Autobiografisches Erinnern in Irene Gut Opdykes Wer ein Leben rettet… Eine wahre Geschichte aus dem Holocaust (2000) und Anita Lobels Das Versteck auf dem Dachboden. Eine Kindheit in Polen (2002) Inhaltsverzeichnis 1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung ........................................................ 3 2 Aktueller Gedächtniskurs ............................................................................................... 5 2.1 ›Memoire collective‹ von Maurice Halbwachs .................................................................. 5 2.2 ›Mnemosyne-Pathosformen‹ von Aby Warburg ................................................................ 6 2.3 ›Lieux de mémoires‹ von Pierre Nora ................................................................................ 7 2.4 Kulturelles Gedächtnis von Aleida und Jan Assmann ....................................................... 8 2.5 Erinnerungskulturen zum Konzept der Justus-Liebig-Universität Gießen ...................... 10 3 Erinnerte Geschichten in den autobiografischen Texten ........................................... 13 3.1 Autobiografisches Schreiben als subjektive Geschichtsschreibung ................................. 13 3.2 Die ‚Wunde der Zeit’ in der Auffassung von Aleida Assmann ....................................... 16 3.3 Das ‚Leiden unter Geschichte’ – Zur (Un-)Aussprechbarkeit traumatischer Erfahrungen ............................................................................................................................ 16 3.4 Franz K. Stanzel – Autobiografie als Fiktion ................................................................... 18 3.5 Autobiografische Texte der deutschen jüdischen Schriftsteller nach der Shoah.............. 19 3.6 Erzählen über Kindheit und Adoleszenz in der deutschen Gegenwartsliteratur .............. 22 3.7 Erinnerungen an Auschwitz ............................................................................................. 23 3.7.1 Erinnerungen der Nicht-Betroffenen 23 3.7.2 Erinnerungen der KZ-Häftlinge 24 4 Analysen von Texten ..................................................................................................... 26 4.1 Erinnerung und Wahrnehmung in der Subjektivität von Anita Lobel in narratologischer Sicht ............................................................................................................. 26 4.1.1 Krakau als Erinnerungsraum 26 4.1.2 Gedächtnis an verlorene Kindheit 29 4.2 Erinnerungen an den Holocaust in der Autobiografie von Irene Gut Opdyke ................. 33 4.2.1 Leben im Radomer Getto .............................................................................................. 34 4.2.2 Mitleid mit den Gefangenen .......................................................................................... 36 5. Vergleich beider Autobiografien ................................................................................. 39 5.1 Der Albtraum Krieg .......................................................................................................... 39 5.2 Befreiung und Rückkehr ins Leben .................................................................................. 44 5.3 Auf der Suche nach der neuen Heimat ............................................................................. 47 5.4 Kindheitserinnerungen der polnischen und der jüdischen Autorin .................................. 50 6. Zusammenfassung ...................................................................................................... 54 7 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 55 7.1 Primärliteratur........................................................................................................... 55 6.2 Sekundärliteratur ...................................................................................................... 56 2 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung Gedächtnis ist ein „soziales Phänomen“1. „Das Gedächtnis entwickelt sich nicht in Isolation, sondern ist immer schon sozial auf andere Individuen und, auf politischer Ebene, auf andere Gruppen bezogen, wo es auf andere Gedächtnisse reagiert und Bezug nimmt.“2 Der Begriff ist sehr umfangreich und er wird als kollektive oder individuelle Erfahrung oder Wahrnehmung betrachtet. Woran sich jemand erinnert bzw. was erinnerungswürdig ist, bestimmen die Relevanzrahmen. Die Menschen entscheiden darüber, treffen die Wahl und konstruieren erfahrungsbezogene Texte selbst, die zu Erinnerungsliteratur werden können. Die Bindung zwischen Literatur und Gedächtnis ist sehr eng. Literatur gilt als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Texte, Erzählungen, historische Romane tragen einen großen Beitrag zur Vermittlung, Entwicklung und Verbreitung der Geschichte bei. „Sie tragen über nationale Grenzen hinaus zur Entwicklung von Vergangenheitsbewusstsein und sinngebenden Vergangenheitskonstruktionen (das Gestern im Heute) sowie zur bewussten Teilhabe an der Zirkulation des sozialen Sinns bei.“3 Im Laufe der Zeit baut sich das kulturelle Gedächtnis in Texten als kulturelles Erbe auf. Heutzutage ist sowohl für Literaturrezipienten als auch für die Autoren selbst der Gebrauch von Erinnerungen in Texten einer Erfahrungsgemeinschaft und die Verwertung der Vergangenheit in hypothetischen Räumen, die an bestimmten historischen Merkorten lokalisiert werden, sehr wichtig. Den Literaturrezipienten wird dadurch ermöglicht, genauer und aus verschiedenen Perspektiven geschichtsträchtige Ereignisse zu erfahren und den Autoren ihre Gefühle, Erlebnisse und Gedanken auf ihre Weise zu verdeutlichen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist das wachsende Interesse der Deutschen an der Erinnerung und dem Gedächtnis zu einem Leitbegriff kulturwissenschaftlicher Neuorientierung deutlich geworden. Besonders bei der jüngeren Generation hat das Interesse an Geschichte hinsichtlich des Zweiten Weltkrieges sehr zugenommen. Alte Menschen, die am Krieg teilgenommen haben und aus der Vergangenheit erzählen, kommen immer auf dieses eine Thema zu sprechen und erzählen viele Geschichten. Meist sind das die Generationen unserer Großeltern. Die nächste Generation, unsere Eltern, haben diese Zeit als Kinder erlebt aus einer ganz anderen Perspektive, aber genau so fesselnd. Auch bei ihnen ist diese historische Zeit ein Teil ihrer eigenen Geschichte, über die sie noch häufig erzählen. Die schrecklichen Erlebnisse und das Leid im KZ-Lager, die Eskalation der Judenverfolgung und die 1 Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945.Literarische Fallstudien.Wrocław/Dresden: Neiße Verlag 2007, S.30. 2 http://www.goethe.de/ges/pok/dos/dos/ern/kug/de3106036.htm (konsultiert am 07.05.2009). 3 Vgl.ebd. S.32. 3 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz systematische und massenhafte Ermordung bestimmter Bevölkerungsgruppen, nicht nur Juden, sondern auch sehr vieler Polen, Kommunisten, Dissidenten, Politiker, Intellektuellen und auch Spaniern, bleiben in unseren Köpfen präsent4. Im Folgenden soll anhand einiger grundlegender begrifflicher Unterscheidungen ein Überblick über das weite und komplexe Gebiet der kulturellen Gedächtnisforschung geschaffen werden. Die literarischen Texte gelten als Versuche, die eigene Familiengeschichte zu untersuchen. Vor allem das autobiografisches Schreiben gilt als Erinnerungsliteratur und Erinnerungskultur. Kriegskinder haben viel zu erzählen, von einer Kindheit die anders war als die vor ihnen und die nach ihnen. Durch die Erinnerungen der letzten, unschuldigen Zeugen bekommen wir Antworten auf viele Fragen: Wie haben die Kinder damals den Krieg erlebt? Welche Traumatisierungen erfuhren sie? Wie sahen ihre Lebenswelten aus? Welche Erfahrungen sammelten sie? Wie sind die Menschen nach diesen prägenden Jahren mit ihrem weiteren Leben umgegangen? Die Fülle an vorhandener und immer noch entstehender Literatur überliefert uns die Ereignisse, die in der Vergangenheit stattfanden. Sie hat Einfluss darauf, wie und ob diese Informationen erhalten bleiben sowie darauf, was die Menschen heutzutage wissen, also auf unsere Bildung. 4 Vgl. Kusznierz, Iwona: Praca licencjacka, Auschwitz im Spiegel der spanischen Presse, Gorzów Wlkp. 2007, S.4. 4 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 2 Aktueller Gedächtniskurs 2.1 ›Memoire collective‹ von Maurice Halbwachs Der französische Soziologe des 20. Jahrhunderts, Maurice Halbwachs, entwickelte den Begriff ›memoire collective‹5. In seinen Studien schreibt er, dass Erinnerung sozial bedingt und daher ein kollektives Phänomen ist. Soziale Bedingtheit bedeutet, dass das soziokulturelle Umfeld in den Fakten und Daten durch die Interaktionen zwischen den Menschen vermittelt wird, was Einfluss auf das kollektive Gedächtnis hat. Astrid Erll verweist auf zwei grundlegende Konzepte von kollektivem Gedächtnis, die von M. Halbwachs stammen: 1. Das kollektive Gedächtnis als organisches Gedächtnis des Individuums, das sich aus dem soziokulturellen Umfeld herausbildet; 2. Kollektives Gedächtnis mit Bezug auf Vergangenes durch Interaktion, Kommunikation, Medien und Institutionen. Maurice Halbwachs führte den Begriff ›cadres sociaux‹6, soziales Umfeld, ein, da jede Erinnerung sozial geprägt ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen, er braucht also andere Mitmenschen, um zu kommunizieren. Durch Kommunikation mit anderen Menschen können wir Erfahrungen sammeln. Diese sozialen Rahmen vermitteln und perspektivieren die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses. Das kollektive und das individuelle Gedächtnis sind voneinander abhängig. Das individuelle Gedächtnis ist ein Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis7. Jeder Mensch gehört mehreren Gruppen an: der Familie, der Religionsgemeinschaft und am Arbeitsplatz gehört er zum Team. Jeder einzelne Mensch unterscheidet sich von den anderen. Jeder von uns ist ein Träger von Individualität, hat andere Erinnerungsformen und gehört unterschiedlichen Gruppen an. Eine Art des kollektiven Gedächtnisses ist das Familiengedächtnis, das ein Generationsgedächtnis ist. Es wird von den Familienmitgliedern getragen: Urgroßvater, Großmutter, Vater, Mutter, Kinder, Enkel. Es ist „ein typisches intergenerationelles Gedächtnis“8. Es findet zwischen ihnen „ein Austausch lebendiger Erinnerungen zwischen Zeitzeugen und Nachkommen“ statt. 5 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar 2005, S.15. Ebd., S.15. 7 Ebd., S.16. 8 Ebd., S.16. 6 5 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Das kollektive Gedächtnis erfasste Halbwachs hingegen in drei Dimensionen: 1. Individuelles Gedächtnis, das im Rahmen einer Gruppe sozial geprägt ist. Wir sind die Träger des kollektiven Gedächtnisses.Wir sind sozial geprägt, wir kommunizieren. 2. Generationsgedächtnis: Mündliche Überlieferungen, kollektives, intergenerationelles Familiengedächtnis. 3. Tradierung kulturellen Wissens: das kulturelle Erbengedächtnis9. 2.2 ›Mnemosyne-Pathosformen‹ von Aby Warburg Wenn man über das kollektive Gedächtnis spricht, muss man Aby Warburg , den Kunstund Kulturhistoriker der 1920er Jahre, nennen. Die Konzeptionen von Maurice Halbwachs und Aby Warburg unterscheiden sich grundlegend voneinander, weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf. Halbwachs hat gesagt, dass das zentrale Medium des kollektiven Gedächtnisses die mündliche Rede ist. Für Warburg hingegen ist das Kunstwerk das zentrale Medium des kollektiven Gedächtnisses. Das Kunstwerk besitzt die Fähigkeit, die bestimmten historischen Zeiten überdauern zu können und somit in einem anderen Raum zu wirken. Er spricht von der „Wiederkehr künstlicher Formen”10. Die Motive kehren nicht als Ergebnis einer bewussten Aneignung dieser Motive durch Künstler späterer Epochen. Er weist darauf hin, dass die kulturellen Symbole eine erinnerungsauslösende Kraft haben, z. B. das Gemälde „Mona Lisa” da Vinci; die Bilder von Jan Matejko; das Alte Schloss in Stuttgart und die antiken Baumuster, mit denen hier gearbeitet wurde; das Bild „Kreuzigung Christi“ von Massacio und die Marmorstatue Davids von Michelangelo. Warburg hat den Begriff ›Pathosformeln‹11 geprägt, diese verbinden sich mit menschlichem Ausdruck in Bezug auf Physiognomie. Die Kunst verbindet sich mit „Ausdruck und Orientierung”12. Sie drückt Emotionen aus, und weist in ganz bestimmter Richtung auf ihren Symbolgehalt hin. Die Kunst wirkt, entfaltet ein Wirkungspotenzial. Sie schreibt sich in unser Gedächtnis ein und wirkt durch die Betrachtung. Das Kunstwerk hinterlässt dadurch geistige Spuren, die „kulturellen Engramme oder Dynamogramme, die mnemische Energie 9 Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. 11 Ebd., S. 19. 12 Ebd., S. 21. 10 6 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen”13. Das Kunstwerk hat eine Energie, die das Gedächtnis fördert. Die Kunstwerke stehen für das kollektive Gedächtnis und sind so Exponente der Theorie. Das kollektive Gedächtnis wird von Warburg von dem materiellen Kunstwerk her argumentiert, Halbwachs stattdessen bezieht sich eher auf die soziale Dimension. Beide Konzeptionen weisen darauf hin, dass die Überlieferung der Kultur ein Produkt des menschlichen Handelns ist14. Die Untersuchungen regten zu Diskussionen um das kollektive Gedächtnis in den 1920er Jahren an. 2.3 ›Lieux de mémoires‹ von Pierre Nora Im Bereich der Geschichtswissenschaft ist der Franzose Pierre Nora zu erwähnen. Sein Standardwerk Les lieux de memoire aus den Jahren 1984-1992 in sieben Bänden wurde zu einem monumentalen Werk. Darin betont Nora, dass Gedächtnis und Geschichte zueinander in Kontrast stehen. „Gedächtnis, Geschichte; keineswegs sind die Synonyme, sondern [...] in jeder Hinsicht Gegensätze.”15 Pierre Nora verwendet gezielt den Terminus ›loci‹ für die Erinnerungsorte, welche die Erinnerungsbilder der französischen Nation aufrufen. Erinnerungsorte greifen wichtige Inhalte und Themen aus der Vergangenheit auf: Geografische Orte, wissenschaftliche und historische Persönlichkeiten, Gedenktage, Gebäude, philosophische Schriften, Denkmäler und Kunstwerke, symbolische Handlungen, aber auch Redeweisen, die für bestimmte Nationen relevant sind sowie soziale Umgangsformen. Laut Nora gibt es heutzutage kein kollektives Gedächtnis mehr. Allerdings vermögen Erinnerungsorte es nicht, ein kollektives Gedächtnis im Halbwachs’schen Sinne zu konstituieren. Ganz im Gegenteil erklärt Nora: „Es gibt ›lieux de memoire‹, weil es keine ›milieux de memoire‹ mehr gibt.”16 Nora plädiert für die Bezeichnung „Erinnerungsorte“, weil sich die Situation in Frankreich des 20. Jahrhunderts sowie seine gesellschaftlichen Strukturen, z. B. durch Immigration – oftmals aus ganz anderen Kulturkreisen –, verändert hat. Diese 13 Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. 15 Ebd., S. 23. 16 Ebd., S. 23. 14 7 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Erinnerungsorte gelten als eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, natürliche, kollektive Gedächtnis. Pierre Nora hat auch Voraussetzungen dargelegt, die eine kulturelle Objektivation erfüllen muss, um als Erinnerungsort bezeichnet werden zu dürfen. Er spricht von drei Dimensionen der kulturellen Objektivation: 1. die materielle, nicht unbedingt fassbare; 2. die funktionale; und 3. die symbolische. Diese drei Dimensionen kann man mit Hilfe des Konzentrationslagers Auschwitz darstellen. Als materielle Dimension gelten hier die Krematorien, Gaskammern und Verbrennungsöfen. Auschwitz erfüllt aber auch eine positive Funktion in der Gesellschaft: Es erinnert die Menschheit – unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit – an die Verbrechen der Vergangenheit und an die industrielle Vernichtung der Menschen. Es erinnert an die Zeit, in der die Menschenwürde mit Füßen getreten wurde. Auschwitz hat so eine symbolische Aura, eine Aura des Todes, der Vernichtung des Menschen. Es ist eine Todeslandschaft. Noras Überlegungen fanden großen, internationalen Anklang. 2.4 Kulturelles Gedächtnis von Aleida und Jan Assmann Ende der 1980er Jahre haben Aleida und Jan Assmann den Begriff des kulturellen Gedächtnisses analysiert, das viele wissenschaftliche Disziplinen verbindet, wie z. B. Geschichts-, Religions-, Literatur- und Altertumswissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie. Da kommunikatives und kulturelles Gedächtnis sich voneinander unterscheiden, gliederten Jan und Aleida Assmann dieses Phänomen in zwei ›Gedächtnis-Rahmen‹17: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis entsteht in der Alltagskommunikation und bezieht sich auf einen begrenzten Zeitraum (von 80 bis 100 Jahre)18 und wird persönlich von Zeitzeugen bestimmt. „Jeder gilt hier als gleich kompetent, sich der gemeinsamen Vergangenheit zu erinnern und diese zu deuten”19. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses werden vor allem mündlich übertragen und dienen der Erinnerugskommunikation. Beim kulturellen Gedächtnis handelt es sich um feste Ereignisse, die weit zurückliegen, gruppenspezifisch sind und selektiv konserviert werden. Die Vergangenheit wird durch Worte, Bilder, Tanz, religiöse Handlungen, 17 Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. 19 Ebd., S. 28. 18 8 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Rituale, Zeremonien, Bauwerke, Literatur und Musik weitergegeben. Durch die Pflege dieser Texten, Bilder und Riten wird das Selbstbild stabilisiert und vermittelt. Dieses Gedächtnis beeinflusst soziale Gruppen und deren Identitätsbildung. Das Gedächtnis wird z. B. durch Priester gefestigt, die verbindliche gruppenbezogene Werte und Inhalte zu vermitteln versuchen. Das kulturelle Gedächtnis lässt sich durch folgende Merkmale festlegen: 1. Identitätskonkretheit: Ohne kulturelles Gedächtnis wären wir nicht imstande, eine kollektive Identität herauszubilden. Aus dem kulturellen Gedächtnis leiten wir unsere Identität ab. 2. Rekonstruktivität: Wir rekonstruieren die Inhalte von der Ebene der Gegenwart aus. Wichtig ist, dass diese Inhalte selektiv aufgenommen werden. 3. Geformtheit: Das kulturelle Gedächtnis ist nur mit Hilfe von festen Ausdruckformen und Ausdrucksmedien zu vermitteln. Eine bestimmte Form muss vorhanden sein. 4. Organisiertheit: Das kulturelle Gedächtnis muss in Bezug auf historische Ereignisse verwaltet werden. Diese Eigenschaft verbindet sich mit der Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses. Es muss Institutionen geben, die das alles kontrollieren, organisieren, systematisieren und vermitteln. 5. Verbindlichkeit: Klare Wertperspektiven und ein Relevanzgefälle, das Abschätzen. 6. Reflexivität: Die Lebenswelt einer Gruppe hat eine bestimmte Form, einen bestimmten Rhythmus. Das kulturelle Gedächtnis spiegelt die Lebenswelt einer Gruppe, einer Gemeinschaft wieder. Mit diesem Merkmal verbindet sich die Reflexion: Wir müssen über die kulturellen Inhalte und über uns selbst reflektieren können. Jan Assman unterscheidet ›die rituelle Kohärenz oraler Kulturen‹ und ›die textuelle Kohärenz skripturaler Kulturen‹. Die oralen Kulturen basieren auf der Mündlichkeit. Die Kultur der Indianer gehört zu den Kulturen, die auf das Mündliche gesetzt haben. Bestimmte Mythen im Sinne von Geschichten mussten ständig mündlich wiederholt werden, und das noch möglichst genau. Es durften keine Abweichungen vorkommen, da die Geschichte sich sonst später nicht stabilisieren könnte. Das kulturelle Gedächtnis wird in den organischen Gedächtnissen der Sänger oder Schamanen bewahrt. Die skripturalen Kulturen beziehen sich auf das Prinzip der Schriftlichkeit. Auf diese Weise konnte mehr konserviert werden. Der Prozess war und ist dauerhafter als die orale Übermittlung. „Im Rahmen einer zerdehnten Situation (Konrad Ehlich) wird eine 9 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz spätere Wiederaufnahme der Mitteilung gewährleistet”20. Weiter unterscheidet Jan Assmann ›heiße‹ und ›kalte Kulturen‹. Von den ›heißen Kulturen‹ ist bei den Gesellschaften zu sprechen, welche die Erinnerung zum Motor ihrer Entwicklung machen. Die ›kalten Kulturen‹ können den geschichtlichen Wandel durch Erinnerung an das ewig Gleiche „einfrieren”. Aleida Assmann unterscheidet in ihrem Buch Erinnerungsräume, ›Gedächtnis als ars‹ und ›Gedächtnis als vis‹.21 Das erste speichert Wissen und Informationen, die immer wieder in gleicher Form vom Gedächtnis abgerufen werden können. Das ›Gedächtnis als vis‹ hat eine transformierende Wirkung. Es trägt zur Bewusstseinsveränderung der Menschen im Laufe der Zeit bei. Erinnerungen können rekonstruiert werden sowie können ins Vergessen geraten. Weiterhin trifft Aleida Assmann die folgende Unterscheidung: Funktions- und Speichergedächtnis. Das Speichergedächtnis gilt als Reservoir, aus dem man schöpfen kann, als eine Art ›langue‹, das alles verfügbare Wissen und nicht unbedingt relevante Informationen enthält. Das Funktionsgedächtnis gilt als ›parole‹ und verbindet sich mit dem aktiv Erinnerten. Das Funktionsgedächtnis hat als „zentrale Aufgaben die Identitätskonstruktion und die Legitimierung einer bestehenden Gesellschaftsform”22. Das Speichergedächtnis ist jedoch auch wichtig, weil es viele Informationen enthält, die im Laufe der menschlichen Entwicklung in das Funktionsgedächtnis übergehen können. Das kulturelle Gedächtnis ist also nach diesem Konzept prozesshaft und kann sich verändern. 2.5 Erinnerungskulturen zum Konzept der Justus-Liebig-Universität Gießen Im Jahr 1997 wurde an der Justus-Liebig-Universität Gießen der Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen” gegründet. An dem Projekt sind Menschen verschiedenster Ausbildung beteiligt: Historiker, Germanisten, Latinisten, Gräzisten, Kunsthistoriker, Romanisten, Anglisten, Orientalisten, Philosophen, Politologen, und Soziologen. Die Aufgabe der Mitarbeiter und Wissenschaftler ist es, die Geschichten aus der Erinnerung zu rekonstruieren. In den Vordergrund dieses 20 Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. 22 Ebd., S. 32 21 10 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Konzepts rückt dabei „Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und vor allem die Pluralität der kulturellen Erinnerung”23. Der SFB definiert die Erinnerung als: 1. ein Eindruck , den man im Bewusstsein bewahrt; 2. eine Art Speicher im Gehirn, in dem Informationen aufbewahrt werden; 3. die Fähigkeit, sich an etwas zu erinnern; 4. ein kleiner Gegenstand, der hilft, etwas Vergangenes nicht zu vergessen. Die Erinnerung ist von einer Dynamik und Prozesshaftigkeit gekennzeichnet. Sie unterliegt einem ständigen Wandel. Sie ist nicht statisch. „Der Begriff Erinnerungskulturen verweist auf die Pluralität von Vergangenheitsbezügen”24. Es gibt Kulturen, die komplementär sind (bezugnehmend), und die sich einander ausschließen. Ebenso gibt es Kulturen, die universal sind (z. B. die antike Kultur der Griechen und Römer), insbesondere, wo die Erinnerungen nicht für jeden von gleicher Bedeutung sind (z. B. in Lemberg geborene Polen). Der SFB hat ein Modell geschaffen, das aus drei Ebenen besteht. Die erste Ebene bestimmt die Rahmenbedingungen, die durch die folgenden Faktoren bestimmt sind: 1. Die Gesellschaftsformation: Typus der Gesellschaft, spielt bei Erinnerung eine große Rolle (z. B. offene oder geschlossene Gesellschaft). 2. Die Wissensordnung: führt zur Beschleunigung des gesellschaftlichen Lebens; 3. Zugang zum Wissen (z. B. wenn das Archiv nicht zugänglich ist, kann man die weißen Flecken nicht füllen). 4. Das Zeitbewusstsein: Verändert sich durch Entwicklungsprozesse Herausforderungslage: Gemeint ist Umdenken von Menschen bei Krisen und Umbrüchen. Die zweite Ebene bezieht sich auf die „Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen”25 und umfasst vier Faktoren: 1. Die Erinnerungshoheit in der Gesellschaft, also ein Erinnerungsehrenvorsitz. 2. Die Erinnerungsinteressen (-bedürfnisse) verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die auch Einfluss auf den Inhalt der Erinnerung haben. In verschiedenen Ländern werden die Interessenakzente anders gesetzt 3. Die Erinnerungstechniken, d. h. auf welche Art und Weise die Menschen die Vergangenheit weitergeben. 23 Ebd., S. 34. Ebd., S. 34. 25 Ebd., S. 35. 24 11 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 4. Die Erinnerungsgattungen: Darstellungsform der Geschichte wie z. B. ein Geschichtsfilm oder historischer Roman. Die dritte Ebene Inszenierungsweisen besteht des aus vier Faktoren, vergangenheitsbezogenen „die Sinns Äußerungsformen bzw. das und konkrete Erinnerungsgeschehen”26 beleuchten: 1. Die Begriffe „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ sind nicht identisch. Das Gedächtnis wird hier als „eine diskursive Formation”27 und die Erinnerung als „Abruf und Neukonstitution von Wissen über die Vergangenheit”28 verstanden. 2. Der „Typus der Erinnerungsarbeit”. 3. Die Generationsfrage: Der Unterschied zwischen erfahrener und nicht erfahrener Vergangenheit. Von Bedeutung ist, ob man etwas am eigenen Leibe erlebt hat oder nicht. Bei Erfahrenen ist die Intensität der Erinnerungen größer. Es gibt also keine Unvermittelbarkeit bei Nicht-Erfahrenen. 26 Ebd., S. 35. Ebd., S. 35. 28 Ebd., S. 36. 27 12 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 3 Erinnerte Geschichten in den autobiografischen Texten Es gibt viele Autoren, die nach dem Krieg ihre Erfahrungen niedergeschrieben und veröffentlicht haben. Zum Einen kann dies eine Möglichkeit sein, das Vergangene/Erlebte zu verarbeiten, zum Anderen aber auch, um berühmt zu werden29 und Mitleid zu bekommen, wie Joanna Drynda30 es an der Arbeit Norbert Gstreins beschreibt. Zur Veranschaulichung dieses letzten Postulats seien die Fälschungen genannt, die sich mit der Zeit herauskristallisiert haben. Die literarische Beschäftigung mit diesem Themenkomplex soll, so Drynda, dem Leser die Wirklichkeit des enthumanisierten Grauens nahebringen. Es müsse dabei aber auf moralische und ästhetische, psychologische und ideologische Werte eingegangen werden, um herauszufinden, ob so ein Text überhaupt möglich und erstrebenswert sei. Die Autorinnen Irene Opdyke und Anita Lobel beschreiben in ihren (jeweiligen) Büchern auf autobiografische Weise, wie sie den zweiten Weltkrieg er- bzw. überlebt haben. Im Folgenden soll genauer auf den Inhalt beider Werke eingegangen werden und ein Vergleich ihrer Erlebnisse aufgestellt werden. 3.1 Autobiografisches Schreiben als subjektive Geschichtsschreibung Beide Autorinnen, sowohl Irene Opdyke als auch Anita Lobel, erzählen aus autobiografischer Sicht, wie sie die Entwicklungen vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg erlebt haben (wobei Irene Opdyke ihren Schwerpunkt deutlich auf das „Währenddessen“ bzw. den Verlauf legt). Durch diese Art des Schreibens entsteht eine Mischung aus Geschichtsschreibung und Erzählung, d. h., die Autorinnen erzählen ihre Geschichte, wie sie sie erlebt haben und was sie dabei gefühlt haben. Auf diese Weise hat der Leser die Möglichkeit, selbst an diesem Geschichtserleben teilzunehmen und die eigentliche Geschichte nicht bloß als Tatsachenbericht in Geschichtsbüchern oder Fernsehreportagen passiv zu lesen bzw. zu sehen, sondern sich – vor allem auf Grund der Ich-Perspektive – selbst in die Rolle der Autorin zu versetzen und das Erlebte mit ihr zu teilen, also die – zumeist schlechten – Erlebnisse aktiv mitzuerleben und -leiden. 29 Vgl. Drynda, Joanna: Der Krieg aus der geschichtlichen Ferne betrachtet. Norbert Gstreins Suche nach der richtigen Sprache. Wrocław/Dresden 2006. Die Autorin drückt dies durch folgende Worte aus: „den Status einer Exil-Ikone“ gewinnen und „zum wahren Modethema gewordene[n] Biographien“, S. 237. 30 Ebd., S. 236. 13 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Bzgl. des Niederschreibens solcher Erfahrungen schreibt Drynda: „Die Hauptaufgabe eines Künstlers, also auch eines Schriftstellers, der sich heute, sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, glaubwürdig mit der Thematik der letzten Dinge auseinandersetzen will, müßte darin bestehen, das von sich selbst nicht Erlebte in seinem ganzen Ausmaß auf eine unverstellte und unverbrauchte Art und Weise zu zeigen. [...]“. ‚Subjektive Geschichtsschreibung’ bedeutet, dass der Schriftsteller versucht seine Empfindungen während der Geschehen niederzuschreiben. Bei dieser Arbeit stehen die Erlebnisse sowohl von Polen als auch von jüdischen Polen – also vom Antisemitismus betroffenen Polen – im Vordergrund. Sinn und Zweck sollte die Erinnerung an diese Erlebnisse sein und nicht eine erzwungene Entschuldigung. Als Schriftsteller sollte man nicht erwägen, mit dem verfassten Text etwas verändern oder verbessern zu wollen31: „Wenn das eine Frage nach engagierter Literatur ist, so würde ich mich nicht als Autor definieren, der Bücher schreibt zum Zweck etwas zu verändern. Wenn man ein Buch geschrieben hat, mit dem etwas passiert in der Welt, dann ist man erfreut. [...] Aber ich schreibe es nicht in der Vermessenheit, ich könnte etwas verändern oder verbessern.“ Nach der Betrachtung des Opfergedächtnisses ist jedoch auch die andere Seite zu untersuchen: Das Tätergedächtnis. Nicole Birtsch32 analysiert in Marcel Bayers Roman „Flughunde“33 das Verhalten bzw. das Sprechen der Täter, die nach Hitlers Tod versuchen, sich als Opfer auszugeben, wobei sie sich an ihren eigenen Opfern orientieren, also versuchen, diese zu imitieren. Ein dabei wichtiger zu analysierender Faktor ist die Stimme, da sie das Instrument darstellt, das den anderen glaubhaft machen soll, was das Opfer Schreckliches erlebt hat. Subjektive Geschichtsschreibung muss nicht nur von denen durchgeführt werden, die es selbst erlebt haben, sondern kann auch von den Folgegenerationen anhand der Erzählungen ihrer Eltern vorgenommen werden. So schreibt Marcel Beyer als ein Autor der Enkelgeneration Geschichten, die er nicht aus eigenem Erleben heraus, sondern nur durch Berichte anderer kennt34. Daraus wird ersichtlich, wie wenige sowohl autobiografische als auch fiktive Erinnerungen von Tätern des Dritten Reichs in der Literatur vertreten sind35. Beyer verfolgt mit seinem Roman jedoch nicht das Ziel, mit der Tätergeneration „abzurechnen“, sondern vom 31 Ebd., S. 243. Vgl. Birtsch, Nicole: Strategien des Verdrängens im Prozeß des Erinnerns. Die Stimme eines Täters in Marcel Bayers Roman „Flughunde“. Wrocław/Dresden 2006. 33 Vgl. Bayer, Marcel: Flughunde. Frankfurt am Main 1995. 34 Vgl. Birtsch, Nicole: Ebd., S. 317. 35 Ebd., S. 320-321. 32 14 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Erkenntnisinteresse geleitet, zu klären, wie es zu so etwas Massen Mitreißendem wie dem Nationalsozialismus überhaupt kommen konnte36. Geht man noch weiter in die Tiefe, so stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der deutschen Sprache, den Holocaust zu beschreiben37. Auf der Täterseite zeugt gerade die radikale Abwesenheit der Opfer von ihrem Leid. Weiterhin behauptet Marcel Bayer, dass es nicht der Inhalt ist, der den Holocaust widerzuspiegeln hat, sondern die Sprache, welche künstlerisch erzeugt werden muss, um eine authentische Erzählung der Geschehen zu gestalten. Der Grund dafür sei die mangelnde Vorstellungskraft der Zuhörer38/Leser, die das Beschriebene nicht an eigenem Körper erfahren haben. Zu versuchen, das von den Opfern Erlebte nachzuempfinden ist eine mögliche Erinnerungsarbeit, welche zum Ziel hat, das Geschehene aufzuarbeiten bzw. zu sühnen39. Damit ein autobiografisches Gedächtnis überhaupt erst möglich wird, so Maurice Halbwachs, muss die Voraussetzung eines Rückgriffs auf die bereits genannten ‹cadres sociaux›, gegeben sein. Damit meint er all die Menschen, die uns als soziales Wesen umgeben. Halbwachs geht davon aus, dass man als Individuum nicht den vollen Horizont dieser Erinnerungen erfassen kann, sondern es notwendig ist, sie auch aus kollektiver, sprachlich (mit)geteilter Sicht zu betrachten, was später für das individuelle Erinnern eine Hilfe sein kann: „Sehr viel grundlegender ist für Halbwachs aber die Tatsache, dass uns durch Interaktion und Kommunikation mit unseren Mitmenschen, Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und Raumvorstellungen sowie Denkund Erfahrungsstörungen vermittelt werden“40. Genau das tat I. Opdyke jahrzehntelang: Schweigen bzw. nur mit Familie und Freunden darüber sprechen. Doch als sie gewahr wurde, dass ihre Erlebnisse – also ihr Gedächtnis – in Vergessenheit geraten könnten, weil in der Gesellschaft die Tendenz zu spüren war, den Holocaust herunterzuspielen41, entschied sie endlich, ihre Erfahrungen mit der Welt zu teilen und so auch das kollektive Gedächtnis wieder aufzufrischen. 36 Ebd., S. 326. Ebd., S. 320-321. 38 Vgl. Semprun, Jorge: Schreiben oder Leben. Frankfurt am Main 1997, S. 152. 39 Vgl. Birtsch, Nicole: Ebd., S. 328. 40 Vgl. Erll, Astrid: Ebd. S. 15. 41 Vgl. http://www.biblio.at/literatur/rezensionen/details.html?mednr[0]=bn0003190&anzahl=1 (07.06.2009). 37 15 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 3.2 Die ‚Wunde der Zeit’ in der Auffassung von Aleida Assmann Wie Janina Bach42 erklärt, gelangt Aleida Assmann zu der Differenzierung vier verschiedener, kollektiver Gedächtnistypen; das der Sieger und das der Verlierer einerseits, und das der Täter sowie das der Opfer andererseits. Die ‚Wunde’ werde dabei von den Verlierer- bzw. Opfergedächtnisträgern erlitten und wecke den Wunsch nach einem Neuanfang, um alles Erlebte hinter sich zu lassen, ohne die notwendige Verarbeitung dessen in Betracht zu ziehen. Assmann beschreibt jedoch die Notwendigkeit einer „ehrliche[n] Aufarbeitung der Vergangenheit, um einen tatsächlichen Neubeginn nach dem Krieg zu ermöglichen. Mit diesen Forderungen versucht sie, das im Tätergedächtnis strukturelle Merkmal der Verdrängung aufzubrechen“. Assmann unterscheidet zwischen zwei Gedächtnistypen: Körper und Sprache43. Im Körper werden die Erinnerungen als „Spuren“ gespeichert, während die Erinnerungen der Sprache in der sozialen Kommunikation durch Erzählen, Ausdrücken der persönlichen Einstellungen usw. ablaufen. 3.3 Das ‚Leiden unter Geschichte’ – Zur (Un-)Aussprechbarkeit traumatischer Erfahrungen Die beiden Aurorinnen, Irene Gut Opdyke und Anita Lobel, haben es „gewagt“, in ihren Büchern über ein Thema – den Holocaust – zu schreiben, d. h. es auszusprechen, dessen Grauen und seelische Wunden (das „Trauma“44) eher als nicht zu beschreiben, nicht in Worte zu fassen bzw. unaussprechbar gelten. In vorigen Kapiteln wurde bereits beschrieben, wie unterschiedlich Erlebtes dargestellt bzw. aufgefasst werden kann sowie die Schwierigkeit, die es bedeutet, etwas Unvorstellbares vorstellbar zu machen. Paweł Zimniak schreibt zu diesem Thema: „Zur Menschlichkeit gehört auch eine stammelnde oder sogar ganz scheiternde Artikulation, die eine Klage über die Unzulänglichkeit und Missdeutbarkeit des Wortes mitreflektiert“45. Das bedeutet, dass 42 Vgl. Bach, Janina: Spuren des kollektiven Gedächtnisses an den Holocaust in der DDR-Literatur bis 1958. In Gansel, Carsten: Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 : Fallstudien, Dresden 2006, S. 171-172. 43 Vgl. Birtsch, Nicole: Ebd., S. 323. 44 Der Terminus „Trauma“ (Pl. Traumen, Traumata) geht auf das griechische Wort τραύμα [’travma] zurück, was tatsächlich (einfach) „Verletzung“ bedeutet, so wie es in der medizinischen Fachsprache auch verwendet wird. Im Deutschen beschreibt es jedoch eine „starke seelische Erschütterung“. In: Dudenredaktion: DUDEN 1, Die deutsche Rechtschreibung. 23. Auflage. Dudenverlag, Mannheim 2004. 45 Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Neisse Verlag, Wroclaław – Dresden 2007. S. 264. 16 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz unsere Sprachgabe manchmal nicht ausreichend dafür sein kann, was jemand am eigenen Leibe erfahren hat oder musste. Hinzu kommt, dass bei der Erinnerung zwischen zweierlei Typen unterschieden werden kann: 1. Gewöhnliche Erinnerung (common memory), welche normale, zusammenhängende und dadurch für jeden verständliche Erlebnisse beschreibt. 2. Tiefe Erinnerung (deep memory), die unaussprechbar und undarstellbar bleibt46. Wenn der Betroffene versucht, dass Unaussprechbare auszusprechen, intendiert er ebenso eine „Selbstmitteilung, ein Sichtbar- und Hörbarmachen der Innenwelt, einer auf bestimmte Art und Weise strukturierten Gedanken- und Gefühlswelt, die auch das Schweigen einschließt“47. Das Schweigen per se darf nämlich nicht einfach als simples Nichtssagen interpretiert werden, sondern gehört ebenso zum Sprechakt wie das Sprechen selbst48. „Das Schweigen ist also eine spezifische Art der Kommunikation“49, da es zwischen Sprechen und Nichtsprechen wechselt und durch jede Sprechpause, d. h. jedes Schweigen auch noch Informationen preisgibt. Schweigen kann auf vielerlei Arten ausgelegt oder verstanden werden. Tote und Opfer schweigen zwar, können durch ihr Schweigen Geschehnisse jedoch bezeugen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Ehren der vielen Tausend Juden, die bei dem Krieg grausam umgebracht wurden, wurde in Berlin das Holocaust-Mahnmal (siehe Foto50) errichtet. Wenn man zwischen diesen immer größer werdenden Betonklötzen hin- und hergeht, vernimmt man auch bloß ein tiefes Schweige, dass stellvertretend von den Blöcken für die Opfer steht. Ebenso sagt P. Zimniak: „Das Schweigen der Toten und Opfer fordert die Erinnerung 46 Ebd. S. 264. In: Young, James E.: Zwischen Geschichte und Erinnerung, a.a.O., S. 44. Ebd. S. 265. 48 Man bedenke dabei auch das deutsche Sprichwort „Keine Antwort ist auch eine Antwort“, das genau diese Tatsache beschreibt, dass durch das Nichtssagen doch etwas gesagt wird, was jedoch vom Kontext abhängigt unterschiedlich interpretiert werden kann. 49 Ebd. S. 266. 50 Vgl. http://www.berlin.citysam.de/fotos-berlin/berlin/regierungsviertel/holocaust-mahnmal-6.jpg (konsultiert am 01.05.2009). 47 17 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz auf“51, die Erinnerung daran, was passiert ist (vgl. „Denkmal“) sowie die Ermahnung (vgl. „Mahnmal“), dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Zum Schluss bleibt nur noch zu sagen, dass, um das Auschwitz-Trauma überwinden zu können, darüber gesprochen werden sollte. Die Sprache verfügt nämlich über viele verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten und man wird sicherlich eine Form finden wird, um das Erlebte in einer so gut wie möglich angepassten Art und Weise aussprechen zu können. 3.4 Franz K. Stanzel – Autobiografie als Fiktion „Wo ein Ich erzählt, ist immer Fiktion“ ist eine Vortragspublikation einer Rede, die Franz Stanzel vor der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat52. In dieser Rede bzw. dieser Veröffentlichung postuliert der Autor, dass „facta“ immer „ficta“53 sind, wenn jemand ein autobiografisches Werk zu schreiben oder zu veröffentlichen sucht. Eine von Stanzels Vorüberlegungen ist Folgende zu „(textgenerierte[r]) Fiktionalität in der Gattung Autobiografie. Hier wirft nämlich die in Hinblick auf eine selbsterzählte Lebensgeschichte gesteigerte Leseerwartung, diese verspreche historische Authentizität, die Frage auf, wieweit die Narrativität eines solchen Textes diese Erwartung überhaupt zu erfüllen vermag“54. Er hinterfragt diese historische Authentizität in Anlehnung an eine Frage, die Heinrich von Kleist formuliert hatte: „Schreiben wir immer, was wir denken, oder denken wir nicht oft, was wir schreiben?“55. Stanzel nimmt als erstes Beispiel Günter Grass’ Werk Beim Häuten der Zwiebel, das von seinem Autor zwar als autobiografisches Buch publiziert wurde, jedoch sowohl fragliche als auch diskutable Inhalte aufwies. Einerseits gibt er – sogar bevor das Buch überhaupt erschien – preis, zur Waffen-SS gehört zu haben56, was offensichtlich das öffentliche Interesse erregte. Andererseits beschreibt er darin nämlich Erfahrungen, die er jedoch gar nicht wirklich erfahren zu haben scheint; Stanzel sagt dazu aus: Was also Grass in seine ‚Autobiographie’ transportiert, ist [daher] oft nicht mehr das ursprünglich Erlebte, sondern eine fiktionalisierte Version davon. Hier wird eine für unser Thema aufschlussreiche wechselweise Interaktion in der Autobiographie zwischen Wirklichkeitserfahrung und imaginativer Verarbeitung erkennbar. Gelegentlich vorgebrachte Einwände von Zeitgenossen 51 Ebd. S. 269. Österreichische Akademie der Wissenschaften: Sprachkunst, Beiträge zur Literaturwissenschaft, Jahrgang XXXVII/2006, 2. Halbband. Verlag der ÖAW, Wien 2006. S. 325. 53 Ebd. S. 329. 54 Ebd. S. 326. 55 Ebd. S. 326. 56 Ebd. S. 328. 52 18 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz und Weggefährten, wie etwa: „So war es gar nicht“, wehrt Grass mit dem Unverlässlichkeitstopos der Erinnerung ab [...]57. So wirft Stanzel eine Debatte auf, die das Grundsätzliche – die Basis – in ihren Grundfesten erschüttert, nämlich dass das Selbsterfahrene zu etwas Vorstellbarem wird und so, letzten Endes, zu Fiktion. Als letztes Beispiel erwähnt Stanzel den ungarischen Autor Imre Kertész, der auch einer der vom Autor benannten ‚Generation der Davongekommenen’ ist. Dieser Autor gibt nämlich gleich zu Anfang seines Buches Roman eines Schicksallosen an, dass er „die Etikettierung als ‚autobiographischer Roman’ zurück[weise]“58. Auf diese Weise wird deutlich, dass das Thema der Autobiografie nicht so einfach „unter einen Hut gebracht“ werden kann, sondern noch viele Fragen hinsichtlich ihrer Authentizität und Darstellbarkeit offen lässt. 3.5 Autobiografische Texte der deutschen jüdischen Schriftsteller nach der Shoah Viele jüdische Schriftsteller haben sich nach ihren Erlebnissen der Shoah59 mittels einer autobiografischen Niederschrift mit diesen Erfahrungen auseinandergesetzt. Auf diese Weise dient Literatur als ›Reservoir menschlicher Erfahrungen‹60. Die Überlebenden des Holocausts müssen sich damit abfinden, dass sie etwas erlebt haben, was sich die meisten Menschen überhaupt nicht vorstellen können. Deshalb fühlen sie sich in der Verantwortung, diese Erlebnisse niederzuschreiben, damit sie auch für die Nachwelt und die Nicht-Dabeigewesenen zugänglich gemacht werden können. Dieses Gefühl bzw. diese Verantwortung hat sich in manchen Fällen sogar zu einem „alleinigen Eigentumsrecht am Holocaust“61 entwickelt, welches so verstanden wird, diesen „Schatz vor dem Verfall und – ganz besonders – vor mutwilliger Beschädigung“ zu schützen. Dieser Hintergrund (die mutwillige Beschädigung bzw. das Herunterspielen des Geschehenen) brachte auch Irene Gut Opdyke dazu, ihr Schweigen zu brechen und von ihren Erfahrungen aus autobiografischer Sicht zu schreiben. Infolge dieser Situation stellt sich die Frage, ob und wie die Erlebnisse als Bücher veröffentlicht werden sollen, 57 Ebd. S. 329-330. Ebd. S. 340. 59 Aus dem Hebräischen שואה: ‚Katastrophe’. Wird oft als Synonym für ‚Holocaust’ verwendet. 60 Vgl. Platen, Edgar: Erinnerte und Erfundene Erfahrung. München 2000, S. 7. 61 Vgl. Ehlers, Heller: Erinnerte Geschichten in autobiographischen Texten deutscher jüdischer Schriftsteller nach der Shoah. In: Platen, Edgar: Erinnerte und Erfundene Erfahrung, München 2000, S. 9. 58 19 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz ohne dabei in einen kommerzialisierenden Hintergrund (vgl. Debatte um die „Kommerzialisierung“ von Auschwitz62) abzurutschen. Wie wichtig das Erzählen, d. h. die Weitergabe von Erlebtem ist, beschreibt das folgende Zitat: „Geschichten sind so wichtig für die Menschen wie das Brot, das sie täglich essen“63. Dadurch wird deutlich, dass die Weitergabe dieser Geschichten notwendig ist, um die Folgegeneration damit zu „ernähren“ und ihr Gewissen auszubilden und wachzuhalten. Ein charakteristischer, den/die Schriftsteller/in betreffender Aspekt bei der Erzählung eigener Erfahrung ist die Selbstkritik und -korrektur64, da es verschiedene Wirklichkeitsauffassungen65 geben kann, die untereinander sogar in Konflikt geraten können. Der Erzähler solcher erlebten bzw. erinnerten Geschichten fragt sich ständig selbst, ob das auch wirklich alles so gewesen ist oder vielleicht nicht doch anders; ob andere das genauso gesehen/erlebt haben oder nicht, ob und wie man solche schrecklichen Erlebnisse an Nicht-Dabeigewesene weitergeben kann oder muss. Weiterhin verweisen einige Schriftsteller darauf, dass dem Erzählen eine Schutzfunktion zukommen kann66, und zwar gegen die „Überwältigung durch die Erinnerungen“67. Mitverantwortlich können dabei Schuldgefühle sein; „ein diffuses und doch sehr klares Schuldgefühl: ‚Warum habe ich überlebt, meine Angehörigen aber nicht!’68“. Hinsichtlich der Wahrheit und Authentizität der Lebenserinnerung ist Fred Wander [...] klar: „Eine fotografisch genaue Abbildung der Vergangenheit kann es nicht geben.“ (336) Walser zitierend, gesteht er zu, daß „man [...] etwas derart weit Zurückliegendes“ nicht beschreiben könne, „ohne zu erleben, daß es längst Fiktion ist – selbst wenn das alles tatsachengesättigt ist, wenn das Personen sind, die tatsächlich gelebt haben [...]“. (337) Damit können der bei Wander mit Selbsterlebtem, Erzähltem und Erlesenem ausgefüllte geschichtliche Raum und die Zeit auch verstanden werden als in der Erinnerung „erfundene Erfahrung“.69 Infolge dieser eben erwähnten, vergangenen Zeit und der manchmal schwierig zu leistenden Erinnerungsarbeit könne es zu einer „Verschiebung der Perspektive“70 62 Ebd., S. 22. Ebd., S. 14. In: aus: „Gedenken. Erzählen. Leben. Gespräch mit Fred Wander“. In: neue deutsche Literatur. 4 1996. S. 62-75. Hier: S. 63. 64 Ebd., S. 16. 65 Vgl. Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 1976. 66 Vgl. Ehlers, Hella: S. 18 und vgl. Fred Wander: Der siebente Brunnen. Erzählung. Berlin 1971. 67 Ebd., S. 18. 68 Vgl. Ther, Klaus: Leseprobe von Wander, Fred: Der siebente Brunnen, 11. Juli 2005 (http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/wander/, konsultiert am 25.10.08). 69 Vgl. Ehlers, Hella: S. 19. 70 Ebd., S. 21. 63 20 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz kommen, welche ein Abrutschen in einen kitschigen Stil („KZ-Kitsch“71) nach sich ziehen könnte. Ruth Klüger gibt folgende Erklärung zu diesem Perspektivenwechsel, den sie aufgrund eines künstlerischen Zugriffs auf Vergangenheitserfahrungen problematisiert: „[j]e größer die zeitliche Distanz, desto unverständlicher wurde das Geschehen jener Jahre. Auch mir scheint es manchmal, daß die Erinnerungen, die ich im Gedächtnis herumtrage, mir fremd sind, nämlich sie sind der Person fremd, die ich seither geworden bin“72. Auf diese Weise gelangt man zu den verschiedenen „Möglichkeiten der Darstellbarkeit der Shoah-Erfahrungen, wobei [...] Wahrhaftigkeit unbedingt Subjektivität (im Sinne von authentisch) zur Vorbedingung hat73“, der Schriftsteller sich also der Schwierigkeit gegenübersieht, „Geschehenes [Objektives] von Erinnertem [Subjektivem] zu unterscheiden“74. Bezüglich des Sammelbegriffs aus der Überschrift ‚deutsche jüdische Schriftsteller’ sei darauf hingewiesen, dass diese beiden Adjektive (‚deutsch’ bzw. ‚jüdisch’) während der Shoah antithetisch, d. h. als Opposition, verwendet wurden. Davon zeugen Ausdrücke wie ,Gojim75 naches’ (oder noch kürzer und verächtlicher: ‚GN’76), womit die jüdischen Kinder die „anderen Jungen“ bezeichneten. Andererseits zeugen Wörter wie „Chasser“ (Ferkel) und „cheirisch“ (schwerhörig)77 davon, wie die deutschen Kinder die jüdischen riefen, wenn diese sich beschmutzt oder etwas nicht verstanden haben. In dem hier behandelten Artikel wird also darauf eingegangen, dass „Geschichte(n)[E]rzählen und Erinnerungsfähigkeit [...] sich im poetologischen Selbstverständnis der Schriftsteller und im Erzählvorgang als soziale Qualität des Menschen [erweisen]“78. Die jüdischen Schriftsteller behandeln ihre Shoah-Erfahrungen sowie sich selbst, und suchen dabei stets nach Darstellungsverfahren, die dem Erlebten – so weit wie möglich – gerecht werden (sollen). 71 Ebd., S. 21. Ebd., S. 21, in: Klüger, Ruth: Mißbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch. In: Dies.: Von hoher und niedriger Literatur. 2. Auflage. Göttingen 1996. S. 29-44. Hier: S.33. 73 Ebd., S. 22. 74 Ebd., S. 22. 75 1. Go|jim: Pl. von →Goi. 1. Goi, der; -[s], Gojim ['go:jım, go'ji:m; hebr. gôy]: jüdische Bez. für Nichtjude. Aus: DUDEN Online (http://www.duden-suche.de/suche/trefferliste.php), konsultiert am 25.10.08. 76 Ebd., S. 27. 77 Ebd., S. 28. 78 Ebd., S. 30. 72 21 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 3.6 Erzählen über Kindheit und Adoleszenz in der deutschen Gegenwartsliteratur In den 90er Jahren kam es in der deutschen Gegenwartsliteratur zu einem Wandel in den „zeitgenössischen Anschauungen“79, wobei die Kindheit und Adoleszenz in den Vordergrund gelangten. Dies beweist das „vitale Interesse am Erzählen [wahrer Geschichten], an guten Geschichten und wacher Weltwahrnehmung“80. Viele der Autoren, die dieser Tendenz folgen, gehören gleichsam zur „Popliteratur“81, die zu dieser Zeit florierte. Der für das Publikum besonders interessante bzw. anziehende Aspekt war das unmittelbare Verhältnis dieser Texte zum Leben82, da in ihnen tagebuchähnlich erzählt wird, was die Autoren erlebt und durchgemacht haben. So kann der Leser ein näheres, intensiveres Verständnis bzw. Nachvollziehen des Erlebten bekommen. Wie Gottfried Willems erklärt, hätten solche Texte das Ziel, „die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überbrücken“83, wodurch die Kunst also dem Leser näher gebracht und sie miterlebbar gemacht werden kann. Besonders nach dem zweiten Weltkrieg erschien eine neue Autorengeneration 84, die über ihr Erzählen das Durchlebte mit der Welt teilen wollte. Die Bezeichnung „Kinderund Adoleszenzliteratur“ ergibt sich demnach dadurch, dass die Schriftsteller vor und während des Krieges Kinder bzw. Adoleszente waren. Viele Jahre später entwickelte sich eine neue Lust am Erzählen dieser Erlebnisse, wobei sich der durch den Nationalsozialismus bewirkte Zivilisationsumbruch noch verstärkte85. Dieses Phänomen ging sogar so weit, dass es zu einem regelrechten Boom kam86. Ein wichtiger Darstellungsgegenstand dieses Literaturstils war die aufgebürdete Selbstverantwortung und -behauptung, welche die Kinder und Jugendlichen während des zweiten Weltkrieges – also während einer Diktatur87 – entweder über sich hinauswachsen oder verzweifeln ließ. Auch I. Opdyke Gut und A. Lobel beschreiben in 79 Vgl. Gansel, Carsten: Zum Erzählen über Kindheit und Adoleszenz in der deutschen Gegenwartsliteratur. Zielona Góra 2004, S. 277. In: Buczek, Robert; Gansel, Carsten, et al.: Germanistyka Texte in Kontexten. Zielona Góra 2004, Band 3. 80 Ebd. S. 277. 81 Ebd. S. 278. 82 Ebd. S. 278. 83 Vgl. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989, S.431. 84 Vgl. Gansel, Carsten: Ebd. S. 279. 85 Ebd. S. 279. 86 Ebd. S. 280. 87 Carsten Gansel stellt die These auf, dass „für die Bestimmung von Adoleszenz die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Bedeutung, also die Frage danach, ob der/die Adoleszente sich im Absolutismus, einer Monarchie, einer Diktatur oder einer demokratischen Gesellschaft bewegt.“ Vgl. ebd., S. 283 – 284. 22 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz ihren Büchern sehr gut, wie viel Verantwortung sie sowohl für sich, als auch für ihre Familienangehörigen und andere Gruppenzugehörige fühlten. Durch diese „Schnellreifung“ der Kinder und Adoleszenten, so Carsten Gansel, seien die Generationsräume nicht mehr penibel getrennt sondern miteinander verwoben und die Grenzen fließend88. 3.7 Erinnerungen an Auschwitz 3.7.1 Erinnerungen der Nicht-Betroffenen Was sich in Oświęcim (Auschwitz) während des zweiten Weltkriegs zugetragen hat, kann sich heute kaum mehr jemand vorstellen. Tatsächlich bleiben auch immer weniger Leute übrig, die sich (reflexiv)89 sowie andere (transitiv) an das Geschehene erinnern können. Um dem Umkippen ins Gegenteil – also dem Vergessen – vorzubeugen, haben sich auch Nicht-Dabeigewesene dem Aufschreiben dieser Erfahrungen gewidmet. Der Ortsname Auschwitz ist so zu einer Metapher für all das geworden, was dort passiert ist; in ihm sind eindeutige Schuldbenennungen enthalten, die stets an das Vernichtungswerk erinnern90. Bez. der „KZ-Literatur“ lässt sich zwischen zweierlei Autoren unterscheiden: 1. die Dabeigewesenen, die alles auf ihrer eigenen Haut spüren mussten und 2. die NichtDabeigewesenen, die aus der Distanz das, was ihnen übermittelt wurde, niedergeschrieben haben. Thomas Oslo weist auch noch eine dritte Gruppe auf, und zwar derer, die später geboren sind und fiktional über den Holocaust schreiben91. Das Resultat mag mehr oder weniger das gleiche sein, jedoch nicht der Beweggrund, der die Schreibmotivation jeder der beiden oben genannten Gruppen darstellt. Während die Ersten das Niederschreiben nämlich brauchten, um das Erlebte verarbeiten zu können, schrieben die Zweiten eher aus einer Selbstverpflichtung heraus, die dem gesellschaftsfähig gewordenen Vergessen entgegenwirken sollte. Irene Gut Opdyke und Anita Loben gehören der ersten Gruppe an (wovon ganz besonders die in ihren Büchern enthaltenen Fotos zeugen), obwohl I. Opdyke selbst angab, ihren Schreibansatz gerade durch diesen Grund gefunden zu haben, welcher eher der zweiten Gruppe zugeschrieben 88 Ebd. S. 287. Jung, Thomas: Ortschaft Auschwitz: Topographie der Erinnerung. Diskurse der Erinnerung an Auschwitz aus der Perspektive der Nicht-Dabeigewesenen. In: Platen, Edgar: Erinnerte und Erfundene Erfahrung, München 2000, S. 47. 90 Ebd., S. 34, 35. 91 Ebd., S. 37. 89 23 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz wurde, nämlich der Verharmlosung und dem Vergessen (so wie es gewesen war) entgegenzuwirken. Um den Schreibprozess der zweiten Gruppe, die ja nicht direkt dabei gewesen ist, besser verstehen zu können, gibt Thomas Jung folgende Erklärung: Der Vorgang der Erinnerung kann [...] folgendermaßen beschrieben werden: Der Überlebende, selber nicht mit derErfahrung des Ortes ausgestattet, nähert sich – stellvertretend für den Leser – der Gegenständlichkeit des Ortes an, erkundet und benennt Fakten, Dokumente, Zeugnisse, Räume und überführt diese im narrativen Bericht in den Wissensspeicher des Lesers. Eben dieser Transformations- bzw. Transpositionsprozess exemplifiziert geradezu idealtypisch das Erinnern92. Zusammenfassend sei gesagt, dass durch die Kombination von verschiedenen sinnlichen wie reflektierenden Annäherungen an den Raum/die Ortschaft mit dem faktischen Wissen über die Geschichte die Erinnerung als Reanimierung von relevantem Wissen zu verstehen ist. Das kollektive Gedächtnis kann dabei von Hilfe sein. Den Namen „Auschwitz“ sowohl für die Ortschaft wie auch als Metapher93 lebendig zu halten, hat zum Ziel, die notwendige Erinnerung an das dort Geschehene stets am Leben zu halten und weiterhin unter den Menschen zu verteilen. 3.7.2 Erinnerungen der KZ-Häftlinge Die Konzentrations- oder treffender gesagt Massenvernichtungslager der Nazis waren wohl das Schrecklichste, was der Zweite Weltkrieg hervorgebracht hat. Die unvorstellbar hohe Zahl an getöteten Menschen – allein aufgrund ihrer (religiösen, ethnischen, politischen, sexuellen u. Ä.) Zugehörigkeit bzw. Herkunft – beweist, zu welch unsagbar grausamen Übeltaten der Mensch gegenüber seinesgleichen fähig ist. Es wir davon ausgegangen, dass um die 8 Millionen Menschen in den KZ vernichtet wurden94. Die Nazis gingen so weit, dass sie die Tötung der Menschen über den schnellstmöglichen Weg durchführten: sie zusammenpferchen, sie sich selbst ausziehen lassen, eine große Anzahl von Menschen gleichzeitig mit Gas umzubringen (zu „beseitigen“, ihren Worten nach), sie anschließend massenweise zu verbrennen und die Asche als Dünger verwenden oder in den nächstverlaufenden Fluss abzuleiten. Dem Ganzen zu entkommen war fast unmöglich, jedoch haben es ein paar Leute geschafft – wie Irene Gut Opdyke und Anita Lobel –, die nach diesen Erlebnissen, wovon diese Arbeit handelt, ihres Lebens dennoch nur sehr schwer wieder froh wurden 92 Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 48. 94 Vgl. Kusznierz, Iwona: Praca Licencjacka, Auschwitz im Spiegel der spanischen Presse, Gorzów Wlkp. 2007, S. 23. 93 24 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz (nachdem ihnen so unsagbar Schreckliches wiederfahren war). Eine der AuschwitzÜberlebenden ist die das halbe Jahr in Spanien verbringende Marta Bik. Sie war noch ein junges Mädchen, als sie von den Nazis festgenommen wurde. Sie war verdächtig, weil ihr Bruder zum Widerstand gehörte. Ihr Bruder und ihr Vater wurden umgebracht. Ihr wurden Sachen gesagt wie „Hier kann man nicht hinaus, außer durch den Kamin“95. Marta arbeitete in der Wäscherei und hatte das „Glück“, kostbare Kleider waschen zu können, wofür sie mit Kartoffeln belohnt wurde. Die Gefangenen lebten in überfüllten Baracken, Männer und Frauen getrennt, wobei Letztere noch die sexuelle Verfolgung der Soldaten aushalten mussten. „Das zu überleben und dann [zu] erzählen ist ein Schicksal, das wenige hatten“96, schildert Marta. Genauso wie bei Irene und Anita, war es die Stärke, die sie vor dem gleichen Schicksal wie dem ihrer Leidensgenossen gerettet hat. Die Nummer, die Marta im KZ auf den Arm tätowiert wurde, ist immer noch sichtbar: „für das Leben bzw. vom Leben gekennzeichnet“97. Viele der Überlebenden haben nach Kriegsende geheiratet, obwohl sie, wie Marta angibt, Komplexe wegen ihrer psychischen Schäden hätten. Was Kinder betrifft, so meint sie, dass sie keine gewollt habe, „denn wer bringt schon ein Kind in diese schreckliche Welt?“98 Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger von 1986, gehört ebenfalls zu den AuschwitzÜberlebenden und schrieb ein Buch (Nacht) darüber, was er in Birkenau erlebt hat99. Er gehörte einer Gruppe ungarischer und rumänischer Juden an und musste sehen, wie Männer, Frauen, Alte, Kinder, Schwangere und Behinderte getrennt wurden, die „nicht mehr zu Gebrauchenden“ sich ausziehen mussten und in die Duschräume gestoßen wurden, um dort elend durch Zyklon B100 vergast zu werden. Zusammenfassend wird ein Zitat von David Solar gegeben, das recht ausdrucksstark wiedergibt, worum es sich bei Auschwitz (nicht nur für die Überlebenden) handelt: Auf der einen Seite von Auschwitz findet man die ganze Brutalität, die ganze Perversion und [...] Gottlosigkeit, auf der anderen den ganzen Schrecken, das ganze Leid, die ganze Angst, [die] Tränen und [das] Wehklagen. Noch 60 Jahre später wirkt dieser Ort wegen der unermesslichen Schande durch die Nazis und für das schreckliche Grauen ihrer Opfer bedrückend 101. 95 Tejeda, B.: Canarias 7. Las Palmas de Gran Canaria 2006, S.20. Ebd., S. 21. 97 Vgl. Kusznierz, Iwona: S. 11. 98 Ebd., S. 20. 99 [62] Ebd., S. 19. 100 Ebd., S. 21. 101 Vgl. Solar, D.: La aventura de la historia 2002/50, S. 33. 96 25 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 4 Analysen von Texten 4.1 Erinnerung und Wahrnehmung in der Subjektivität von Anita Lobel in narratologischer Sicht Die ersten Lebensjahre Anita Lobels waren mit Polen verbunden. Sie war im Jahre 1934 in Krakau in einer reichen jüdischen Familie geboren. Wie sie sich selbst erinnert, wurden sie und ihr Bruder von den Anderen als verwöhnte Kinder bezeichnet. Das hängte damit zusammen, dass ihr Vater der Besitzer einer Schokoladenfabrik war. Die Eltern widmeten ihren Kindern aber nur wenig Aufmerksamkeit. Die kleine Anita spürte mehr Liebe von ihrem Vater als von der Mutter. Die einzige Person, die ständig für sie Zeit hatte, war ihre Kinderfrau. Die betreute die kleine Anita und ihren Bruder auch fast die ganze Kriegszeit über. Die Kindheit von Anita verlief während der Kriegsjahre. Sie und ihr Bruder mussten sich immer verstecken, weil die Nazisoldaten die Juden, egal ob Erwachsene oder Kinder, verfolgten. Ihr Vater floh am Anfang des Kriegs in die Sowjetunion und die Mutter versuchte ihr Leben zu sichern. Mit der Kinderfrau versteckten sie sich vielmals – auf dem Lande und in Krakau. Das Schicksal ihrer Angehörigen verschonte sie nicht. Sie und ihr Bruder wurden in einem Kloster entdeckt und mussten vom Krakauer Übergangslager Płaszów nach Auschwitz marschieren (ungefähr 60 km). Das war kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs (im Januar 1945). Die sowjetischen Truppen waren schon auf dem Gebiet des heutigen Polens und deshalb war das ganze Lager nach Deutschland in das Konzentrationslager Ravensbrück abtransportiert worden. Dort wurden sie von den Alliierten befreit und dank des Roten Kreuzes konnten sie nach Schweden gelangen. Es stellte sich heraus, dass die Geschwister an Tuberkulose leideten. Sie wurden in einem Sanatorium untergebracht und von den schwedischen Ärzten behandelt. Ihre Eltern kamen nach Schweden, mit denen sie in die USA auswanderten. Noch in Schweden lernte Anita zeichnen. Das ermöglichte ihr in den USA Kunst zu studieren und Kinderbuchillustratorin zu werden. 1998 veröffentlichte Anita Lobel ihre Kindheitserinnerungen, die 2002 ins Deutsche übersetzt wurden. 4.1.1 Krakau als Erinnerungsraum Krakau ist die schönste Stadt Polens. Das sagt jeder, der einmal dort gewesen ist. Viele 26 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Sehenswürdigkeiten und die ungewöhnliche Atmosphäre beeindrucken einen, auch die Kinder. Anita Lobel war 5 Jahre alt, als sie sich mitten in den Kriegswirren befand. Was sie als Kind sah, musste einen starken Einfluss auf ihr künftiges Leben auswirken. Trotzdem vergaß sie ihre Heimatstadt nie. Als sie ihre Stadt verlassen musste und in einem Dorf bei Krakau wohnte, empfand sie große Sehnsucht danach, was sie mit den Worten „Die Stadt fehlte mir“102 ausdrückte. Sie wusste, warum sie mit Niania und ihrem Bruder aufs Land zu den Verwandten des Vaters fliehen mussten, aber sie fühlte sich wie ein Stadtkind und deshalb fragte sie ihr Kindermädchen: „Werden wir Krakau jemals wiedersehen?“103. In Łapanów kamen sie im späten Herbst an und diese Jahreszeit sieht auf dem Lande nicht besonders schön aus. Überall ist es grau und nass, und für Kinder langweilig. Dazu blieb ihre Mutter in Krakau, weil sie dort dank der falschen Papiere eine Arbeit gefunden hatte. Darum sehnte sie nach der Stadt, wo immer etwas geschah. Es gelang ihnen, nach einigen Monaten nach Krakau zurückzukehren. Genauer gesagt ins Krakauer Ghetto, wo sie sich vor den Nazis versteckten. Als es dort lebensgefährlich wurde, fand die Kinderfrau eine neue Zuflucht für sie: in einem BenediktinerinnenKloster. Dort lernten die Kleinen die anderen Kinder kennen, mit denen sie sich anfreundeten, und sie bekamen von den Nonnen schmackhaftes Essen sowie eine Übernachtungsmöglichkeit. Für die Autorin war es am wichtigsten, dass sie in Krakau war. Ihre Freude drückt sie folgendermaßen aus: „Wir lebten wieder in der Stadt, die ich liebte. Wenn wir zur Messe nicht in die kleine Kapelle der Benediktiner gingen, besuchten wir die große Kościół Mariacki (Marienkirche) in der Stadt [...]“104. Anita und ihr Bruder spielten auf dem Klosterhof, von wo aus sie die Stadt beobachten konnten. So erinnert sie sich daran: „Wir setzten uns auf einen Ast der Eiche, die im Hof stand, und ließen die Beine baumeln. Wir konnten den Fluss sehen und den Wawel, das Schloss“105. Nachdem die Kinder von den Nazis verhaftet worden waren, fuhren sie in einem mit einer Plane bedeckten Lastwagen zum Krakauer Gefängnis „Montelupi“. Während der Fahrt erinnerte sich Anita an die glücklichen Momente, die sie in Krakau erlebt hatte, was aus den folgende Zeilen ersichtlich wird: 102 Vgl. Lobel, Anita: Das Versteck auf dem Dachboden, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 28. 103 Ebd., S. 31. 104 Ebd., S. 82. 105 Ebd., S. 83. 27 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Bei unseren Spaziergängen mit Niania waren wir oft an diesem Gebäude mit den ordentlich ausgerichteten langen reihen von quadratischen Fenstern vorbeigekommen. Mit seinem merkwürdig klingenden Namen war es so sehr Teil unserer Stadt wie das Sukiennice, die alten Tuchhallen, und die große Marienkirche am Marktplatz. Und der Volkspark, in den Niania mit mir gegangen war, als ich noch klein war. Wo ich mit Krümeln von altem Brot, das Niania in einer Papiertüte mitgebracht hatte, die Vögel fütterte. Wo ich die kleinen Blümchen gepflückt hatte, die dicht am Boden im Rasen wuchsen106. Krakau verbindet die Autorin am stärksten mit dem Familienhaus. Daran erinnert sie sich in jeder Situation. Das Haus war für das Kind insofern ein sicherer Hort, als ihre Eltern gut situiert waren und auf großem Fuß lebten. Sie beschreibt es ganz genau: „Die Rückseite des großen Etagenhauses, in dem wir wohnten, ging auf einen viereckigen Hof. Hier waren die Balkons lange Gänge, die am ganzen Haus entlangzogen“107. Als einmal die Nazi-Soldaten in ihr Haus kamen, nahmen sie viele wertvolle Gegenstände mit. Anita Lobel erinnert, wie folgt, sich an dieses Ereignis: Der große Garderobenschrank, in dem unsere Mäntel hingen, stand offen. »Sie haben meine Pelze mitgenommen«, sagte Mutter. »Und das ganze Silber.« Die Fächer im offenen Esszimmerschrank waren leer. Die Festtagsleuchter und die schöne Kaffeekanne und die Teekanne aus Silber waren weg. [...] Auch der Fußboden im Flur zum Esszimmer war leer. Die schöne lange Brücke mit der Mitte aus scheckenförmig geschweiften roten Formen und die Girlande aus bunten Blüten zwischen den Randstreifen war weg108. Und die schönen Sachen konnte die Mutter auf dem schwarzen Markt tauschen und dafür etwas zu essen bekommen. Anita Lobel wagte es sich nie, nach Polen zu fahren. Die glücklichsten Momente erlebte sie in Schweden, und deshalb besuchte sie dieses Land. Polen verbindet sie nur mit Entsetzlichem, das sie nicht mehr erleben möchte. Sie fühlt sich mit allen Orten noch sehr verbunden, daher begründet sie ihre Entscheidung folgendermaßen: „Ich bin nie wieder in Polen gewesen. Ich habe nicht den Wunsch, auf den konservierten Überbleibseln von Auschwitz oder Płaszów oder Ravensbrück zu stehen, als besuchte ich eine Touristenattraktionen wie die London Bridge oder das Forum Romanum oder den Eiffelturm“109. Im Buch findet man keine genauen Beschreibungen konkreter Stellen in Krakau. Es sind nur verschiedene Namen der Krakauer Sehenswürdigkeiten vorhanden, aber ohne ihre Geschichte oder ihre Bestimmungen. Andererseits darf man von der Person, die ihren Heimatort als Kind verlassen hat, nicht verlangen, dass sie sich präzise an alles erinnert. Außerdem helfen ausführliche Beschreibungen der Baudenkmäler auch nicht nicht, diese Kindheitserlebnisse besser zu verstehen. Deshalb verzichtete die Autorin 106 Ebd., S. 107. Ebd., S. 14. 108 Ebd., S. 18 ff. 109 Ebd., S. 247 ff. 107 28 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz darauf, ihre Erfahrungen zu vertiefen und konzentrierte sich darauf, was mit ihr, ihrem Bruder und ihren Angehörigen geschah. Der Betroffene kann Genaueres in Reiseführern lesen oder die Stadt selbst besichtigen. Trotzdem spürt man in den früher erwähnten Buchabschnitten die Atmosphäre des damaligen Krakau. Wenn der Leser die Stadt kennen gelernt hat, kann er sich gut vorstellen, wo diese Ereignisse geschehen sind. 4.1.2 Gedächtnis an verlorene Kindheit Ihre Erinnerungen schrieb Anita Lobel erst fünfzig Jahre nach Kriegsende nieder. Ihre Freunde hatten sie dazu überredet. Sie selbst hatte keine Lust, wieder zu diesen Ereignissen zurückzukehren. Sie beschreibt dies folgendermaßen: Im Laufe der Zeit haben mich viele Menschen gebeten meine Erinnerungen an die frühen Jahre meines Lebens niederzuschreiben. Ich habe diese Aufgabe gescheut. Ich habe mich gesträubt. Als ich jetzt diese Geschichte doch festhielt, habe ich mich in eine Zeit zurückversetzt, in der alles in meiner Welt zertreten und vernichtet wurde. Eine Zeit, aus der ich nur wenige schöne Bilder in Erinnerung habe110. Sicherlich stellt man sich solcherlei Fragen: Was kann ein 5-jähriges Kind im Gedächtnis bewahren? Wie entsetzlich mussten die Erlebnisse sein, dass man sie noch nach 50 Jahren in Erinnerung behält? Die erste mit dem Krieg verbundene Erinnerung war das Verschwinden ihres Vaters, was für die Autorin die schmerzhafteste Erfahrung war. Sie erinnerte sich an sein Aussehen, an die Farbe seiner Anzüge, Hemden, Krawatten, Schuhe sowie an seinen Duft. Und eines Tages fuhr er weg. Darüber schreibt Anita Lobel wie folgt: Und dann war er eines Morgens fort und kam nicht zurück. Er hatte mir nachts einen Abschiedskuss gegeben und ich hatte es nicht gemerkt. Ich suchte nach seinen Schuhen. Ich konnte seinen Duft nicht finden und ich weinte 111. Sie vermisste ihren Vater, weil er ihr mehr Zeit widmete als ihre Mutter. Sie sehnte sich nach ihren Sonntagsspaziergängen, während derer sie immer in die Konditorei gingen. Die Mutter versuchte die Tat des Vaters zu erklären („Jüdischen Männern droht größere Gefahr von den Nazis als Frauen und Kindern“112), aber sie konnte die Sehnsucht des kleinen Kindes nicht stillen. Sie warteten auf eine Nachricht vom Vater, die jedoch nie kam. Damit die Kinder sicherer waren, schickte sie die Mutter aufs Land. Sie sollten mit dem Kindermädchen bei den Verwandten des Vaters im Dorf Łapanów wohnen. Dort erlebte die Autorin das erste direkte Treffen mit den Nazis, als sich die Passahzeit näherte. Die Juden im Dorf backten Matzen, was verboten war. Die Tante 110 Ebd., S. 11ff. Ebd., S. 15. 112 Ebd., S. 20. 111 29 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz beschloss, sie in Anitas Puppenwagen zu verstecken. Während des Spazierganges traf sie die Soldaten. Einer von ihnen fragte sie nach dem Inneren des Wagens. Das Kind „erriet, was das heißen sollte“113, was dadurch verstärkt wurde, dass sie Gewehre hatten. Deshalb fragte sich das Kind: „Was würden sie mit mir machen?“114. Zum Glück gingen die Soldaten weiter. Weil es in Łapanów immer gefährlicher wurde, beschloss das Kindermädchen, in sein Dorf zu fahren. Um Gefahr zu vermeiden, musste sich der Bruder wie ein Mädchen anziehen, was dadurch vereinfacht wurde, dass er einem Mädchen sehr ähnlicher sah. Während der Fahrt konnten sie die Deportation der anderen Juden beobachten. Sie sahen, wie die Juden in die Güterwagen einsteigen mussten, wie die Soldaten die Riegel davorschoben und der Zug abfuhr. In der neuen Zuflucht mussten sie um das Essen betteln. Sie hatten schöne Sachen aus Krakau mitnehmen können, für die sie die Nahrung bekamen. Einmal wurden sie von einer Frau mit dem Inhalt eines Nachttopfes übergossen. Zum Glück wurde das Essen nicht verschmutzt und sie konnten ihren Hunger stillen. Im Dorf lebten aber auch gute Polen, die ihnen halfen, obwohl sie genau wussten, dass sie Juden waren und solche Hilfe mit dem Tod der ganzen Familie durch Erschießen enden konnte. Einer von ihnen brachte sie zum Bahnhof, von wo aus sie nach Krakau fahren konnten. In Krakau sind sie in Ghetto gegangen – ein ganz neuer Ort für sie. Die Autorin erzählt dies folgendermaßen: Mein Bruder und ich waren zum ersten Mal an diesem Ort, an den man die Krakauer Juden schon im ersten Kriegsjahr getrieben hatte. Bis jetzt war Ghetto nur ein Wort für uns gewesen. Es mutete nicht wie ein Gefängnis an. Nur wie ein bedrückender Ort in einem abgesperrten Teil der Stadt115. Dort trafen sie ihre Mutter und konnten sich erst einmal satt essen. Die Idylle und Ruhe dauerten jedoch nicht lange. Es kam die Zeit der Ghetto-Deportation mit den Nächten, während derer sie wachen und auf Geräusche horchen mussten. Da ihr Onkel ein erfolgreicher Architekt war, wurde er davor gewarnt, dass sie jetzt an der Reihe wären. Sie fanden ein Versteck in einem Zwischenraum oberhalb des oberstem Stockwerks. Die Autorin erinnert sich diesen Ort auf diese Weise: Es war voll gestopft mit Männern und Frauen, die dicht auf dem Boden direkt unter den Balken des schrägen Daches lagen. Der Geruch nach Schweiß und Mottenkugeln mischte sich mit dem sommerlich-ländlichen Geruch von trockenem Holz und Staub. […] Das Versteck war zum Ersticken. […] Wir krochen auf allen vieren durch die niedrige Öffnung. Einer der Chassiden rutschte ein Stück hinüber, um Mutter Platz zu machen. Mein Bruder kletterte über sie hinweg und 113 Ebd., S. 33. Ebd., S. 33. 115 Ebd., S. 59. 114 30 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz quetschte sich dazwischen. Ich schob mich in den restlichen Raum auf ihrer anderen Seite. […] Den ganzen Tag lagen wir da und lauschten auf die deutschen Stimmen. Zunächst in der Ferne. Sie brüllten und fluchten wie gewöhnlich: »Raus! Schnell! Verdammte dreckige Juden!« Sie kamen näher und näher. Bis schließlich klar war, dass sie in unserem Haus waren. Wir hörten keine Klagen von den Menschen, die da hinausgescheucht wurden. […] Eine Ewigkeit verging, ehe die Geräusche der Razzia verklangen. […] Ich versuchte Arme und Beine zu bewegen. Sie waren ganz taub. Ich stützte mich auf dem Boden ab und kauerte mich hin. Die Leute reckten die Glieder […]116. Danach fanden die Kinder ihre Zuflucht in dem Benediktinerinnen-Kloster, was eine gute Zeit für sie war. Sie hatten keine Probleme mit dem Essen (d. h. sie brauchten es nicht zu erwerben), hatten ihr eigenes Bett, konnten sich waschen und lernten neue Kinder kennen. Die Autorin drückt das mit diesen Worten aus: “Es war ein gutes Leben im Kloster. Die Nonnen waren nett zu uns. Wir lebten wieder in der Stadt, die ich liebte“117. Die glücklichen Zeiten dauern jedoch nie lange. So war es dieses Mal auch: An einem Weihnachtstag kamen die Soldaten und nahmen alle Juden mit. Alle wurden mit dem Lastwagen ins Montelupi-Gefängnis gebracht. Sie saßen mit anderen Juden in einer Zelle und waren hungrig. Anita Lobel beschreibt ihren Zustand mit solchen Worten: Sie werden uns verhungern lassen. Ich umklammerte den Stiefel des Nazis. Ich kniete mich hin. »Milch, bitte, bitte«, flüsterte ich auf Deutsch. »Und etwas Brot!« Ich packte seine Hand und küsste sie. […] Der Mann sagte nichts. Ich wusste, dass er vorhatte mich mit dem Fuß wegzustoßen. Dann schüttelte er mich einfach ab, als sei ich ein kläffender, aber nicht besonders gefährlicher Hund118. Wie determiniert muss ein Kind sein, wenn es sich entscheidet, den größten Feind um Essen zu bitten? Nach einer Weile bekamen alle Häftlinge wässrige Kohlsuppe und eine kleine Scheibe Schwarzbrot. Dazu erhielten sie kein Besteck und mussten die Suppe von einer zerbeulten Schüssel oder aus einem Blechbecher schlürfen. In der Zelle gab es sehr viele Leute. Die Kinder hatten keinen Platz zum Sitzen. Sie legten ihre Mäntel auf den Boden und setzten sich einfach darauf. Außer ihnen gab es keine Kinder und deshalb fühlten sie sich einsam. Nach einigen Tagen wurden alle nach Płaszów abtransportiert. Die Wachtürme und der Stacheldraht wirkten so auf die Autorin, dass sie sofort wusste, wo sie sich befand. Sie waren dort, wovor sie die Kinderfrau schützen wollte. Die 10-jährige Anita wollte natürlich mit ihrem Bruder zusammenbleiben, doch sie wurden getrennt. Sie machte sich Sorgen um ihn, bis eine der Gefangenen ihr sagte, dass er bei ihrem Onkel sei. Der musste eine sehr wichtige Person sein, weil er viele Privilegien genoss. Er wohnte nicht in einer Baracke, bekam besseres Essen und hatte 116 Ebd., S. 65 ff. Ebd., S. 81ff. 118 Ebd., S. 113. 117 31 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz eine Toilette mit fließendem Wasser. Die kleine Anita konnte ihn auch besuchen und dabei etwas Besseres essen und ein Bad nehmen. Erst nach vielen Jahren erfuhr sie, dass sie ihr Leben allein dem Onkel zu verdanken haben. Sie „standen auf der Liste derjenigen, die erschossen werden sollten. Onkel Samuel bat den Kommandanten die Kinder seiner Schwester zu schonen. Der Nazi ließ sich erweichen und machte ihm das Geschenk“119. Es kam der Januar 1945 und die sowjetischen Soldaten rückten immer näher. Deshalb mussten die Nazis das Arbeitslager Płaszów auflösen. Alle Häftlinge wurden gezwungen, nach Auschwitz zu marschieren. Unterwegs versuchten einige zu fliehen, weswegen sie von Nazis erschossen wurden. Den Marschierenden sagte niemand, wohin sie gingen. In Auschwitz mussten sie gleich in den Güterzug einsteigen und fuhren damit in ein anderes Konzentrationslager – nach Ravensbrück. Nach der Ankunft wurden alle selektiert. Wie sich die Autorin erinnert, hat sie das schlechte Schicksal meiden können. Sie beschreibt dies folgendermaßen: „Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich nach rechts, bemerkte den Ziegelschornstein und den Rauch. Schnell zog ich meinen Bruder mit in die Gruppe, die nach links ging. […] Ich hatte in den letzten Jahren immer wieder Gerüchte von Gaskammern gehört und von der Verbrennung von Leichen. In diesem Sekundenbruchteil hatte ich entschieden, dass es weiter weg von dem Schornstein sicherer war“120. In Ravensbrück erkrankte sie schwer. Sie hatte Durchfall und wusste, dass sie nicht in das Krankenrevier gehen konnte, weil man dort mit den Kranken experimentierte121. Als es ihr besser wurde, nahm eine Polin sie und ihren Bruder in mit eine andere Baracke, wo sie saubere Wäsche bekamen. „Zum ersten Mal, seit wir unseren Marsch aus Płaszów begonnen hatten, kümmerten sich Erwachsene um uns und behandelten uns wie Kinder“122, erinnert sich Anita nach Jahren. Kurz danach wurde das Lager von den Alliierten befreit. Die Häftlinge bekamen Dosen mit Essen und wurden in Bussen abtransportiert. Die Geschwister gelangten an die Meeresküste und erreichten mit einer Fähre Schweden. Erst hier kümmerte man sich um sie wie um die Kinder. Sie wurden untersucht und gut in einem Sanatorium behandelt. Beide erkrankten an Tuberkulose, die damals nicht so schnell wie heute geheilt werden konnte. Die Kinder hatten Angst, zu sterben, wie ihre Freundin aus dem Kloster, Krysia. Alle betreuten sie sorgfältig. Diese Zeiten beschreibt die Autorin auf diese Weise: 119 Edb., S. 243 ff. Ebd., S. 144. 121 Ebd., S. 149. 122 Ebd., S. 152. 120 32 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Es gab so viel zu essen. Seltsam körniges Brot, das ich noch nie gegessen hatte. […] Und Butter! Wie lange hatte ich diese fette, glatte, üppige Süße nicht geschmeckt. […] Und Kuchen, Kuchen! […] Die Bettwäsche in meinem Bett war weiß und sauber. Es gab eine Federbett und weiche Kissen. Es waren märchenhafte Wonnen nach den dreckigen Pritschen mit so wenig Stroh und Rupfen. Seit Jahren hatten mein Körper, meine Haut so angenehme Umhüllungen nicht gefühlt123. Nach Schweden gelangten auch die ersten Nachrichten ihrer Eltern. Sie hatten den Krieg heil überlebt. Bald kamen sie selbst nach Schweden und einige Zeit später wanderten allesamt in die USA aus. Im Epilog fasst die Autorin ihr Leben in den USA, wie folgt, zusammen: In Amerika habe ich von den Menschen, die um mich herum sind und mir nahe stehen, zu lernen versucht, wie das Leben zu leben ist ... Mit Familie und Freunden habe ich freudvolle Zeiten erlebt und Kummer und Traurigkeit und Verrat, Zeiten, die mich niedergedrückt, aber mir auch Kraft gegeben haben124. Dank der guten Betreuung in Schweden, der Ankunft der Eltern und dem besseren Leben in den USA konnten die Kinder ein psychisches Gleichgewicht erlangen. Die Autorin lernte in Schweden malen, was ihr ebenso dabei half. Sie konnte dann ihr Interesse darin vertiefen und sogar Kunst studieren. Ihr Bruder fand sich auch zurecht und studierte Psychologie. Er wurde sogar amerikanischer Professor für Psychologie125. Das verdanken sie auch ihren Freunden, die für sie sorgten und ihnen das Leben ohne Kummer und Traurigkeit ermöglichten und ihnen Kraft gaben126. Man mag sich fragen, ob alles, was im Buch steht, wirklich so geschehen ist. Fred Wander hält es für unwahrscheinlich127. Vielleicht können die Bücher oder Filme, die dem Holocaust gewidmet sind, die Erlebnisse wieder aufleben lassen. 4.2 Erinnerungen an den Holocaust in der Autobiografie von Irene Gut Opdyke In ihrer autobiografischen Erzählung Wer ein Leben rettet... (Eine wahre Geschichte aus dem Holocaust) beschreibt Irene Gut Opdyke mit Hilfe von Jennifer Armstrong ihre Erlebnisse als Deutsch sprechende Polin vor und während des zweiten Weltkriegs. Sie beginnt ihre Erzählung mit dem ruhigen und normalen Leben, dass ihre Familie in Kozienice (kleines Dorf in Ostpolen) führt. Diese Ruhe sieht sich jedoch allmählich dadurch unterbrochen, dass Hitler 1934 nach Hindenburgs Tod Reichspräsident wird. 123 Ebd., S. 169 ff. Ebd., S. 246. 125 Ebd., S. 243. 126 Ebd. S. 246. 127 Vgl. Ehlers, Hella: Ebd., S. 19. 124 33 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Da Hitler „in Polen nichts als ein Land slawischer Bestien [sah], die nur zum Arbeiten zu gebrauchen waren“128, wollte er es vernichten und fiel mittels eines Blitzkriegs in Polen ein. Irene schaffte es, erst zu fliehen und konnte so eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Letztendlich kam sie jedoch den Russen in die Hände und musste für sie arbeiten. Als Sprecherin einer slawischen Sprache hatte sie es relativ leicht, Russisch zu lernen und dank ihrer Stärke konnte sie sich schnell Respekt seitens eines Arztes erarbeiten, der ihr später dabei half, wieder freizukommen. Ihre größte Sorge war trotz all dieser Schwierigkeiten, wo sich ihre Familie befand und wie es ihr erging. Sie wollte es irgendwie schaffen, zu ihr zu gelangen und nahm deswegen das Risiko auf sich, von den Deutschen gefangen genommen zu werden. Auf diesem Weg hatte sie zwei Vorteile: Erstens konnte sie als Deutsche „durchgehen“, weil sie wie eine solche aussah (arisch: blond und blauäugig), Deutsch als Zweitsprache sprach, und ihr Nachname (Gut) auch deutsch hätte sein können. Und zweitens hatte sie einen starken Willen und war eine selbstsichere Person, so konnte sie sich manchmal Situationen entwinden, die anderen das Leben hätte kosten können. 4.2.1 Leben im Radomer Getto Irene Gut hatte das „Glück“, als blonde, Deutsch sprechende Polin bei den Deutschen kaum aufzufallen. Außerdem war sie eine hübsche und starke Frau, die es häufig schaffte, ihren Willen durchzusetzen, auch wenn sie nur eine Gehilfin war. Dazu kommt, dass ihr Name genauso gut hätte deutsch sein können, was ihr bei Major Rügemer dazu verhalf, sowohl eine gute Arbeitsstelle zu bekommen, als auch von ihm gut angesehen zu werden. An dem folgenden Textstelle soll gezeigt werden, wie der erste Kontakt zwischen ihnen beiden ablief: »Wie heißen Sie«, fragte er auf Deutsch. [...] »Mein Name ist Irena Gut.« Ich registrierte seine Überraschung darüber, dass ich Deutsch verstand und auch sprechen konnte. »Vor dem Krieg habe ich in Oberschlesien gelebt.« [...] »Sie müssen deutscher Herkunft sein, bei diesem Namen.« »Ich weiß nicht – ich glaube nicht. Ich bin Polin.« [...] »Sie erheben also nicht den Anspruch darauf, deutsch zu sein? Sie würden sich wundern, wie viele Menschen das tun«, sagte er. Zynisch lächelte er mich an. »Ich bewundere Ihr Ehrlichkeit, dass sie es gar nicht erst versuchen«129. 128 Vgl. Gut Opdyke, Irene; Armstrong, Jennifer: Wer ein Leben rettet... Eine wahre Geschichte aus dem Holocaust. Weltbild, Zürich/München 2000. S. 27. 129 Ebd. S. 105. 34 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Nachdem Irene ihre Arbeit als Küchengehilfin begonnen hatte, entdeckte sie eines Tages – durch ein Hinterfenster ihrer Arbeitsstätte – zufällig das Getto Glinice, was bei ihr sehr starke Mitleidsgefühle auslöste. Dabei wurde sie von ihrem gutwilligen Chef erwischt, der sie, um sie zu schützen, beschwor: „Reden Sie mit niemandem darüber und zeigen Sie vor allem nicht, dass Sie Anteil nehmen – man wird sie sonst für ein Judenliebchen130 halten“131. Irene war davon, was sie im Getto gesehen hatte, jedoch so mitgenommen, dass sie sich dazu gezwungen sah, soweit es ihr nur irgend möglich war, den Getto-Gefangenen zu helfen, auch wenn es nur „Ein Tropfen auf dem heißen Stein132“ sei. Die Juden waren im Radomer Getto gefangen. Die Deutschen konzentrierten sie in diesen „Freijagdgebieten“, sie dort elendig sterben zu lassen. Irene hatte durch das Fenster beobachtet, wie viele der Gettogefangenen einfach erschossen wurden, nachdem sie durcheinandergetrieben und aufgescheucht wurden wie Hühner. Das Getto war von einem Bretterzaun umgeben, auf dem messerscharfe Metallspitzen angebracht waren. Irene hatte einen ruhigen Augenblick in der Küche genutzt, um Käse und Äpfel mitzunehmen und grub nun mit einem Löffel ein Loch unter diesem Zaun her, um das in einer Dose mitgebrachte Essen darunter herzuschieben. Da sie dabei nicht erwischt wurde, wiederholte sie diese Essensübergabe von da an täglich, ohne je jemanden der Gettogefangenen zu Gesicht zu bekommen, und wohl wissend, dass ihr deshalb die Todesstrafe drohte, sollte sie einmal gepackt werden. Diese gute Tat endete jedoch jäh, als Irene und ihre Schwester eines morgens mitansehen mussten, wie Bulldozer das Getto – mit all seinem „Inhalt“ – niedergerollt hatten. Ihre Gefühle werden wie folgt beschrieben: Hier und da erblickte ich zwischen den Mauerresten und zerschmetterten Fensterrahmen einen zerdrückten Hut, einen kaputten Koffer oder einen silbernen Kerzenhalter. [...] Ich griff nach Janinas Hand und hielt sie ganz fest. Sie war blass vor Kummer und ich selbst hatte das Gefühl, als hätte ich jemand Nahestehenden verloren. Und dann gab aus dem Lautsprecher an der Straßenecke eine dröhnende Stimme mit großem Stolz bekannt: »Diese Stadt ist judenfrei!«133 Es fiel Irene sehr schwer, zu verstehen, was im Radomer Getto vor sich ging und, wie die Deutschen nur so grausam zu ihren Mitmenschen sein konnten. Sie versuchte stets – wo sie nur konnte – den Gefangenen all ihre Hilfe zukommen zu lassen. Sie wusste, „Es gibt das ‚Judenliebchen', das ist eine Christin -oder ‚Arierin' - die ‚es mit Juden treibt’.“ Aus: www.wallstreet-online.de/diskussion/1096370-1-10/linker-antisemitismus (16.03.09). „Mitte 1935: Eine junge Frau wird in Groß-Karben mit einem Schild, auf dem ‚Judenliebchen’ stand, durch den Ort geführt, weil sie weiterhin Freundschaft zu Juden unterhalten hat.“ Aus: http://www.stolpersteine-inkarben.de/2.html (16.03.09). 131 Vgl. Gut Opdyke, Irene: Ebd. S. 113. 132 Ebd. S. 114. Überschrift des auf dieser Seite beginnenden Kapitels. 133 Ebd. S. 119. 130 35 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz dass darauf die Todesstrafe stand, wenn man sie erwischte, darum tat sie es, wie man etwas Verbotenes tut: versteckt und heimlich. Aber sie konnte nicht mit ansehen, wie die Menschen im Getto lebten und fühlte sich dazu verpflichtet, ihnen zu helfen. 4.2.2 Mitleid mit den Gefangenen Als Irene sich noch in Lemberg aufhielt, bereit nach Ternopol aufzubrechen, muss sie mit eigenen Augen ansehen, was mit den gefangen genommenen Juden passiert, die von den Deutschen ausgelöscht werden sollten: Die Gefangenen wurden alle auf dem Marktplatz zusammengetrieben und dann wurde einfach drauflosgeschossen, schlimmer als es bei einer Hasenjagd zugehen würde. Schließlich muss sie mit ansehen, wie ein Baby in die Luft geworfen wurde, und abgeschossen, als wäre es ein Vogel134. Irene fühlt solches Mitleid mit diesen Leuten, dass sie fast daran verzweifelt. So groß ist ihr Ohnmachtsgefühl. Da Irene Gut bei Major Rügemer angestellt war und deshalb unter Herrn Schulz in der Küche arbeitete, und außerdem von beiden nur für „ein junges Mädchen“135 gehalten wurde, konnte sie so manche Frage stellen, die jemand anderen das Leben hätte kosten können. Ihr Zuständigkeitsbereich wurde nun bis zur Waschküche ausgeweitet, so kam es dass sie zwölf deutsche Juden kennen gelernt hatte, die sehr schlecht behandelt wurden, weshalb sie sich ihrer annahm. Nach einiger Zeit wagte sie es jedoch, Herrn Schulz um mehr Küchengehilfen zu bitten: »Herr Schulz«, begann ich, »meinen Sie, ich könnte zusätzliche Hilfe bekommen? Mit den Mahlzeiten und der Wäsche habe ich so viel zu tun, dass ich die Arbeit kaum schaffe. Außerdem helfe ich Janina ja auch noch bei den Zimmern.« »Ich werde mit dem Major darüber reden, Irene. Vielleicht kann er Ihnen einige Frauen aus der Fabrik geben.« »O ja, das ist eine gute Idee«, sagte ich, Überraschung heuchelnd136. So wurden ihr „zehn weitere Hilfskräfte zugeteilt [...], die Freunde und Verwandte der Arbeiter aus der Waschküche waren“137. Irene gibt ihnen folgenden Ratschlag, damit sie nicht wieder zurück in die Fabrik müssen: „Suchen Sie sich etwas zu arbeiten, geben Sie sich Mühe, stets beschäftigt zu wirken. Hier wird es Ihnen besser gehen als in der Fabrik oder im Arbeitslager oder im Ghetto. Wenn Sie keinen Fehler machen, werden 134 Ebd. S. 127. Ebd. S. 129. 136 Ebd. S. 133. 137 Ebd. S. 133. 135 36 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz sie tagsüber hier bleiben können, jeden Tag, und wir werden Ihnen etwas zu essen bringen“138. Da Irene den Offizieren auftischte und eine Angestellte Rügemers war, bekam sie viele Informationen mit, die ihr dabei halfen, ihre Schützlinge vor größeren Gefahren zu bewahren. Alle schienen sie nur für ein junges Mädchen zu halten, das niemandem gefährlich werden konnte. Durch das bessere Leben, als sie es vorher geführt hatten, konnten die Zusatzgehilfen an Gewicht zunehmen. Sie hatten sich im Keller hinter einem Wäscheregal eine Art Unterschlupf aufgebaut und Irene sorgte dafür, dass sie das Wichtigste wie Essen, Trinken und einen einigermaßen angenehmen Schlafraum mit ausreichend Decken usw. hatten. Wenn sie etwas brauchte, stand ihr sogar Herr Schulze zur Seite, der nämlich Bescheid wusste: „,Irene, wenn Sie irgendetwas brauchen – egal was –, scheuen Sie sich nicht, mich zu fragen’, sagte er leise. [...] Schulz wusste, was ich tat“139, wohl wissend, dass als „Juden-Gehilfe“140 getötet werden konnte. So scheint es, dass auch Herr Schulz Mitleid mit den Gefangenen hat, obwohl er versucht es so dastehen zu lassen, als sei es nur zwecks einer besseren Arbeitsverrichtung, als er sagt: „Schließlich kann ich nicht zulassen, dass meine Mädchen frieren müssen, oder?141“ Das Judenpaar Roman und Sozia ist sehr verliebt und frisch verheiratet. Irene freut sich sehr für sie. Eines Tages jedoch erblickt eine Deutsche, die sich an Roman rächen wollte, weil er sie abgelehnt hatte, Roman und teilte dem Sturmbannführer mit, dass in der Küche Juden das Essen vorbereiteten. Am nächsten Tag erschienen Roman und Sozia nicht zur Arbeit, weil sie abgeholt worden waren. Irene beschreibt ihr Mitleid mit den beiden folgendermaßen: „Ich hatte das Gefühl, als ob Roman und Sozia in einen Abgrund gestürzt seien und ich sie im letzten Moment an den Handgelenken erwischt und versucht hätte, sie wieder nach oben auf sicheren Boden zu ziehen Ich habe versucht, sie zu halten – aber ich konnte nicht verhindern, dass sie mir entglitten“142. Die Nazis fuhren mit ihrer Judenvernichtung fort und waren kurz davor, endgültig alle umzubringen. Als Irene davon erfuhr, fühlte sich sich ganz schwach und ohnmächtig, weil sie ihre Schützlinge wie auch immer vor der bevorstehenden Gefahr retten wollte. Hinzu kam, dass Major Rügemer in ein anderes Haus umziehen wollte und Irene als 138 Ebd. S. 133-134. Ebd. S. 142. 140 Siehe auch „Judenliebchen“. 141 Ebd. S. 142. 142 Ebd. S. 147. 139 37 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz einzige Haushälterin mitzunehmen gedachte. Nachdem Irene das neue Haus gesehen hatte, beschloss sie die „Gefangenen“ mitzunehmen, da sie sie im Keller verstecken konnte. Gleichzeitig nutzte Irene jede Stadtfahrt mit dem Fahrrad aus, um allen Juden, die sie sah, mitzuteilen, was ihnen bevorstand. Während einer Feier der Deutschen nutze Irene die Möglichkeit, ihre Freunde in das neue Haus des Majors zu bringen. Nachdem alle dort angekommen waren und sich im Keller „eingerichtet“ hatten, begann für sie ein Leben, dass sogar fast noch angenehmer war als das vorherige: Wenn Major Rügemer aus dem Haus war, stiegen die Untergebrachten nach oben und taten alles, worauf sie Lust hatten – aber immer hinter verschlossenen Fenstern, damit niemand etwas merkte. In was sich ihr Mitleid mit den Gefangenen verwandelt hatte, wird in dem folgenden Extrakt ausgedrückt: „[...] schließlich war ich [...] für die Menschen verantwortlich, die sich in meiner Obhut befanden. Ich konnte nicht einfach meinem Heimatland nachweinen, während ihre Leben in Gefahr waren. Das wurde mir klar, als ich bei meiner Rückkehr in die Villa an jenem Nachmittag von Lazar Haller erfuhr, dass Ida schwanger war 143“. Das Ehepaar wusste, dass es die Schwangerschaft abbrechen müsste, um das Leben aller nicht in Gefahr zu bringen, doch Irene hatte großes Mitleid mit ihnen und wollte jedes weitere menschliche Opfer vermeiden, sodass sie optimistisch genug war, das Kind dort geboren werden zu lassen. Irene kannte ein polnisches Ehepaar, das in der Nähe eines Waldes lebte, und das sie hin und wieder mit Essen versorgte. In dem gleichen Haus wohnte noch ein anderes Paar, in dem die Frau, Miriam, an einer Lungenentzündung litt, und derer Irene sich annahm, um sie gesund zu pflegen. Irenes Hilfe nimmt jedoch ein bitteres Ende, als sie der Major auf einmal mit einer der im Haus lebenden Juden antrifft. Irene flieht den Major an, nichts davon zu erzählen, um seine „Hände nicht mit dem Blut Unschuldiger“144 zu besudeln, wie sie sagt; sie nehme die ganze Schuld auf sich. Irene lässt trotzdem nicht zu, dass ihre Freunde fliehen, da sie draußen den Tod finden würden. Der Major verlangt als Gegenzug für sein Schweigen jedoch, dass Irene sich ihm hingibt, wofür sie sich sehr, sehr schämte, sie nahm es aber zum Schutze ihrer Freunde auf sich. 143 144 Ebd. S. 209. Ebd. S. 220. 38 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 5. Vergleich beider Autobiografien 5.1 Der Albtraum Krieg Die mit dem Krieg verbundenen Erinnerungen bleiben lange im Gedächtnis der Erwachsenen, noch länger jedoch im Gedächtnis der Kinder. Einerseits verstehen sie weniger von den aktuellen Ereignissen, andererseits, wie soll man ihnen erklären, warum sich die Leute auf diese Weise verhalten? Woran sind die Kleinen schuld, dass sie wie Verbrecher behandelt werden. Bei Anita Lobel begann der Krieg mit dem Einmarsch der Nazis in Krakau. Vom Balkon aus sah sie einen toten Mann und wusste nicht, warum von der Leiche ein rotes Strählchen floss.145 Das Kindermädchen kümmerte sich darum, dass die Kinder möglichst wenig vom Schreck des Kriegs erfuhren. Als sie im Dorf wohnten, schützte sie die Kleinen vor den Dorfbewohnern in Krakau – vor den Nazis –, obwohl sie nicht viel tun konnte, weil sie wusste, dass der Krieg die schlimmsten Charaktereigenschaften des Menschen herauskehrt. Sie benahm sich wie eine Bruthenne, die ihre Küken unter den Flügeln versteckt, wenn sie eine Gefahr lauert. Sie konnte jedoch nicht vermeiden, dass ihre Schützlinge nichts vom Krieg erfuhren. Die Kleinen hörten von den Deportationen in der Familie, sahen die Tränen ihrer Mutter nach der Flucht des Vaters und der Verschleppung der Großeltern ins Konzentrationslager. Der wahre Albtraum begann für die Autorin und ihren Bruder, als sie im Dezember 1944 ins Montelupi-Gefängnis gerieten. Jetzt waren sie nur auf sie selbst angewiesen. Die Erwachsenen, die mit ihnen in der Zelle saßen, sorgten sich nur um sich selbst. Am Anfang dachte die kleine Anita, dass Niania bald kommen und sie mitnehmen würde. Das passierte jedoch nicht. Dafür wurden sie zuerst in einer Zelle untergebracht und dann ins Lager Płaszów abtransportiert146. Hier trafen sie ihre Verwandten, die sie in ihren Schutz nahmen. Sie gaben ihnen Essen, organisierten ein Bad mit Seife. Doch die guten Zeiten dauerten nicht lange. Eine Nacht wurde das ganze Lager geweckt und alle mussten irgendwohin marschieren. Die Gefangenen schritten in Gruppen. Die Kusine der Autorin wollte, dass das Mädchen in die Büsche flüchtete. Die Schriftstellerin hatte aber Angst, weil in der Nähe der bewaffneten Nazis waren. Obwohl die Verwandten sagten, dass Niania auf sie wartete, wollte sie nicht ohne ihren Bruder weglaufen. 145 Vgl. Lobel, Anita: Das Versteck auf dem Dachboden, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 16. 146 Ebd., S. 110 ff. 39 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Außerdem fürchtete sie sich, weil sie nach der Flucht leicht von Nazis entdeckt werden konnte. Die Bäume waren kahl und die Nazis hatten starke Taschenlampen, außerdem war Vollmond; es gab kein Versteck vor den Nazis. Zudem glaubte sie ihrer Kusine nicht; sie wollte nicht mit ihr laufen. Sie ahnte eine List. Unterwegs sah sie, wie ein Nazi eine Frau erschoss, die nicht mehr gehen konnte147. Die Gefangenen wussten noch nicht, dass sie nach Auschwitz marschierten. Erst, als sie in der Nähe des Konzen- trationslagers waren, erfuhren sie ihr Schicksal. Nachdem sie durch das höhnischen „ARBEIT Tor mit der Aufschrift MACHT FREI“ (siehe Foto links148) gegangen waren, bemerkten sie, dass das Lager leer war. Sie vernahmen noch einen Ekel erregenden Brandgeruch, der vom Krematorium ausging. Die Nazis ließen sie nicht lange hierbleiben, sondern sie mussten schnell in die Güterwaggons einsteigen. Sie waren so voll, dass niemand mehr hineinpasste. Die Autorin erinnert sich an diese Reise folgendermaßen: Die Güterwagen dieses Zuges waren alle oben offen. Der Himmel war jetzt ganz hell geworden. Ein Rucken. Die Menschen stießen gegeneinander. Es gab Geschiebe und Murren. Es war unmöglich, Platz zum Sitzen zu finden. Mein Bruder und ich standen dicht eingeklemmt in einer Ecke des Waggons. Wenn sich jemand bewegte, nahm der Gestank zu. [...] Ich hatte noch ein Problem. Ich brauchte einen Eimer. Ich wusste nicht, ob es irgendwo in dem Waggon einen gab. Aber wenn, dann konnte ich trotzdem nicht dahin vordringen. [...] Wir standen die ganze Fahrt hindurch. Als einmal ein Gefangener in der Hoffnung, sich einen Augenblick setzen zu können, einen anderen zu Seite drängte, hörten wir Streit und Schimpfen. Mein Bruder und ich waren klein. Wir nahmen weniger Platz ein. Es war uns gelungen, in unserer Ecke zu bleiben und uns an die Wand des Waggons zu lehnen. In der Mitte eingeklemmt zu sein wäre schlimmer gewesen. Ich musste geschlafen haben. Im Stehen149. Dieser Zug brachte sie nach Ravensbrück. Gleich nach der Ankunft fand eine Selektion statt, was ein einschneidendes Erlebnis für die Geschwister war. Die Schriftstellerin beschreibt dieses Ereignis auf diese Weise: 147 Ebd., S. 131 ff. Quelle: http://z.about.com/d/history1900s/1/0/L/5/arbeitmachtfrei.jpg (konsultiert am 03.05.2009). 149 Ebd., S. 140 ff. 148 40 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Am Ende der Gasse zwischen den Baracken stand, umgeben von mehreren uniformierten Bewachern, ein Nazi, der bedeutender schien, als die anderen, wie ich fand. Er zeigte, als wir näher kamen, mit etwas, das wie eine Reitpeitsche aussah, zur einen oder anderen Seite; »Rechts! – Links!« Die Rufe halten. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich nach rechts, bemerke den Ziegelschornstein und den Rauch. Schnell zog ich meinen Bruder mit in die Gruppe, die nach links ging. Ich weiß nicht, ob wir nach rechts hätten gehen sollen, in Richtung Schornstein. Ich hatte in den letzten Jahren immer wieder Gerüchte von Gaskammern gehört und von der Verbrennung von Leichen. In diesem Sekundenbruchteil hatte ich entschieden, dass es weiter weg von dem Schornstein sicherer war150. Nach der Selektion wurden alle Gefangenen kahl geschoren. Dann wurden ihre Kleidungen mit einer Art Puder eingesprüht und es begann das Lagerleben mit den Morgen- und Abendsappellen. Die Kleinen mussten nicht so hart arbeiten, wie die erwachsenen Gefangenen. Die Bedingungen im Lager waren erbärmlich. Die Häftlinge schliefen zu zweit auf einer Pritsche, das Essen war geschmacklos und gab überhaupt keine Kraft. Die Kinder träumten von dem Essen bei Niania, von duftenden, gekochten Kartoffeln, von einem Stück Schinken, von Weißbrot mit Butter. Das alles verursachte, dass sie Durchfall bekamen. Niemand pflegte sie und sie hatten Angst zum Arzt zu gehen. Erst als zwei polnische Frauen zu ihnen kamen, begann es, ihnen besser zu gehen. Bis dahin hatten sie mit niemandem gesprochen, weil sie zusammen mit Ungarinnen und Rumäninnen untergebracht wurden. Bei den Polinnen bekamen sie eine Koje mit sauberen Decken. Die Frauen hatten ein Radio, worüber sie erfuhren, dass die Alliierten nicht weit von Ravensbrück entfernt waren. Die Freude war groß. Die Frauen umarmten einander und auch die Kleinen. Die Autorin bringt das in folgender Form zum Ausdruck: Die Frauen begannen einander zu umarmen und zu weinen. Martina trat zu meinem Bruder und mir und drückte uns beide an sich. Es war lange her, seit mich jemand umarmt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, dass mich ein Mensch liebevoll an sich drückte. »Es wird alles gut werden für euch«, sagte sie. »Es wird für uns alle gut werden. Sie werden bald hier sein.« Tränen rannen ihr über die Wangen. Ich wusste nicht, wer kommen würde, was geschehen würde, aber ich vertraute Marina und der Freude, die rings um uns zu spüren war151. Im April 1945 kamen endlich die Alliierten. Es gab viel gutes Essen und sogar Dosen mit Milch. Die Befreiung des Lagers beschreibt Anita Lobel folgendermaßen: An einem strahlenden Aprilmorgen kamen Soldaten, die keine Nazis waren, und öffneten die Tore des Lagers. Einige der Frauen stürzten hin und begannen die Soldaten zu umarmen und zu küssen. [...] Als mein Bruder und ich die Baracke verließen, dachte ich an all die Jahre, in denen wir auf der Flucht gewesen waren und uns hatten verstecken müssen. Ich dachte an das ständige Antreten, das Marschieren, die Transporte im Lastwagen, im Viehwaggon, an das Gebrüll und die Kommandos in der verhassten Sprache. Wir waren Ungeziefer und Gewürm gewesen und nun gingen wir bei helllichtem Tage und unter ihren Nazinasen davon. […] 150 151 Ebd., S. 144. Ebd., S. 153. 41 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Am Hals fühlte ich die frommen Medaillons, die sich mir fast in die Haut brannten. Niania war nicht hier, aber sie hatte Recht gehabt. Uns war ein wunderbares Geschenk gemacht worden. Die Jungfrau Maria und das Jesuskind hatten uns beschützt“152. Als die Kinder das Lager verließen, warteten schon die Busse des Roten Kreuzes auf sie. Für sie begann ein nächster Weg, ein Weg in freies Leben. Die Erlebnisse Irene Guts waren dem allen sehr, sehr ähnlich. Sie erinnert sich noch daran, als sie ein kleines Mädchen war, als in Deutschland Hitler an die Macht kam, doch sie nicht viel davon verstand, weil das einfach „nichts für kleine Mädchen” war. Als dann die Deutschen in Polen einfielen, begann für sie der Albtraum: [...] als ich ein stetiges, pulsierendes Dröhnen vernahm. Ich schaute nach oben [...]. Noch bevor ich dir Flugzeuge überhaupt sehen konnte, hörte ich die ersten Explosionen, und dann waren sie auf einmal da und der Himmel wurde schwarz – Reihe auf Reihe deutscher Bomber flogen in Formation über Radom. Selbst als ich mir meine Ohren zuhielt, um mich vor dem donnernden Geräusch zu schützen, fühlte ich die Erde unter mir erzittern. [...] Über der ganzen Stadt stiegen Schmutz- und Rauchwolken auf. [...] Die Luft war geschwängert von dem Pfeifen der Bomben und dem Donnern der Explosionen. Von überall her erscholl Sirenengeheul 153. Sie konnte nach Russland fliehen und sich dort vorerst verstecken – bis sie von russischen Soldaten gefunden und bewusstlos geschlagen wurde. Doch das war nicht alles. Sie wurde missbraucht. Hinterher wurde sie von anderen Russen gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Da sie Schwesternschülerin war, konnte sie in dem Krankenhaus anfangen zu arbeiten. Zu Irenes Albtraum gehörte ebenso die Behandlung der Juden sowie der anderen Polen, die sie mit ansehen musste. Sie wurden schlimmer als Tiere behandelt, was Irene nur schwer verkraften konnte. Deshalb beschloss sie zu helfen, wo sie nur konnte: mit dem Essen, dass sie unter der Zaun hervorschub; ihre jüdischen Freunde, die sie erst in der Küche und hinterher bei dem Major unterbrachte. Da Irene schon älter als Anita war, die mit ihrem kleinen Bruder genug zu tun hatte, konnte Irene mehr verrichten, d. h. auf mehr Personen Acht geben als Anita. Irenes Albtraum durchquert fast das ganze Buch, es geht ja gerade um den „Albtraum Krieg“, der in diesem Buch beschrieben werden soll, den Albtraum, den es bedeutete, den Krieg und seine Ungerechtigkeiten mitzuerleben. Irene, wie auch Anita, hatte nur wenige glückliche Momente: die vor dem Krieg und die mit ihrer Familie („Als ich dachte, ich könnte glücklich sein“154). 152 Ebd., S. 155 ff. Vgl. Gut Opdyke, Irene: Ebd. S. 28. 154 Ebd. S. 89. Überschrift des auf dieser Seite beginnenden Kapitels. 153 42 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Als sie für Herrn Schulz arbeitete, schrieb sie sich Briefe mit ihrer Mutter. Mamusia schrieb ihr Folgendes zu ihrer Situation: »Wir sind alle zusammen, aber die Mädchen müssen als Zwangsarbeiterinnen im Lehmabbau arbeiten... Wir müssen alle eine Armbinde mit dem Buchstaben ›P‹ für ›Pole‹ tragen... Die Deutschen lassen Tatuś nicht gehen und ich fürchte, meine lieben Mädchen, dass wir uns nicht wiedersehen werden, bevor dieser Krieg zu Ende ist«155. Zu ihrem Albtraum gehörte auch der Sturmbannführer Rokita. Irenes Freunde erzählen ihr, was er mit ihnen macht: »Manchmal zwingt uns Sturmbannführer Rokita, abends noch stundenlang vor den Baracken stehen zu bleiben, obwohl wir den ganzen Tag gearbeitet haben. [...] Wenn sich jemand bewegt oder auch nur einen Mucks von sich gibt, wird er geschlagen, manchmal sogar erschossen«156. Laut Irene war er ein Mann, kalt und hart wie Stein („Rokita hatte ein Herz aus Stein. Diese blauen Augen waren kalt, ohne Leben“157). Er hatte kein Pardon und zielte nur darauf ab, die Städte „judenfrei“ zu bekommen. Eine Freundin Rokitas war vorher hinter einem der Juden hergewesen, auf die Irene aufpasste. Da sie ihn jedoch nicht bekam, rächte sie sich nun dadurch bei ihm, dass sie ihn bei Rokita meldete: Sozia [seine derzeitige Freundin] nahm ihn [Roman, den betroffenen] in die Arme [...]. »Keine Sorge, Liebster. Wir sind ja schon Gefangene. Sie kann uns nichts mehr anhaben.« Doch am nächsten Tag erschienen die beiden nicht zur Arbeit. [...] Roman und Sozia waren abgeholt worden. Als ich dies erfuhr, hätte ich beinahe losgeschrien. [...] Ich hatte das Gefühl, als ob Roman und Sozia in einen Abgrund gestürzt seien und ich sie im letzten Moment an den Handgelenken erwischt und versucht hätte, sie wieder nach oben auf sicheren Boden zu ziehen. Ich habe versucht, sie zu halten, ich schwöre bei Gott [...], aber ich konnte nicht verhindern, dass sie mir entglitten. Selbst wenn ich meine Augen schloss, hatte ich das Bild vor Augen, wie sie in die Dunkelheit stürzten und mich dabei hilflos anblickten. Mein Herz schlug wie wild158. Wie bereits im Punkt 4.2.1 beschrieben, hat Irene ihre Freunde zum Schutz vor den Nazis in Major Rügemers Keller untergebracht. Eines Tages erfahren sie alle, dass eine der Juden schwanger ist, worüber sich sich zuerst zwar freuen, sie dann jedoch alle mit großem Schmerz einsehen müssen, dass sie das Kind dort nicht bekommen können – es muss diesem Krieg geopfert werden, auch wenn Irene sie beschwört: „Nein, daran dürft ihr gar nicht denken. Lasst es nicht zu, dass sie noch ein weiteres Leben wegnehmen!“159. Später jedoch wurde auch Irenes schlimmster Albtraum wahr: Als Major Rügemer eines Tages eine von Irenes Freunden in seinem Haus entdeckt, kommt alles ans 155 Ebd. S. 117. Ebd. S. 130-131. 157 Ebd. S. 132-133. 158 Ebd. S. 146-147. 159 Ebd. S. 209, Kapitel: „Die aufkommende Dunkelheit“. 156 43 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Tageslicht. Seine und Irenes Reaktion darauf werden in dem folgenden Textstück beschrieben: »Irene! Was, in Gottes Namen, haben Sie mir angetan?«, rief er. »Es sind unschuldige Menschen!« Vor Panikverhaspelte ich mich beim Sprechen und begann zu weinen. »Sie haben nichts getan! Wie hätte ich bloß dastehen und mit ansehen können, wie sie umgebracht werden? [...] Liefern Sie sie nicht aus, ich flehe Sie an! Besudeln Sie Ihre Hände nicht mit dem Blut Unschuldiger [...]« »Genug,« unterbrach er mich. Sein Gesicht war rot vor Wut – und Angst. »Wie konnten Sie mich nur so täuschen, Irene? Ich habe Ihnen vertraut. Ich habe Ihnen ein Zuhause gegeben, Sie unter meinen Schutz gestellt. Ich bin ein deutscher Offizier. Sie haben mich ruiniert!« »Strafen Sie mich, Herr Major. Ich nehme die ganze Schuld auf mich – aber lassen Sie sie laufen! [...] Ich flehe Sie an! Im Namen des Heiligen Vaters.« Er schaute zur Seite, sein Kinn zitterte. »Lassen Sie mich nachdenken. [...]« Ich griff nach seiner Hand und küsste sie, aber er entriss sie mir mit einem Ruck und verließ eilig das Zimmer. [...], sank ich auf dem Boden zusammen und brach erneut in heftiges Schluchzen aus. »Mamusia! Tatuś!«, würgte ich hervor. »Gott, hilf mir!« 160 Der Preis, den sie für Major Rügemers Schweigen zahlen musste, war hoch: Sie musste sich ihm hingeben und von nun an in seinem Bett schlafen. 5.2 Befreiung und Rückkehr ins Leben Die Befreiung aus dem Konzentrationslager Ravensbrück bedeutete nicht das Ende des Krieges. Vor dem Lager standen Busse, die die Autorin und ihren Bruder aber auch die Erwachsenen, über die die Verfasserin nichts schreibt, irgendwohin fuhren. Am Lenkrad des Busses saß ein Mann, der eine für sie unbekannte Sprache sprach. Die Kleinen waren glücklich, dass sie diesen schrecklichen Ort verlassen konnten. Wie die Autorin schreibt: „Ich wusste nicht, wohin wir fuhren. Sie brachten uns von den Nazis fort. Das reichte, um sie zu Engeln zu machen“161. Die Kinder bekamen Kartons mit Leckerbissen. Sie konnten sogar Schokolade kosten, die sie an ihren Vater erinnerte. Die Fahrt war aber nicht so angenehm, wie es am Anfang geschienen hatte. Am Abend begann der Bombenangriff. Die Busse mussten mehrmals stehen bleiben, um das Unglück zu vermeiden. Der Busfahrer versuchte seine Fahrgäste zu beruhigen, aber sie verstanden nicht, was er sagte. Seine Stimme jedoch ausreichend, sodass die Kinder ruhig waren. Schon im Bus erfuhren sie, wohin sie gebracht wurden: nach Schweden. Am Morgen erreichten sie den Hafen, von wo aus sie mit einer Fähre weiterfuhren. In Schweden wurden sie von vielen Menschen erwartet. Anita schämte sich, weil sie noch die Lumpen aus dem Lager trug. An den Abschied von Deutschland erinnert sich die 160 161 Ebd., S 220-221. Vgl. Lobel, Anita: Ebd., S. 156. 44 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Autorin folgendermaßen: „Ich schaute zurück. Dort hinter uns, auf der anderen Seite, hatten wir eine Welt von Hunger, Schmutz, Gestank und Leichen zurückgelassen”162. In Schweden überraschte die Kinder, dass sie niemand anschrie. Sie bekamen neue Kleider und konnten sich unter fließendem, warmem Wasser waschen. Danach sollten sie untersucht werden. Sie verstanden nicht, was die Krankenschwester und Ärzte sagten, weshalb sie Angst von den neuen Geräten bekamen. Diese Situation beschreibt Anita Lobel auf diese Weise: Die Schwester sprach ganz ruhig, aber dass ich kein einziges Wort von dem verstand, was sie sagte, erschreckte mich genauso, als hätte sie Befehle gebrüllt. Woher sollte ich wissen, dass wir nicht wieder getäuscht und hereingelegt wurden? All ihre Nahrungsmittel und die Nettigkeit waren vielleicht nur Teil eines Naziexperiments!“ 163 Erst, als eine Schwester, die eine bekannte Polin vom Lager Ravensbrück mitbrachte, erfuhr sie, dass die Ärzte ein Röntgenbild machen wollten. Anita blieb trotzdem unzuversichtlich, ließ aber eine Aufnahme von sich machen. Es stellte sich heraus, dass die Kinder an Tuberkulose litten. Sie hatten Angst, weil ihre Freundin Krysia, die sie im Benediktinerinnen-Kloster kennen gelernt hatten, an dieser Krankheit gestorben war. Die Kleinen mussten in einem Sanatorium untergebracht werden, wo sie mit vielen anderen Kinder zusammenwaren. Dort erlebte Anita Lobel noch einen Schreck: Sie wurde von ihrem Bruder getrennt und war nur mit Mädchen in einem Saal; ihr Bruder hingegen nur mit Jungen. Sie wollte ihn sehen und begann zu schreien. Sie beruhigte sich erst, als ihr Bruder zu ihr zurückkam. Im Sanatorium begann ein neues Leben für die Autorin. Mit den neuen Kindern fühlte sie sich wohl. Sie schrieb: „Ich war keine schmutzige Jüdin mehr. Aber unter diesen netten Menschen in diesem erfreulichen Zwischenreich war ich doch immer noch eine sprachlose Waise“164. Zuerst war die kleine Anita so krank, dass sie viel im Bett liegen musste. Von allen wurde sie so freundlich behandelt, dass sie begann den Albtraum des Krieges zu vergessen. Diesen Zustand beschrieb sie in der folgenden Art: Die Schwester brachten Fleischbrühe und Kakao. Wir schliefen. Wir atmeten die klare, reine Luft des Nordens. In der Welt, aus der ich gerade gekommen war, hatte es keine leuchtenden Farben und keinen frischen Wind mehr gegeben. Wie war es möglich, dass ich so kurze Zeit nachdem ich in Schmutz und Angst versucht hatte in einem Konzentrationslager von dünner Kohlsuppe zu überleben, mich jetzt an einem Ort befand, wo die Menschen noch Milch genug hatten, um damit die Fußböden zu wischen!165 162 Ebd., S. 158. Ebd., S. 160 ff. 164 Ebd., S. 167. 165 Ebd., S. 170. 163 45 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz In der Schule am Sanatorium lernte die Autorin die neue Sprache und begann außerdem, zu zeichnen. Sie hielt sich langsam für eine richtige Schwedin. Einmal kam ein Mann zu ihr und gab ihr die Adresse einer Agentur, die ihre Verwandten suchen sollten. Sie schrieb ihnen auf Schwedisch und gab viele Einzelheiten vom Leben in Krakau. Nicht lange danach kam ein Brief aus Polen, den ihre Mutter und Niania geschrieben hatten. Die Geschwister waren überglücklich – sie waren keine Waisen mehr. Sie schrieben Briefe nach Polen zurück und bald kamen wieder Antworten von der Mutter. Eines Tages kam ein Brief vom Vater. Er sollte nach sieben Jahren aus der Sowjetunion zurückkehren. Nachdem die Autorin ihre Krankheit überwunden hatte, musste sie das Sanatorium verlassen. Mit 12 Jahren begann sie ein neues Leben. Zuerst hielt sie sich in Stockholm auf, dann in Kummelnäs, in einem Asyl für polnische Jugendliche. Sie wartete hier auf ihre Eltern, die aus Polen zu ihr kommen sollten, und auf ihren Bruder, der noch im Sanatorium bleiben musste. Auf diese Weise begann eine neuer Abschnitt ihres Lebens. Irene hingegen war 23 Jahre alt, als Polen befreit wurde, doch sie fühlte sich wie eine alte Frau nach all dem Leid, dass sie erfahren und gesehen hatte 166. Sie bekam von Freunden finanzielle Hilfe, um zurück nach Polen zu fahren und ihre Familie zu finden. Nachdem sie nach einer langen, schwierigen und traurigen – aufgrund der von den Deutschen angerichteten Verwüstung – Reise in Radom angekommen war, traf sie ihr Tante, die ihr mitteilte, sie wisse gar nichts von ihrer Familie. Irenes Desorientierung war so groß, dass weder wusste, wohin sie als nächsten gehen sollte, noch was sie überhaupt machen sollte. Auf der Suche nach Informationen traf sie eine ihrer „alten“ Freunde wieder, um die Irene sich während des Krieges gekümmert hatte. So erfuhr sie, dass das Baby, das damals beinahe „geopfert“ worden wäre167, gesund und munter war. Als sie sich jedoch aufmachte, um es zu sehen, wurde sie von sowjetischen Militärs gepackt, die sie für die Partisanenanführerin hielten168. Sie wurde gefangen gehalten und tagelang verhört, doch am Ende gelang ihr die Flucht. Da sie jedoch von den Russen gesucht wurde, musste sie weiter fliehen und bekam bruchstückhafte Nachrichten von ihrer Familie zu hören: Ihr Vater war von den Deutschen erschossen worden und ihre Mutter und ihre Schwestern waren als 166 Vgl. Gut Opdyke, Irene: Ebd., S. 257. Siehe Punkt 4.2.2. 168 Ebd. S. 261. 167 46 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Verwandte Irenes, die von den Sowjets „als gefährliche Kriminelle eingestuft“169 worden war, verhaftet worden. Später erreichte sie jedoch die Nachricht, dass ihre Mutter und ihre Schwestern frei, aber untergetaucht seien. 5.3 Auf der Suche nach der neuen Heimat Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten viele Leute ihre Heimat wechseln. Man kann sagen, es begann eine richtige Völkerwanderung. Auch die Familie Anita Lobels verließ Polen. Da die Kinder in Schweden waren, entschieden sich ihre Eltern, dorthin umzusiedeln. Anita war damals noch im Asylhaus für polnische Jugendliche und ihr Bruder war noch im Sanatorium. Anita konnte ihre Mutter erkennen, weil sie sich bloß ein paar Jahre nicht gesehen hatten, aber ihr Vater sah anders aus, als es im Gedächtnis des Kindes war. Sie freuten sich, dass sie alle endlich wieder zusammen waren. Sie zogen mach Stockholm, um dort ein neues Leben zu beginnen. Zuerst musste Anita die Eltern begleiten, weil sie noch kein Schwedisch sprachen. Ihre Unterkunft fanden sie in einer Pension, die nicht weit von einem Hafenbecken entfernt war. Hier hatten sie nicht so gute Wohnbedingungen wie in Krakau: Sie hatten jetzt nur ein Zimmer für sich. Die Eltern brachten nur ein paar Habseligkeiten mit, darunter eine Nähmaschine. Nach einiger Zeit bekam der Vater einen Job, mit dem er jedoch unzufrieden war. Er war verzweifelt, weil er es eher anstrebte, als Fahrstuhlführer in einem Bürogebäude zu arbeiten. Er fand, dass er dort „nichts“ war. Im Gegenteil zu ihm fühlte sich Anita in Stockholm sehr wohl. Sie erinnert sich in dieser Form daran: Ich begann gerade mein Leben in einer wunderschönen Stadt mit Neonreklame und Kirchenglocken und Kinos und einem blauen Himmel. Ich hatte gelernt eine Sprache zu sprechen, die sich gut auf meiner Zunge anfühlte und mir lieblich in den Ohren klang. Ich hatte einen sauberen Körper. Ich hatte Haare. Ich war neu170. Der Vater bekam schließlich eine andere Stelle. Diesmal in einer Fabrik, in der Anzüge produziert wurden. Die Mutter begann auch in einem Betrieb zu arbeiten. Da sie kein Schwedisch sprachen, durften sie nur einfache Tätigkeiten ausüben und verdienten nicht viel. Trotzdem fühlten sie sich in ihrer neuen Heimat wohl. Sie benahmen sich wie wahre Schweden: Sie bummelten durch die Stadt, fuhren mit dem Boot, besuchten Museen, bewunderten die weißen Nächte im Sommer usw. Als der Bruder von dem Sanatorium kam, konnte er sich in der neuen Stadt nicht zurechtfinden. 169 170 Ebd. S. 267. Ebd., S. 219 ff. 47 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Er kannte den Vater nicht und hielt ihn für einen fremden Mann – er war zu klein, um das Bild des Vaters von Krakau im Kopf zu haben. In Stockholm begann Anita, die Schule zu besuchen. Sie gefiel ihr sehr und lernte fleißig. Die Schulzeit beschreibt sie folgendermaßen: Die Hausaufgaben waren kein Problem. Ich wusste alles vorwärts und rückwärts. In den verschiedenen Unterrichtsstunden hatte ich die Hand ständig oben; ich stürzte mich auf die quietschende Tafel voller Wörter, historischer Daten, Geschichten, Gedichte, Rechenkästchen, die auszurechnen waren. [...] Es war egal, was wir lernten, ich stellte nichts infrage. Mein begieriges Hirn schwelgte in den Lektionen der Bücher, wie mein ausgehungerter Magen in Bohnen und Fleisch aus Dosen der Carpakete geschwelgt hatte171. Dann begann sie, die Realschule zu besuchen. Sie bekam immer gute Noten und die Lehrer und Eltern waren stolz auf sie. In dieser Schule fing sie an, Englisch zu lernen. Diese Sprache gefiel ihr, weil sie sie von Filmen kannte und viele schöne Songs in ihr gesungen wurden. In einer Kunststunde erwies sich, dass die Autorin künstlerisch begabt war. Deshalb ging sie einmal in der Woche in den Abendunterricht in einer richtigen Kunstschule. Mit fünfzehn war die Autorin sehr beschäftigt. Darüber kann man folgende Zeilen lesen: Ich lernte, las Bücher und malte und zeichnete Bilder. Ich ging in Klavierkonzerte und ins Theater und drückte mich in Tanzlokalen an die Wand [...]. Sonntags sang ich im Alt des Chores der Söderkyrka.172 Als sie sechzehn war, beschlossen die Eltern, in die USA umzuziehen. Das war eine schwere Entscheidung für die Autorin. Sie hatte sich an Schweden gewöhnt, hatte hier Freunde und wollte nicht noch einmal ein neues Leben beginnen. An ihren Zustand erinnert sie sich auf diese Weise: Ich fühlte mich hintergangen. Während ich Wurzeln geschlagen hatte, hatten meine Eltern Schweden nur als Durchgangsstation auf dem Weg nach Amerika betrachtet. Mein Bruder stand auf ihrer Seite. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum die drei nicht für immer bleiben wollen, wo wir waren. Ich protestierte und weinte und tobte. Ich wollte mich nicht losreißen von den Freundinnen, der Schule, der reizenden Vertrautheit mit der Stadt, die ich lieben gelernt hatte, der Sprache, die mir leicht über die Zunge tanzte, und mich wieder ins Exil treiben lassen 173. Es ist nicht wunderlich, dass das Verlassen Schwedens für Autorin so schmerzlich war. Hier fühlte sie sich glücklich und außer Gefahr, hier hatte sie Freunde gefunden, hier lernte sie immer etwas Neues. Und hier waren ihre Eltern, nach denen sie sich die 171 Ebd., S. 224. Ebd., S. 238. 173 Ebd., S. 240. 172 48 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz ganze Kriegszeit über gesehnt hatte. Und jetzt stürzte alles ein. So musste sie wieder ein ganz neues Leben beginnen. Irene Gut Opdykes Buch hingegen beschreibt viel mehr von ihrem Leben während des Krieges an sich. Sie ist stets auf der Flucht und empfindet lediglich ihr Elternhaus Kozienice als Heimat, wohin sie auch jederzeit versucht wieder zurückzugelangen, doch da Polen unter Deutschland und Russland aufgeteilt worden war, war nichts mehr so, wie es früher einmal war, auch ihre Heimat nicht mehr – selbst nach dem Krieg. Ihre Mutter und ihrer Schwestern waren wegen ihrer Verwandtschaft zu Irene – einer „gefährlichen flüchtigen Partisanin“174 – von der Geheimpolizei verhaftet worden. Sie sind jedoch frei gekommen, aber niemand wusste, wo sie sich aufhielten. Deshalb hatte Irene keinen Grund mehr, länger in Polen zu verweilen, um dort vergeblich ihre Heimat wiederzufinden. Durch ihre Freunde gelangte Irene zu einem Auffanglager, dass ihr bei ihrer Suche nach ihrer Familie und ihrer neuen Heimat von Nutzen sein sollte: Diese Auffanglager wurden zu Zufluchtstätten für Millionen durch den Krieg entwurzelte Menschen, deren Heimatstädte zerstört und deren Familien in alle vier Winde zerstreut worden waren. [...] Beamte der Einwanderungsbehörden waren den Leuten dabei behilflich, jenseits der Meere ein neues Zushause zu finden. Die Auffanglager standen Polen, Ungarn, Lettländern 175, Italienern, Ukrainern, Zigeunern, Serben und Holländern, kurzum allen Bürgern Europas offen, die durch den Krieg aus ihrer Heimat vertrieben worden waren – insbesondere ab den Juden176. Deshalb wurde Irene erst einmal eine falsche jüdische Identität gegeben, um heile zu dem Auffanglager zu kommen. Dort angekommen, konnte sie sie wieder ablegen und versuchte nun, sich bei ihrer vorigen Arbeit als Krankenschwester ihrer neuen Heimat bewusst zu werden. Doch es gelang ihr nicht. Die Juden aus Palästina fragten Irene, ob sie mitkommen wolle, für Israel zu kämpfen. Kurz darauf erkrankte diese jedoch an Diphterie und musste lange im Bett bleiben. Da sie Herzrhythmusstörungen zurückbehalten hatte, war sie nicht mehr für Israel tauglich. Ihre Leben in dem Auffanglager beschreibt Irene, wie folgt: „Ich hatte mein Leben in dem Lagerdorf eingerichtet und lebte insgesamt drei Jahre dort. Aber selbst nach dieser langen Zeit kam es mir nicht vor wie ein Zuhause“177. Eines Tages kam ein UN-Delegierter, der Irene zu ihren Erlebnissen befragen wollte: Her Opdyke. Er kam aus den Vereinigten Staaten von Amerika und sprach Englisch, 174 Vgl. Gut Opdyke, Irene: Ebd. S. 267. Dieses Wort steht nicht im Duden: „Suchergebnis für Lettländer im gesamten Text: 0 Treffer in Duden - Deutsches Universalwörterbuch“ (25/05/09). Das richtige Worte wäre „Lette (der)“. 176 Ebd. S. 269. 177 Vgl. Gut Opdyke, Irene: Ebd. S. 272. 175 49 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Französisch und andere Sprachen, wogegen Irene Polnisch, Deutsch, Russisch und Jiddisch beherrschte, bei so vielen Sprachen brauchten sie am Ende aber doch einen Dolmetscher. Irene erzählte Herrn Opdyke so ihre ganze Geschichte, die dieser mitgeschrieben hatte. Anschließend lud er sie nach Amerika als Land zum Leben ein. Sie wusste erst gar nicht, was sie damit anfangen sollte. Kurze Zeit später kommt Irene doch in den USA an, was folgendermaßen beschrieben wird: Gegen Ende des Jahres 1949 konnte Irene, die mit vielen anderen Flüchtlingen aus Europa an Deck des Marieneschiffes John Muir stand, in der Ferne die Freiheitsstatue erkennen. Sie wurde von einem Mitglied der Jüdischen Umsiedlungsorganisation in Empfang genommen, die ihr eine Wohnung in Brooklyn besorgte. Schon bald fand sie Arbeit in einer Bekleidungsfabrik und lernte Englisch Damit hatte ihr neues Leben begonnen. Dann lief sie eines Tages in einem Café in der Nähe der Vereinigten Nationen zufällig William Opdyke in die Arme 178. Die beiden lernten einander kennen, verliebten sich, heirateten Monate später und bekamen eine Tochter, die sie Janina nannten. 5 Jahre nach ihrer Ankunft war Irene bereits amerikanische Staatsbürgerin geworden. Was ihr erstes Heimatland Polen betrifft, „mit dem Ende des kommunistischen Regimes in Polen kehrte Irene 1948 zum ersten Mal seit Kriegsende in ihr Heimatland zurück, wo sie endlich Janina, Marysia, Władzia und Bronia und deren Familien wiedertraf“179. Auf diese Weise wird deutlich, wie unterschiedlich Anitas und Irenes Erfahrungen einerseits waren – aufgrund ihres unterschiedlichen Alters und ihrer Familiengeschichte –, wie gleich jedoch, was ihre Erfahrungen mit dem Krieg betrifft. Irene war älter und unabhängig, sie verliebte sich und hatte andere Erfahrungen eines Erwachsenen gemacht, während Anita noch war und ihre Erfahrungen aus einer eher kindlichen Perspektive schildert. Sie kommt am Ende wieder mit Eltern zusammen, worüber sie jedoch nicht außer sich ist vor Freude, da ihre Eltern sie aus einem Umfeld reißen (Schweden), was Anita bereits ihre Heimat nannte. Irenes Vater hingegen wurde bereits während des Krieges von Nazis getötet und ihre Mutter war kurz nach Kriegsende gestorben. 5.4 Kindheitserinnerungen der polnischen und der jüdischen Autorin Wenn man seine Erinnerungen erwägt, stellt man fest, dass man sich am besten an die Schulzeit erinnern kann. Bei der Lektüre des Romans Das Versteck auf dem Dachboden muss man sich vorstellen, welche entsetzlichen Ereignisse das Kind erleben musste, dass sie für immer im Kopf der Kleinen bleiben würden. Es kann jedoch natürlich nicht 178 179 Ebd., S. 276. Ebd., S. 277. 50 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz alles im Kopf behalten werden. Am häufigsten erinnern wir uns nach Jahren daran, worüber man ab und zu spricht, oder wovon die Anderen erzählen. Anita Lobel verbrachte ihre Kindheit nur zum Teil mit ihren Eltern. Ihr Vater fuhr gleich nach dem Kriegsausbruch weg und die Familie hatte keine Nachrichten von ihm. Die Mutter blieb in Krakau, während die Kinder mit ihrem Kindermädchen ins Dorf fahren mussten. Die heutigen Leser können sich die Kriegsbedingungen nur erahnen. Es gibt immer weniger Leute, die den Zweiten Weltkriegs miterlebten haben und die Wahrheit der damaligen Erlebnisse bestätigen könnten. Trotz vieler grausamer Ereignisse behielt Anita Lobel auch einige glückliche Stunden im Kopf. Sie sagt über ihre Kindheit folgende Wörter: Kindheit ist selbst unter günstigen Bedingungen schwierig. Ich schaue Kinder an, die in glücklichen Zeiten aufwachsen, und sehe kleine Menschen mit wissendem Blick, die der Gnade großer Leute ausgeliefert sind, die keine Ahnung haben, was sie tun. Es geht vielleicht zu weit, wenn ich ein friedliches Leben mit den Eltern in einem hübschen Haus mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmern und einer Küche mit gefülltem Kühlschrank vergleiche mit dem mühsamen Sichdurchschlagen und Überleben in der Welt des Krieges. Es ist aber auch langweilig sowie sehr gefährlich, sich hochmütig in Gewand und Würde eines Opfers zu hüllen. Ich habe sehr viel mehr Jahre gut gelebt und mich mit erfreulichen und interessanten Dingen beschäftigt, als ich damit verbracht habe, den Nazis zu entkommen oder Flüchtling zu sein 180. Sie selbst erinnerte sich an die lieben Tage, die sie mit ihrem Vater verbracht hatte. Sie machten einen Stadtbummel und dann aßen sie Eis oder tranken heiße Schokolade. Das war jedoch vor dem Krieg. Während des Kriegs gab es nur wenige glückliche Momente. Die Autorin beschreibt die Spiele mit dem Bruder – wie sie mit einem Eimer Fische aus dem Wasser schöpften, oder aus den gepflückten Weidenblumen einen Kranz wanden181. Als sie im Dorf lebten, gab es wenig zu essen. Die Dorfbewohner schauten sie verdächtig an – man konnte erkennen, dass sie keine polnischen Kinder waren. Sie mussten um Essen betteln und was sie bekamen, blieb nicht für lange. Nicht alle waren nett zu ihnen. Sie erinnert sich nur an eine Frau, die sie in ihr Haus eingeladen hatte und ihr etwas Mohnkuchen gab. Das musste etwas Außergewöhnliches sein, weil Anita Lobel dieses Ereignis so beschreibt: Mit dem köstlichen Geschmack des makownik auf der Zunge hatte ich mich vergessen! Seder! Fast hätte ich Seder gesagt! [...] Mein Bruder aß sehr langsam sein Stück von dem Kuchen. Ich wusste, dass er versuchte möglichst lange etwas davon zu haben182. 180 Vgl. Lobel, Anita: Ebd., S. 11. Ebd., S. 26 ff. 182 Ebd., S. 45. 181 51 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Der Mangel an Essen musste lästig sein, weil sie dann „Es war gut, nicht mehr hungrig zu sein“183 schrieb. Im Sommer war es für sie leichter etwas Essbares zu finden. Sie gingen in den Wald und suchten dort z. B. wilde Erdbeeren. Die Autorin schreibt darüber auf diese Weise: „Und ich mochte die wilden Erdbeeren, die wir am Waldrand fanden. Ich fühlte gern, wie der Becher oder das Körbchen immer schwerer wurde, wenn ich eine Beere nach der anderen hineinfallen ließ, bis das Gefäß randvoll war“184. Die Kindheit von Anita Lobel beschränkte sich eigentlich nur auf die Suche nach etwas Essbarem, ein Versteck vor den Nazis und feinseligen Polen sowie darauf aufzupassen, kein Wort auf Jüdisch zu sagen. Sogar wenn sie mit anderen Kindern spielen konnte, musste sie sowohl auf sich selbst als auch auf ihren Bruder achten. Der war jünger als sie und verstand von der finsteren Lage noch weniger. Die einzige Freundin, die sie hatte, starb in ihrer Anwesenheit. Sie war überhaupt vom Tod umgeben: vom Tod der Leute in Krakau – auf den Straßen und im Getto, auf dem Weg nach Auschwitz sowie in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück. Und von Angst um ihr eigenes Leben, um Leben von Niania und den Eltern. Trotzdem versuchte sie, jeder Lage optimistisch gegenüberzustehen. Wie die Autorin selbst schreibt, die einzigen glücklichen Momente erlebte sie in Schweden. Zwar war sie an Tuberkulose erkrankt, aber es gab die anderen, die sich um sie kümmerten, es gab genug Essen, sie konnte saubere Sachen tragen und hatte keine Läuse mehr. Und an der Schwelle zum neuen Leben kamen die Eltern und sie konnten alle zusammen wieder eine ganz normale Familie werden. Die polnische Autorin, Irene Gut, war hingegen schon etwas älter, als der Krieg begann. Geboren im Jahre 1922185, erinnert sie sich auch noch gut an ihre Kindheit; wie sie glücklich mit ihren Eltern (Mamusia und Tatuś), ihren vier Schwestern und ihrem Hund Myszka in Kozienice lebte, viel draußen in der Natur spielte und Polen noch ein freies Land war. Ihrer Familie ging es gut, da ihr Vater eine gute Arbeit hatte. Sie erinnert sich an die Pilgerreisen, die die Polen zur heiligen Madonna186 unternahmen, in deren Nähe sie wohnte. Sie erinnert sich auch noch an ein Weihnachtsfest, dass sie fröhlich mit ihrer Familie zu Hause gefeiert hatte. 183 Ebd., S. 48. Ebd., S. 27. 185 Vgl. Gut Opdyke, Irene: Ebd., S. 15. 186 Ebd. S. 16. 184 52 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz Als sie etwas älter wurde und aber über ihren Vater vernahm, dass Hitler an die Macht gekommen sei, konnte sie jedoch noch nicht verstehen, was das (für sie sowie für Polen) bedeutete. Sie begann in der Schule, Deutsch zu lernen und da sie im Allgemeinen viel Deutsch vernahm und in der Nähe der Grenze wohnte wusste man in der Gegend gar nicht recht, ob man nun zu Deutschland oder Polen gehörte. Allerdings wurde ihr von ihren Eltern beigebracht, stolz auf ihre polnische Identität zu sein187. Als Heranwachsende tanzte sie in einer Tanzgruppe, die Volkstänze aufführte. Sie erinnert sich auch noch daran, dass Janina die hübscheste von allen war, weil sich alle stets nach ihr umdrehten. 187 Ebd. S. 21. 53 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 6. Zusammenfassung Der Zweite Weltkrieg war – und ist immer noch – ein unsagbar wichtiges und schwerwiegendes Ereignis unserer Geschichte, woran die Erinnerung und das Gedächtnis unter keinen Umständen abnehmen oder gar verschwinden darf. Die beiden Autorinnen, Irene Gut Opdyke und Anita Lobel, die dieses Ereignis miterleben mussten und überleben konnten, tragen in ihren jeweiligen Büchern dazu bei, die Erinnerung an diesen Albtraum aufrechtzuerhalten, deren Analyse das Ziel dieser Arbeit war. Die Erinnerung und das Gedächtnis an schwerwiegende geschichtliche Ereignisse im Allgemeinen war der zweite Schwerpunkt dieser Arbeit, d. h. die Hinterfragung und Analyse, inwieweit Erinnerung als authentisch bezeichnet werden kann und für andere Personen beschreibbar gemacht werden kann. Hier gibt es verschiedene wissenschaftliche Ansätze und Theorien, die sich mit der Erinnerungsfähigkeit und ihren in der Kultur wahrgenommenen Einflüssen beschäftigen. Ein interessanter Begriff, der in dieser Arbeit oft Anwendung gefunden hat, ist die Erinnerungskultur, die beschreibt, wie ganze Gruppen die Erinnerung und das Gedächtnis an ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen, verarbeiten und an die Folgegeneration weitergeben. Hinsichtlich der Erinnerbarkeit persönlich gemachter Erfahrungen gibt es eine Kontroverse dazu, ob es überhaupt möglich sei, erstens, sich so gut an alle Einzelheiten zu erinnern, dass man von authentischen Erlebnissen sprechen kann, und zweitens, ob diese Erinnerungen tatsächlich aufs Papier gebracht werden können (sprich autobiografisch), sodass anderen Personen, die nicht dabei gewesen sind, diese Ereignisse miterlebbar gemacht werden können. Wie auch immer, Anita Lobel und Irene Gut Opdyke haben es über ihre Bücher versucht und tragen so dazu bei, dass andere Menschen der Folgegenerationen etwas mehr über den Zweite Weltkrieg und seine Gräuel erfahren können. Beide Autorinnen mussten diese Zeit miterleben, haben dies jedoch auf recht unterschiedliche Weise getan, sodass die Situation ein Mal aus der Sicht einer Jüdin und ein anderes Mal aus der Sicht einer Polin beschrieben wird. Der Kern dieser Erinnerungskultur und der für sie geleisteten Arbeit(en) ist und bleibt jedoch, dass solch gravierende Ereignisse einfach nicht vergessen werden dürfen, und es deshalb der Literatur bedarf, damit die Geschichte als solche für jeden und jederzeit zugreifbar gemacht werden kann und so aufrechterhalten wird. 54 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 7 Literaturverzeichnis 7.1 Primärliteratur Bach, Janina: Spuren des kollektiven Gedächtnisses an den Holocaust in der DDRLiteratur bis 1958. In Gansel, Carsten. Birtsch, Nicole: Strategien des Verdrängens im Prozeß des Erinnerns. Die Stimme eines Täters in Marcel Bayers Roman „Flughunde“. Wrocław/Dresden 2006. Buczek, Robert; Gansel, Carsten, et al.: Germanistyka Texte in Kontexten. Zielona Góra 2004. Drynda, Joanna: Der Krieg aus der geschichtlichen Ferne betrachtet. Norbert Gstreins Suche nach der richtigen Sprache. Wrocław/Dresden 2006. Ehlers, Heller: Erinnerte Geschichten in autobiographischen Texten deutscher jüdischer Schriftsteller nach der Shoah. In: Platen, Edgar. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar 2005. Gansel, Carsten: Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 : Fallstudien. Dresden 2006. Gut Opdyke, Irene; Armstrong, Jennifer: Wer ein Leben rettet... Eine wahre Geschichte aus dem Holocaust. Übersetzt von Radke, Barbara., Zürich/München 2000. Jung, Thomas: Ortschaft Auschwitz: Topographie der Erinnerung. Diskurse der Erinnerung an Auschwitz aus der Perspektive der Nicht-Dabeigewesenen. In: Platen, Edgar. Klüger, Ruth: Mißbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch. In: Von hoher und niedriger Literatur. 2. Auflage. Göttingen 1996. Kusznierz, Iwona: Praca Licencjacka, Auschwitz im Spiegel der spanischen Presse. Gorzów Wlkp. 2007. Lobel, Anita: Das Versteck auf dem Dachboden. Übersetzt von Ilse Strasmann. Hamburg 2002. Österreichische Akademie der Wissenschaften: Sprachkunst, Beiträge zur Literaturwissenschaft, Jahrgang XXXVII/2006, 2. Halbband. Wien 2006. Platen, Edgar: Erinnerte und Erfundene Erfahrung, München 2000. Semprun, Jorge: Schreiben oder Leben. Frankfurt am Main 1997. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-BildBeziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945, Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden 2007. 55 Autobiografisches Erinnern Magisterarbeit Iwona Kusznierz 6.2 Sekundärliteratur Bayer, Marcel: Flughunde. Frankfurt am Main 1995. Dudenredaktion: DUDEN 1, Die deutsche Rechtschreibung. 23. Auflage. Dudenverlag, Mannheim 2004. Fred Wander: Der siebente Brunnen. Berlin 1971. Solar, D.: La aventura de la historia. 2002. Ther, Klaus: Leseprobe von Wander, Fred: Der siebente Brunnen. 11. Juli 2005. Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 1976. Young, James E.: Zwischen Geschichte und Erinnerung, a.a.O. Gedenken, erzählen, leben: Gespräch mit Fred Wander in: Neue Deutsche Literatur, ISSN 0028-3150, Vol. 44, Nº. 4, 1996. Referenzen aus dem Internet Goethe-Institut: Kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Gedächtnis http://www.goethe.de/ges/pok/dos/dos/ern/kug/de3106036.htm Österreichisches Bibliothekswerk: Literaturrezensionen http://www.biblio.at/literatur/rezensionen/details.html?mednr[0]=bn0003190&anzahl=1 Österreichisches Literaturhaus: Leseprobe von Wander, Fred: Der siebente Brunnen: http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/wander/ Wallstreet online: Linker Antisemitismus www.wallstreet-online.de/diskussion/1096370-1-10/linker-antisemitismus Wörterbücher Duden, deutsche Rechtschreibung: www.duden.de Englisch-Deutsch: www.osola.com Französisch-Deutsch: www.leo.org 56