II (EKD 1991, CuJ II) und Christen und Juden III (EKD 2000, CuJ III) Die niederländische reformierte Kirche hat schon 1951 Grundzüge der barthschen Israeltheologie von 1942 aus KD II/2 aufgenommen und eine, wie ich denke, Weg weisende Differenzierung eingeführt: Sie unterscheidet (1) das Gespräch mit Israel von dem (2) Werk der Mission, die sich an die von Israel unterschiedene nichtchristliche Welt richtet sowie (3) der Evangeliumsverkündigung innerhalb der postchristlichen, säkularen Welt zur „Verchristlichung des Volkslebens.22 Grundlegend für diese Differenzierung ist eine Auslegung von Mt 28, 18ff., wonach „die Völker“ im Missionsbefehl die nichtjüdische Völkerwelt meint. Ich komme später darauf zurück. In einer Handreichung der niederländisch-reformierten Kirche von 1970 heißt es: 22) R. Brandau: a.a.O., 252 f. 94 D. Das Seminar im November 2007 „Jesus Christus bedeutet für die Völker etwas fundamental anderes als für Israel. Das jüdische Volk wird von ihm zurückgerufen zu dem Gott, der sich von Anfang an mit diesem Volk verbunden hatte. Dagegen bedeutet Jesus Christus für die Völker nicht, dass sie zu ihrem Ursprung zurückgerufen werden, sondern, im Gegenteil, zu etwas ganz Neuem in ihrer Geschichte.“23 Diese Differenzierung hat seitens der modernen Missionstheologie scharfen Widerspruch erfahren. Gespräch sei nichts anderes als Dialog und Dialog und Mission seien nicht auf verschiedene Völker aufzuteilen, sondern untrennbar miteinander verbunden.24 Diese Kritik hat, was die Sprachregelung angeht, Recht. Sie übersieht jedoch die theologische Dimension, die sprachlich nur sehr tastend ausgedrückt werden kann. Den Holländern geht es um eine sachlich-theologische Differenz zwischen dem Judentum und der Welt der nichtchristlichen Religionen, die gut biblisch ist. In der Bibel gibt es nie „die Menschheit“, sondern immer die Polarität von Israel und Völkerwelt. Meine Differenzierung des Dialogbegriffes, die ich am Ende kurz skizzieren werde, nimmt dies auf. Der RSB von 1980 ist ein Ergebnis sowohl dieser niederländischen Erkenntnisse sowie der Theologie K. Barths und zugleich eine Kritik an der ersten EKD Studie „Juden und Christen“ von 1975. Mit der dort verwandten ökumenischen Formel „Mission und Dialog sind zwei Dimensionen des christlichen Zeugnisses“ und deren Übertragung auf das christlich-jüdische Gespräch plädiert die erste EKD-Studie zum Verhältnis von Christen und Juden für die ökumenische Variante der Judenmission. Im RSB heißt es im missionstheologischen Satz: „ Wir glauben, dass Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, 23) R. Rendtorff/H.H. Henrix: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 19451985, Gütersloh 1988, 469; R. Brandau: a.a.O., 265. 24) So A. Feldtkeller: Pluralismus – was nun?, in: ders./ T. Sundermeier (Hg.), Mission in pluralistischer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, 46 95 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission dass die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann (4,6).“25 Ich kann jetzt nicht auf die durchaus problematische Begrifflichkeit des RSB eingehen. Auch hier macht er sich angreifbar durch den Gebrauch des Begriffes „Zeugnis“ im Unterschied zur „Mission“, die so in der Missionstheologie unüblich ist. Intendiert ist zweierlei: Zum einen gibt es kein Schweigeverbot der Christen gegenüber den Juden. Beide sind auch Zeugen Gottes voreinander. Aber dies ist keine heidenchristliche Mission mit dem Ziel der Integration des Judentums in die heidenchristliche Kirche. Die klassische Judenmission des 19. Jahrhunderts wird hier deutlich abgelehnt. Die Kirche kann nur Kirche sein und bleiben, wenn sie vom Judentum lernende Kirche ist. Bedeutet „Mission“ Konversion, so deutet sich hier an: Selbst wenn ein Jude Christ wird, bleibt er Jude, insofern ist das (heiden)christliche Zeugnis nicht missionarisch. Offenes Problem: Das sog. „Judenchristentum“ ist theologisch nicht im Blick! Missio Judaica: Der RSB würdigt den bleibenden Missions- und Zeugnisauftrag des Judentums. Nicht nur die Kirche, auch Israel hat weiterhin Anteil an der „missio Dei“. CuJ II: Röm 15,8 ff. ist der Schlüsseltext der Studie: Christus ist der Diener der Juden, um die Verheißungen zu bestätigen und die Heiden zum Lob Gottes zu führen. CuJ III: Die von der EKD verfasste dritte große Studie zum Verhältnis von Juden und Christen nimmt angesichts der judenmissionarischen Versuche unter jüdischen Kontingentflüchtlingen das Thema der Judenmission auf und kommt zu einer für EKD-Verhältnisse relativ klaren Absage. Die Begründung fußt auf Röm 9-11, erinnert an die bleibende Erwählung des Volkes Israel auch post christum natum und macht deutlich: Wer das Volk Israel judenmissionarisch in die Kirche auflösen will, tastet den Gott Israels an. Denn wie der „Bund Gottes mit Israel ein 25) B. Klappert/H. Starck (Hg.): Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980, Neukirchen 1980, 265; R. Brandau: a.a.O., 274 ff. 96 D. Das Seminar im November 2007 Identitätsmerkmal Israels ist, so ist der Bund mit Israel ein Identitätsmerkmal Gottes selbst. Christen – präziser wäre von Heidenchristen zu sprechen – kommen durch Jesus Christus zu dem Gott, der sich unverbrüchlich mit Israel verbündet hat.“26 e) Göttingen, Tübingen, Kirchentag 1999, Pfalz 1992 kommt es innerhalb der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen zu einem Streit um die Judenmission. Die Position der Befürworter („Göttinger 13“) habe ich unter II.d vorgestellt, hier nun die Antwort der „Göttinger 7“ auf die judenmissionarische Position der „Göttinger 13“ um G. Strecker: „In der Begegnung mit Juden haben Christen sich der engen, unlösbaren Verbindung der Kirche mit Israel als dem Bundesvolk Gottes bewußt zu sein. Die wegen der Treue Gottes bleibende Erwählung des jüdischen Volkes gibt dem Verhältnis von Christen und Juden einen besonderen Charakter. Christliches Zeugnis gegenüber Juden kann daher nicht einfach dem allgemeinen Zeugnis gegenüber allen anderen Menschen zugeordnet werden. ›Judenmission‹ war und ist für Juden entscheidend verbunden mit der Erinnerung an gewaltsame Unterdrückung, zwangsmäßig durchgeführte oder gesellschaftlich aufgenötigte Übertritte und Taufen. Angesichts dessen müssen die Kirchen alle judenmissionarischen Aktivitäten grundsätzlich überdenken. Der ›Judenmission‹ ist abzusagen, da der Vater Jesu Christi der Gott Israels ist und Christen daher mit Juden eine wesentliche Grundlage des Glaubens gemeinsam haben.“27 Die bleibende Erwählung und der Glaube an den Gott Israels machen „Judenmission“ unmöglich. Problem: Die Christologie bleibt merkwürdig unterbestimmt (vgl. CuJ II und meine kritische Würdigung28). 26) CuJ III, 44 f. 27) R. Brandau: a.a.O., 382 f. 28) R. Brandau: a.a.O., 389 f. 97 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Im Tübinger Streit (vgl. II.d) antworten die drei Professoren Janowski, Schreiner und Lichtenberger auf die judenmissionarischen Äußerungen auf dem Studientag der Fachschaft Ev. Theologie in Form eines offenen Briefes: „Juden und Christen sind je auf ihre Weise zu Zeugen des Einen Gottes, zu Zeugen des Gottes in unserer Welt berufen, der Juden der Gott Abrahams und den Christen zugleich der Vater Jesu Christi ist. Wenn Christen dieses Zeugnis mit den Psalmen der hebräischen Bibel ablegen, rezitieren sie keine ›getauften Psalmen‹, sondern stimmen ein in das Gotteslob Israels, in das Bekenntnis zu dem Einen Gott. Judenmission, in welchem Gewand auch immer sie daherkommt, lehnen wir ab, ohne Wenn und Aber, aus exegetisch-theologischen Gründen ebenso wie aus historischen und moralischen. Der Versuch von Heiden(christen), das Volk Gottes zu missionieren, ist ein aberwitziges Unterfangen, das in den kanonischen Schriften der Kirche keinerlei Rechtfertigung hat. Das Judentum ist keine defizitäre Religion; es ist dies heute ebenso wenig, wie es dies je war. Jüdisches Selbstverständnis lebt von der gottgeschenkten Heilsgewissheit, ›dass ganz Israel an der zukünftigen Welt Anteil hat‹ (Mischna, Traktat Sanhedrin, Kapitel 10).“29 Es werden sowohl theologische als auch historische Gründe für die Ablehnung der Judenmission benannt: Juden und Christen sind Zeugen Gottes vor der Welt (vgl. RSB). Heidenchristen haben nicht den Auftrag, das Judentum zu missionieren, das ist neutestamentlich nicht belegt. Judentum ist keine defizitäre Religion. Die Praxis der Judenmission hat ihren Zweck „entheiligt“. Kirchentag 1999, AG „Christen und Juden“:30 Die AG „Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ gibt angesichts judenmissionarischer Bemühungen evangelikaler 29) R. Brandau: a.a.O., 405 30) R. Brandau: a.a.O., 396 ff. 98 D. Das Seminar im November 2007 Kreise unter jüdischen Kontingentflüchtlingen eine Erklärung mit folgenden inhaltlichen Schwerpunkten ab: Ungekündigter Bund und bleibende Erwählung Israels. Der Missionsbefehl Mt 28 gilt nicht Israel, sondern der Völkerwelt. NT kennt keine heidenchristliche Judenmission. Tendenz: Israel ist nicht „heillos“, es „braucht“ die Christusverkündigung nicht. Problem: Die Christologie wird negiert. Was hat Christus noch mit Israel zu tun? Dahinter steht das Modell der „Zwei Heilswege“, Jesus ist der Messias „aus“ Israel „für“ die Völker (K. Wengst). Es wird zwischen „Christusverkündigung“ und „Christologie“ nicht unterschieden. Dagegen: Röm 15,8ff.; Jesus ist der Repräsentant Israels (vgl. unten IV.b); die eschatologische Christologie (Röm 11,25 ff.) wird negiert, ebenso die Bedeutung und der Sinn der Verkündigung Jesu in Israel; das Heidenchristentum wird zur Norm dessen, was „christlich“ ist. Pfalz 1990:31 In der Erklärung der Pfälzer Synode stehen folgende Überlegungen im Mittelpunkt: Das Judesein Jesu führt die Kirche dazu, am jüdischen Volk als „Volk Gottes“ festzuhalten. Lk 2,32: Jesus ist ein Licht der Heiden zum Lobpreis Israels. Reflexion des jüdischen „Nein“: • Ausdruck der messianischen Hoffnung. • Folge des Versagens der Kirche. • Röm 11,11 f.: Das jüdische „Nein“ ist heilsgeschichtlich relevant, es erfolgt „Uns [den Christen] zum Heil“. 31) R. Brandau: a.a.O., 315 ff. 99 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission IV Christologie32 a) Die Teilnahme Israels am messianischen Leidensweg Jesu Ich beziehe mich noch einmal zurück auf Barths großartigen theologischen Neuentwurf der gesamten kirchlich-dogmatischen Tradition und seiner Kreuzestheologie. Barth versteht Kreuz und Auferweckung Jesu Christi im Zusammenhang des Bundes Gottes mit Israel: Der Gottessohn Jesus ist zugleich der Gottesknecht aus Jes 53 und erleidet stellvertretend die Gerichtsleiden Israels und der Welt. In Jes 53,4f heißt es: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der von Gott geplagt, geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Die Auferweckung als eine neue Tat Gottes ist dann verstanden als die bundesrechtliche Inkraftsetzung und Anerkennung dieses stellvertretenden Leidens und bedeutet die Rechtfertigung des gottlosen Menschen, seine Versöhnung. Allein, diese rein bundesrechtliche Dimension des Kreuzes Jesu Christi stellt eine Verkürzung der neutestamentlichen Kreuzestheologie dar. Denn Jesus erleidet nicht nur die Gerichtsleiden Israels und aller Menschen, sondern er erleidet im „Tod des Juden“ Jesus von Nazareth die Leiden Israels bis auf diesen Tag mit. Nicht ohne Grund betet Jesus am Kreuz den 22. Psalm. Er tritt damit in die tausend-, ja millionenfache Leiderfahrung seines Volkes ein. So erscheint uns das Leiden des verfolgten und geächteten Judentums als ein Leiden im Raum des Leidens Christi und umgekehrt. Der amerikanische Theologe Franklin Littell kann sagen: „Die tragische Wahrheit ist, dass die meisten Märtyrer für Christus in unserem Jahrhundert Juden waren.“33 Es geht also darum, nicht nur den in der christlichen Abendmahlstradition dominierenden Charakter des stellvertretenden Leidens Jesu Chri- 32) R. Brandau: a.a.O., 424ff. 33) In: Handreichung Nr. 39 der Ev. Kirche im Rheinland “Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden”, 19 100 D. Das Seminar im November 2007 sti zu bedenken, sondern, so J. Moltmann, das Mitleiden des Gekreuzigten mit seinem Volk und dann auch mit allen Leidenden dieser Welt. Das bedeutet für die Christologie, also die kirchliche Lehre von Jesus Christus: Der Gekreuzigte Herr der Kirche ist nicht zu glauben ohne das „gekreuzigte“ Israel. b) Der Messias Jesus als Repräsentant Israels Im AT gibt es Tendenzen, die einzelnen herausragenden Figuren der Geschichte Israels eine quasi messianische und damit über das individuelle hinausweisende kollektive, das ganze Volk Gottes darstellende und repräsentierende Bedeutung zuschreiben. In der alttestamentlichen Exegese spricht man von einer „messianischen relecture“ einzelner individueller Gestalten34: Dies betrifft etwa die historische Figur des David, mit dem als dem „idealtypischen“ König angesichts des realen Scheiterns des Königtums in Israel die Erwartung der messianischen Welt verbunden wird. In den Psalmen wird das deutlich, wenn das davidische „Ich“ zum kollektiven „Wir“ des betenden Israel hin geöffnet wird. In gleicher Weise betrifft das die uns unbekannte historische Figur des Gottesknechtes in Jes 53, der zum Sinnbild des Leidens Israels wird, das stellvertretend für andere leidet. M. Buber schreibt dazu: „Es ist überhaupt ein Irrtum, in der Schrift kollektives und individuelles Ich streng zu scheiden. Das Ich des Einzelnen bleibt durchsichtig ins ich der Gemeinschaft.“35 In diese Messianisierung und Kollektivierung zentraler Figuren der Geschichte Israels zeichnet das NT nun die Geschichte Jesu Christi ein. So wird sie dargestellt als „Weg-in-Beziehung“ zum Gott Israels und zum Volk des Gottes Israel. Mit dem Neutestamentler U. Luz kann man sagen: Die Evangelien erzählen die Geschichte Jesu auch als „kollektive Biografie Israels“.36 Das „Ich“ Jesu und das „Wir“ Israels durchdringen und „repräsentieren“ 34) B. Janowski: „Verstehst du auch, was du liest?“, in: W. Härle/M. Heesch/ R. Preul (Hg.), Befreiende Wahrheit. FS für Eilert Herms, Marburg 2000, 16 35) M. Buber: Der Glaube der Propheten, Zürich 1950, 260. 36) U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/4, Neukirchen 2002, 470. 101 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission sich wechselseitig. Ich nenne die wichtigsten Aspekte stichwort- und thesenartig: 1. 2. 3. 4. Nach dem Stammbaum Jesu in Mt 1 ist Jesus der Davidssohn. Der Stammbaum stellt Jesus mit diesem messianischen Hoheitstitel als den verheißenen Messias Israels vor, der über die königliche Abstammungslinie in die Kontinuität der Geschichte Israels hineingestellt und als König Israels vorgestellt wird. Als „Davidsohn“ ist Jesus Repräsentant des ganzen Volkes, dem er zugleich als der messianische Lehrer der Tora (Mt 5-7) und als der Helfer und Heiland (8-9) entgegentritt. In der alttestamentlichen Jakobstradition erhält der Patriarch Jakob den Ehrennamen „Israel“ (Gen 32,29; 35,10). Jakob wird so zum Sinnbild des ganzen Volkes, bei den QumranEssenern wird Jakob (11 QTR 29,4-10) zur Symbolfigur des endzeitlichen, Gott wohlgefälligen Israel. Joh 1,51 nimmt dies auf, indem dort auf die Geschichte von der Himmelsleiter (Gen 28,10ff) angespielt wird: „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes werden hinaufsteigen und herabsteigen auf den Menschensohn“. Jesus wird zum „wahren Jakob, zum Ort der Gegenwart Gottes und zum personalen Inbegriff des Volkes Gottes. Er ist der den Gott Israels und das Volk Israel idealtypisch Darstellende (Repräsentierende), er ist der wahre Israelit.37 Im AT können Israel und der König „Sohn Gottes“ genannt werden (Ex 4,22f.; Ps 2,7). In der Taufe Jesu werden diese Prädikate auf ihn übertragen. Die Gottessohnschaft Israels und der Gottessohn Jesus stehen in Kontinuität und in einer lebendigen Beziehung zueinander. In Jesus begegnet uns Israel. Hier wird besonders deutlich, dass die Jesusgeschichte nicht nur eine individuelle Geschichte ist, sondern der Evangelist Matthäus diese Geschichte als gemeinschaftliche Biografie Israels erzählt. Dies wird in der Weihnachtsgeschichte bei Mt sehr schön anschaulich. Nach der Flucht der heiligen Familie vor Herodes nach Ägypten heißt es dann: „Aus Ägypten rief ich meinen Sohn (Mt 2,15)“. In den Worten vom „Menschensohn“ begegnet uns in den Evangelien eine herausragende Titulatur Jesu, weil es der ein- 37) C. Thoma: Das Messiasprojekt, Augsburg 1994, 282; R. Brandau: a.a.O., 448 f. 102 D. Das Seminar im November 2007 5. zige Hoheitstitel Jesu ist, den er selber verwandt hat. Er ist demnach der kommende Menschensohn nach Dan 7, durch den Gottes abschließendes Gericht (Lk 12,8 ff.) offenbar wird. Er ist zugleich der gegenwärtige Menschensohn, in dem die Zuwendung Gottes zu den Verlorenen deutlich wird, er ist der leidende Menschensohn, der die Leiden des Volkes teilt (Mk 10,33) und stellvertretend für es eintritt (Mk 10,45). Der Menschensohntitel drückt also zuerst die Gottesbeziehung Jesu aus, aber nach Dan 7 ist der Menschensohn (7,27) zugleich der Repräsentant des erwählten Israel. Trinitätstheologisch ist dies von großer Bedeutung: In Jesus wohnt also zum Einen die Herrlichkeit Gottes ein – das drückt seinen Gottesbezug aus - und zum anderen stellt er das Volk Israel vor Gott dar. Auf den Gottesknecht in Jes 53 bin ich schon eingegangen. Schon in der jüdischen Interpretation der Gottesknechtslieder Jes 42-53 stehen sich ein individuelles und ein kollektives Verständnis gegenüber. Die neutestamentliche Tradition interpretiert ihrerseits das Kreuz Jesu als stellvertretendes Leiden des Gottesknechtes. Was bedeutet es nun, wenn der Gottesknecht sowohl ganz Israel meint als auch – im NT – die Person Jesu und beide sich wechselseitig durchdringen? Paulus nimmt diesen Gedanken auf und kommt zu Formulierungen, die in der christlichen Theologie weithin ignoriert werden: In Röm 11,15 spricht Paulus davon, dass Israel durch die Ablehnung des Messias Jesus einen „Verlust“ erlitten habe, der „die Versöhnung der Welt bedeutet.“ Paulus spricht also an zentraler Stelle davon, dass der von uns Heidenchristen als „Unglaube“ bzw. als „Verwerfung“ verstandene Tatbestand, dass Israel mehrheitlich nicht an seinen Messias glaubt, ein gottgewolltes „Nein“ ist und eine Heilsbedeutung für die ganze Welt hat.38 Machen wir uns die Dimensionen klar, wenn Paulus in dem zentralen ntl. Text 2Kor 5,19 andererseits von der „Versöhnung der Welt“ in Christus spricht. Beide, Christus und das Nein Israels zu Christus im Verbund, bedeuten die Versöhnung der Welt. 38) K. Haacker: Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 229. 103 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Was bedeutet das alles nun für das Problem der Judenmission oder des missionarischen Dialogs mit Israel? Ich denke, es ist deutlich geworden, dass der von der Kirche verkündigte Jesus Christus seinem Volk Israel nicht nur gegenübertritt, sondern aufs Engste mit ihm verbunden ist, und zwar unabhängig von der Frage des Glaubens oder Unglaubens Israels. Ganz im Gegenteil: Der Unglaube ist nicht einfach Unglaube, sondern ist für Paulus geradezu heilsnotwendig. Das bedeutet für die dialogische Mission der Kirche: Israel kann nicht Adressat der Mission sein, sondern ist Inhalt des aller Welt zu verkündigenden Evangeliums. Aber, so der nicht ganz unberechtigte Einwand, hat Jesus denn Israel nichts zu sagen? Tritt er dem Volk nicht auch gegenüber, wie wir eben hörten, hat er nicht zur Umkehr gerufen und hat er nicht am Ende im Missionsbefehl die Jünger zu „allen Völkern“ gesandt, zählt Israel da nicht hinzu? V Exegetische Einsichten a) Die messianische Sendung zu Israel Das NT lässt überhaupt keinen Zweifel daran: Der Messias Jesus sieht sich „gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24). Er sendet seine (jüdischen!) Jünger und Jüngerinnen zur Verkündigung des angebrochenen Reiches Gottes genau dorthin (Mt 10,5) und verwehr ihnen den Weg zu den „Heiden“ (Mt 10,6). Was bedeutet diese Verkündigung in Israel theologisch? Diese Sendung Jesu ist als Dienst an Israel, als konkrete Durchführung und Bestätigung der Erwählung Israels aus freier Gnade und als die Bezeugung der Treue Gottes seinem Volk gegenüber zu verstehen.39 Der an ganz Israel gerichtete Umkehrruf geschieht in dem Sinn, „in dem auch die Propheten Israels das Gottesvolk zur Umkehr aufgefordert haben, im Sinn der Bewährung und Bewahrung der Zugehörigkeit zum Gottesvolk und des Bundes der Erwählung.“40 39) P. Stuhlmacher: Biblische Theologie des Neuen Testaments Band 1, Göttingen 1992, 158. 40) B. Schaller: „Judenmission“ und Neues Testament, in: S. Kortzfleisch/R. Meister-Karanikas (Hg.), „Räumet die Steine hinweg“. Beiträge zur Absage an die Judenmission, Hamburg 1997, 29. 104 D. Das Seminar im November 2007 Es gibt keinen Beleg dafür, dass die rein jüdische Urgemeinde den Auftrag Jesu „gehet hin zu den verlorenen Schafen Israels“ aus Mt 10,5 nicht weiter verfolgt hätte. Das Pfingstfest ist der Beleg dafür (Apg 2,14ff): Was als Geburtsstunde der Kirche verstanden wird ist in Wahrheit nichts anderes als die Bekräftigung der eschatologischen Sammlung des Gottesvolkes Israel um seinen auferstandenen Messias.41 Die Anrede des Petrus in der Pfingstpredigt Apg 2,14 macht das deutlich: „Ihr Juden, die ihr in Jerusalem wohnt…“ Aber, ich betone es noch einmal: Diese innerjüdische Sendung und Predigt vor und nach Ostern ist ihrer Intention nach keine „missionarische“ Predigt im Sinne eines intendierten Religionswechsels und der Hinwendung zu einer anderen Gottheit (vgl. 1Thess 1,9f ). Und dennoch, und darauf kommen wir im Blick auf den Missionsbefehl jetzt zu sprechen, hat sich, wenn auch sehr zögerlich, nach Ostern etwas Grundlegendes verändert. Nun vollzieht sich der heftig umstrittene und umkämpfte Übergang von einer rein innerjüdischen Bewegung zur Gemeinde aus Juden und Heiden. Der Gal und die Apg berichten davon, dass dies außerordentlich konfliktträchtig war. Es wurde intensiv und kontrovers diskutiert, ob „Heiden“ Christen werden konnten, ohne zuvor Juden werden zu müssen (vgl. Gal 2; Apg 10-11; 15). b) Die missionarische Sendung an die Völker – Mt 28,18–2042 Es wurde bereits dargelegt, dass die von der Erweckungsbewegung stark geprägte Judenmission des 19. Jahrhunderts Mt 28,18–20 gegen alle Einwände historischer oder chiliastischer Motive als universalen, Israel einbeziehenden kirchlichen, also auch die heidenchristlich gewordene Kirche betreffenden Auftrag zur Mission verstanden hat. Wenn wir uns nun der exegetischen Debatte um den „Missionsbefehl“ zuwenden, dann geht es um die Frage, ob sich daraus ein Missionsauf41) J. Roloff: Die Kirche im Neuen Testament. NTD Ergänzungsreihe 10, Göttingen 1993, 63 42) R. Brandau: a.a.O., 465ff. 105 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission trag der heidenchristlichen ökumenischen Christenheit gegenüber Israel ableiten lässt. Für das Verständnis von Mt 28,18–20 hinsichtlich unseres Problems ist es wichtig zu entscheiden, wie das ›παντα τα εθνη‹ (alle Völker) in V. 19a zu verstehen ist. Zwei Auslegungsmodelle stehen einander gegenüber: Es kann verstanden werden als »alle Völker« inklusive Israel oder im Sinne von »alle Heiden« unter Ausschluss von Israel.43 Folgt man dem biblischen Sprachgebrauch,44 dann legt sich eine exklusive Fassung von »παντα τα εθνη«, also die Fassung, die Israel nicht mitmeint, nahe. Es gibt kein biblisches Buch und keinen Beleg in den übrigen hellenistisch-jüdischen Schriften, in dem Israel nicht im Gegenüber zu den Völkern im Sinne von »Heiden« (εθνη) gesehen wird.45 Für die Missionsfrage ist es nun von nicht zu überschätzender Bedeutung zu erkennen, dass es einen theologisch grundlegenden Unterschied gibt zwischen der eben schon erwähnten innerjüdisch-messianischen Bezeugung in Israel einerseits und dem Hinzukommen der Völker andererseits. Im dargestellten Szenarium des „Missionsbefehls“ geht es nunmehr um die Begründung eines weiteren Auftrags. Diese Szene soll die Legitimität der Sendung der matthäischen Gemeinde als innerjüdische Sendung nicht bestreiten, sondern vielmehr jetzt, im Übergang zur Heidenmission der Gemeinde, diese ausdrücklich legitimieren.46 Die Frage, ob mit „παντα τα εθνη“ Israel inklusiv gemeint ist, ist deshalb zu bestreiten. In Mt 28,18–20 geht es ausschließlich um die Sendung der Gemeinde durch den auferstandenen Menschensohn zu den „Völkern“. 43) U. Luz: Matthäus I/4, 447. 44) So G. Eichholz: Der Begriff »Volk« im Neuen Testament, 79. 45) „Für die zur Debatte stehende Frage ergibt sich dabei ein klarer Befund: Während der Sing. ethnos (»Völkerschaft«) in der Septuaginta-Version der Heiligen Schriften (LXX) auch Israel bezeichnen kann (vgl. z.B. Ex 19,6), meint der Ausdruck panta ta ethne bei weit über 100 Belegen durchgängig ›alle Weltvölker‹ im Gegenüber zu Israel. ... Ein ähnliches Bild lassen die übrigen hellenistisch-jüdischen Schriften erkennen.“ (F. Wilk: Eingliederung von „Heiden“ in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams, ZNT 15/2005, 52, Kurs. Wilk) 46) U. Luz: Matthäus I/4, 451, Anm. 125; M. Vahrenhorst: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, Neukirchen 2002, 15f. 106 D. Das Seminar im November 2007 Das bedeutet nun aber nicht, dass die innerjüdische Sendung zu Israel in Mt 10,6 durch den Auftrag des Auferstandenen zur Völkermission hinfällig geworden wäre.47 Davon kann bei Mt keine Rede sein! Beides ist jedoch nicht miteinander zu identifizieren. Die alles entscheidende Frage lautet: Wer ist zu wem gesandt? Der Auftrag zur Israelsendung ergeht grundsätzlich und ausschließlich an jesusgläubige Juden. In diesen Auftrag der innerjüdischen messianischen Bezeugung des Messias Israels im Sinne eines „innerjüdischen Dialogs“ können Heidenchristen aus der ökumenischen Völkerkirche nicht eintreten. Und: Die matthäische (judenchristliche) Gemeinde ist nun nicht mehr nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10,6) gesandt, sondern sie vollzieht den Übergang zur Völkermission. Aber dieser innerjüdische Dialog um den Messias Jesus ist damit nicht aufgehoben: „Daß auch christus-gläubige Heidenchristen für eine Art ›Judenmission‹ zuständig seien, besagt das aber nun gerade nicht.“48 Eine heidenchristliche Judenmission ist im gesamten NT nicht bezeugt.49 VI Zusammenfassung Ich habe versucht deutlich zu machen, dass auf Grund der Christologie und des ntl. Befundes die Beziehung der ökumenischen heidenchristlich gewordenen Kirche zum Judentum etwas grundsätzlich anderes ist als die Beziehung zu den Weltvölkern. Der gekreuzigte Auferstandene repräsentiert und vergegenwärtigt Israel in der Völkermission der Kirche. Die Beziehung zu Israel gehört somit zum Bekenntnis der Kirche, nicht zu ihrem missionarischen Auftrag. Eine Judenmission gleich welcher Art – durch Gewalt oder Zwangsbekehrung, durch liebevolle 47) Mit B. Schaller: a.a.O., 19 ist zu betonen, „daß Matthäus keineswegs der Meinung war, die Botschaft Jesu vom Reich Gottes ginge die jüdischen Zeitgenossen nichts an, sondern nur die Weltvölker.“ Zwischen Mt 28,19a und 10,5f bestehen Beziehungen bis in den Wortlaut hinein (»gehen«). Im matthäischen Kontext kann 10,5 (»geht nicht den Weg zu den Heiden«) jetzt, angesichts der neuen Herausforderung der Heidenmission und des Auftrags des Auferstandenen, nicht mehr gelten. So zu Recht U. Luz: a.a.O., 450. Aber zwischen 10, 6 (»geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel«) und 28, 19a muss kein Widerspruch bestehen. 10,6 meint das innerjüdische Christuszeugnis gegenüber Israel, 28,19a die Mission an die Völkerwelt. 48) B. Schaller: a.a.O., 27, Kursivierung R.B. 49) Zur Exegese von Apg 1,6-9 vgl. R. Brandau: a.a.O., 472-475 107 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Zuwendung judaistisch gebildeter Missionare (19. Jahrh.) oder durch einen missionarischen Dialog, der voller Respekt und Toleranz geführt wird – ist abzulehnen. Alle Formen und Gestalten der Judenmission negieren faktisch die Erwählung und Berufung Israels zum Volk Gottes und seine Zeugenschaft für Gott vor der Welt, wie immer die auch interpretiert werden mag. Auf Grund des Glaubens an den einen Gott Israels, in dessen Machtbereich Israel und die Kirche leben, auf Grund der gemeinsamen Heiligen Schrift des AT – mit keiner anderen Religion (auch nicht dem Islam) teilen wir in „kanonischer Dialogizität“ eine „Heilige Schrift“ -, auf Grund der Christologie, die uns die unlösbare Verbindung Jesu mit Israel vor Augen stellt, und auf Grund des Auftrags des Auferstandenen in Mt 28 ist jede Form heidenchristlicher Mission in und an Israel ausgeschlossen. Hier ist vom „radikalen Pietismus“ und vor allem von Paulus zu lernen: Wenn das Reich Gottes anbricht und aus Zion der Erlöser der Welt kommen wird (aus Zion wohlgemerkt, nicht aus Rom oder Wittenberg!), dann wird Israel die Herrlichkeit des Messias schauen! Bis dahin braucht die Kirche Israel, denn dieses hält die Hoffnung auf die Erlösung, und zwar die sichtbare, alles verändernde Erlösung und Rettung der Welt wach. Auch und gerade angesichts der aktuellen Diskussion um den interreligiösen Dialog und die Frage nach einem theologischen Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen warne ich vor einer Vermischung der dialogischen Beziehungsebenen und schlage deshalb eine Ausdifferenzierung der verschiedenen Dialogebenen vor, damit wir sowohl der besonderen Beziehung zum Judentum als auch dem missionarischdialogischen Auftrag der Kirche gerecht werden. Folgende dialogische Beziehungsebenen sollten wir theologisch unterscheiden:50 1. Ein „innerjüdischer Dialog“ innerhalb Israels: Es steht der heidenchristlichen Mehrheitskirche nicht zu, das innerjüdische messianische Zeugnis von Juden an Juden zu behindern oder zu desavouieren. Denn: Die unabgeschlossene messianische Sendung der jüdischen JüngerInnengemeinde zu Israel (Mt 10,6) ist keine Judenmis50) R. Brandau: a.a.O., 475ff.; vgl. auch meine Thesen zur Arbeitsgruppe 3 „Judenmission“ auf dem Symposion „25 Jahre Rheinischer Synodalbeschluss“ 2005 auf der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Jetzt in: S. Kreuzer/F. Ueberschaer (Hg.), Gemeinsame Bibel – Gemeinsame Sendung. 25 Jahre Rheinischer Synodalbeschluss, Neukirchen 2006, 120ff. 108 D. Das Seminar im November 2007 sion und keine judenchristliche Mission. Es geht nicht um einen Religions- oder Glaubenswechsel, sondern um den prophetischen Umkehrruf in Israel. Er ist ein Zeugnis innerjüdischen Ringens um Jesus Christus, den Messias Israels im Horizont der Hoffnung Israels (Apg). Es gibt heute messianische Gemeinden in Israel, die vom Rabbinat als „Juden“ anerkannt sind. Judenchristliche Existenz ist eine Doppelexistenz. 2. Ein „innerbiblischer“ Dialog der ökumenischen Völkerkirche mit Israel: Das vorher Ausgeführte vorausgesetzt bedeutet dies nun nicht, im innerbiblischen Dialog den Glauben an Jesus Christus schamhaft zu verschweigen. Allein die Christologie ist die Klammer zwischen Israel und der Völkerkirche. Eine Judenmission, die auf Konversion angelegt ist, ist streng abzulehnen. Kritische Frage: Können Heidenchristen Juden Jesus so bezeugen, dass er im Sinne von Röm 15,8 ff. (Erfüllung der Väterverheißungen) zu glauben und eine jüdische Existenz in der Völkerkirche möglich ist ohne Entfremdung und Trennung vom Judentum? 3. Ein „interkonfessioneller Dialog“ der christlichen Konfessionen untereinander. 4. Ein „dialogisch-missionarisch-interreligiöser Dialog“ ... ... der ökumenischen Völkerkirche mit den Religionen (auch dem Islam!) und Weltanschauungen. Allein dieser Dialog steht in einer unauflösbaren dialektischen Beziehung zur unaufgebbaren Mission der Kirche. Er gilt den religiös „Fremden“ oder den innerhalb der ökumenischen Völkerkirche religiös „Entfremdeten.“ 109 110 Kirche = sakramentale Heilsanstalt: „salus extra ecclesiam non est.“ (Cyprian und Augustin) Mission = Ausbreitung des christlichen Imperiums. Taufe oder Tod. Judenmission heißt: Juden müssen ihr Judesein aufgeben. Taufe Symbol der Trennung vom Judentum, Eintrittskarte in die christlichbürgerliche Gesellschaft. Evangelikale Judenmission: Heil nur im Glauben an Christus. Das Evangelium Juden nicht zu verkündigen bedeutet, sie von der Möglichkeit des Heils auszuschließen. Tübingen 1999: „Die Psalmen müssen getauft werden, bevor sie im christlichen Gottesdienst gebetet werden können“ (Hofius). Göttinger „13“: Apg 1,8: Universaler Zeugnisauftrag gegenüber allen Menschen und Völkern. Motiv der Liebe: Man kann nur lieben, was man kennt, und nur denjenigen missionieren, den man liebt. Außerhalb der Kirche kein Heil: „Kein Jude, Ketzer, Heide oder Sünder wird selig, ohne sich mit der Gemeinde der Gläubigen versöhnt zu haben“ (WA 7.219,6-10). Erwählung wird zugunsten der „Rechtfertigung allein aus Glauben“ relativiert, indem sie kerygmatisiert und individualisiert wird. In der Predigt (Kerygma) allein ergeht der Ruf an den Einzelnen (Individualisierung). Im Hören ist man Erwählter. Negierung Israels als Volk Gottes. Juden als Gottesmörder. Durch Verwerfung Christi ist Erwählung hinfällig und auf die Kirche übergegangen (Substitutionstheorie). Zerstreuung der Juden geschichtsmächtiger Erweis des Gerichtes Gottes über die Juden. Wie die „Heidenmission“ so die „Judenmission“: Das Evangelium gilt universal wie der Missionsbefehl Mt 28/Apg 1,6-9. In der Mission geht es um Heil oder Unheil. Göttingen 1992 Tübingen 1999 Organisierte Judenmission des 19. Jahrhunderts Martin Luther Luth. Tradition Alte Kirche/Mittelalter Judentum exempl. Beispiel des Verharrens in der „Uneigentlichkeit“ der Existenz (Leben aus dem Verfügbaren, Gesetz). Evangelium Möglichkeit zur Eigentlichkeit der Existenz durchzudringen (Leben aus dem Unverfügbaren, Gnade). Existentiale Interpretation (Bultmann) Ökumenische Missionstheologie EKD Texte 77 „ Mission und Dialog sind zwei Dimensionen des christlichen Zeugnisses.“ Mission = Dialog, Zeugnis, Konvivenz. Dialog und „Zeugnis“ nicht aufteilbar auf Gruppen oder Religionen, denkt grundsätzlich universalistisch. Mission = Eröffnung von Freiheit (Sundermeier), gilt den weltanschaulich und religiös „Fremden“: Judentum wird zur nichtchristlichen „fremden“ Religion. EKD 77: Judentum=Unglaube Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Pro Judenmission Tübingen 1999: Juden und Christen zeugen Gottes vor der Welt. Heidenchristliche Judenmission unbiblisch. Judentum keine „defizitäre“ Religion. Göttinger „7“: Enge, unlösbare Verbindung mit Gottesvolk Israel. „Judenmission“ war Gewalt und Zwang. Ablehnung Judenmission weil der Gott Israels der „Vater“ Jesu Christi ist. Gemeinsame Grundlage des Glaubens. Problem: Defizitäre Christologie CuJ II: Bleibende Erwählung Israels. Röm 15,8ff. Schlüsseltext; Röm 9-11 „orientierende Mitte“ des ntl. Zeugnisses im Blick auf Judentum. Funktionale Christologie. Nicht von ökumenischer Missionstheologie (Dialog=Mission) geprägt, sondern von Barth („Messias Israels“) und Niederlande. Ziffer 4(6): Juden und Christen Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander. Christliches zeugnis gegenüber Israel anders als Mission an die Völkerwelt. Ablehnung der Parallelisierung von „Judenmission“ und „Heidenmission“, Ablehnung der Konversion von Juden, missio Judaica gehört zur missio Die. Problem: Judenchristen (nicht erwähnt). Niederlande: Differenzierung (1) Gespräch mit Israel. (2) Werk der Mission in der Völkerwelt, (3) Evangelisierung der postchristlichen säkularen Welt. Mt 28: Meint die nichtjüdische „Völkerwelt“. J.Chr. bedeutet für Israel etwas anderes als für die Völker: hier Umkehr im Bund, da Hinwendung zum Gott Israels. Versöhnung in Christus = Erfüllung des Bundes mit Israel. Gott nicht ohne Jesus und sein Volk Israel. Wirklichkeit des Heisl in Chr., nicht Möglichkeit (gegen Bultmann). „Nein“ Israels grundsätzlich und notwendig, Heil kommt so zu den Heiden. Kirche kann das „Nein“ nicht aufheben, Sache Christi (s. Paulus). Eschatologische „Rettung“ Israels = Aufgehen Israels in der Kirche aus Juden und Heiden. Radikaler Pietismus: Chiliasmus; Israel wird nicht durch die Kirche, sondern den wiederkommenden Christus „bekehrt“. Heilsgeschichte: Verstockung Israels-Heidenmission-Bekehrung Israels durch Christustausendj. Reich Christi. Grundsätzliche Ablehnung der Judenmission, nicht Aufgabe der Kirche. Zinzendorf: Gründung einer „Judenkehille“, Kaschrut und Sabbat, damit Juden- und Heidenchristen zusammen leben können. Judenchristen bleiben Juden! CuJ III: Bleibende Erwählung Israels. „So wie der Bund Gottes mit Israel ein Identitätsmerkmal Israels ist, so ist der Bund mit Israel ein Identitätsmerkmal Gottes selbst.“ Wer israel in die Kirche hinein „aufheben“ will, tastet die Identität Gottes an. Göttinger „7“ Tübingen 1999 CuJ II CuJ III RSB Niederlande Karl Barth Radikaler Pietismus Zinzendorf D. Das Seminar im November 2007 Contra Judenmission 1 111 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Contra Judenmission 2 112 D. Das Seminar im November 2007 Nein zur Judenmission – Gedankensplitter zu einer alttestamentlichen Sicht Johann Michael Schmidt 1. Das Alte Testament „Grund und Beweisung des Neuen“. Hermeneutische Grundlagen Durchgehend beruft sich das NT auf die „Schriften“ (1Kor 15, 3- 5) oder auf „Mose, Propheten und Schriften“ (Luk 24, 27 u. 44), um das Evangelium von Jesus als dem Christus, dem „König der Juden“, dem „Messias Israels“, auszusagen. Mit Recht nennt Luther darum das AT „Grund und Beweisung des Neuen ... Und was ist das Neue Testament anders denn ein öffentliche Predigt und Verkündigung der Sprüche, im AT gesetzt und durch Christum erfüllet“1. Für ihn ist das AT die grundlegende Schrift, grundlegend und maßgebend für das NT und die Urchristenheit; das NT dagegen ist für ihn Evangelium, d.h. mündliche, aktuelle Predigt – mit Hilfe und in der Sprache der „Schriften“, unseres ATs. Dieser Grundsatz ist heute zu praktizieren mit den heute üblichen Methoden und unter den heutigen geschichtlichen Bedingungen. Das heißt für mich: Das Neue Testament hat zu seiner Zeit mit seinen damals üblichen Methoden und unter seinen geschichtlichen Bedingungen die „Schriften“ benutzt und dementsprechend interpretiert, um je aktuell und dh vielfältig und verschieden bis gegensätzlich „das Evangelium“ (1Kor 15, 3- 5) auszusagen und zu verbreiten. Genauso versuche ich heute das Evangelium von Jesus Christus in biblischer Sprache, der Sprache des ATs, auszusagen, allerdings mit heutigen Methoden und unter heutigen geschichtlichen Bedingungen. Als die heute maßgebliche Methode gilt die historisch- kritische Methode. Sie zielt darauf, die Texte so wahrzunehmen und zu verstehen, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung und darüber hinaus während ihrer z.T. 1) Vorrede auf das Alte Testament (1523), MA 6, 1958, S. 21. 113 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission jahrhundertelangen Weitergabe bis hin zu ihrer Festlegung im Kanon verstanden und verwendet worden sind. Für sie ist der Wortlaut, der Literalsinn maßgebend, und sie bedient sich aller Mittel und Möglichkeiten, die die wissenschaftliche Erforschung von Texten und Sprache benutzen und bereitstellen. Ich definiere sie so: „Wie hat die einzelne Überlieferung in den Ohren der Menschen geklungen, unter denen er entstanden ist, unter denen sie von Generation zu Generation weitergegeben, dabei verändert, erweitert, gekürzt und mit anderen verbunden worden ist, und die das über Jahrhunderte Gewachsene schließlich im Rahmen einmal der jüdischen „Schriften“ und dann der christlichen Bibel im Wortlaut festgeschrieben und zum Bestandteil des jeweiligen Kanons gemacht haben“? Die heute herrschenden geschichtlich politischen Bedingungen werden durch die systematische Verfolgung und Vernichtung des Judentums bestimmt, dh. durch die größte Katastrophe des Christentums (!). Durch die Shoa und den Anteil von Christen daran haben wir Christen die uns tragende Grundlage verloren oder, biblisch gesprochen, die lebendige Verbindung zur Wurzel abgeschnitten. Neu- Einwurzelung, ganz- vonvorn- Beginnen ist für mich das Gebot der Stunde. Aus dem Programm, den Grundsatz M. Luthers mit heutigen Methoden und unter heutigen geschichtlich-politischen Bedingungen zu praktizieren, folgere ich: Das Neue Testament mit seinen zahlreichen Benutzungen „alttestamentlicher“ Texte gilt mir in methodischer Hinsicht als maßgebliches (kanonischen) Modell und Vorbild für eine je aktuelle, dh eine immer wieder neu zu leistende Verstehensweise und Ausrichtung des Evangeliums in biblischer Sprache, der Sprache des AT. Anders steht es mit den inhaltlichen Ergebnissen, zu denen ntl. Auslegung und Benutzung atl. Texte gekommen sind. Sie sind für mich nur so weit aussagekräftig, als sie im Einklang stehen mit den Eigenaussagen der benutzten atl. Texte. Die Orientierung am Wortlaut der atl. Texte, an ihren eigenen Stimmen wird mir damit zu einem wichtigen Mittel kanonkritischen Umgangs mit Benutzungen atl. Texte im NT. In etlichen Fällen lassen sich ntl. Benutzung atl. Texte mit deren heutiger historisch kritischen Auslegung nicht vereinbaren. Das ergibt sich zwangsläufig aus der damals allgemein von Juden und Griechen prak- 114 D. Das Seminar im November 2007 tizierten allegorischen und/ oder typologischen Auslegungsweise: Vereinfacht lässt sie sich mit der Rede von einem übertragenen oder auch geistlichen Sinn erklären. Die Verpflichtung auf historisch kritische Arbeitsweise veranlasst mich, solche Benutzung atl. Texte als zeitbedingt und zeitgebunden einzustufen; ihre Ergebnisse sind für mich heute nicht mehr relevant. Solche Relativierung gilt vor allem für solche Texte, die atl. Zitate oder Anspielungen für polemische Zwecke gegen Juden missbrauchen. Frage ich, wie solche Texte atl. Zitate oder Anspielungen gegen Juden wenden konnten, so zeigt sich: Nur mit Hilfe der damals allgemein geübten allegorischen oder typologischen Auslegungsweise; d.h. sie missachten bewusst und gewollt den Wortlaut und die ursprüngliche Aussageabsicht der herangezogenen Texte. Musterbeispiele sind Gal 4, 21ff und 2Kor 3, 7ff. Auch um ihrer verheerenden Wirkung willen will ich solche Texte auf ihre damalige Geltung begrenzen. Sie gehen uns heute nichts mehr an! Umso mehr fällt die Benutzung atl. Texte in Röm 15, 8- 12 (und 9- 11) auf: In Röm 15, 7- 13, „der „Summe des Römerbriefs“2 bringt Paulus die Bedeutung des Christus für die „Beschneidung“ und für die Völker auf den Punkt: Im Blick auf Israel nennt er „Christus Diener der Beschneidung um der (Bundes)Treue willen“. Im Blick auf die Völker verweist er darauf, „dass die Völker den Gott Israels loben“, und versteht es als Erweis der „Gnade“. Den Begriff „(Bundes)Treue“ bezieht er auf die Heilsbedeutung Christi für die „Beschneidung“, den Begriff der „Gnade“ auf die Heilsbedeutung Christi für die Völker. Beide Begriffe „(Bundes)Treue und Gnade“ entnimmt Paulus vermutlich aus Ps 117: „Lobet JHWH alle Völker, preiset ihn alle Nationen, denn seine Gnade und Treue walten über uns in Ewigkeit“. Beide Aussagen von der Bundestreue Gottes zu seinem Volk und von der Gnade für die Völker stellt er unter den Sinn , „damit die Verheißungen an die Väter bestätigt werden ... wie geschrieben steht“; und dann folgen vier Schriftzitate, die die Beteiligung der Völker am Lobpreis Israels und die Teilhabe an seinem Heil bezeugen. Diese Schriftzitate führt er mit ihrem Wortlaut an, er argumentiert mit ihrem Wortlaut! Eine Umdeutung der atl. Texte ist überflüssig: Die wörtliche Verstehensweise, der Literalsinn allein sind entscheidend. 2) G. Saß, Röm 15, 7- 13 – als Summe des Römerbriefs gelesen, EvTh 93 (1993) S. 510- 525. 115 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Verallgemeinert ergibt sich aus den verschiedenen Benutzungen atl. Text im NT dieses Bild: Judenfeindlich benutzte Texte basieren auf allegorischer oder typologischer Auslegung und stehen im Widerspruch zu ihrer eigenen Stimme, so weit sie mit Hilfe historisch kritischer Auslegung vernehmbar ist. Heilvolle Aussagen über das jüdische Volk können sich auf den Wortlaut der betr. atl. Texte und wortwörtliche (literarische) Auslegung berufen, entsprechen heutigen methodischen Anforderungen. Was folgt daraus? Die judenfeindlich missbrauchten Texte müssen mit ihrer Benutzung atl. Texte denen untergeordnet werden, die die Treue Gottes zu seinem Volk und den bleibenden Bestand seines Bundes mit ihm aussagen und sich dazu auf den Wortlaut, auf die eigene Stimme der herangezogenen atl. Texte berufen können. Jene will ich als zeitbezogene und – begrenzte Aussagen nehmen; unter ihren geschichtlich politischen Bedingungen mögen sie ihren Sinn gehabt haben. Unter heutigen geschichtlich politischen Bedingungen sind für mich nur die ntl. Benutzungen atl. Texte massgeblich, die ihren Wortlaut achten und die Treue des Gottes Israels zu seinem Volk bezeugen. 2. Christologie auf der Basis und im Rahmen der ntl. und urchristlichen Bibel Alle ntl. messianischen Würdenamen und Titel, die im NT Jesus von Nazareth beigelegt werden, stammen aus dem AT. Nach dem o.g. methodischen Grundsatz sind sie dementsprechend biblisch, d.h. atl. und zwar im Sinn der eigenen Stimmen der betr. atl. Texte zu verstehen und auszulegen, soweit sie mit heutigen Methoden vernehmbar sind. Die zahlreichen messianischen Würdenamen und Titel lassen sich ordnen nach ihrem je vorherrschenden Bezug: Eine Gruppe von ihnen zielt gemäss ihrer biblischen (atl.) Basis mehr auf den Gott Israels selbst, dazu gehört v.a. „kyrios“, die griech. Umschreibung des JHWH- namens; dazu gehören ferner die königlichen Namen wie König, Messias, Hirte, zumal in johanneischer Überlieferung. – Andere messianische Würdenamen zielen mehr auf das Gottesvolk Israel: Gottesknecht, Sohn Gottes, Menschensohn. 116 D. Das Seminar im November 2007 Alle Würdenamen in beiden Gruppen sind auf das einzigartige Verhältnis zwischen dem Gott Israels und seinem Volk gerichtet. Alle benennen und beschreiben Funktionen und Aufgaben, sind keine Wesensaussagen im philosophischen Sinn. Alle Funktionen und Aufgaben lassen sich zusammenfassen unter dem sie alle verbindenden Aspekt der Repräsentanz und der Vermittlung. Die Rede von dem „Juden Jesus“ als „Messias Israels“ im Synodalbeschluss der Ev. Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 19803 verstehe ich danach so: Der Jude Jesus von Nazareth ist der Repräsentant und Mittler des Gottes Israels und seines Volkes – für wen? Die Antwort gibt einmal das AT mit seinen Segensaussagen und Verheißungen für die Völker; die Antwort gibt zum anderen die Entstehungsgeschichte des NT und des Christentums: Schnell wurde aus einer auf den Juden Jesus von Nazareth zentrierten Gruppierung innerhalb des vielgestaltigen Judentums des 1. Jh.s die weltweite Kirche aus den Völkern. Im gleichen Zug wurden die ältesten noch aus dem vielgestaltigen Judentum stammenden Jesus- Überlieferungen spätestens durch ihre Kanonisierung in der Zeit vom zweiten bis vierten Jahrhundert Bekenntnis- und Lehraussagen für die völkerchristliche Kirche. 3. Ekklesiologie auf der Basis und im Rahmen des AT Aus dem letztem Gedanken ergibt sich, dass auch für das Verständnis der Kirche, der Kirche aus den Völkern, das „AT“ als grundlegende Schrift Basis und Rahmen bietet. Basis und Rahmen sind konkret die vielfältigen Aussagen des AT zu den Völkern, eingebettet in diejenigen, die für alle Menschen, die Schöpfung und alle Kreatur gelten (vor allem, Urgeschichte Gen 1- 11 und Weisheit). Von Gen 12, 3, dem Auftrag an Abraham und seine Nachkommen „Segen für alle Generationen der Erde“ zu sein, spannt sich ein Bogen bis zur Vision von der endzeitlichen Wallfahrt der Völker zum Zion (Jes 2, 2- 5 u. Mi 4, 1- 5). Unter ihn fügt sich die Geschichte der Kirche in der Nachfolge des Juden Jesus, des „Messias Israels“. Er wird noch einmal überwölbt von 3) Abschn. 4 (3), Handreichung Nr. 39, 2. Aufl. 1985, S. 10. 117 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission dem Rahmen der Bibel, vom Anfang, an dem „Gott Himmel und Erde schuf“ (Gen 1, 1), bis zur Vision von dem „neuen Himmel und der neuen Erde“, die die christliche Bibel abrundet (OffbJohs 21, 1). Aus diesem Ansatz ergeben sich mehrere Folgerungen: • • • Zu den Aussagen des AT über die Völker gehören auch die unheilvollen Worte, die die unheilvollen Erfahrungen widerspiegeln, die Israel mit den Völkern gemacht hat. Denke ich daran, dass solche Erfahrungen auch die mit christlich gewordenen Völkern einschließen, fällt es mir leichter, auch solche Aussagen des AT auszuhalten. Beschränke ich die Geltung des AT auf die Aussagen, die direkt oder indirekt von den Völkern handeln, dann folgt daraus, dass wir Völkerchristen alle anderen Aussagen, die Israel gelten, auch so gelten lassen: Sie gehen uns nichts an! Das entlastet auch, wenn ich an die strengen Toravorschriften etwa in den mittleren Büchern des Pentateuch denke. Heilsworte etwa aus den Psalmen und Propheten, die ebenfalls im Sinn ihrer eigenen Stimmen Israel gelten, müssen eigens bedacht werden: Sie bedürfen eigener Vermittlung durch den Juden Jesus, den Messias Israels, den Repräsentanten und Mittler des Gottes Israels und seines Volkes für die Völker. Das „Neue“ am NT und seinen Inhalten ist die Erweiterung der Erwählungsgeschichte des Gottes Israels mit seinem Volk. Anders formuliert: Das Neue ist die Bestätigung der Verheißungen, dass die Völker teilhaben werden an der Erwählungsgeschichte des Gottes Israels mit seinem Volk, und der Beginn ihrer Erfüllung. Das hat sich in der Geschichte der Kirche bewahrheitet: Die Kirche in der Nachfolge des Juden Jesus von Nazareth, des Messias Israels, oder als sein Leib ist Kirche aus den Völkern geworden, aufbauend auf der im jüdischen Volk verwurzelten Urgemeinde. Die damit einhergehende Loslösung vom jüdischen Mutterboden hat dem jüdischen Volk unendliches Leid und der Kirche unendlichen Schaden zugefügt. Im rheinischen Synodalbeschluss heißt es: „Wir glauben die bleibende Er- 118 D. Das Seminar im November 2007 wählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist“. Die Erwählung des Gottesvolkes Israel ist also die Basis der Kirche Jesu Christi aus den Völkern, ihr Kirche- Sein beruht auf ihrer Teilhabe an der Erwählungs- und Bundesgeschichte des Gottes Israels mit seinem Volk. Von „Hineinnahme in den Bund“ möchte ich nicht sprechen, schon darum nicht, weil die Rede vom Bund im Singular der Mehrzahl der „Bünde“ im AT nicht gerecht wird: Die Christen aus den Völkern sind in den Abraham- und Davidbund aufgenommen, wie es im AT verheißen ist: Gen 12, 3 u. Jes 55, 3- 5. Der Sinai- oder torabezogene Bund bleibt Israel vorbehalten. Statt von „Hineinnahme“ spreche ich lieber von „Teilhabe“. Ihr liegt der zentrale Begriff, der meist mit „erkennen“ wiedergegeben wird, zu Grunde. Klassischer Beleg ist Ps 100, 3. „Erkennet, dh habt daran teil (angeredet sind „alle Lande“, alle Völker), dass JHWH Gott ist. Er hat uns (Israel) gemacht, ihm gehören wir, sein Volk und Schafe seiner Weide“: Vgl. dazu die „Erkenntnis“ - aussagen in Ez 36, 23 u. 37, 28: Die Heiligung des Namens durch den Gott Israels selbst geschieht in aller Weltöffentlichkeit vor den Völkern, „damit sie erfahren (teilhaben daran), dass ich JHWH bin“. Wenn wir im Vater Unser um die Heiligung des Namens bitten, dh uns auf sie verpflichten, dann erfüllt sich an uns jene prophetische Verheißung – durch den Juden Jesus, den Messias Israels, dem wir dieses Gebet verdanken. 4. Das Alte Testament als Basis und Maßstab unserer Wahrnehmung des jüdischen Volkes Ich weiß wohl, dass das AT für Juden nur die eine Hälfte der Tora ist, die schriftliche Tora, und dass für ihr Selbstverständnis die mündliche Tora insofern noch wichtiger ist, als sie in einem fortfliessenden, nicht abreissenden Strom das konkrete Leben regelt. Gleichwohl nehme ich als Völkerchrist nur das „AT“ als Basis und Maßstab meiner theologischen Wahrnehmung des jüdischen Volkes und meiner Bemühungen um ein neues Verhältnis zu ihm: Die mündliche Tora ist Tora für Israel, 119 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission die schriftliche, unser AT, in Teilen zumindest auch Tora für die Völker. Was heißt das? Meine hier verkürzte Antwort enthält zweierlei: Einmal ist der cantus firmus in der bewegten Geschichte Israels und dessen kritischen Vergegenwärtigungen die Treue des Gottes Israels zu seinem Volk. Alle Prophetenbücher, so radikal sie auch mit Israel ins Gericht gehen, gründen auf der Rede von „meinem Volk“ (Am 8, 2 „gekommen ist das Ende für mein Volk Israel“ oder „reif zur Ernte ist mein Volk Israel“). Ferner enden auch die Bücher der sog. Unheilspropheten und ihre bewegte Entstehungsgeschichte mit der Zusage der endgültigen Rettung und der Heilung des zerrütteten Verhältnisses. Die Verheißung des „neuen Bundes“ nach Jer 31, 31- 34 gilt in der ältesten Fassung nur dem Nordreich Israel, in der späteren, vorliegenden dann auch Juda! Daraus ergibt sich mir der Glaube, dass Israel „beim Vater ist“ (F. Rosenzweig zu Joh 14, 6) oder, wie es Paulus formuliert: „Ihnen gehören die (Gottes)Kindschaft und die Herrlichkeit (Gottes) und die Bundesschlüsse (!) und die Tora und der Gottesdienst und die Verheißungen, auch die Väter, aus denen Christus herkommt nach seiner irdischen Abkunft (nach dem Fleisch) – Gott zum Lobe über alles in Ewigkeit“ (Röm 9, 4f.). Zum anderen kann ich mir kritische Auseinandersetzung mit Juden nur nach dem Vorbild und Maßstab prophetischer Kritik vorstellen: Unabdingbare Grundlage ist die uneingeschränkte Solidarität mit denen, die die Kritik trifft, begründet in ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Volk. Für die Propheten ist sie selbstverständlich; sie äussert sich in ihrer Verzweiflung und ihrem Leiden, mustergültig bei Jeremia. Bei Paulus finde ich diesen Maßstab (noch) gewahrt, vgl. Röm 9, 2f. Da wir als Christen aus den Völkern diese Bedingung nicht erfüllen können, kann allenfalls uneingeschränktes Vertrauen der jüdischen Gesprächspartner Fragen und Kritik ermöglichen. 5. Resümee: Was wollen wir Völkerchristen Juden eigentlich sagen, was sie nicht längst wüssten und was für sie seit biblischen Tagen gilt? Wenn Christsein und Kirchesein auf der Teilhabe an dem einzigartigen Verhältnis zwischen dem Gott Israels und seinem Volk beruht und darin besteht, kann Mission nur Mission unter den Völkern heißen. 120 D. Das Seminar im November 2007 Ihr Erfolg ist dann Erfüllung der Verheißungen, die solche Teilhabe der Völker zum Inhalt haben – klassisch formuliert in Röm 15, 7- 13, der „Summe des Römerbriefs“: Hier finden sich mehrere Stellen, die für Paulus die Grundlage seiner Mission unter den Völkern und der Gründung völkerchristlicher Gemeinden bilden. Wir können im Gespräch mit Juden allerdings unser Selbstverständnis i. S. der Teilhabe äussern, wenn wir es denn glaubwürdig tun können, wenn sie uns glauben können. Wir können uns auch mit Juden über unser jeweiliges Verstehen „alttestamentlicher“ Texte austauschen, ja streiten, wenn, ja wenn wir die Bedingung jeden Gesprächs erfüllen, dass wir uns unserer eigener Fehlbarkeit und Irrtumsfähigkeit bewusst sind, auf jegliche Besserwisserei verzichten und frei sind von jeglichem Überlegenheitsgefühl. Und auch hier gilt: Entscheidend für das Gelingen solcher Gespräche ist das wechselseitige Vertrauen. 121 Rheinreden 2007: Das Kölner Nein zur Judenmission Der christlich-jüdische Dialog und unser Verhältnis zu den messianischen Juden Marten Marquardt Am 30. 11. 2007 nimmt das Mitglied der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz, Aachen, Dr. Phil. h. c. Hans Hermann Henrix in einem Leserbrief Stellung zur schwierigen Frage, wie sich denn die Partner im christlichjüdischen Dialog, die Judenmission mit guten Gründen ablehnen, zu den messianischen Juden verhalten sollten.1 Er plädiert dafür, das Phänomen der messianischen Juden sehr ernst zu nehmen. Dabei bezieht er sich auf Mark S. Kinzer2, der „die Gemeinschaft jener, die an Jesus als Messias glauben, als Ekklesia mit einer besonderen und einzigartigen Beziehung sowohl zu Jesus als auch zum jüdischen Volk und zur jüdischen orthodoxen Lebensweise“ beschreibt. Henrix sagt dazu: „Ein solcher Entwurf steht an der Schwelle zwischen Christentum und Judentum und hat sich noch der Rezeption innerhalb der jesusgläubigen jüdischen messianischen Gruppen auszusetzen.“ Im Blick auf die christlichen Gesprächspartner aus den Völkerkirchen fährt Henrix fort: „Kirchenleute und Frauen und Männer christlicher Theologie, die den christlich-jüdischen Dialog aktiv führen und ihn in deutlicher Unterscheidung zur Mission verstehen, werden das Phänomen des gegenwärtigen jesusgläubigen messianischen Judentums gewiss nüchtern weiter zu verfolgen haben. Sie werden aber den Bedingungen treu bleiben wollen, die für sie im Dialog gewachsen sind. Wenn sie das Dasein des gegenwärtigen messianischen Judentums achten, so werden sie in ihm 1) Hans Hermann Henrix, Leserbrief an die FAZ, abgedruckt in FAZ vom 30.11.2007, Nr. 279, S. 11 unter der Überschrift „Kardinal Schönborn und die messianischen Juden“ 2) Postmissionary Messianic Judaism: Redefining Christian Engagement with the Jewish People by Mark S. Kinzer (Paperback - Nov 1, 2005) (Postmissionarisches messianisches Judentum) 122 Ausblick nicht den heimlichen Zielpunkt des christlich-jüdischen Dialogs sehen können. Denn dieser Dialog ist Austausch von Glaube zu Glaube – ohne unausgesprochene Absicht als Hintersinn. Deshalb ist auch die insinuierte Arbeitsteilung – hier (auf Diözesanebene, MM) Kontakt mit messianischen Juden, dort (in Rom, MM) christlich-jüdischer Dialog – nicht hilfreich. Schaden ist von dem für die Kirche der Gegenwart vitalen Dialog nur fernzuhalten, wenn der Kontakt mit messianischen Juden in der Gegenwart von jüdischen Partnern des Dialogs gepflegt wird.“ Wir werden ungeachtet unserer eindeutigen Ablehnung der Judenmission an dieser Stelle im Sinne dieser und entsprechender weiterführender Überlegungen von Henrix3 noch sehr intensiv weiter arbeiten müssen. Für diese künftige Weiterarbeit würde sich sicher eine regelmäßigere Zusammenarbeit der evangelischen und der römisch-katholischen Partner im christlich-jüdischen Dialog empfehlen. 3) Vgl. Hans Hermann Henrix, Von der Mission ohne Dialog zum Dialog ohne Mission, in: Kirche und Israel 1 / 2007 123