Zur literarischen Inszenierung von Gedächtnis und Erinnerung in Eleonora Hummels Roman „Die Fische von Berlin“ INHALTSVERZEICHNIS 1 EINLEITUNG 2 2 ZU ASPEKTEN VON GEDÄCHTNIS UND ERINNERUNG 4 2.1 GEDÄCHTNISFORMEN: ALEIDA UND JAN ASSMANN 4 2.1.1 INDIVIDUUM UND GENERATION 8 2.1.2 DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 11 2.1.3 KOMMUNIKATIVES GEDÄCHTNIS VS. KULTURELLES GEDÄCHTNIS 14 2.2 SOZIOKULTURELLER ASPEKT DER GEDÄCHTNISTHEORIE 16 3 LITERATUR ALS GEDÄCHTNISMEDIUM 20 3.1 LITERARISCHE WELTERZERZEUGUNG NACH PAUL RICOEUR 20 3.2 GATTUNGSTYPOLOGIE DER FICTIONS OF MEMORY: GEDÄCHTNISROMAN VS. ERINNERUNGSROMAN 23 3.3 FÜNF MODI DER RHETORIK DES KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNISSES 29 4 ZUR ANALYSE VON ELEONORA HUMMELS ROMAN „DIE FISCHE VON BERLIN“ 35 4.1 ZUM INHALT UND ZUM TITEL DES ROMANS 35 4.2 „DIE FISCHE VON BERLIN“ - EIN AUTOBIOGRAFISCHER ROMAN 37 4.3 ZUR RHETORIK DER ERINNERUNG 39 4.3.1 ZUR AUßERLITERARISCHEN WELT – MIMESIS I 39 4.3.2 ZUR FIGURENANALYSE 44 4.3.3 ERZÄHLERISCHE VERMITTLUNG VON ERINNERUNGEN ANHAND DER ERZÄHLTHEORIE VON GERARD GENETTE. 50 4.3.4 ZUR ZEITDARSTELLUNG IM ROMAN 54 4.3.5 ZU MODI DER GEDÄCHTNISRHETORIK IM ROMAN 59 4.4 ERINNERUNGSGESTALTUNG IN DER DREI-GENERATIONEN-FAMILIE 65 4.5 VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG UND IDENTITÄT IM GEDÄCHTNISROMAN 68 1 5 GESPRÄCH MIT ELEONORA HUMMEL 72 6 SCHLUSSBETRACHTUNGEN 77 7 LITERATURVERZEICHNIS 1 Einleitung 782 „Wie nach Rom führen viele Wege zum Gedächtnis.“1 Mit diesen Worten hebt Aleida Assmann, eine deutsche Anglistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, die Vielzahl der Wissenschaftsbereiche hervor, in denen sich das Gedächtnis als Untersuchungsgegenstand etablierte. Mit diesem Phänomen setzten sich bereits in der Antike Dichter und Philosophen auseinander. Im Laufe der Zeit wurde es zum Diskussionsthema unter anderen der Theologen, Psychologen und Medienwissenschaftler. Da jede Disziplin das Gedächtnis aus einer anderen Perspektive betrachtete, entstand ein breites Spektrum der Studien, die die Gedächtnistheorie beachtlich ausbauten. Dazu trägt auch die Literaturwissenschaft bei, die das Gedächtnis im Bezug auf literarische Texte untersucht. In der Literatur wird nicht nur das Gedächtnis selbst, sondern seine Erscheinungsformen und damit verbundene Erinnerungsprozesse mithilfe von narrativen Verfahrensweisen präsentiert. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeichnet sich in den letzten Jahren die Tendenz zu der Erinnerung an den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie an Nachkriegszeit ab. Konjunktur der Romane, in denen Gedächtnis und Erinnerung ins Gewicht fallen, lässt sich einerseits mit dem Willen der Autoren erklären, das Schweigen über Vergangenheit zu brechen. Andererseits bieten Kriege einen interessanten Stoff an, der sich in Verbindung mit literarischer Fiktion gut vermarkten lässt. Abgesehen von dem Schreibanlass erlaubt die garantierte Meinungsfreiheit sowie Mangel an Zensur offene Darstellung vergangener Ereignisse und die Offenbarung der kontroversen Themen, die bisher ausgeblendet waren. Seit 1989 bemerkt man auf der politischen Szene Rückkehr der Erinnerung. Der öffentliche Umgang mit der 1 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999. S 27. 2 unbewältigten Vergangenheit braucht jedoch Zeit und Diplomatie. Während in der politischen Debatten nur ausgewählte Elemente der Geschichte erörtert werden, ist Literatur ein Instrument, das die politischen Erinnerungslücken füllen kann. Sie verweist auf Akte des Vergessens und bietet die Möglichkeit, sich die Vergangenheit aus einer neuen Perspektive anzusehen. Einen Blick in die Vergangenheit vermittelt der Roman „Die Fische von Berlin“ von Eleonora Hummel, der der Analysegegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Er zeigt die bisher selten in der Öffentlichkeit angesprochene Problematik von Deutschen auf, die seit Generationen auf den russischen Gebieten wohnen und trotzdem eine starke innere Verbundenheit mit ihren Vorfahren und mit dem Vorväterland spüren. „Die Fische von Berlin“ gehört zu denjenigen Romanen, die einen neuen Weg einschlagen und Deutsche in einem anderen Licht im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg darstellen. Im Roman werden diejenigen Ereignisse und Momente vor dem geschichtlichen Hintergrund exponiert, die für die erinnernden Individuen eine besondere Rolle spielen. Ob das Dargestellte der wahren Vergangenheit entspricht, ist eine andere Frage. Bei dem Erinnerungsboom in der Literatur handelt sich jedoch nicht ausschließlich um dokumentarisch bewiesene Ereignisse, sondern um subjektiv erlebte oder vorgestellte Vergangenheit. Die These der vorliegenden Magisterarbeit ist es, dass in Eleonora Hummels Roman „Die Fische von Berlin“ Erinnerung in einer Weise materialisiert wird, die den Roman in Verbindung mit literarischen Darstellungsverfahren zu einem Medium des Gedächtnisses macht. In dieser Arbeit werden entsprechend zwei Schwerpunkte behandelt: Zum einen wird die theoretische Grundlage gelegt, auf dem der Roman im Nachstehenden analysiert wird. Als Erstes werden daher zwei Phänomene diskutiert: Erinnerung und Gedächtnis, die für Verständnis weiterer Theorien äußerst wichtig sind. Zudem werden Gedächtnisformationen u. a. kollektives Gedächtnis aus der modernen kulturwissenschaftlichen Sicht von Aleida und Jan Assmann dargestellt und anhand der länger bestehenden Theorie von Maurice Halbwachs im soziokulturellen Kontext verortet. Darüber hinaus wird das Zusammenwirken von Literatur und Erinnerung skizziert. Es wird der Begriff fictions of memory als literarische Gedächtnisgattung mit ihrer Binnendifferenzierung expliziert und die Rhetorik der Erinnerung als Strategie, die literarische Formen mit erinnerungskulturellen Kontexten aneinander fügt, 3 präsentiert. Dabei werden auch textuelle Darstellungsverfahren erwähnt, die Inszenierung von Gedächtnis und Erinnerung ermöglichen und literarische Texte als Gedächtnismedien funktionalisieren. Der zweite Schwerpunkt betrifft die Präsentation der Erinnerungen im Roman in Anlehnung an Assmanns Gedächtnistheorie. Einer genauen Untersuchung werden die gedächtnistheoretischen Konzepte sowohl aus der literarischen als auch sozialen Sicht unterzogen. In den Fokus werden Erinnerungen von Hauptfiguren: Alina und dem Großvater gestellt und mithilfe der narrativen Inszenierungsverfahren wie Erzähl- und Zeitform an Beispielen im Roman konkretisiert. Es wird auch das Generationengedächtnis und sein Einfluss auf individuelle Erinnerungen sowie Unterschiede in der Wahrnehmung von Vergangenheit und Identitätsausbildung in der Drei-Generationen-Familie zur Darstellung gebracht. Zum Schluss wird die Zusammenfassung der Analyseergebnisse präsentiert. 2. Zu Aspekten von Gedächtnis und Erinnerung 2.1 Gedächtnisformen: Aleida und Jan Assmann Das folgende Kapitel stellt die Theorie von Aleida und Jan Assmann zum Thema Gedächtnisformen dar. Die Gedächtnis-Präsentation verlangt allerdings eine Erklärung der Grundbegriffe, wie Gedächtnis und Erinnerung, die für das Verständnis der weiteren Kapitel äußerst wichtig sind und zugleich die Grundlage dieser Arbeit bilden. Für die Untersuchung der Begriffe erweist es sich als relevant, die von Aleida Assmann vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Gedächtnis als ars und vis zu skizzieren. Gedächtnis als ars hat seinen Ursprung in der antiken Mnemotechnik - der Gedächtniskunst: „Die römische Mnemotechnik wurde konzipiert als ein erlernbares, zu ganz verschiedenen Zwecken einsetzbares Verfahren, das zuverlässige Speicherung und identische Rückholung des Eingegebenen anzielt.“2 2 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999. S. 27. 4 Aleida Assmann nennt dieses Verfahren Speichern, das sie mit Auswendiglernen als einem bewussten und geplanten Akt vergleicht. Hier spielt die Zeitdimension keine Rolle und der Output gleicht immer dem Input. Gedächtnis als vis wird dagegen als Prozess des Erinnerns charakterisiert, bei dem die Zeit modifizierend mitwirkt, sodass zwischen der Form der eingelegten Informationen und ihrer Rückholung Unstimmigkeiten bestehen. Das Gedächtnis ist in diesem Fall als eine Energie zu interpretieren: „Diese Energie kann die Möglichkeit des Rückrufs erschweren wie im Fall des Vergessens oder blockieren wie im Fall des Verdrängens, sie kann aber auch von einer Einsicht, vom Willen oder einer neuen Bedürfnislage gelenkt sein und zu einer Neubestimmung der Erinnerungen veranlassen.“3 Die Unterscheidung in ars und vis des Gedächtnisses indiziert bereits die terminologische Abgrenzung von Gedächtnis und Erinnerung. Obwohl beide Begriffe in der deutschen Sprache oft als Synonyme verwendet werden, lassen sie in der Gegenüberstellung differente Merkmale erkennen. Selbst in der Etymologie der Wörter sind Unterschiede zu sehen: Erinnerung ist vom Verb erinnern abgeleitet, Gedächtnis dagegen von denken und gedenken. Aleida Assmann spricht sich dafür aus, beide Begriffe nicht als Begriffsoppositionen, sondern als Begriffspaar zu bestimmen. Ihre Stellungnahme ist dadurch belegt, dass beide Begriffe miteinander in Zusammenhang stehen, in dem sie sich komplementär zueinander verhalten.: „ ‚Erinnern’ (steht) in der Regel für die Tätigkeit des Zurückblickens auf vergangene Ereignisse, ‚Gedächtnis’ hingegen für die Voraussetzung dieser Tätigkeit, verankert im biologischen Organ des Gehirns […].Ohne ein organisches Gedächtnis kann sich niemand erinnern; Gedächtnis steht demnach für die allgemeine Anlage und Disposition zum Erinnern […], Erinnern bezieht sich demgegenüber auf die konkreten und diskontinuierlichen Akte des Erinnerns […].“4 Aleida Assmann zufolge ist Erinnerung ein untrennbarer Teil des Gedächtnisses. Dementsprechend ist das Gedächtnis sowohl organisches Substrat des Erinnerns, als 3 4 Ebd., S. 29. Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006. S. 180. 5 auch Ergebnis und Sammelbegriff für Erinnerungen.5 Von diesem Standpunkt aus kann mit Gedächtnis ein passiver Speicher der angesammelten Daten gemeint werden, aus dem die aktiven Erinnerungen auswählen und aktualisieren.6 Die oben angegebene Erläuterung der Begriffe soll in die Komplexität der GedächtnisThematik einführen, die sich in verschiedenen Wissenschaftsbereichen u. a. in der Geschichtswissenschaft, Soziologie und auch in der Literaturwissenschaft etablierten. Die Interdisziplinarität des Gedächtnisphänomens trug dazu bei, dass eine Vielfalt seiner Erscheinungen entstand, die nicht nur im fachübergreifenden Kontext sondern auch innerhalb einzelner Wissenschaftsdisziplinen bei einer Konfrontation Ambivalenzen aufweisen. Aus diesem Grund versuchte Aleida Assmann einen integrativen Blick in das Spektrum der Gedächtniskonzeptionen zu verschaffen, indem sie ein eigenes Gedächtniskonzept vorschlug.7 Dieses soll die Verbindungslinien sämtlicher Forschungsdomäne zeigen und Gemeinsamkeiten über Disziplin-Grenzen hinweg präzisieren. Die Forscherin stützte sich dabei auf theoretischen Ansätzen anderer Wissenschaftler, die einen Beitrag zu Klärung des Gedächtnisbegriffes aus unterschiedlichen Blickwinkeln leisteten. Von Bedeutung sind hier Studien des französischen Soziologen Maurice Halbwachs, auf dem später in dieser Arbeit Bezug genommen wird. Aleida Assmann unterscheidet in ihrem Gedächtniskonzept vier Stufen des Gedächtnisses, die sie auch Formen oder auch Formationen nennt. Diese werden nach folgenden Kriterien unterschieden: „Nach Raum- und Zeitradius, Gruppengröße sowie nach Flüchtigkeit und Stabilität“.8 Die stufenartige Gliederung vom Gedächtnis des Individuums und der Generationen über die kollektive Ebene bis zum kulturellen Gedächtnis weist darauf hin, dass die einzelnen Formen, eine nach der anderen, gemäß den aufgestellten Kriterien ein immer größeres Ausmaß annehmen. Es ist auch zu unterstreichen, dass alle vier Formationen interferieren: „[…] wir (sind) als Individuen mit unseren biographischen Erinnerungen in unterschiedliche Gedächtnishorizonte eingespannt, die immer weitere Kreise ziehen: das Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft, der Generation, der Gesellschaft, der Nation, der Kultur. Es ist nicht immer 5 Vgl., ebd. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. S.160. 7 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), H. 2, S.183. 8 Ebd., S.184. 6 6 leicht zu bestimmen, wo die eine Gedächtnisform aufhört und die andere anfängt […].“9 Sie basieren aufeinander, greifen ineinander und stehen miteinander in einer wechselseitigen Beziehung. Daher sind die Trennungslinien zwischen den einzelnen Gedächtnisformen nicht klar markiert. Laut Aleida Assmann dient die Aufteilung der Formationen nicht ihrer Abgrenzung, sondern der Hervorhebung ihrer Andersartigkeiten. Während Jan Assmann das kollektive Gedächtnis vorschlägt, das er in zwei weitere unterteilt, in kommunikatives und kulturelles Gedächtnis, stellt Aleida Assmann vier Formen des Gedächtnisses zur Diskussion dar. Dies hat zur Folge, dass Jan Assmann in seiner Theorie zwar das individuelle Gedächtnis berücksichtigt, jedoch nur als Teil des kommunikativen Gedächtnisses.10 In den nachstehenden Unterpunkten werden einzelne Formen des Gedächtnisses in Anlehnung an Theorien von Jan und Aleida Assmann dargelegt. 9 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 184 Vgl., ebd. 10 7 2.1.1 Individuum und Generation Aleida Assmann unterscheidet in ihrer Gedächtnisforschung unter anderen zwischen dem individuellen Gedächtnis und dem Generationengedächtnis. Die Aufteilung der Formationen dient jedoch keineswegs ihrer Abgrenzung, wie es bereits im Punkt 2.1 erläutert wurde, sondern der Hervorhebung ihrer Andersartigkeiten. 11 Diese zwei Formationen werden durch entsprechende Merkmale charakterisiert, die einen tiefen Einblick sowohl in die Differenzierung als auch in die Wechselbeziehung der Termini verschaffen sollten. Das individuelle Gedächtnis bezieht sich auf ein Erinnerungsvermögen einer einzelnen Person. Die Individualität der Menschen verursacht, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungspositionen einnehmen und dadurch aus einer anderen Perspektive die Welt betrachten. Daher sind die persönlichen Erinnerungen in der Theorie von Aleida Assmann „perspektivisch und darin unaustauschbar und unübertragbar“.12 Es muss hierbei hervorgehoben werden, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Meinungsaustausch im Prozess der Interaktion handelt. In dieser Hinsicht weisen die Unaustauschbarkeit und Unübertragbarkeit auf die eigenartige Natur des Menschen hin, dank der ein und derselbe Sachverhalt von zwei Personen anders erinnert wird. Dazu tragen zahlreiche Faktoren bei, die Persönlichkeit eines Menschen bilden, wodurch jede einzelne Person das Wesentliche an einer Sache an einer anderen Stelle erfasst und dieses in Erinnerung hat. Zu weiteren Eigenschaften des individuellen Gedächtnisses lässt sich auch das fragmentarische Wesen der Erinnerungen rechnen. Laut Aleida Assmann sind sie „begrenzt und ungeformt“.13 Hierzu lässt sich die Eigenart der 11 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002) H. 2, S.183. 12 Ebd., S. 184. 13 Ebd. 8 Erinnerungen mit Gedanken vergleichen, die oft unbewusst durch den Kopf gehen, ohne den klaren Rahmen schweben und wie im Nebel erscheinen, um danach zu verschwinden. Erst in Worte gekleidet, nehmen sie eine feste Gestalt an und erhalten eine Struktur. Diese erlaubt, die einzelnen Erinnerungen in eine wechselseitige Relation zu setzen und sie miteinander zu ergänzen. Einmal schriftlich oder mündlich dargestellte Erinnerungen garantieren jedoch nicht für ihre Beständigkeit, denn erst „oft wiederholte Erinnerungen sind am besten konserviert.“14 Trotzdem bleiben sie instabil. Unter dem Einfluss des Umfelds sowie der eigenen Persönlichkeitsentfaltung ändern sich alle Erinnerungen bis zu einem gewissen Grade. Indem die Menschen im Laufe der Zeit ihre Weltanschauung ändern und die Vergangenheit aus einer anderen Perspektive betrachten, erfahren ihre Erinnerungen einen Wandel. Außerdem stehen Erinnerungen einer Person mit den Erinnerungen Anderer in einem Zusammenhang und werden ständig mit ihnen konfrontiert. In Folge der alltäglichen Kommunikation werden die Erinnerungen einander mitgeteilt. Während einige miteinander konform gehen und demzufolge dem Gedächtnis eingeprägt werden, finden die anderen keine Bestätigung. Diese lassen nach und daraufhin entfallen oft dem Gedächtnis.15 Die oben angegebenen Merkmale der persönlichen Erinnerungen fügen sich zu dem Begriff des individuellen Gedächtnisses zusammen. Sein Wirkungsbereich lässt sich sowohl räumlich als auch zeitlich bestimmen. Den Raum setzt die Reichweite des individuellen Gedächtnisses fest, nämlich an allen Orten, wo die Erinnerungen der Einzelmenschen mit den Erinnerungen der anderen Menschen in Berührung kommen oder aus gemeinsamen Erfahrungen hervorgehen. Laut Aleida Assmann sind den Erinnerungen „feste zeitliche Grenzen gesetzt“.16 Sie vergehen, indem ihr Träger sein Leben beschließt. Darüber hinaus erstreckt sich die Existenz-Zeit der individuellen Erinnerungen von 80 bis auf 100 Jahre. Dies ist ein Zeitabschnitt, in dem drei bis fünf Generationen zeitgleich bestehen. Während die Generationenmitglieder ihre persönlichen Erinnerungen in einem Familien- oder Bekanntenkreis einander mitteilen, vergrößert sich ihr Erinnerungsschatz. Diejenigen Erinnerungen, die längst 14 Ebd. Vgl., ebd. 16 Ebd. 15 9 verschwunden sein könnten, werden durch Nachfragen der Bekannten wieder ins Bewusstsein gerufen. Geschichten, die mehrmals gehört wurden, überlagert sich mit dem Selbsterlebten und werden durch das Weitererzählen als eigene Erinnerung gefestigt.17 Der gegenseitige Einfluss der individuellen Erinnerungen verursacht, dass sie immer größere Kreise ziehen. Demzufolge ist das individuelle Gedächtnis in seiner Komplexität in ein größeres Gedächtnis der Generation einbezogen. Die persönlichen Erinnerungen sind mit dem Generationen-Gedächtnis eng verbunden und stehen mit ihm in Korrelation. Zusammenhängende individueller Erinnerungen gestalten das Generationen- Gedächtnis. Dieses wiederum ist ein wichtiger Faktor in der Entwicklung des individuellen Gedächtnisses. Während ein individuelles Gedächtnis auf persönliche Erinnerungen eines Individuums zurückzuführen ist, lässt sich das GenerationenGedächtnis von den gemeinsamen Erinnerungen einer Gesamtheit der Menschen ungefähr gleicher Altersstufe herleiten. Aufgrund des Lebens in einer Gemeinschaft, ob es ein Bekanntenkreis, eine Stadt oder noch eine größere Gesellschaftsform ist, bilden sich Gruppen heraus, derer Angehörige ihre Erinnerungen austauschen. Auch wenn sie sich nicht kennen und der persönliche Austausch zwischen ihnen nicht zustande kommt, können sich ihre Erinnerungen gegenseitig bestätigen. Damit es möglich wäre, müssen sie einen gemeinsamen Bezugspunkt haben. Ähnliche Lebensauffassung und Haltungen, vergleichbare Werte und Hoffnungen, die für eine Generation repräsentativ sind, schaffen einen Erfahrungshintergrund, der eine Grundlage für gemeinsame Erinnerungen der Generationsmitglieder ist. Die Gesamtheit der Erinnerungen einer Generation nennt Aleida Assmann das „Erinnerungsprofil“18. Aus ihm resultiert das Generationen- Gedächtnis. Sein Dauer ist durch Generationenwechsel bestimmt, der jeweils nach ungefähr 40 Jahren stattfindet.19 Wechselt die Generation, verändert sich auch das Erinnerungsprofil, das durch die Überzeugungen, Wertmaßstäben und Perspektiven bedingt ist. Innerhalb einer Familie ist die Abgrenzung der einzelnen Generationen ganz klar. Bestimmte Generationen unterscheiden sich voneinander jedoch nicht nur durch das Alter sondern 17 Vgl., ebd. S. 185. Ebd. 19 Vgl., ebd. 18 10 auch durch ihre Zeitlichkeit. Ein Geschehen bringt andere Wahrnehmungen bei kleinen, jungen und alten Menschen hervor, noch andere in der Kriegs- oder Friedenszeit. Hier sind historische Ereignisse und „gesellschaftliche Innovationen“20 entscheidend, die Weltanschauung der einzelnen Generationen prägen. Ein Altersabstand zwischen Generationen kann beispielsweise nur drei Jahre betragen. Er ist aber groß genug, damit die Generationen ein Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven einschätzen könnten. Zahlreiche Komponenten des Lebens, wie Geburtsjahr, Begleitumstände oder Handelnsmöglichkeiten bewirken, dass sich jede Generation als außergewöhnlich betrachtet und das Erlebte anders als andere Generation versteht. Daher hält sich jede einzelne Generation für unterschiedlich im Vergleich zu allen anderen.21 Darüber hinaus beruht die Entwicklung einer Generation entweder auf der Prägung der Schlüsselerlebnisse oder auf der bewussten Abwendung von dem Bestehenden. 2.1.2 Das kollektive Gedächtnis Das kollektive Gedächtnis ist eine Formation, die sich selbst naturwüchsig nicht herausbildet, weil sie keine biologische Grundlage hat.22 Sie wird hingegen geschaffen. Das kollektive Gedächtnis, auf der dritten Stufe der Gedächtnistheorie von Aleida Assmann lokalisiert, bezieht sich auf Institutionen und Körperschaften, die zielbewusst bestimmte Gedächtnisinhalte konstruieren. Diese werden mithilfe von den Gedächtnismedien den Individuen übertragen. Symbolische Stützen, wie Denkmäler und regelmäßige Riten verpflichten sie, die Gedächtnisinhalte zu vertreten und die treibende Kraft des kollektiven Gedächtnisses zu sein.23 Aufgrund dessen werden die Erinnerungen fundiert. Bevor man etwas Bestimmtes in das kollektive Gedächtnis 20 Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung bis öffentlichen Inszenierung. München: Verlag Z.H Beck 2007. S. 33. 21 Vgl., ebd. S. 34. 22 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), H. 2, S. 186. 23 Vgl., ebd. 11 einnimmt, muss eine politisch oder körperschaftlich organisierte Gruppe vorhanden sein, die universale Formen der Kommemoration zur Entfaltung bringt. Das kollektive Gedächtnis weist in seiner Struktur gewisse Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede im Vergleich zu dem individuellen und dem Generationen-Gedächtnis. Während die individuellen Erinnerungen auf gegenseitige Bestätigung abzielen, ist das Kollektiv mit seinem Gedächtnis auf Eigenständigkeit gerichtet und strebt die gegensätzliche Struktur im Vergleich zu anderen kollektiven Gedächtnissen an. 24 Das fragmentarische Wesen der einzelnen Erinnerungen ersetzen im Fall des Kollektivs fertige und klare Aussagen in Form von Erzählungen. Die Stabilität, die dem individuellen Gedächtnis fehlt, garantieren hier materielle Symbole. Diese verstärken die Erinnerungen, die ständig wach gehalten und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Abhängig von dem System, in dem man lebt, werden nachkommende Generationen die Erinnerungen des Kollektivs entweder ohne Anstoß von außen annehmen oder sich in die Rolle der Träger einleben müssen.25 Analog dem individuellen Gedächtnis ist auch das kollektive Gedächtnis perspektivisch und selektiv. Das Selektionsverfahren der Erinnerungen richtet sich nach Wichtigkeit und Brauchbarkeit ihrer Inhalte. Dies wird ganz deutlich am Beispiel des kollektiven Gedächtnisses einer Nation veranschaulicht. Zu den Auswahlkriterien gehören hier historische Orientierungspunkte, die positive Vorstellung von der Nation aufrechterhalten oder in die Zielsetzung integriert sind.26 Laut Aleida Assmann unterscheidet man vier Typen des kollektiven Gedächtnisses. Dazu gehören das „Siegergedächtnis“ und das „Gedächtnis der Besiegten” sowie das „Opfer- und TäterGedächtnis“.27 Bevor die einzelnen Typen expliziert werden, muss es unterstrichen werden, dass zwischen sowohl den Besiegten und Opfern als auch zwischen den Tätern und Siegern entscheidende Unterschiede bestehen. Während ein Besiegter und ein Sieger nur in einer kriegerischen Auseinandersetzung zu finden sind, können Opfer und Täter in beliebigen Lebensbereichen auftreten.28 24 Vgl., ebd. Vgl., ebd. 26 Vgl., ebd. S. 187. 27 Ebd. S. 187. 28 Vgl., ebd. 25 12 Da man sich gerne an Positiva erinnert, sind Siege zum Gegenstand der kollektiven Kommemoration geworden. Das Siegergedächtnis beinhaltet demzufolge heldische Zeiten, die das positive Selbstbild untermauern oder sogar das Selbstwertgefühl steigern können. Das Gedächtnis der Besiegten bezieht sich gleichfalls auf Kampfhandlungen, in denen jedoch nicht ein Sieg sondern eine Niederlage als Bezugspunkt erscheint, der sich ins Gedächtnis schreiben lässt. Als notwendige Vorbedingung gilt dafür „eine martyriologische Erzählung des tragischen Helden“29, in der sich die Niederlage entfaltet. Mit anderen Worten kann auch eine Erniedrigung auf dem Kampfplatz das heroische Bild eines Kollektivs gestalten. Obwohl das Gedächtnis der Besiegten sich auf Antipathie und Rache stützt, können die eine Gefahr mit sich bringenden Erinnerungen eliminiert werden.30 Den Frieden gewährleistet hier das Vergessen, das mit der Zeit weniger bedeutende Erlebnisse aus dem Gedächtnis löscht. Selbst die Aufnahme eines Ereignisses in das kollektive Gedächtnis braucht ihre Zeit. Eine Erfahrung, die tiefe psychische Wunden hinterlässt, ist es besonders schwierig, in das kollektive Gedächtnis anzunehmen. Dem Sprichwort folgend „Die Zeit heilt alle Wunden“, muss eine Gesellschaft die Zeit in Anspruch nehmen, bevor sie die traumatischen Erlebnisse verarbeitet, sie anerkennt und symbolisch gestaltet. Da das erfahrene Unglück eine beeinträchtigende Wirkung hat und zudem nicht leicht zu vergessen ist, benötigt man Mittel und Wege, dank denen man die Erfahrungen akzeptiert und ihre negativen Folgen bewältigt. Da das Opfergedächtnis auf Anerkennung des erlittenen Unrechts und Ausgleich der Schaden [die der Opfergemeinschaft zugefügt wurden – D.K.S] basiert, ist in diesem Fall die Kommemoration eine Lösung, die nicht vergessen lässt, aber eine gewisse Erleichterung bringt. Werden dabei keine entsprechenden Andenkensformen von der betroffenen Gruppe herausgebildet, wird das Leid latent tradiert.31 Im Vergleich von Opfer- und Tätergedächtnis lässt sich bemerken, dass eine Gemeinschaft nicht immer selbst entscheidet, woran sie sich erinnern soll. Während die Opfer das Vergessen ihres Leides nicht zulassen wollen, würden die Täter ihre Schuld am liebsten verschweigen. Daher ist die Entstehung des Tätergedächtnisses oft durch Pression der Außenwelt bedingt. Erst dann wird die eigene Schuld eingestanden und das 29 30 Ebd. Vgl., ebd. 31 Vgl., ebd. 13 Leid der Opfer geachtet. Unter diesem Aspekt lässt der perspektivische Charakter des kollektiven Gedächtnisses nach, der durch Folgen der ständig voranschreitenden Globalisierung hinausgedrängt wird. Besonders sichtbar ist es in dem politischen Bereich, wo das kollektive Gedächtnis ein Gestaltungselement ist. Der gegenseitige Einfluss der Staaten, Verbreitung des Problems über die Medien und Internationalisierung der ethischen Standards verursacht, dass das kollektive Gedächtnis nicht mehr auf die Polemik zielt, sondern immer öfter im Einklang mit anderen Gedächtnissen steht.32 2.1.3 Kommunikatives Gedächtnis vs. kulturelles Gedächtnis „Oberhalb des kollektiven Gedächtnisses ist […] als eine weitere Ebene das kulturelle Gedächtnis anzusetzen.“33 Diese Ansicht vertritt Aleida Assmann, die das individuelle Gedächtnis, Generationengedächtnis und das kollektive Gedächtnis unterhalb der letzten Ebene stellt, auf der sich das kulturelle Gedächtnis befindet. Im Nachstehenden wird der Theorie von Jan Assmann gefolgt, die besagt, dass kollektives Gedächtnis zum Oberbegriff in der Gedächtnistheorie wurde und sich in zwei Basis – Register teilen lässt, in das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis.34 Diese zwei Erinnerungsmodi werden als Oppositionsbegriffe dargestellt, weil „zwischen einem kollektiven Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, und einem kollektiven Gedächtnis, das sich auf symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt, ein qualitativer Unterschied besteht.“35 Kommunikatives Gedächtnis: Das kommunikative Gedächtnis wird nur kurz angesprochen, weil er mit den individuellen Erinnerungen und dem Generationengedächtnis, die bereits im Punkt 2.1 dargelegt wurden, in Zusammenhang steht. Dieses Gedächtnis ist mit einer Drei bzw. Vier-Generationen-Gruppe verbunden, mit der es wächst und vergeht.36 Es bezieht sich 32 Vgl., ebd., S. 189. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), S. 183–190, hier S. 189. 34 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005. S. 112. 35 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 27. 36 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. C.H. Beck 1999. S. 50. 33 14 auf lebendige Erinnerungen, die ein Individuum mit seinen Zeitgenossen im Alltag teilt. Da das kommunikative Gedächtnis auf der mündlichen Form der Erinnerungsvermittlung basiert, reichen die Erinnerungen normalerweise nicht weiter als 80 bis 100 Jahre zurück. „Diesen unmittelbaren Erfahrungshorizont bildet neuerdings den Gegenstand der ‚Oral History’, eines Zweiges der Geschichtsforschung, die […] ausschließlich auf Erinnerungen (beruht), die in mündliche Befragung erhoben wurden. Das Geschichtsbild, das sich in diesen Erinnerungen und Erzählungen konstituiert, ist eine ‚Geschichte des Alltags’, eine ‚Geschichte von unten’ “37 Kulturelles Gedächtnis: Während sich das kommunikative Gedächtnis auf rezente Vergangenheit richtet, sind bei dem kulturellen Gedächtnis feste Bezugspunkte in der Vergangenheit von Relevanz.38 Dazu gehören Ereignisse, die in einer fernen Vergangenheit liegen, und die als Gemeinschaft fundierend angesehen werden. Die Erinnerungen und Erfahrungen werden nicht spontan im Alltag von Zeitzeugen vermittelt, sondern sie werden an Medien der Speicherung gebunden, die den Mitgliedern einer Gemeinschaft die Kommunikation über Generationen hinweg ermöglichen und ihre Identität bestätigen. Zu dem Überlieferungsbestand an Inhalten und Sinngebungen des kulturellen Gedächtnisses, der als Stütze des Gedächtnisses dient, gehören „Texte, Bilder und Skulpturen neben räumlichen Kompositionen wie Architektur und Landschaften sowie zeitliche Ordnungen wie Feste, Brauchtum und Rituale […].“39 Aleida Assmann trifft bei dem kulturellen Gedächtnis eine Unterscheidung in Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis. An diesen Formationen lässt sich veranschaulichen wie die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses vergessen und danach aktiviert werden können. Das Speichergedächtnis lässt sich als unbewohntes Gedächtnis bezeichnen.40 Ihm „entspricht da kulturelle Archiv, in dem die materielle Überreste vergangener Epochen auch dann noch fortbestehen können, wenn sie ihre lebendigen 37 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 2007S. 51. 38 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 2007 S. 52. 39 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13 (2002), S. 183–190, hier S. 189. 40 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005. S. 31. 15 Bezüge und Kontexte verloren haben.“41 Dazu werden Medien gezählt, wie Dokumente, Fotos oder Denkmäler, deren jetzt keiner Aufmerksamkeit schenkt, die jedoch in Zukunft wieder zum Gegenstand professioneller Debatten werden können. Das Funktionsgedächtnis nennt Aleida Assmann das bewohnte Gedächtnis.42 Es „bildet ein Reservoir von zeitübergreifenden Botschaften aus der Vergangenheit. Darunter werden solche Artefakte verstanden, die, durch beständige Pflege und Auseinandersetzungen aufbereitet, nicht gänzlich verstummen, sondern von jeder Generation neu vernommen und aufgenommen werden.“43 Obwohl beide Formen des kulturellen Gedächtnisses auf den ersten Blick entgegengesetzt sind, stehen sie zueinander in einer Wechselbeziehung. Das Speichergedächtnis bildet den Hintergrund für das Funktionsgedächtnis, so dass seine Elemente jederzeit in das Funktionsgedächtnis übertragen werden können. Verlieren sie an Interesse, fallen sie wieder ins Archiv zurück. 2.2 Soziokultureller Aspekt der Gedächtnistheorie Mit dem Gedächtnis-Thema befassen sich seit längerem zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen. In den sozialwissenschaftlichen letzten Jahren Forschungen ist es geworden. auch zum Gegenstand der Da sich Soziologie mit Voraussetzungen und Folgen des Zusammenlebens handelnder Menschen kritisch auseinandersetzt, konnte ihr Gedächtnis als soziales Phänomen nicht unbemerkt bleiben. Besonders große Aufmerksamkeit schenken die Soziologen dem sozialen Gedächtnis, das auch als Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft bezeichnet wird. 44 Das soziale Gedächtnis stützt sich auf Kommunikation und Interaktion eines Individuums mit anderen Menschen. Der Träger des Gedächtnisses ist in diesem Fall eine soziale 41 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 189. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. S. 134. 43 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 189. 44 Assmann, Aleida: Der Lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2006. S. 27. 42 16 Gruppe, in der einzelne Individuen gemeinsame Erfahrungen austauschen, indem sie sich symbolischer Medien wie Fotografien und Tagebücher bedienen.45 Die Fähigkeit zu erinnern hängt von zahlreichen Faktoren ab, die auf den Menschen wirken und damit auch entscheiden, was ihm im Gedächtnis bleibt. Nicht nur Charakter und Wertstellung sondern auch der ständige Umgang mit anderen Menschen sind hier von Belang: „Das Gedächtnis entsteht nicht nur in, sondern vor allem zwischen den Menschen“46 Diese zutreffende Aussage von Assmanns weist darauf hin, dass alle Gedächtnisformen ohne Leben der Menschen in der Gemeinschaft nicht denkbar wären. Die Grundlage der Herausbildung des Gedächtnisses ist daher die Sozialisation: „[…] ein absolut einsamer Mensch (könnte) überhaupt keine Erinnerungen bilden, weil diese stets in Kommunikation, d. h. im sprachlichen Austausch mit Mitmenschen, aufgebaut und verfestigt werden. Das Gedächtnis als Zusammenhalt unserer Erinnerungen wächst also […] von außen in den Menschen hinein […].“47 Während ein Individuum gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen übernimmt und in kommunikativen Prozessen teilnimmt, werden für sein Gedächtnis soziale Rahmen gebildet. Dieser von Maurice Halbwachs eingeführte Begriff impliziert einen Bezugsrahmen, in dem einzelne Individuen über ihre gemeinsamen Erfahrungen miteinander kommunizieren. Soziale Rahmen sind Personen, verschiedene Gruppen oder Gemeinschaften, die sich durch, infolge der Kommunikation und Interaktion, entstandene gemeinsame Erfahrungen und geteiltes Wissen auszeichnen.48 Durch den Informationsaustausch entsteht eine gemeinsame Orientierungsbasis, die Anlass zum Erinnern bietet. „Selbst die noch so privaten Erinnerungen des Einzelnen bilden sich in der Interaktion mit anderen, entstehen stets auf dem Boden der Sozialität. Was ich erinnere, erinnere ich mit Blick auf andere und dank der Erinnerungen anderer. Es gibt mithin keine scharfem Grenzen zwischen eigenen und fremden Erinnerungen, einmal, weil sie im Prozeß alttäglicher Gegenseitigkeit und unter Verwendung gemeinsamer 45 Vgl., ebd., S. 33. Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis In: (Hrg.) Merten, K.; Schmidt, S.J; Weischenberg, S.: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994. S. 114. 47 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S.184. 48 Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. Berlin - New York: Walter de Gruynter 2005. S. 54 46 17 Bezugsrahmen entstehen, und zum anderen, weil jeder Mensch auch Erinnerungen anderer mit sich trägt.“49 Es ist hervorzuheben, dass die individuellen Erinnerungen trotzt der Bezeichnung und allen subjektiven Merkmalen „nicht selbstgenügsam und rein privat“ sind.50 Laut Halbwachs könnte ein Mensch überhaupt keine Erinnerungen haben, wenn er einsam wäre. Daher gibt es, seiner Ansicht nach, kein Gedächtnis, das nicht sozial ist.51 Im Weiteren werden soziale Prozesse besprochen, die die Gedächtnis- und Identitätsbildung der Familie beeinflussen. Innerhalb des sozialen Gedächtnisses wirkt besonders das Familiengedächtnis mit. Da die Familie die naheste Umgebung eines Individuums ist, auf ihn einwirkt und seine Lebensbedingungen beeinflusst, bestimmt sie auch im großen Maße die individuellen Erinnerungen. Sie ist demzufolge eine Institution, die bei der Gedächtnisbildung eines Menschen soziale Rahmen herstellt. „Eine Eigenschaft des individuellen Gedächtnisses wäre vor diesem Hintergrund, daß jede Vergangenheit, die in den generationellen Kommunikationszusammenhang der eigenen Familie hereinragt, von »sozialen Markern« indexiert ist – das heißt, neben dem Schulwissen und den Informationen aus den Medien existiert ein Bild von der Vergangenheit, das aus der direkten, persönlichen Kommunikation resultiert, und dieses Bild ist vor dem Hintergrund seiner sozialen Entstehungsgeschichte ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern Gewissheit.“52 Es ist dabei hervorzuheben, dass die Familiengeschichte einen größeren Zeitraum umfasst. Die jüngeren Familienmitglieder erfahren über Ereignisse in der Familie, die sich noch vor ihrer Geburt abspielten.53 Die Unterhaltung der Familienmitglieder, die zur Vergangenheitsrekonstruktion führt, ist sonach Basis des Familiengedächtnisses. „Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem innerhalb einer Gruppe – der so genannte memory talk – stellt einen dynamischen Akt der Vergangenheitsrekonstruktion dar: Beim memory talk werden vorhandene, autobiographische Erinnerungen nicht reproduziert, sondern gemeinsam konstruiert und ausgehandelt.“54 49 Assmann, Aleida/ Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. S 115. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 184. 51 Vgl. Assmann, Aleida/ Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. S. 117. 52 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2008. S. 171f. 53 Vgl., ebd. 54 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen 50 18 Der Begriff memory talk, auch als conversational remembering bekannt, wurde in der Psychologie eingeführt. In dieser Disziplin diente er zur Bezeichnung des spezifischen Dialogs zwischen einer Mutter mit ihrem Kind, in dem durch Wiederholungen seitens Mutter bestimmte Erinnerungen betont und durch Fragen einige Einzelheiten des Erinnerten vom Kind eingefordert wurden.55 In der Gedächtnisforschung setzte sich der Terminus als Sprechakt durch, der einer wechselseitigen Kommunikation entspricht. Durch memory talk wird die Vergangenheit nicht nur erinnert, sondern auch im Dialog konstruiert.56 Das Familiengedächtnis nimmt einen starken Bezug auf Generationen-Gedächtnis. In der Familie kommen mindestens zwei Generationen vor, die sich reibungslos identifizieren lassen. Obwohl einzelne Familienmitglieder unterschiedliche Persönlichkeiten repräsentieren und verschiedener Alterstufen sind, lassen sie „ein über mehrere Generationen sich erstreckendes Gedächtnisgeflecht“57 entstehen. „Das Familiengedächtnis» bildet […] einen Rahmen, der sicherstellt, dass sich alle Beteiligten an dasselbe auf dieselbe Weise zu erinnern glauben. Das Familiengedächtnis hat […] eine synthetisierende Funktion, die die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft Familie gerade ausgehen, sie würden über dasselbe sprechen und sich an dasselbe erinnern.“58 Aleida Assmann nennt dieses Phänomen Drei-Generationen-Gedächtnis, in dem die individuellen Erinnerungen sich gegenzeitig beeinflussen.59 Die Großeltern, ihre Kinder und Enkel tauschen ihre Erinnerungen durch Gespräche aus. Dies verursacht, dass besonders die jüngeren Generationen einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihr Gedächtnisvermögen übernehmen, weil die Grenze zwischen dem selbst Erlebten und dem Gehörten durchlässig wird. kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. Berlin - New York: Walter de Gruyter 2005. S. 57. 55 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. S. 96. 56 Vgl. Assmann, Aleida: Der Lange Schatten der Vergangenheit. S. 28. 57 Wischermann, Clemens ( Hrsg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Studien zur Geschichte des Alltags. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002. S. 18. 58 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2008 S. 165. 59 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 185. 19 „Das Familiengedächtnis (stellt) aus verschiedenen aus der Vergangenheit behaltenen Elementen solcher Art einen Rahmen her, den es intakt zu halten sucht, und der gewissermaßen zur traditionellen Ausrüstung der Familie gehört. Obwohl er aus datierbaren Daten und Fakten besteht, die nur eine bestimmte Zeit gedauert haben, findet man doch auch Urteile der Familie selber oder ihrer Umgebung über sie darin verwoben“60 Das Zitat weist darauf hin, dass das Familiengedächtnis stark mit den anderen Gedächtnisformen verbunden ist. In ihm wirken die Erinnerungen einzelner Familienmitglieder aufeinander, gleichzeitig wird es aber auch von außen stehenden Menschen beeinflusst. Darin dringen also die von außen her übernommenen und in der eigenen Erinnerung verarbeiteten Wissensbestände ein. Familiengeschichten sind Erinnerungsmedien, die im Erinnerungsquellen wie beispielsweise andererseits Vergangenheit geschichtlichen Kontext einerseits Dokumentarfilme in mit Polarität anderen stehen, sich einander vervollständigen können. Auf jeden Fall entreißen sie die einer Familie dem Vergessen. Zugleich stützen sie das Familiengedächtnis und bauen eine spezifische Gruppenidentität auf, die nur einer konkreten Familie zugeschrieben werden kann.61 Diese Familie als eine Art der Wir-Gruppe ist, aufgrund der alle Familienmitglieder verbindenden Vergangenheit, durch gemeinsames Wesen oder Haltung gekennzeichnet.62 3 Literatur als Gedächtnismedium 3.1 Literarische Welterzerzeugung nach Paul Ricoeur Aus der kulturwissenschaftlichen Sicht ist das Gedächtnis nicht autonom. Daher ist es auf materielle Stabilisatoren angewiesen, die ihm den Fortbestand gewähren.63 Um die flüchtigen Erinnerungen festzuhalten, greifen Menschen seit Jahrhunderten auf 60 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Familiengedächtnis. In: Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen. Berlin; Neuwied: Luchterhand 1966. S. 109f. Zitiert nach Griese, Birgit: Zwei Generationen erzählen: narrative Identität in autobiographischen Erzählungen Russlanddeutscher. Frankfurt a. M. : Campus Verlag 2006. S. 86. 61 Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Ed. 2001. S. 145. 62 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. S.170. 63 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume S. 249. 20 verschiedene Speichermedien zurück, die sie vor der Vergessenheit bewahren sollen. Schrift, Fernseher oder Internet dienen zur Speicherung und Übermittlung von Versionen gemeinschaftlicher Gedächtnisses dient auch Vergangenheit. Literatur. Als Literarische Medium Texte des kollektiven „erfüllen vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen, wie die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlungen von Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses.“64 Während des Erinnerungsprozesses wird das Vergangene nicht in derselben Gestalt abgerufen, wie es tatsächlich war, sondern jedes Mal wird eine neue Vergangenheitsversion entwickelt. In Gedächtnismedien, auf die Erinnerungen ausgelagert werden, werden demzufolge neue Wirklichkeiten oder Welten konstruiert. Daraus resultiert die Feststellung, dass „Medien keine neutrale Träger von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen (sind). Was sie zu entkodieren scheinen – Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen, Werte und Normen, Identitätskonzepte – erzeugen sie vielmals erst.“ 65 Die literarische Welterzeugung wird im Weiteren am Beispiel des literaturwissenschaftlichen Modells des Kreises der Mimesis von Paul Ricoeur verdeutlicht, der für Verständnis des Verhältnisses von Literatur, kollektivem Gedächtnis und der Erinnerungskultur äußerst wichtig ist. Bevor das Modell präsentiert wird, soll als Erstes der Begriff Mimesis erklärt werden. Er war bereits in der Antike bekannt und von Platon und Aristoteles als soziale Fähigkeit der jungen Menschen begriffen, Handlungen, Vorbilder, Einstellung, Verhaltensweisen und Werte nachzuahmen. „Bei sozialer Mimesis handelt es sich also nicht um Imitation, sondern um Prozesse mit individuellen Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.“66 Analog dazu bedeutet Mimesis in der Literatur die „kreative Nachahmung von Lebenswelt in einer fiktionalen Konfiguration von Wirklichkeit.“67 Ricoeur hat in seinem Modell drei Darstellungsstufen der Mimesis vorgeschlagen: Mimesis I, Mimesis II und Mimesis III, 64 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005. S. 143. 65 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 124. 66 Gebauer, Gunter;Christoph Wulf : Soziale Mimesis. In: Christoph Wulf (Hrsg.), Dietmar Kamper, Hans Ulrich Gumbrecht: Ethik der Ästhetik. Berlin: Akademie Verlag 1994. S. 76. 67 Middeke, Martin: Zeit und Roman: Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. S. 5. 21 die für die literarische Welterzeugung grundlegend sind.68 Die erste Darstellungsstufe betrifft das Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur. Mimesis I bezeichnet also die erinnerungskulturelle Präfiguration eines Textes, was man als „Bezug zur vorgängigen außertextuellen Welt“ verstehen kann.69 „Literatur kann Bezug nehmen auf die materiale Dimension der Erinnerungskultur (z.B. auf konkurrierende Gedächtnismedien), auf ihre soziale Dimension (z.B. auf Erinnerungsgemeinschaften, Institutionen) und schließlich auf ihre mentale Dimension (z.B. auf machtvolle Schemata der Vergangenheitsrepräsentation).“70 Überdies wird in der Literatur auf die nicht – bewusste und nicht intentionale Formen des kollektiven Gedächtnisses wie Stereotypen, Wahrnehmungen oder Handlungsmuster verwiesen.71 Im Rahmen Mimesis I werden also Elemente aus der erinnerungskulturellen Wirklichkeit gewählt, die man auf der zweiten Stufe, Mimesis II, aus ihren Kontexten löst, neu strukturiert, zusammenfügt und zu einer neuen Geschichte konfiguriert. Hierbei erscheinen die literarischen Darstellungsverfahren wie Erzählform, Raum- und Zeitdarstellung als konstitutiv. Der Kreis der Mimesis schließt sich auf der dritten Stufe, Mimesis III. Hier erfolgt der Rezeptionsakt, indem das Dargestellte aktualisiert und die Wirklichkeit des Lesers bereichert wird.72 Wie in Mimesis I kommt es hier zu einer Austauschbewegung zwischen Erinnerungskultur und literarischem Text, jedoch in umgekehrter Richtung: „Bedeutungszuschreibungen des Lesers wirken sich also nicht nur auf sein Textverständnis aus. Die literarische Darstellung verändert auch seine Wirklichkeitswahrnehmung und letztendlich […] auch die kulturell Praxis und damit diese Wirklichkeit selbst.“73 68 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 150. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 150. 70 Ebd. S. 151. 71 Vgl., ebd. S. 151. 72 Vgl., ebd. S. 152. 73 Ebd. S. 153. 69 22 3.2 Gattungstypologie der fictions of memory: Gedächtnisroman vs. Erinnerungsroman Die gesteigerte Tendenz zur Thematisierung der Erinnerungen nicht nur in der deutschsondern vor allem in der englischsprachigen Gegenwartsliteratur bewirkte, dass eine neue Gedächtnisgattung entstanden ist, die in Kanada als fictions of memory eingeführt wurde. Hierbei wird dieser Begriff in Anlehnung an Theorie von Birgit Neumann spezifiziert und darauf folgend expliziert. Der Fiktionsbegriff als erster Teil der Bezeichnung verweist auf den soziokulturellen Entstehungskontext von Literatur.74 In dieser Hinsicht implizieren die Fiktionen sowohl „fiktionale Texte und die in ihnen inszenierten Gedächtniswelten als auch die in der Erinnerung erzeugten [kulturell geteilten und manifestierten – D.K.S] Fiktionen von der Vergangenheit“, die Basis für literarische Texte bilden.75 Der zweite Teil des Begriffs, memory, ist hingegen auf die unterschiedliche Erscheinungsformen des Vergangenheitsbezugs in Literatur zurückzuführen. In fictions of memory nimmt sonach die Erinnerungsthematik einen besonderen Platz ein. Erinnerungen sind jedoch nicht allein für eine Gattung da. Vergangenheit und Geschichte stehen auch in anderen Romanen zur Diskussion. Als gattungsspezifische Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. Berlin - New York: Walter de Gruyter 2005 S. 8. 75 Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004 S. 336. 74 23 Besonderheit von fictions of memory, die sie von anderen Vergangenheit fokussierten Gattungen scheidet, lässt sich das identitätsbildende Potential der Erinnerungen anführen. Die Abgrenzung wird am Beispiel eines historischen Romans im Vergleich zu fictions of memory veranschaulicht. Beide Gattungen weisen Prallelen auf, die u. a. in der „Temporalisierungsfunktion in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Damals und dem Heute“ erkennbar werden.76 Während sich allerdings ein historischer Roman mit der Frage der Objektivität und Zuverlässigkeit der dargestellten Vergangenheit befasst, fokussieren fictions of memory erinnerte Vergangenheit, die für die Identitätsstiftung eines Individuums oder eines Kollektivs bedeutend sein kann. Von diesem Standpunkt aus, sind unter fictions of memory als Gattungsbegriff diejenigen Romane zu verstehen, die sich durch einen Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Narration auszeichnen.77 Im Nachstehenden werden konstitutive Kriterien für die Binnendifferenzierung von fictions of memory genannt. Die Dominanz bestimmter Erzählebenen in einem Roman ist bereits das erste Kriterium für Gattungstypologie, das eng mit der Differenzierung zwischen Gedächtnis und Erinnerung verbunden ist. Die bereits im Punkt 2.1 explizierte Trennungslinie zwischen Gedächtnis und Erinnerung, bildet die Grundlage für die Entstehung der Differenzen, die in der literarischen Inszenierung dieser beiden Phänomene zum Vorschein kommen. Während die literarische Realisation von Gedächtnis auf die Darstellung vergangener Ereignisse oder Erlebnisse der Figuren ausgerichtet ist, exponiert die Präsentation von Erinnerung die Gegenwart, in der eben erinnert wird. Die Inszenierung von Gedächtnis wird durch die Vergangenheitsgestaltung überwiegend auf der diegetischen Ebene der Erzählung vollbracht, die auch als Binnenerzählung bezeichnet wird (Gerard Genette). Dahingegen wird die Erinnerungsdarstellung in der Regel auf der extradiegetischen Ebene realisiert, wo ein Erzählakt erkennbar wird. Dieser wiedergibt die „aktuellen, dynamischen Bedingungen der Rekonstruktion und Repräsentation von Vergangenem.“78 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration S. 7. Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory. S. 333. 78 Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration. S. 209. 76 77 24 Das zweite Kriterium bildet die erzählerische Vermittlungsform, die die Art der Identitätsstiftung und die Form der narrativen Erinnerungsinszenierung bestimmt. Neumann bedient sich hier nicht nur der Erzähltheorie von Gerard Genette, sondern auch der Typologie der Erzählerstimmen, die von Susan Lanser entworfen wurde. Als relevant erscheinen in dieser Hinsicht, zwei Stimmtypen der homodiegetischen Erzählinstanz. Die personal voice, die mit der Hauptfigur gleichzusetzen ist und vor allem persönliche Erfahrungen anspricht, vermittelt individuelle Identitätsstiftungen. Die communal voice hingegen bringt die gruppenkonstitutive Erfahrungen und Werte einer Erinnerungsgemeinschaft zum Ausdruck.79 Das nächste Kriterium ist die Perspektivenstruktur, die als geschlossen oder offen in Erscheinung tritt. Die geschlossene Variante lässt die gemeinschaftlich geteilte Vergangenheits- und Identitätsstiftung erkennen. Die offene Perspektive zeugt von rivalisierenden, oft widersprüchlichen Versionen der Vergangenheit. Die oben angegebenen Kriterien ermöglichen gattungstypologische Unterscheidung von fictions of memory durchzuführen und demzufolge den Erinnerungsroman und den Gedächtnisroman herauszukristallisieren. Laut Birgit Neumann lässt sich die fictions of memory nach vier Erscheinungsformen differenzieren. Dazu gehören der autobiografische Gedächtnisroman, der kommunale Gedächtnisroman, sowie der autobiografische Erinnerungsroman und der soziobiografische Erinnerungsroman. 80 Im Weiteren sollen die vier Formen ausführlich besprochen werden. In dem autobiographischen Gedächtnisroman werden die Vergangenheitserfahrungen eines erzählenden Ichs auf der diegetischen Ebene fokussiert. Der Erzähler wird vom Urheber des Textes als Instanz kreiert, die zur Vermittlung seiner Geschichte bestimmt ist. Der Erzähler ist demzufolge, laut der Erzähltheorie von Gerard Genette, autodiegetisch. Er repräsentiert „den höchsten Grad des homodiegetischen Erzählers“ und ist zugleich das erzählende und das erlebende Ich.81 Während sich das erzählende Ich mithilfe von personal voice an seine Vergangenheit erinnert, entsteht ein Verhältnis zwischen ihm jetzt - auf der extradiegetischen Ebene und seinem Selbst von damals 79 Vgl. Lanser, Susan: Fictions of Authority: Women Writers and Narrative Voice. Cornell University Press 1992 S. 20ff. Zitiert nach Birgit Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. S. 209. 80 Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. S. 213ff. Genette, Gerard: Die Erzählung. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag 1998. S 176. 81 25 auf der diegetischen Ebene. Der Blick in die Vergangenheit bietet dem Erzähler, die subjektive Erfahrungsverarbeitung an und ermöglicht die Frage nach seiner Identität zu beantworten. Zu weiteren Merkmalen dieses Romans gehören: Der chronologische Handlungsablauf auf der diegetischen Ebene, die geschlossene Perspektivenstruktur, in der die Vergangenheit einheitlich interpretiert wird und der Realitätsbezug in Form von detailgenauer Beschreibungen von Orten und Zeiten. Diese erwecken den Eindruck der Authentizität und sind jedoch wegen der Subjektivität und Selektivität des individuellen Gedächtnisses relativ eng eingeschränkt. Der kommunale Gedächtnisroman hebt die Kollektividentität hervor, die von einer sozialen Gruppe beziehungsweise einer kulturellen Minderheit anhand geteilter Vergangenheitsbezugspunkte gestiftet wird. Die geschlossene Perspektivenstruktur einer Familie, Gruppe oder einer Gemeinschaft ist kulturell homogen und lässt kaum einen oder keine kulturell fremde Einflüsse eindringen, die die gruppenspezifische Vergangenheitsdeutung nicht gelten lassen würden. Als Vermittler der Erzählung wird entweder der homodiegetische oder der heterodiegetische Erzähler eingesetzt. Der homodiegetische Erzähler, bedient sich im kommunalen Gedächtnisroman der communal voice. „Sie zeigt, dass die Existenz und Kontinuität von Kollektivgedächtnissen auf das individuelle Gedächtnis angewiesen ist, in dem sich das Erleben der kollektiven Erinnerung vollzieht.“82 Neumann zufolge wird das Gedächtnis einer Gruppe durch individuelle Erinnerungen konsolidiert. Der homodiegetische Erzähler wird sonach zu einem „Sprachrohr gruppenspezifischer Erfahrungen und Wertvorstellungen.“83 Seine Erfahrungen werden als repräsentativ für die Erinnerungsgemeinschaft dargestellt. Diesbezüglich erscheinen Erinnerungen eines Individuums als modellhaft für das Kollektivgedächtnis. „Die heterodiegetische Erzählinstanz hingegen [ die in diesem Fall ebenfalls als communal voice erscheint – D.K.S] entwirft qua Innenweltdarstellung eine Matrix kollektiver Erinnerungen.“84 Laut Neumann werden geteilte Erfahrungen einzelner Mitglieder einer Erinnerungsgemeinschaft durch interne Fokalisierung vermittelt. Die vollständige Vorstellung von der gruppenkonstitutiven Vergangenheit tritt jedoch erst durch die 82 Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration S. 167. Ebd. S. 167f. 84 Ebd. S. 209. 83 26 sich gegenseitig stützenden und ergänzenden Elemente der Einzelerinnerungen und ihre Korrelation in Erscheinung. Die Akt des Erinnerns, die mit der communal voice vorwiegend auf der diegetischen Ebene vermittelt wird, hat nicht nur die Aktualisierungs- und Vergegenwärtigungsfunktion, sondern sie bestätigt die Gruppenzugehörigkeit und den Zusammenhalt der Gruppe, sowie den Fortbestand des Kollektivgedächtnisses und die damit verbundene fortwirkende Vergangenheit.85 Darüber hinaus werden insbesondere die früher als nebensächlich behandelten Erfahrungen ans Licht gezogen und das gesellschaftliche Vergessen folglich verhindert. Im kommunalen Gedächtnisroman gewinnen außerdem an Bedeutung intermediale Bezüge, fremdsprachliche Begriffe und semantisierte Räume und Objekte, in denen sich das Gedächtnis der Gemeinschaft veranschaulichen lässt. In dem autobiographischen Erinnerungsroman dominiert die Gegenwartsebene, auf der die personal voice erzählt. Im Mittelpunkt steht der Akt des Erinnerns und die mit ihm verbundene Probleme mit der Rekonstruktion der Vergangenheit, wie Verdrängen oder Gedächtnislücken. Die Pluralität und Zwiespältigkeit der Vergangenheitsdeutung verursacht, dass der homodiegetische Erzähler der eigenen Vergangenheit keine unmissverständliche Bedeutung verleihen kann. Jede mögliche Version der Vergangenheit erzeugt eine neue Identität. Daher sind das erinnernde Ich und das erinnerte Ich heterogen. Birgit Neumann bringt die Problematik der Identitätsstiftung im autobiografischen Erinnerungsroman folgendermaßen zum Ausdruck: „Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führt nicht zu dem erhofften Verständnis für das Gewordensein der individuellen Identität. Vielmehr bleibt die Identität instabil und bis zu einem gewissen Grad unerschließbar.“86 Die individuelle Identität erweist sich sonach nicht als Summe der vergangenen Erfahrungen, wie es in dem autobiografischen Gedächtnisroman der Fall ist, sondern sie bildet sich erst im Prozess des Erzählens heraus. Der autobiografische Erinnerungsroman zeichnet sich darüber hinaus durch die Multiperspektivität. Diese lässt dem homodiegetischen Erzähler einerseits die Erinnerungen intermedial oder intertextuell präsentieren, andererseits kann sie seine Vergangenheitsversion durch extraliterarische Referenzen in Frage stellen. Ein weiteres Merkmal ist die anachronische Zeitstruktur, die durch ständige Durchbrechung der erinnerten 85 86 Vgl., ebd. S. 227. Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität – Narration. S. 220. 27 Fragmente von Situationen des Erinnerungsabrufs und Reflexionen des Erzählers entsteht. Der soziobiografische Erinnerungsroman thematisiert die Pluralisierung der Vergangenheitsauslegungen, die oft in Widerspruch zueinander stehen und miteinander konkurrieren. In den Vordergrund werden daher nicht die geteilte Vergangenheit, sondern die voneinander abweichenden Erinnerungsversionen geschoben. Da die Handlung zum größten Teil auf der extradiegetischen Ebene abläuft, werden da die aus der Unstimmigkeiten Identitätsinterpretationen resultierenden präsentiert. Verwerfungen In diesem der Gegenwarts- Zusammenhang können und sich Erinnerungen mit ihrer sozialen Funktion für eine Gemeinschaft entweder als konstitutiv oder als destruktiv erzeigen. Die im Endeffekt erzeugte Modelle der Vergangenheit und sich daraus ergebene Identität sind als präsentische Konstrukte zu verstehen, die gegenwartsbezogen und durch Kontexte ihrer Rekonstruktion bestimmt sind. Die Vergangenheit in dem soziobiografischen Erinnerungsroman lässt sich von zweierlei Erzählinstanzen schildern. Einerseits kann der heterodiegetische Erzähler multiperspektivisch eine Einsicht in den Bewusstseinstrom und zugleich in die persönliche Vergangenheitsdeutungen unterschiedlicher Figuren gewähren. Andererseits können zwei oder mehrere homodiegetische Erzähler die zurückliegenden Geschehnisse mit unterschiedlichen Resultaten in Erinnerung bringen. In beiden Fällen lässt sich kein übergeordnetes Bild der Vergangenheit darstellen, weil die inszenierten Vergangenheitsversionen differieren oder sich relativieren. Der gruppenspezifische Plot, der den soziobiografischen Erinnerungsroman kennzeichnet, ist deswegen nicht konsensorientiert, sondern konfliktorientiert. Aus diesem Grund ist die Identitätsbildung sowohl des Individuums als auch des Kollektivs erschwert. Darüber hinaus ist auch die Perspektivenstruktur zu erwähnen, die entweder heterogen oder offen sein kann. Bei der heterogenen Struktur wird auf gewisse Interrelationen zwischen Erinnerungen der Figuren gewiesen. Diese streben danach, wegen ihrer unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Zugehörigkeit, eben ihre Vorstellung von der kollektiven Vergangenheit und Identität als entscheidend anzuerkennen. Bei der offenen Perspektivenstruktur dagegen herrscht eine Polyphonie der Erinnerungen, die voneinander unabhängig bleiben. Die Wirkungsbereich der Erinnerungsversionen ist 28 durch den Typ des Plotmusters bedingt. Im Fall des intragruppalen Plotmusters tritt der private Erinnerungsraum hervor. Hier wird die individuelle Interpretation von der mit Familie oder Freunden geteilten Vergangenheit und ihre Bedeutung für die Vorstellung von sich selbst als Teil einer Gruppe inszeniert. Bei dem intergruppalen Plotmuster handelt es sich um einen öffentlichen Erinnerungsraum in dem unterschiedliche Erinnerungsversionen von Vertretern unterschiedlicher sozialer Gruppen um Deutungsanspruch innerhalb einer Kultur ringen.87 Die von Neumann vorgeschlagenen Gattungsausprägungen von fictions of memory bieten vier verschiedene Zugangsarten zu Erinnerungen in literarischen Texten dar. Anzumerken ist, dass zwischen einzelnen Typen keine klare Demarkationslinien bestehen. Daher lassen sich nicht nur ihre Unterschiede sondern auch Gemeinsamkeiten erkennen. Durch den Zusammenhang zwischen narrativen Verfahren, Identität und Erinnerung wird veranschaulicht, wie man Erinnerungen literarisch präsentieren kann und welche Funktionen sie im Bezug auf Identität und Gemeinschaft erfüllen. 3.3 Fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses Fictions of memory als Gedächtnisgattung erfordert eine spezifische Vorgehensweise, die der Inszenierung von Erinnerungen und Identität vorausgesetzt wird. Diese repräsentiert Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses bzw. Rhetorik der Erinnerung, die literarische Formen mit erinnerungskulturellen Kontexten in Einklang bringt. Sie lässt sich als eine erzähltheoretische Strategie bezeichnen, die einen literarischen Text als Gedächtnismedium funktionalisiert.88 Im Nachstehenden werden fünf Modi der Rhetorik der Erinnerung präsentiert, die „sich als Ensemble textueller Darstellungsverfahren (konstituieren)“89 Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus: 87 Vgl. ebd., S. 232. Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005. S. 168. 89 Ebd. 88 29 „Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus sind als zwei sich nicht ausschließende, sondern vielmehr stets ineinander greifende Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs zu verstehen.“90 Da in literarischen Texten zwischen beiden Modi ein Zusammenhang besteht, werden sie gemeinsam expliziert. Mit dem erfahrungshaftigen Modus wird das in Literatur angewandte Verfahren definiert, dadurch die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses inszeniert werden. In dieser Hinsicht handelt es sich um Erfahrungen und alltägliche Situationen mit allen Einzelheiten. Dazu gehören u. a. Verhaltensweisen, Denken und Fühlen der Individuen, die in bestimmten Orten und Zeitpunkten platziert sind. Der monumentale Modus dagegen lässt sich auf den Begriff Monument zurückführen, den Aleida Assmann folgendermaßen definiert: „Statuen und Bauwerke, Texte und andere kulturelle Artefakte dürfen als Monumente verstanden werden, wenn sie über die Eigenschaft der Stilisierung hinaus eine an die Mit- und Nachwelt gerichtete Botschaft kodieren. Monument ist, was dazu bestimmt ist, die Gegenwart zu überdauern und in (dem) Fernhorizont kultureller Kommunikation zu sprechen.“91 Assmann drückt dadurch aus, dass Monumente spezielle Zeichen sind, die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses symbolisch darstellen. Sie repräsentieren diese Seite der Kultur, „die gesehen, bewahrt (und) erinnert sein will.“92 Der monumentale Modus stellt somit eine fundierte Geschichte dar, in der das verbindliche kulturelle Gedächtnis im Vordergrund steht. Im Weiteren werden die von Astrid Erll dargelegten literarischen Ausdrucksformen charakterisiert, die sowohl den erfahrungshaftigen als auch den monumentalen Modus erzeugen lassen.93 Als Erstes ist die Selektionsstruktur zu erwähnen, die einzuschätzen erlaubt, in welchem außertextuellen Gedächtnisrahmen, kommunikativen oder kulturellen, die dargestellte Handlung erinnert wird. Die paratextuelle Gestaltung deutet darauf hin, welcher Modus im Vordergrund steht. Durch Mottos oder Zitate aus anerkannten Werken wird die Monumentalität eines Textes unterstrichen. Widmungen an Personen, 90 Ebd. S. 175. Assmann, Aleida: Kultur als Lebenswelt und Monumente. In: Alida Assmann & Dietrich Harth (Hrsg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 14. Zitiert nach Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 170. 92 Ebd. S.13. 93 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 170ff. 91 30 aus dem Alltag weisen dagegen auf seine Erfahrungshaftigkeit hin. Die Intertextualität, die dem kulturellen Gedächtnis näher steht, bezeichnet eine Bezugnahme auf kanonische oder klassische Texte, indem ein Werk beispielsweise „Zitate, Symbolik, sprachliche Besonderheiten (übernimmt) […] und sich damit auch einen Teil der Autorität des Prätextes zu Eigen (macht).“94 Eine weitere Darstellungsform bildet die Intermedialität, die der Etablierung beider Modi dienen kann. Rekurriert man im Text auf Medien des kulturellen Gedächtnisses wie Denkmäler oder heilige Schriften wird der monumentaler Modus konstituiert. Medien wie Fotos oder Tonbandaufnahmen, die im kommunikativen Gedächtnis von Belang sind, verweisen auf den erfahrungshaftigen Modus. Auch die Interdiskursivität, die auf sprachliche Besonderheiten verweist, ist eine literarische Ausdrucksform, die beide Modi erzeugen kann. Verwendet man im Text eine gruppenspezifische oder Alltagssprache, so ist da das kommunikative Gedächtnis relevant. Wenn die Ausdrücke formelhaft oder archaisch sind, wird das Dargestellte zum Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses. Bestimmte Plotstrukturen oder Gattungsmuster können nur einem von Modi zugerechnet werden. Dem monumentalen Modus wird unter anderen Tragödie und Epos zugeordnet, Romanze oder Bildungsroman hingegen dem erfahrungshaftigen.95 Eine wesentliche Rolle in der Rhetorik der Erinnerung spielt ebenfalls der Erzähler. Während der heterodiegetische Erzähler (Gerard Genette), der einen olympischen Überblick über Zeit, Raum und Figuren hat, das kulturelle Gedächtnis vermittelt, können der homodiegetische und der autodiegetische Erzähler zum erfahrungshaftigen Modus beitragen.96 Bei der Konstituierung der Modi kommt auch die Innenweltdarstellung zum Ausdruck. Hier ist die interne Fokalisierung relevant, in der die Ereignisse aus der Perspektive der erzählten Figur geschildert werden. Dadurch werden Fragen aus dem Gebiet des kommunikativen Gedächtnisses präsentiert wie Lebenserfahrung, Emotionen oder sinnliche Eindrücke von Wahrgenommenen. Durch die Innenweltdarstellung wird auch der monumentale Modus gebildet, indem man Aspekte des kulturellen Gedächtnisses betont, die im Allgemeinen problematisch und daher nicht einfach zu vermitteln sind.97 Beide Modi gewinnen als Darstellungsverfahren besondern in denjenigen Texten an Relevanz, die sowohl 94 Ebd. S. 171. Vgl., ebd. S 171f. 96 Vgl., ebd. S. 172. 97 Vgl., ebd. S 173. 95 31 Gegenstände des kulturellen als auch des kommunikativen Gedächtnisses widerspiegeln. Historisierender Modus: Der historisierende Modus wird durch Darstellung der wissenschaftlichen Geschichte in der Literatur konstituiert. Daher wird mit ihm der historischer Roman als zusammengehörig angesehen. Historisierende Schilderungen zeichnen sich durch Zeitbewusstsein und historische Details aus, die „als Gegenstände einer vergangenen Epoche zu bewahren“ sind.98 Zu literarischen Ausdrucksformen, die diesen Modus hervorbringen gehört die Zeitdarstellung sowie Verweise auf Quellen, und Paratexten mit geschichtswissenschaftlichen Beiträgen.99 Antagonistischer Modus: Nicht alle literarischen Texte thematisieren das Gedächtnis der dominierenden Erinnerungskultur. Da wo eine Gegen-Erinnerung erzeugt wird, kommt der antagonistischer Modus zum Einsatz: „Im literarischen Texten werden nicht nur Erinnerungskonkurrenzen auf nationaler Ebene antagonistisch verhandelt, sondern es werden auch die Vergangenheitsversionen verschiedener innergesellschaftlicher Gruppen einander gegenübergestellt: Aus der Vielfalt der Gedächtnisse von sozialen Klassen, Geschlechtern, Generationen oder religiösen Gemeinschaften ergeben sich »Fronten« antagonistischer Texte.“100 Der antagonistische Modus wird durch Schilderung des Gedächtnisses verschiedener Gemeinschaften konstituiert, deren Vergangenheitsdarstellungen sich aus unterschiedlichen Gründen gegenüberstehen. Darüber hinaus ist bei diesem Modus das Gedächtnis derjenigen Gruppen zu erkennen, die wegen anderer, im Unterschied zur Mehrheit, Welthierarchien oder Geschichtsbilder unterrepräsentiert werden. 101 Die konkurrierenden Gedächtnisse werden mithilfe von folgenden narrativen Verfahren dargestellt: 98 Ebd. S. 177. Vgl., ebd. 100 Vgl., ebd. S. 179 101 Vgl., ebd. S. 178. 99 32 Durch Selektionsstruktur ist genau erkennbar welche Erinnerungskonkurrenzen ans Licht treten. Es wird markant, welche Gruppen mit ihren Erinnerungen, Identitätskonzepten und Weltanschauungen gezielt veredelt und welche absichtlich außer Acht gelassen und vergessen werden. Die Figurenkonstellation veranschaulicht welche Figuren die ‚richtigen’ Erinnerungen repräsentieren. Durch die Raumdarstellung werden soziale Gruppen mit ihrer Umgebung in Opposition gestellt. Die Darstellung der antagonistischen Gedächtnisversionen ermöglicht auch die Perspektivenstruktur. Mit dem Erzählerwechsel, ändert sich auch die Perspektive, aus der die Vergangenheit rekonstruiert wird. Die Perspektivenstruktur bleibt jedoch geschlossen, denn: „Als Medium des gesellschaftlichen Ringens um Erinnerungshoheit kann Literatur Elemente anderer Gedächtnisse zwar zulassen, wird sie aber entweder dekonstruieren oder mit der im Text privilegierten Perspektive in einem Fluchtpunkt zusammenführen.“102 Zur Bildung des antagonistischen Modus trägt außerdem communal voice ( Lanser) bei, die entweder als Wir-Erzählung oder als mehrere Ich-Erzähler die Gegen-Erinnerung einer Erinnerungsgemeinschaft artikuliert. Der antagonistische Modus kann in Verbindung mit anderen Modi in Erscheinung treten. Ist er in einem Text vorherrschend, wir das „Eingreifen in das gesellschaftliche Ringen um Erinnerungshoheit“103 zur Darstellung gebracht. Reflexiver Modus: „Im reflexiven Modus werden Funktionsweisen und Probleme des kollektiven Gedächtnisses inszeniert“.104 Während jedoch die vier Modi der Gedächtnisbildung dienen, ist der reflexiver Modus für die Gedächtnisreflexion gedacht.105 Als Anteil bei der Realisation von diesem Modus steuern zwei Darstellungsverfahren bei: Die implizite Inszenierung der Beobachtung von Erinnerungskultur wird durch Dialoge der Figuren, die sich über die Vergangenheit unterhalten oder durch Schilderung der Denkmäler und Rituale präsentiert. Der explizite Thematisierung von Gedächtnis – Kultur – Relationen wird dagegen anhand von erzählerischer Vermittlung vorgeführt.106 Für die Reflexion über 102 Ebd. S. 180. Ebd. S. 182. 104 Ebd. S. 189. 105 Vgl., ebd. S. 184. 106 Vgl., ebd. 103 33 das kollektive Gedächtnis ist die Perspektivenwechsel erforderlich, der durch den Erzählerwechsel in Erscheinung tritt, indem ein Geschehen von verschiedenen Figuren auf abweichende Art und Weise vermittelt wird. Bei dem homodiegetischen oder dem autodiegetischen Erzähler (Gerard Genette) ist der Perspektivenwechsel in gleichem Maße sichtbar. Da der Erzähler in einem Text einmal als das erzählende Ich [das die vergangenen Ereignisse rekonstruiert – D.K.S.], und ein andermal als das erlebende Ich erscheint, ermöglicht er dem Leser die Erinnerungsfrage aus zwei Blickwinkeln zu betrachten. Dies veranlasst zum Nachdenken über die möglicherweise eintretenden Unstimmigkeiten zwischen dem Erfahrenen und dem Erinnerten. Der reflexive Modus ermöglicht der Leserschaft, an einer distanzierten Betrachtung von Erinnerungskulturen teilzuhaben“ und das kollektive Gedächtnis unter verschiedenen Aspekten zu untersuchen und zu ergründen. 107 Alle von Erll vorgeschlagenen Modi können einem literarischen Text innewohnen. Sie schließen sich demzufolge nicht aus, sondern bauen aufeinander. Die Verbindung verschiedener Modi in flexiblen Kombinationen ist für die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses konstitutiv. 107 Ebd. S. 189. 34 4 Zur Analyse von Eleonora Hummels Roman „Die Fische von Berlin“ 4.1 Zum Inhalt und zum Titel des Romans „Die Fische von Berlin“ ist die Geschichte der Familie Schmidt, die im „Weißen Grab“108 in Kasachstan lebt. Die deutschen Wurzeln und vor allem der deutsche Name der Familie sind Auslöser zahlreicher unangenehmer Situationen, mit denen sie seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ringen muss. Während Alina, die Hauptfigur, bereits als elfjähriges Kind den Vorurteilen der Altersgenossen entgegentritt, rennt der Vater der Familie hartnäckig gegen die Schikanen der Behörde an. Um jeden Preis versucht er die ersehnte Genehmigung zur Ausreise in die Heimat der Vorfahren, „Deitschland“109, zu erhalten. Inzwischen sucht die Familie den Zwischenaufenthalt - „einen besseren Platz zum Gehen“, in ständiger Bereitschaft jederzeit die Koffer packen zu müssen.110 Zwischendurch genießt Alina unbekümmert die sonntäglichen Besuche bei den Großeltern und entdeckt zufällig, dass die Erwachsenen etwas ihr verschweigen. Das unter dem Kopfkissen des Großvaters gefundene Taschenmesser mit Anfangsbuchstaben K und B und das Foto mit dem Inschrift „Igarka, 1956“ sind der rote Faden zu den Familiengeheimnissen. Sie lösen die kindliche Neugier bei Alina aus, die behutsam versucht, das Geheimnis ihrer Familie aufzudecken. Sie beginnt zu fragen, und allmählich erhält sie von ihrem Großvater Antworten. Die oft unterbrochenen und im Geheimen vor anderen Familienmitgliedern geführten Gespräche führen zur Annäherung von Enkelin und Großvater. Dieser öffnet sich und zieht sie ins Vertrauen. 108 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005, 2006. S. 8. (Bei Zitaten werden in Klammern die Seitenangaben gegeben) 109 Ebd. S. 30. 110 Ebd. S. 30. 35 Er erzählt seine Lebensgeschichte ohne ihr die schreckenerregenden Einzelheiten zu sparen. Alina hört von den Großen Säuberungen, Lagergeschichten und Volksfeinden. Sie erfährt, warum ihr Großvater hinkt und woraus seine besondere Vorliebe für Ofenwärme resultiert. Zum ersten Mal vernimmt sie die Familiengeschichte, die auch das Leben der Großeltern enthält. Der Großvater vertraut seiner Enkelin seine Liebesgeschichte an, die jedoch nichts mit ihrer Großmutter zu tun hat. Sie erfährt, dass er seine glücklichsten Momente in Berlin mit seiner Verlobten Thea verbrachte, wo er „Fische für sie im See (fing), an dessen Rand Kastanienbäume wuchsen“111. Alina und ihrer Eltern gelingt es schließlich, über den Umweg Kaukasus, die Genehmigung zur Ausreise zu bekommen. Bevor sie aufbrechen, ist Alina die ganze Familiengeschichte bekannt. Sie erfährt auch von ihrem dritten Großvater, den sie nie kennen lernen konnte. Danach fährt sie nach Berlin und verlässt die Großeltern, die immer noch auf die Genehmigung warten. Kurz danach stirbt der Großvater. Der Roman endet mit einem Epilog, in dem Alina bereits als erwachsene Frau den See in Berlin sucht, von dem ihr der Großvater erzählt hat. Sie steht an einem See und beobachtet einen Angler, der einen Fisch zurück ins Wasser gleiten lässt. Eine unerklärliche Kraft hält sie an diesem Ort fest. Trotz der Unsicherheit, ob es der richtige See ist, ist sie überzeugt, dass es mindestens die Fische sein müssen. Die Fische von Berlin, die der Großvater für seine große Liebe Thea angelte. Der Titel des Romans „Die Fische von Berlin“ lässt sich auf die teuersten Erinnerungen des Großvaters zurückführen, auf den Ort, wo er als jünger Mann seine erste unvergessliche Liebe erlebte, auf Paradies, aus dem er mit Gewalt ausgerissen wurde und in das er nie zurückkommen durfte. Der Roman stellt jedoch nicht nur das Leben der Familie Schmidt dar, die einerseits von kleiner Alina und andererseits von dem Großvater erzählt wird. Der Roman ist auch ein Panoramabild der Geschichte, die sich zwischen den 30er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der ehemaligen Sowjetunion und im Deutschen Reich abspielte. 111 Ebd. S. 173. 36 4.2 „Die Fische von Berlin“ - Ein autobiografischer Roman Ein autobiografischer Roman im Gegensatz zur Autobiografie beruht nicht allein auf der Mischung von Fakt und Fiktion. Während eine Autobiografie eine literarische Darstellung der eigenen und wirklichen Lebensgeschichte ist, lässt ein autobiografischer Roman die Vermischung von wahren und erfundenen Ereignissen und Personen zu. Die Mischung von Tatsachen und Fiktion lässt sich im Roman „Die Fische von Berlin“ bemerken. Nachdem man den Lebenslauf von Eleonora Hummel genauer betrachtet, kann man die Feststellung wagen, dass Manches von der Biographie der Autorin mit dem im Roman Dargestellten übereinstimmt. Der deutsche Nachname der Hauptfigur und die deutsche Abstammung ihrer Familie, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lebt und schließlich nach Deutschland ausreist, entsprechen im großen Maße der Biografie der Autorin: „Eleonora Hummel, geboren 1970 in Zelinograd (damals eine mittelgroße Stadt in der kasachischen Steppe[…] ), entdeckte früh die Liebe zur Literatur. […] 1980 zog Eleonora Hummel mit ihrer Familie in den Nordkaukasus, 1982 folgte die Übersiedlung in die damalige DDR, ein Schritt, den zu jener Zeit nur wenige deutschstämmige Aussiedler gegangen sind, was einen gewissen Exotenstatus mit sich brachte.“ 112 Da die Autorin die Geschichte aus der Kinderperspektive erzählen lässt, gewinnt in diesem Fall auch das Alter von Hauptfigur an Bedeutung. Die ungefähr elfjährige Alina, mit deren Augen der Leser die dargestellte Welt betrachtet, ist in demselben Alter, in dem die Autorin zur Zeitpunkt der Handlung, die sich an der Wende der 70er und 80er Jahre abspielt, hätte sein können. 112 Siehe dazu: www.eleonora-hummel.de. Letzter Zugriff am 25.05.2009. 37 Der in Ich-Form geschriebene Roman verleiht den Eindruck, dass die Hauptfigur, die zugleich Erzähler ist, auch mit der Autorin des Romans konform geht. Dies ist am folgender Textpassage sichtbar:„Selbst heute verlässt mich nicht das Gefühl, daß zwischen dem was mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochenen geblieben ist. […] Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus.“113 In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Authentizität der erzählten Geschehnisse und der handelnden Figuren zu stellen. Dem von Carsten Gansel geführten Gespräch mit Eleonora Hummel lässt sich entnehmen, dass der Roman „Die Fische von Berlin“ keine idealtypische Autobiographie ist. Die Autorin Eleonora Hummel unterstreicht, dass der Leser nicht mit authentischen Lebenserinnerungen zu tun hat. Dies ist an den Aussagen der Autorin über die geschriebene Geschichte sichtbar: „Persönliche Berührungspunkte waren [...] eine zusätzliche Motivation, wobei ich die Betonung auf berührt legen möchte. Eine Geschichte, die berührt, bleibt länger im Gedächtnis, und so ging es mir auch.“114 „Zwingend war für mich, die Figur des Großvaters darzustellen, dass sie glaubwürdig ist. Da ich alles Wissen über meine drei Großväter nur vom Hörensagen habe, konnte ich auf keine reale Person zurückgreifen.[...] Ich habe mir im Roman einen Großvater erschaffen, den ich nie hatte, aber wahrscheinlich gerne gehabt hätte.“115 Daher sind die Erzähler im Roman nicht mit den realen Personen gleichzustellen. In diesem Fall liegt eine Nichtidentität von Autor und Erzähler vor, besonders im Fall des Großvaters, der von Hummel ausgedacht wurde. Hummel gesteht jedoch selbst, dass es die Gegenstände, die Alina auf die Entdeckungsreise der Familiengeheimnissen führen, das alte Messer und das Foto, in Wirklichkeit gab: „Das Messer mit dem mein Großvater unter dem Kopfkissen schlief, ging mir jahrelang nicht aus dem Kopf. Das war mein Faden, an dem ich die Geschichte zu entrollen begann.“116 113 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005,2006. S. 7. Gansel, Carsten , Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren - ein Gespräch. In: Carsten Gansel (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007 S .297. 115 Ebd. 116 Ebd. S .297. 114 38 Hier aus wird ersichtlich, dass „Die Fische von Berlin“ keine Autobiografie, sondern ein Roman ist, der autobiografische Züge trägt, die Hummel selbst als Berührungspunkte bezeichnet. 4.3 Zur Rhetorik der Erinnerung 4.3.1 Zur außerliterarischen Welt – Mimesis I Die Vielzahl der literaturtheoretischer Ansätze ermöglicht ein literarisches Werk aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Bei der Analyse des Romans von Hummel erscheint ein kontextorientierter Ansatz angebracht, der die historische Wirklichkeit als Bezugsfeld zum Text in Betracht zieht.117 In diesem Punkt wird vorgeführt, wie sich die fiktive Welt gegenüber der außerliterarischen Realität verhält, indem man den historischen und politischen Hintergrund des Romans berücksichtigt. Der Roman ist deutlich auf die außerliterarische Welt referiert und durch die Erinnerung an die Sowjetunion präformiert. Die historischen Ereignisse stehen jedoch nicht im Fokus, sondern sie werden durch Darstellungen des Alltagslebens und Formen der Erinnerung, sowie durch den Umgang der Figuren mit der Vergangenheit wiedergegeben. Das bereits im Punkt 4.3.3 präsentierte Verhältnis der Erzählebenen indiziert, dass im Roman drei Ebenen vorhanden sind, wobei in diesem Zusammenhang lediglich die intradiegetische und die metadiegetische Erzählung relevant ist. Diese stellen eine allgemeine politische und historische Situation der Russlanddeutschen in der Sowjetunion dar. Dabei soll hervorgehoben werden, dass sie keine Abbildung der realen historischen Ereignisse enthalten, sondern eine Konstruktion möglicher geschichtlichen Ereignisse, eine Mimesis der Geschichte zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.118 117 Vgl. Nünning, Ansgar. Nünning, Vera: Grundkurs anglistisch-amerikanische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Klett 2007. S.38ff. 118 Vgl. Schmid, Wolf : Elemente der Narratologie. Edition: 2. Walter de Gruyter 2008. S. 39. 39 Die intradiegetische Ebene, auf der die Hauptfigur [Alina – D.K.S] erzählt, weist auf die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hin: „Natascha aus der Damenoberkleidung ist letzte Woche am Bügeltisch zusammengebrochen. Bis der Notarzt kam, hat sie geschrien, daß ihr Bruder gleich in den ersten Kriegstagen in Afghanistan gefallen ist.“ ( Hummel S. 28) Der von Alinas Eltern geführte Dialog über die letzten Geschehnisse in der Arbeit, macht den Leser auf ein, als erstes im Roman genanntes, historisches Ereignis aufmerksam, nämlich auf den Afghanistankonflikt, der tatsächlich in die Weltgeschichte einging. Obwohl die Anhänger des Islamismus seinen Anfang auf die Machtergreifung Dauds [afghanischer Staatsmann von 1973-1978 – D.K.S] 1973 datierten, wurde offiziell anerkannt, dass ihn die sowjetische Invasion 1979 zeitigte.119 Diese wurde zum weltpolitischen Ereignis, das international missbilligt wurde. Der von der Mehrheit der UN-Mitglieder geforderte sofortige Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan kam jedoch nicht zustande. Damit wurde auch die bisherige Entspannungspolitik der Großmächte zerstört. Ende 1980 wandelte sich der Krieg mit der afghanischen Bevölkerung, zu einem Krieg der Supermächte.120 Die USA, ohne sich direkt an dem Krieg zu beteiligen, unterstützten finanziell den Aufbau und die Organisation des aktiven islamitischen Widerstands, den man als beste Reaktion auf die sowjetische Invasion einsah.121 Vor diesem Krieg wollte im Roman Alinas Vater seinen Sohn Willi bewahren, der in einem Jahr als volljähriger Mann in die Sowjetarmee einberufen werden könnte und höchstwahrscheinlich nach Afghanistan fahren müsste. „Wir müssen unsere Taktik ändern. Sie wollen, dass ich aufgebe! Aber da haben sie sich geschnitten. Hilde ich gebe unseren Sohn nicht als Kanonenfutter her. Wir haben noch ein Jahr, bis er einberufen wird. In einem Jahr müssen alle Zelte abgebrochen sein.[…]“ (Hummel S. 30) Der weitere geschichtliche Kontext bezieht sich auf Tod Stalins, den Alinas Vater erwähnt, indem er nach dem Jahr 1953 gefragt wird: „Hm, im Februar 1953 wurde ich achtzehn, hatte gerade meinen Berufsabschluß gemacht, als Schneider. Das weiß ich noch ganz genau, weil ein paar Wochen später, Anfang März, Stalin starb. […] Das ganze Volk hat getrauert. So ein Jahr vergisst man nicht.“ ( Hummel S. 47) 119 Vgl. Schetter, Conrad J.: Kleine Geschichte Afghanistans. 2.Auflage. C.H. Beck 2004. S. 101. Vgl., ebd. 121 Vgl., ebd. S.108. 120 40 Die Sowjetunion kam am 5. März 1953 zum Erliegen, als der Tod des sowjetischen Diktators offiziell angekündigt wurde. Die UdSSR fühlte sich nach dem Tod Stalins, „Vaters der Völker“, der in Folge eines Schlaganfalls starb, verlassen wie eine Weise.122 Dies widerspiegelt sich in der Erzählung des Großvaters:„Der Frühling 1953 kam. […] Aus den Lautsprechern drang eine tränenerstickte Stimme zu uns. Was sie sagte, war ungeheuerlich: De Vater aller Völker und Nationen, Genosse Stalin, war tot.“ (Hummel S. 210) Die Größe des empfundenen Verlust der Kommunisten in der Wirklichkeit, brachte die enorme und hysterische Trauerbezeugung zum Ausdruck. „Das betraf die Teilhaber der Macht ebenso wie alle Schichten der Bevölkerung bis hin zu den Dichtern (…)“.123 Mit Stalin, der eine totalitäre Diktatur in der UdSSR errichtete, verbindet man in der Geschichte ein weiterer Ereignis, von dem im Roman der Großvater erzählt:„Es begann nicht erst 1937, und es war danach nicht plötzlich zu Ende, das, was man die Großen Säuberungen nannte. Vielleicht wurde in diesem Jahr am gründlichsten gesäubert.“ (Hummel, S. 83) Die Großen Säuberungen, die im Rahmen Stalinscher Politik durchgeführt wurden, hatten zum Ziel nicht nur Ausgrenzung der parteilichen Opposition, sondern Verhaftungen aller gesellschaftlichen Schichten, Berufsgruppen und Volksgruppen, die die unter Kategorie „Feinde des Volkes“ fielen.124 Den Höhepunkt erreichten sie in den Jahren 1936 – 1938. Die sich in der gleichen Zeit verschlechternden deutschsowjetischen Verhältnisse verursachten, dass die deutsche Volksgruppe stärker als andere unter den Repressalien gelitten hat.125 In folgendem Textabschnitten, die zu der Erzählung des Großvaters gehören, lassen sich die Methoden der Geheimdienste und das Ziel der Säuberung erkennen: 122 Vgl. Bonwetsch, Bernd/ Roger Engelmann / Thomas Großbölting / Hermann Wentker (Hg.): Kommunismus in der Krise: Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen. Analysen und Dokumente der BStU. Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. S. 170 123 Ebd. 124 Kriese, Birgit: Zwei Generationen erzählen: Narrative Identität in autobiographischen Erzählungen russlanddeutscher. Campus Verlag, 2006. S. 121. 125 Vgl. Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung: die Geschicke einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses. Osteuropa–Studien Bd.3. LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 1999. S.119. 41 „Sie holten Leute von ihrem Arbeitsplatz ab, wenn sie sie zuvor nicht zu Hause angetroffen hatten. Sie befragten Eltern und Geschwister nach dem Aufenthalt der Gesuchten und gingen nie ohne Antwort. […] Sie durchsuchten Kommoden […] wühlten in Unterwäsche auf der Suche nach Dokumenten, die ein Verbrechen beweisen sollten, das nie stattgefunden hat.“ (Hummel S. 84f) „Es gab keine Regeln außer: es kann jeden treffen. Zu oft ahnte man bei der Verhaftung gar nicht von den Gründen. Man erfuhr sie erst später, beim Verhör, wenn sie sie einem vorlasen, und sie lauteten immer gleich: Feind des Volkes, Konterrevolutionär, Verräter. Jemand von dem, die Gesellschaft gesäubert werden mußte.“ (Hummel, S. 86) Angesichts des sich abzeichnenden Kriegs, hegte die Sowjetregierung gegen die deutsche Bevölkerung den gesteigerten Verdacht, sie könnten Spione und Verräter sein. Die Erfassung von Geheimlisten mit persönlichen Daten der Russlanddeutschen in der UdSSR, erleichterte den sowjetischen Geheimdiensten die Verhaftungen und darauffolgende Verhöre.126 Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Russlanddeutschen inhaftiert, verurteilt und auf Anordnung Stalins nach Sibirien und Zentralasien deportiert.127 Erst 1964 wurde das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets, die im Erlass von 1941 erhobene allgemeine Beschuldigung über Wolgadeutsche und Anschuldigung aufgehoben.128 Einen weiteren der Kollaboration mit den Faschisten historischen Hintergrund verbirgt die folgende Textstelle: „Das Katharinentor. Erbaut zu Ehren der Zarin. Vor zweihundert Jahren soll sie hier durchgefahren sein. […] Ist es nicht ein merkwürdiges Gefühl, demselben Boden zu betreten, den einst Katharinas Fuß berührt hat?“ (Hummel, S. 130) Der Triumphbogen von Katharina erscheint in der Analyse des Romans von Bedeutung, weil er auf die Geschichte der deutschen Vorfahren von Familie Schmidt weist. Die in der realen Welt bekannte Geschichte von Katharina II und Russlanddeutschen wird jedoch nicht erzählt, sondern durch eine Legende angedeutet. Die Überprüfung der Zusammenhänge zwischen den Deutschen in Russland und der Zarin wird den Lesern überlassen. Die Etablierung der Deutschen auf dem gegenwärtigen Gebiet Russlands lässt sich bereits auf 15. Jahrhundert zurückführen. In der Untersuchung erweist sich die Fortsetzung der zaristischen Ansiedlungspolitik von 126 Vgl. Armborst, Kerstin: Ablösung von der Sowjetunion: die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 2001. S.38. 127 Vgl. Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. S.333. 128 Vgl. Armborst, Kerstin: Ablösung von der Sowjetunion. S.38. 42 Katharina II als relevant, die in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts begann. Mit der Absicht das Reichtum des Staates zu vergrößern, ließ die Zarin die Bevölkerungszahl erhöhen. Vor allem sollte das menschenleere Land an der mittleren und unteren Wolga und in Sibirien von arbeitsamen Untertanen besiedelt werden.129 Der im Ausland veröffentlichte Manifest vom 22 Juli 1763, der zur Einreise nach Russland einlud, garantierte eine Anzahl von Sonderrechten, die effektiv neue Ansiedler anlockten.130 Die Russlanddeutschen, die geschlossen an der Wolga siedelten, erhielten die Möglichkeit, eine eigene nationale Staatlichkeit aufzubauen. So konnten sie ihre Religion, ihre Sprache und ihre Kultur bewahren. Weitere Privilegien, wie Minderung der Steuerlast, trugen dazu bei, dass die Russlanddeutschen erfolgreicher als die russischen Landwirte waren und bis in die 70-er Jahre des 19. Jahrhunderts mit ihrer Lage im Russischen Reich zufrieden sein konnten.131 Ihre Situation änderte sich wesentlich, nach der Einführung der Reformen von Alexander II, die alle Privilegien entzogen und Russlanddeutsche mit Russen rechtlich gleichsetzten. Damit verschlechterte sich ihr Status. Ihre nachhaltige Präsenz und Dominanz in staatlichen Institutionen löste allmählich Protestpotenzial gegen Fremden aus, das kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Zenit stand. 129 Vgl. Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. S. 28f. Vgl. ebd., S. 28. 131 Vgl. ebd, S. 43. 130 43 4.3.2 Zur Figurenanalyse Für das erzählte Geschehen in einem literarischen Text ist der Entwurf der Figuren konstitutiv. Da die Figuren als eins der wichtigsten Elemente im Roman erscheinen, weil sie Geschehenszusammenhang erschaffen, werden sie im Nachstehenden auf drei Ebenen untersucht: Figurenkonzeption, Figurencharakteristik und Figurenkonstellation. Bevor eine detaillierte Analyse präsentiert wird, sollen alle Figuren in ihrer Konfiguration dargestellt werden. Was damit gemeint ist, erläutert dieses Zitat: „Die Beziehung aller vorkommenden Figuren, die mit- oder gegeneinander handeln, wird durch den Begriff Konfiguration zusammengefasst.“132 Figurenkonfiguration: Aufgrund der Präsenz der Figuren im erzählten Geschehen wird zwischen Haupt- und Nebenfiguren unterschieden. Zu den Hauptfiguren im Roman „Die Fische von Berlin“ gehört Alina und ihr Großvater. Sie gehören Familie Schmidt an, deren Mitglieder: Alinas Vater, Mutter, Schwester Irma und Großmutter die Nebenfiguren darstellen. Sie beteiligen sich oft am Geschehen, man lernt ihre Lebensgeschichte kennen, und sie wirken im Leben der Hauptfiguren mit. Andere Figuren wie Bekannte, Klassenkameraden, Lehrer, Nachbarn sowie Alinas Bruder Willi und andere Verwandte treten in kleinen Episoden auf, oder werden nur kurz erwähnt. Figuren die im Vordergrund stehen, zeichnen sich durch die kulturelle Homogenität aus. Familie Schmidt gehört zur deutschen Minderheit, die seit einigen Generationen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lebt. Die Eltern, vor allem Alinas Vater, bemühen sich seit zwanzig Jahren nach Deutschland ausreisen zu dürfen. „Die Eltern [von Alina- D.K.S] wollten fort. Das einzige Thema, das sie vereinte. Es ging um ein fernes Land, von dem als Deitschland die Rede war.“ ( Hummel, S. 24) Figurencharakteristik und Figurenkonzeption: Figuren lassen sich aufgrund ihres Aufbaus und ihrer Beziehung zur Handlung analysieren. Im Nachstehenden werden die sogenannte oppositive Modelle verwendet, 132 Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft: Begriffe, Verfahren, Arbeitstechniken. Berlin: Walter de Gruyter: 2004 S. 112. 44 die Manfred Pfister bei der Figurenkonzeption vorschlägt.133 Figurencharakteristik und Figurenkonzeption werden gemeinsam behandelt, denn: „eine bestimmte Konzeption der Figur kann auch eine entsprechende Auswahl aus dem Arsenal der Charakterisierungstechniken nach sich ziehen“134 In diesem Abschnitt werden die Hauptfiguren vorgestellt, die eine ausgeprägte individuelle Eigenart repräsentieren. Zunächst wird Alina als bedeutendste Figur besprochen, die zugleich die Erzählerin ist. Man lernt sie als kleines Mädchen kennen, das über sich selbst und seine Umgebung bekannt gibt: „Ich war ein Nachzügler. Sieben und sechs Jahre trennten mich von Schwester und Bruder.“(Hummel, S. 13) Sie ist elf Jahre alt. Im Gegensatz zu allen Familienmitgliedern ist sie rothaarig und sommersprossig, was ihr in Verbindung mit dem deutschen Namen Schmidt Unannehmlichkeiten unter russischen Schulkameraden und Nachbarnkinder bereitet. Während sich die meisten Kinder in Grüppchen sammeln, steht sie immer abseits: „Die Mädchen drehten sich nach mir um, tuschelten, kicherten, flüsterten, fragten mich etwas. Ich wußte, sie hatten mir schon einen Stempel aufgedrückt, der nicht mehr abzuwaschen war.“ (Hummel, S. 113) Wegen der deutschen Abstammung hat sie auch festgelegte Rolle, die sie im Krieg-Spiel mit nichtdeutschen Kindern übernehmen muss: „Lena und ihr Bruder spielten gerne Krieg, und ich mußte die Rolle der Besiegten übernehmen. Ich wollte keinen Krieg spielen. Wenn ich mich weigerte, riefen sie »Faschistin, Faschistin!«“ (Hummel, S. 49) Alina als Figur ist mehrdimensional. Im Laufe des Geschehens erfährt man immer mehr von ihrer Person und Handlungen. Alinas kindliche Eigenschaften wie Neugier und Naivität oder Natürlichkeit sind im Roman durch ihre Denkart oder ihr Verhalten dargestellt. Die abendlichen, im Geheimen von ihren Eltern geführten, Gespräche und Pläne bezüglich der Ausreise betrachtet Alina als Spiel: „Was folgte kam mir wie ein Spiel vor. Abends beugten wir uns über eine Karte und lasen uns gegenseitig Städtenamen vor. Das Land war groß, unsere Auswahl nicht.“ (Hummel, S.30). Wenn man ihre Schwester als Mädchen aus Blut und Milch bezeichnet, will sie überprüfen, ob sie auch so eins ist: „Ich nahm ein Glas Milch, stach mir mit einer Nadel in den Finger und ließ zwei Tropfen Blut in das Glas fallen. Die Milch blieb weiß. Der Finger tropfte bis Mutter mir ein Pflaster gab und die Milch wegschüttete.“ (Hummel, S. 33) Wenn Irma mit den 133 Vgl. Gansel, Carsten: Kinder und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Scriptor 2002. S.38f. 134 Ebd. S. 38. 45 Eltern nicht wegfahren will und darüber bei ihrer kleinen Schwester weinend klagt, kann Alina nicht völlig begreifen, worum es ihrer Schwester geht: „Ich verstand nur halb was sie sagte. Ihre Augen waren so hell, wie ich sie noch nie bei jemandem gesehen hatte. Wie in fremder Mensch sah sie plötzlich aus, meine Schwester.“ (Hummel, S. 35) Alina ist eine offene Figur und lässt sich auf Anhieb nicht einstufen. Durch Beobachtungsgabe und Fragen findet sie Geschichte und Geheimnisse ihrer Familie heraus, die bisher gut behütet waren. Wenn sie erfährt, dass sie einen dritten Großvater hat, fühlt sie sich von ihrer Familie enttäuscht. Sie schaut sich das Familienleben zum ersten Mal aus einer anderen Perspektive an: „Ich ging nicht heim.[…] Ich wollte krank werden, tagelang im Bett liegen und keinen sehen müssen, am wenigstens Großvater.[…] Wie sollte ich denn nun den alten Mann anreden, der doch irgendwie zur Familie gehörte… Mit Großonkel vielleicht? […] ich hatte gar keinen Namen mehr für ihn. Ein Haus, erbaut auf Lügen, stürzt irgendwie ein.“ (Hummel, S. 150) Alina ist ein Individuum, das eine einmalige Geschichte erlebt. Trotz des Kindesalters kommt sie mit allem zurecht und dadurch wahrscheinlich reifer ist als andere Kinder in ihrem Alter. Sie trägt nicht nach. Die Bindung zu ihrem Großvater erscheint stärker zu sein. Sie geht wieder zu ihm und akzeptiert als Großvater: „Ich ging wieder zu ihm. Vielleicht war etwas dran an Mutters Vermutung, ich würde erwachsen werden. Ich hielt es nicht lange aus in der Schmollecke. Der Groll hatte sich verzogen, übriggeblieben war eine seltsame Leere.“(Hummel, S. 155) Am Ende der Handlung erscheint Alina plötzlich als erwachsene Frau, die bereits in Deutschland lebt und des verstorbenen Großvater gedenkt. Es gibt keine genaueren Angaben zu ihrem Leben oder Aussehen. Sie sucht nun den Großvaters beliebtesten See in Berlin. Die zweit relevanteste Figur ist der Großvater. Zur seinen äußeren Erscheinung sowie zu seinen Angewohnheiten führt eine direkte Charakterisierung durch die Erzählerin, Alina. Sie beschreibt ihren Großvater folgenderweise: „Mein Großvater war ein hochgewachsener, schweigsamer Mann mit Glatze, die wie poliert aussah.“ (Hummel, 46 S. 8) „Im Sommer arbeitete er ohne müde zu werden im Garten und wurde braun wie ein Seemann. Seine Schulter waren breiter als die meines Vaters.[…]Er machte keine Diät und hatte einen gesunden Appetit.“ (Hummel, S. 19) Er hinkte, mochte Wärme und rauchte Belomor – Zigaretten. Jeden Sonntag hörte er Radiosender: Stimme Amerikas. Er war „ein alter Mann mit kahler Stirn, faltiger Haut und sonderbaren Angewohnheiten.“ (Hummel, S. 53) Seine Vorlieben, deren Ursachen man aus seiner Erzählung kennen lernt, formuliert sie dagegen in einem Satz: „Großvater mit seiner seltsamen Leidenschaft fürs Heizen und Angeln, für Fische und Öfen.“ Der Großvater stellt eine offene und mehrdimensionale Figur dar. Obwohl er zunächst als älterer Mann mit seltsamen Gewohnheiten auftritt, erfährt man allmählich von seiner Jugend, erster Liebe und Strafe, die er in einem Arbeitslager in Sibirien absitzen musste. Als Junger Mann erlebt und überlebt er die stalinistischen Säuberungen. Er wird zwar als Feind des Volkes verhaftet, wird aber erstaunlicherweise als Einziger aus dem Gefängnis entlassenlassen. Während des Zweiten Weltkrieges wird er als arbeitsfähiger Mann vom Wehrkommando mobilisiert und ins Lager bei Stalino geliefert. Nachdem der Konflikt zwischen Deutschland und Sowjetunion ausgebrochen war, kehrte er nach Hause zurück, wo bereits Deutsche stationiert waren. Durch Evakuierung gelangt er schließlich nach Berlin, wo er für einen Bauer arbeitet und seine Tochter heiraten will. Kurz nach dem Kriegsende wird er jedoch vom sowjetischen Militärtribunal wegen des Vaterlandsverrats zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt. Nach elf Jahren kehrt er nach Hause zurück und lebt mit der Frau seines Bruders. Der Großvater ist ein Individuum mit schwerem Erinnerungsgepäck und reicher Vergangenheit. Trotz bewegter Zeiten, in denen er lebt und trotz der zahlreichen Situationen, die bei ihm Angst, Freunde oder andere Gefühle wecken sollten, werden kaum Emotionen in seiner Erzählung sichtbar: „In der Dunkelheit der Polarnacht achtete ich nicht darauf, daß meine Hände klamm und meine Füße gefühllos wurden. Die Tagesnorm mußte erfüllt werden.“(Hummel, S 188) „Eines Abends stellte ich fest, daß sich zwei Zehen an meinem rechten Fuß verfärbt hatten. Ein paar Tage später waren sie fast schwarz. Dann kam das Fieber. Dazwischen fehlt mir die Erinnerung. Schlief ich Stunden, Tage oder Wochen? Ich wachte auf der Krankenstation auf, ohne Zehen.[…] Sobald ich wieder zu mir gekommen war, wurde ich arbeitstauglich geschrieben.“ (Hummel, S. 189) 47 Er berichtet mehr von den Ereignissen, als von sich selbst. Nur an wenigen Stellen sind seine Gedanken oder sein Verhalten erkennbar. Diese werden nur kurz erwähnt und ohne Kommentar gelassen, was an folgendem Zitat sichtbar ist: „Im Krieg, fern der Heimat, war ich Mitte zwanzig und stellte plötzlich fest, dass ich gern an kommenden Tage dachte.“ (Hummel, S. 173) Die Art und Weise, wie der Großvater von seinem Leben erzählt, sagen mehr von seiner Figur, als der Inhalt seiner Erzählung. Die emotionsfreie Wiedergabe der spannenden Lebensgeschichte drückt in seinem Fall keine Gleichgültigkeit aus. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Vergangenheit aus der Perspektive eines erfahrenen Mannes erzählt wird, der sich längst mit seinem Schicksal abfand. Das anfängliche Zögern mit Antworten auf Fragen nach seinem vergangenen Leben zeigt, wie es schwierig ist, von traumatischen Erlebnissen zu sprechen, die man lieber verdrängen oder vergessen als wachrufen möchte. Die Großvaters Ausreden: „Mein Leben eignet sich nicht für einen Schulaufsatz.“(Hummel, S. 54) oder „»Das ist längst vergangen. Was vergangen ist, soll man nicht wieder aufrühren«“ (Hummel, S. 52) zeugen auch von der Unsicherheit des Großvaters, der sich nicht entscheiden kann, ob er seine Geschichte einem kleinen Mädchen erzählen soll, oder nicht. Während er seine Geschichte offenbart, riskiert er mit vollem Bewusstsein, dass sich seine Enkelin von ihm abwenden kann. Trotzdem bleibt er gegenüber ihr ehrlich und gesteht, dass er nicht ihr wahrer Großvater ist. Figurenkonstellation: Figurenanalyse wäre nicht komplett, wenn man die Figurenkonstellation auslassen würde. Diese thematisiert die Interaktion und die Rolle der Figuren als Teile eines größeren Systems. Zu den Typen der Konstellationen gehören Paare, die man in Korrespondenz- und Kontrastpaare unterscheiden kann.135 Ein Korrespondenzpaar bilden Alina mit ihrem Großvater. Aufgrund der Unterschiede im Alter, in Lebenserfahrung und Zeiten, in denen sie ihre Kindheit verbrachten, lässt sich kaum von ähnlichen Charakterzügen sprechen. Zwischen beiden Figuren lässt sich jedoch eine Geistesverwandtschaft bemerken. Es ist eine innere Verbundenheit, die zwischen beiden Figuren von Anfang an besteht. Bereits die Anrede Wnutschka gegenüber Alina weist auf eine besondere Beziehung zwischen ihr und dem Großvater: „Großvater sprach 135 Vgl. Bachorz, Stephenie: Zur Analyse der Figuren. In: Peter Wenzel (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. WTV – Wissenschaftlicher Verlag, Trier, 2004. Bd. 6. S. 56f. 48 mich selten beim Namen an. Er nannte mich Wnutschka, Enkelin, obwohl ich nicht die einzige war, nur seine jüngste.“ (Hummel, S. 10) Auf diese Art und Weise wird Alina durch den Großvater favorisiert. Es wird auch die stärkere familiäre Beziehung zu ihr als zu anderen Enkeln hervorgehoben. Dies lässt sich dadurch erklären, dass wahrscheinlich Alina als Einzige in der Familie nicht weiß, dass der Großvater tatsächlich der Bruder des richtigen Großvaters ist. Der Großvater ist nur in Begleitung von Alina offen und gesprächig. Gegenüber anderer Familienmitglieder bleibt er verschlossen und schweigsam. Davon zeugen Worte des Bruders Willi: „»[…]Mit Großvater kann man nicht reden. Der ist stumm wie ein Fisch, und Großmutter überwacht ihn wie ein Drache. […] Ich habe mich schon oft gefragt: Was machst du eigentlich, wenn du bei ihnen bist?« »Reden. Er redet mit mir schon.« Willi sah mich mit einem komischen Ausdruck von der Seite an. Viel später […] sagte er: »Dann ist ja gut«“ (Hummel, S. 152f.) Gespräche mit dem Großvater sind nicht nur deswegen bemerkenswert, weil er sie ausschließlich mit Alina führt. Sie sind außerordentlich, weil er ihr seine Ängste und Wünsche mitteilt. Um ihr zu erklären, warum er einen Taschenmesser unter dem Kopfkissen liegen ließ, gesteht er ihr, dass er Angst vor der Dunkelheit hat und finden bei ihr volles Verständnis: „Du lachst mich sicher aus, wenn ich sage, ein alter Mann wie ich hat Angst vor der Dunkelheit.« Ich fasste ihn am Ärmel und schnipste die Aschespur mit dem Finger weg. »Nein, ich lache dich nicht aus. Ich fürchte mich auch im Dunkeln.« »Du weißt gar nicht, was das für ein Trost für mich ist!«“ ( Hummel, S. 55) Alina ist auch die Einzige, die weiß, warum der Großvater nach Deutschland fahren will. Der Grund ist nicht nur das Vorväterland sondern vor allem Erinnerungen an seine Braut und einige der wenigen Glücksmomente in seinem Leben: „Großvater sagte oft, daß er noch einmal Berlin sehen wolle. Aber ganz sicher würde er es nach seinem Tod sehen. Denn wo sonst war der Ort zu vermuten, der ihm Paradies sein konnte.“ (Hummel, S. 58) Beide Figuren stellen eine Bindung her, die keinen der anderen Familienmitglieder gelingt. Im Geheimen von anderen geführte Gespräche vertiefen die Enkelin – Großvater – Beziehung: 49 „Großvater verstummte, als Großmutter Silhouette im Türrahmen auftauchte. »Was steckt ihr hier im Finstern die Köpfe zusammen wie zwei Verschwörer?« »Wir halte die Mücken davon ab, zu dir in die Küche zu kommen« […] »Ja, die Mücken, eine rechte Plage, ich bin schon ganz zerstochen«, sagte er mit einem Seitenblick auf mich. Aus irgendeinem Grund freute ich mich. Uns verband nun ein Geheimnis, von dem die anderen ausgeschlossen waren.“ (Hummel, S. 88) Die enge Bindung wird in dem Moment unterbrochen, wenn Alina erfährt, dass sie mit einem beinahe fremden Menschen zu tun hat. Dies dauert jedoch nicht lange, weil die innere Verbundenheit mit dem Großvater stärker als alle andere Gefühle ist. 4.3.3 Erzählerische Vermittlung von Erinnerungen anhand der Erzähltheorie von Gerard Genette. Im folgenden Abschnitt wird die Erinnerungsgestaltung im Roman „Die Fische von Berlin“ anhand des Verhältnisses der Erzählebenen und darauffolgend anhand der Erzählform (Gerard Genette) dargelegt. Das Verhältnis der Erzählebenen soll die Orte des Erzählens präsentieren. Im Roman lassen sich drei Ebenen der Erzählung unterscheiden, die Gerald Genette in extradiegetisch, intradiegetisch und metadiegetisch einteilt. Die erste genannte Ebene wird als Erzählakt des Erzählers erklärt, der eine Erzählung hervorbringt. Auf dieser Ebene wird eine Handlung platziert, die einen Rahmen für eine weitere Ebene bildet. In dem Roman hat Hummel die umschließende Rahmenerzählung integriert, die sowohl zu Beginn als auch zu Abschluss der Erzählung markant ist. Dies ist an den wenigen Textpassagen zu sehen: „Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, daβ zwischen dem, der mein Groβvater war, und mir etwas unausgesprochen geblieben ist. An manchen Tagen ist dieses Gefühl nur unterschwellig da, an anderen drängt es empor an die Oberfläche. Es scheint mir dann ganz nah, und doch weiβ ich nicht, wie es sich greifen lieβe. [...] in meiner Erinnerung gibt es keinen Sonntag an dem nicht Groβvater am Ende meines Weges die Tür geöffnet hätte [...].“ 136 136 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005,2006. S. 7. (Bei Zitaten werden in Klammern die Seitenangaben gegeben) 50 Diese zitierten Textstellen befinden sich am Anfang des Romans und leiten ihn ein. Die in der Präsensform konstruierten Sätze weisen darauf hin, dass sich der Erzähler in der Jetztzeit befindet. In derselben Weise wurde der Satz: „Ich weiβ nicht mehr, wie lange ich dort gestanden [...] habe.“ (Hummel S.222) im abschließenden Abschnitt gebildet, der samt den einleitenden Sätzen den Rahmen entstehen lässt, der die darauf folgende Geschichte umschließt. Die zweite und zugleich die dominante Erzählebene ist intradiegetisch und wird als Geschichte in der Geschichte bezeichnet. Sie ist in der Analyse des Romans besonders von Bedeutung, weil sie Erinnerungen in den Vordergrund stellt. Sie schließt in sich die chronologische Darstellung von Kindheit der Hauptfigur Alina, die innerhalb von ungefähr zwei Jahren ihren Verlauf nimmt. Das wird durch die folgenden Sätze deutlich: „Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus. [...] Im Winter trug ich dicke warme Kleidung, die meine Mutter viel zu groß kaufte. Pelz, Handschuhe, Filzstiefel – sie sollten mir in fünf Jahren noch passen.“ (Hummel S.7) Obwohl diese Erzählebene eine Binnenerzählung ist, spannt sie einen Bogen um eine weitere Geschichte, die von dem Großvater erzählt wird. Diese befindet sich auf der dritten, metadiegetischen Ebene und umfasst seine Erinnerungen an seine Jugend. Hierbei ist die zentrale Rolle der Dialoge zu unterstreichen, die sich zwischen der Hauptfigur und dem Großvater entspannen, der sich mithin seine Geschichte in die Erinnerung zurückrufen kann. Dies ist an dem Dialog sichtbar, der dem Leser den ersten Einblick in die Vergangenheit des Großvaters verschafft: „»Erinnerst du dich an das Foto, wo du im Wald sitzt?« fuhr ich im Flüsterton fort [...] »Du fragst mich, ob ich mich daran erinnere, Wnutschka?« flüsterte er zurück. »Nun, ich tu’s, so klar als wär’s gestern gewesen. Dieser Wald steht in Sibirien [...]« »Was hattest du zu tun? [...].« Großvater schwieg [...] aber dann sagte er: »Warten, daß die Zeit vergeht..«“ (Hummel S.51) Zu dieser Ebene gehören auch zahlreiche Episoden, die die Vorgeschichte der einzelnen Familienmitglieder von Alina betreffen, die sie aus den Erzählungen anderer kennt. Das folgende Zitat stellt die Geschichte des Vaters dar: 51 „Seine Mutter sagte, werde Schneider, Sohn. Essen, trinken und sich anziehen müssen die Leute immer, egal ob Krieg ist oder Frieden. Mein Vater wurde Schneider. Abends, nach seiner Arbeit als Schneiderlehrling vom Meister Pawlow, nähte er Schirmmützen im trüben Schein der einzigen Glühbirne im Haus.“ (Hummel S.22) Die Frage nach den Erzählebenen sollte man mit der Stellung des Erzählers zum Erzählten ergänzen.137 In Genettes Erzähltheorie fällt die zentrale Unterscheidung zwischen dem hetero-, und homodiegetischen Erzähler. Gut! Der heterodiegetische Erzähler trifft auf den Roman nicht zu, weil er in der von ihm erzählten Geschichte nicht vorkommt. Dementsprechend ist er kein Teil der Diegese, was im Roman von Hummel der Fall ist. Da kommt vorwiegend der homodiegetische Erzähler zum Vorschein. Dieser ist an der erzählten Welt beteiligt, das bedeutet, er erzählt und erlebt zugleich. Er ist demzufolge als Figur in der Geschichte anwesend.138 Berücksicht man die Differenzierung zwischen der Erzählebenen hinzu, ergeben sich auf diese Weise folgende Erzählertypen, die getrennt besprochen werden. Der erste Typ ist extradiegetisch – homodiegetisch und befindet sich auf der höchsten Stufe der Erzählung. Im Roman ist Alina die Erzählerin, die aus der Erwachsenenperspektive spricht. Das ist an dem Satzanfang zweier Textstellen sichtbar: „Selbst heute verläβt mich nicht das Gefühl [...]“(Hummel, S.7) so wie: „In meiner Erinnerung gibt es keinen Sonntag [...].“ (Hummel, S.7) Die Erzählerin hebt damit den Akt des Erinnerns hervor, der auf der nächsten, intradiegetischen Ebene zum Vorschein kommt. Hier ist Alina dagegen die intradiegetisch - homodiegetische Erzählerin, die als Kind erscheint. Zutreffend sind folgende Sätze:„Ich war Nachzügler. Sieben und sechs Jahre trennten mich von Schwester und Bruder. [...] Irma [Schwester von Alina – D.K.S] war vor kurzem achtzehn geworden und ging ihrer eigenen Wege.“ (Hummel S.14) Der Autorin erschien es als einleuchtend, die Erzählerin aus einer gewissen Distanz sprechen zu lassen.139 Die Absicht diese Distanz zum Erzählten zu gewinnen ist 137 Vgl. Scheffel, Martinez; Matias Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck Studium 1999. S. 81. 138 Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1994. S.175. 139 Gansel, Carsten /Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren ein Gespräch. In: Gansel, Carsten ( Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real- Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007. S. 287. 52 dadurch begründet, dass die Erzählerin als Kind nicht immer die kindliche Perspektive einhält. Daher wurde die erwachsene Alina als Erzählerin auf der extradiegetischen Ebene ganz bewusst von der Autorin eingeführt, damit die kindliche Erzählerin eine gewisse Äußerungsfreiheit gewinnen könnte und einige Aussagen und ihre Denkweise wegen der Wortauswahl dem Leser nicht suspekt würden, wie an dieser Stelle: „Bei jedem Schritt, den ich tat, versuchte ich mir Eigenheiten der Stadt einzuprägen. Aber ich fand sie nicht. Die Stadt war trist, ein weiβes Grab im Winter, ein Staublager im Sommer.“ (Hummel S. 60) „Die Beschäftigung mit Ich – Erzählinstanzen [deren der homodiegetischer Erzähler entspricht – D.K.S] ist [...] eine Beschäftigung mit der literarischen Inszenierung von Erinnerung.“140 Diese Aussage trifft besonders auf den Roman zu, weil es außer Alina noch einen Erzähler gibt, der seine Erinnerungen wachruft. Es ist der Groβvater, der auf der letzten dialogisch gestalteten Erzählebene der metadiegetisch – homodiegetische Erzähler ist, was am folgenden Textausschnitt sichtbar ist: „ »Ich erinnere mich nicht an seinen Namen, aber ich würde ihn wiedererkennen« sagte der Groβvater. »Es war ein See bei Berlin mit einer Allee aus Kastanienbäumen, die damals blühten[...]. Jeder sollte wissen, wo seine Heimat ist und woran er sie erkennen kann. Daβ du das auch irgendwann weiβt, das wünsche ich dir, Wnutschka.«“ (Hummel S. 82) Es ist auch zu bemerken, dass es zu dem ständigen Erzähler - und folglich zum Ebenenwechsel kommt. Alina hat eine Vermittlerrolle zwischen den Ebenen. Sie erzählt ihre Geschichte und führt zwischendurch die Dialoge ein, in denen der Groβvater seine Stimme erhebt. Auf der metadiegetisch – homodiegetischen Ebene wird also die intradiegetisch – homodiegetische Erzählerin zu dem Hörer. Der Groβvater als Erzähler auf der metadiegetischen Ebene unterbricht jedoch vielfach seine Geschichte, so dass Alina als Erzählerin auf der darüberliegenden Ebene wieder das Wort ergreift. Beide Erzähler zeichnen sich durch die interne Fokalisierung aus. Die Erzählweise wird monoperspektivisch dargestellt und jeder Erzähler ist in seiner eigenen individuellen Erzählung der Protagonist. 140 Erll, Astrid; Marion Gymnich; Ansgar Nünning (Hrsg.): Literatur, Erinnerung, Identität. Theorienkonzeptionen und Fallstudien. Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003 . S.18. 53 4.3.4 Zur Zeitdarstellung im Roman „Wie jedes Geschehen ist auch der Akt des Erzählens selbst ein zeitliches Phänomen.”141 Während man bei der Erzählanalyse zwischen dem Erzählen und dem Erzählten unterscheidet, lässt sich dementsprechend in der Zeitform zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit differenzieren. Da der Roman „Die Fische von Berlin“ keine näheren Informationen über die Dauer des Erzählens enthält, wird die Erzählzeit nach dem Seitenumfang von Roman gemessen und beträgt 223 Druckseiten. „Die erzählte Zeit meint demgegenüber die Dauer der erzählten Geschichte.“142 Berücksichtigt man alle drei Erzählebenen, auf denen Großvater und Alina erzählen, umfasst die erzählte Geschichte einen Zeitraum von etwa 60 Jahren. Betrachten man die Geschichten der Hauptfiguren separat, so spricht der Großvater von Ereignissen, die sich zwischen 30er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts abspielten. Seine Geschichte beginnt kurz vor dem Jahr 1937, was an folgenden Textpassagen sichtbar wird: „Das Dorf hieß Timofejewka, im Gebiet Stalino […]. Dort bin ich aufgewachsen. Bevor ich lesen und schreiben lernte, hörte ich die Alten von den guten Jahren reden, wenn sie sich draußen auf der Bank vor ihren Häusern auf einen Schwatz trafen, später nicht mehr. Es begann nicht erst 1937, und es war danach nicht plötzlich zu Ende, das was man die Großen Säuberungen nannte. Vielleicht wurde in diesem Jahr an gründlichsten gesäubert. Die Bänke vor den Häusern blieben lange leer.“ (Hummel, S. 83) Der Großvater erzählt Alina seine Erlebnisse bis zum Jahr 1957, in dem er aus Sibirien nach Kasachstan zurückkehrt. Seine Erzählung endet er mit diesen Worten: „Bei meiner Entlassung habe ich […] eine Schweigeverpflichtung vorgelegt bekommen. Ich unterschrieb sie […], danach war es vergessen, es hatte keine Bedeutung. Und dennoch drei Jahrzehnte lang habe ich mich daran gehalten […]. Ich war zurück, nach dem Wie und Warum fragten weder Frau noch Tochter, der ich an meines Bruders Statt ein guter Vater sein wollte.“ (Hummel, S. 215) 141 Martinez Matias, Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck 1999. S. 30. 142 Ebd. S. 31. 54 Alinas Geschichte umfasst dagegen mindestens 10 Jahre. Sie beginnt im Jahr 1987, ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges in Afghanistan und endet einige Jahre nach dem Mauerfall in Berlin. Davon zeugt dieses Zitat: „Vieles hatte sich verändert. Die letzten Jahre waren vergangen wie ein Atemzug. Die Mauer, in Stückchen abgetragen und an Souvenirjäger verkauft“ ( Hummel, S. 219) Bei der Zeitanalyse, die nach Erzähltheorie von Gerard Genette durchgeführt wird, ist das Verhältnis zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit zu berücksichtigen, das sich an drei Kriterien: Ordnung, Dauer und Frequenz untersuchen lässt. Ordnung: Bei der Ordnung handelt es sich um die Übereinstimmung bzw. die Dissonanz zwischen der Abfolge des erzählten Geschehens und der Abfolge seiner Darstellung. 143 Werden die Ereignisse nicht chronologisch erzählt, spricht man von einer narrativen Anachronie, die sich im Hummels Roman in Form von Analepse und Prolepse darstellt. Die Analapse ist bereits nach den ersten Sätzen im Roman sichtbar, wo zum Übergang von der Gegenwartsebene zur Vergangenheitsebene kommt. Zuerst denkt die Erzählerin an die zwischen ihr und ihrem Großvater entstandene innere Bindung und erst danach erinnert sie sich an die Tage, in denen sie ihn noch als kleines Mädchen besuchte: „Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, dass zwischen dem, der mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochenes geblieben ist.[…] Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus.“ (Hummel, S. 7) Dieses Zitat zeigt, dass die sonntäglichen Besuche bei dem Großvater zu einem früheren Zeitpunkt stattfanden, als die Erinnerung an ihn selbst. Zuerst äußert sich die Erzählerin als Erwachsene und nachträglich wird ihre Kindheit dargestellt. Weitere Analepsen bilden Familiengeschichten, die die Vergangenheit der Verwandten von Alina betreffen. Als Beispiel wird hier die Jugend des Vaters angeführt: „Manchmal erzählt mir Vater von seiner Jugend. Geschichten, die Irma und Willi bereits auswendig kannten. Seine Mutter sagte, werde Schneider, Sohn. Essen, trinken und sich anziehen müssen die Leute immer, egal ob Krieg ist oder Frieden. Mein Vater wurde Schneider.“ (Hummel, S. 22) Alina flechtet in ihre Erzählung die vom Vater gehörte Geschichte ein und erzählt von Ereignissen, die sich noch vor ihrer Geburt abspielten. Analepsen sind auch jedes Mal 143 Vgl., ebd. S. 32. 55 zu sehen, wenn der Großvater ein neues Fragment seiner Lebensgeschichte anführt. Dies ist am folgenden Zitat sichtbar: „Wenn ich mich heute frage, warum ich jenes Jahr überlebt habe, fällt mir als erstes Mutter ein. Abends jagte sie uns aus dem Haus: Geht! Bevor sie kommen! Sie kamen in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang […].“ (Hummel, S. 83) Die Analepse führt in diesem Beispiel in der Chronologie um ein paar Jahrzehnte vom Moment des Gesprächs in der erzählten Geschichte zurück. Im Roman ist auch Anachronie in Form der Prolepse zu finden, in der „ein noch in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt (wird)“ 144 Folgendes Zitat betrifft Sergejs Leben [ Schwager von Alina – D.K.S] und enthält zum Teil Prolepse und zum Teil Analepse: „Der Schwiegersohn kam nicht zur Marine. Er sollte auf keinem Schiff kochen und viele Jahre kein Meer zu sehen bekommen. Als kleiner Junge hatte er am Strand von Odessa geplanscht, bis ihm eine Qualle die Hand verbrannte. Seither liebte er Schiffe, große mächtige Schiffe, Flugzeugsträger, Erdöltanker, Eisbrecher, von allen hatte er ausgeschnittene Bilder in ein Album geklebt, das er sich immer wieder anschaute. Später nicht mehr, da war er ein verheirateter Mann, und er kam nicht auf einem Schiff, sondern in einem Flugzeug nach Afghanistan.“ (Hummel, S. 112) In der Gegenwart ist Sergej Koch in der Armee und hofft zur Marine zu kommen. Aus diesem Textfragment erfährt man sowohl von seiner Kindheit, die sich längst vor der Zeit des Erzählens abspielte, als auch davon, wie sich seine Geschichte in einigen Monaten entwickelt und bei welcher Gelegenheit seine Hoffnung begraben wird [Prolepse – D.K.S]. Dauer: Ein weiteres Kriterium bei der Analyse des Verhältnisses zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit bildet die zeitliche Dauer des Dargestellten. Hier ist die Erzählgeschwindigkeit von Relevanz. Sie kann in einem literarischen Text in fünf Formen erscheinen, wobei in Hummels Roman nur drei zu beachten sind: Szene, Raffung und Ellipse.145 Szene bedeutet ein zeitdeckendes Erzählen, in dem die 144 145 Ebd. S. 33. Vgl., ebd. S. 40. 56 Erzählzeit mit der erzählten Zeit übereinstimmt. Ein Beispiel dafür stellen folgende Passagen aus dem Roman dar: „»Das kannst du nicht machen!« » Warum nicht? Erlaubt es mir das Fräulein Schwesterherz nicht?« »Vater erlaubt es dir nicht.« »Doch. Er wird es erlauben. In dem Kaff, in das ihr zieht, gibt es keine Universität. Soll seine Tochter etwa Näherin werden wie er selbst?« Irma meinte es ernst.“ ( Hummel, S. 35) Derartige szenisch dargestellte Dialoge kommen in Hummels Roman stellenweise vor. Meistens sind sie kürzer und zusätzlich mit Einschüben der Erzählerin versehen. Im Fall der Raffung wird die Erzähltempo beschleunigt, indem man in einem Satz einen größeren Zeitraum zusammenfasst. Dies wird am Beispiel aus dem Roman präsentiert: „Viele Jahre habe ich von Alois Metzger nichts gehört. Unsere Wege kreuzten sich innerhalb der Zone nicht mehr. Erst Jahrzehnte später machte er mich ausfindig per Post“ (S. 209) Eine Extremform des zeitraffenden Erzählens stellt die Ellipse dar. Sie ist typisch für Zeitsprünge, in denen die ausgesparte Zeit nicht näher genannt wird und dabei keine Bedeutung für die erzählte Geschichte hat. Das folgende Zitat zeigt, dass die ausgelassenen Momente keinen Einfluss auf die fortgesetzte Erzählung ausüben: „»Sie haben gesagt, daß sie von mir keine Ausreiseanträge mehr annehmen«, sagte Vater in die Stille hinein. Er verließ den Tisch, ohne das Rührei gekostet zu haben. Später sah ich ihn im Bett sitzen, auf dem Schoß das aufgeschlagene »Lexikon des Therapeuten«.“ (Hummel, S. 29) Frequenz: Das dritte und letzte Kriterium bei der Zeitanalyse ist die Frequenz der Darstellung von Ereignissen. Hier unterscheidet man drei Typen von Wiederholungsbeziehungen in der Erzählung. Der erste Typ ist singulativ und erscheint in Form „ einmal erzählen, was sich einmal ereignet hat“146 In Hummels Roman haben die meisten Geschehnisse nur einmal stattgefunden und wurden sie auch einmal geschildert. Der zweite Typ ist repetetiv und bezeichnet eine wiederholte Erzählung eines einmaligen Geschehens. Im Roman trifft es auf den Tod Stalins 1953 zu , von dem einmal der Vater erzählt: „[...] Dann sind die Menschen weinend auf die Straße gegangen, überall, im ganzen Land, 146 Ebd. S. 46. 57 auch in den Gefängnissen und Arbeitslagern. Das ganze Volk hat getrauert“ (Hummel , S. 47) und ein anders Mal der Großvater auf ganz unterschiedliche Art und Weise: „Aus den Lautsprechern drang eine tränenerstickte Stimme zu uns. […] Der Vater aller Völker und Nationen, Genosse Stalin, war tot. […] Nach der Durchsage blieb es im Hof still, aber in den Baracken brach Jubelgeschrei aus. Männer […] fielen sich um den Hals und weinten vor Freunde“ (Hummel, S. 210) Der dritte Typ ist iterativ und „folgt der Formel »einmal erzählen, was sich wiederholt ereignet hat«.“147 In der Form der internativen Erzählung wird von Alinas Besuchen bei dem Großvater erzählt, die sich seit einigen Jahren regelmäßig, am gleichen Wochentag wiederholen: „Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus. In meiner Erinnerung gibt es keinen Sonntag, an dem nicht Großvater am Ende meines Weges die Tür geöffnet hätte.“ (Hummel, S. 7) Die internative Erzählung wird meist in Form der Raffung dargestellt, was hier auch der Fall ist. 147 Ebd. 58 4.3.5 Zu Modi der Gedächtnisrhetorik im Roman In folgenden Punkt werden literarische Verfahren mit konkreten Beispielen behandelt, die im Rahmen der Rhetorik des Gedächtnisses zur Bildung der Modi verwendet werden. Interdiskursivität: Als Erstes wird die von Erll angeführte Inderdiskursivität analysiert, die sich auf die Dialogizität bzw. auf die Heteroglossie zurückführen lässt. 148 Beide Termini, die der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin einführte, deuten im Bezug auf Romane auf die Redevielfalt hin, die u. a. aufgrund des Zusammentreffens von zwei Kulturen entsteht. Im Roman „Die Fische von Berlin“ sind Beispiele der Interdiskursivität zu finden, die sich in Form von Alltags- sowie für eine spezifische Gruppe charakteristischer Sprache manifestieren. Obwohl der Roman in deutscher Sprache geschrieben wurde, fällt da oftmals das Wort Wnutschka. Die russische Bezeichnung der Enkelin [внучка – D.K.S.] wird im Roman mit Lautschrift „Wnutschka“ beschrieben, um den deutschen Lesern die Aussprache des Wortes vertraut zu machen. Dies weist auf die russische Sprache, deren sich die erzählten Figuren bedienen sollten, von denen beide Erzähler ( Alina und Großvater – D.K.S] zugunsten des Romans auf Deutsch berichten. Wnutschka wird jedoch nur von dem Großvater gegenüber Alina ausgesprochen, was von einer besonderen Beziehung: Enkelin – Großvater zeugen kann. Dies ist an folgenden Textpassagen sichtbar: „Großvater sprach mich selten beim Namen an. Er nannte mich Wnutschka, Enkelin, obwohl ich nicht die einzige war, nur seine jüngste.“ (Hummel, S. 10) „»Nun, sag es mir eins, Wnutschka: Was ist die Strafe meiner strengen Fragestellerin, wenn ich mich weigere zu antworten?« Ein kleines Lächeln zeigte sich in seinen Mundwinkeln.“ (Hummel, S. 52) Die Figuren des Romans handeln auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und sind stets von russischsprachigen Menschen umgeben. Familie Schmidt befindet sich oft in 148 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005. S. 171. 59 Situationen, in denen sie mit der Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber ihren Wurzeln und vor allem deutschen Namen konfrontiert ist: „»Wie heißt du denn, Mädchen?« »Alina.« Der Nachbar kratzte sich am Kopf, als krame er in seinem Gedächtnis nach diesem Namen. »Aliona, sag deinen Eltern, sie sollen sich besser um den Garten kümmern. [..]“ (Hummel S. 70) „In Mutters Paß stand Hilda als Vorname über der Zeile, in die als Nationalität Nemka, Deutsche, eingetragen war. Aber die Leute sagten Galina, Galja, Galjuscha zu ihr, weil Hilda zu fremdländisch klang. Der graustoppelige Nachbar hatte sie gefragt, ob das nicht ein Hundename sei.“ ( Hummel, S. 71) Die auf russische Art und Weise ausgesprochenen Namen und die Nationalität Nemka als Deutsche dienen im Roman zur gesellschaftlichen Verortung der Figuren und zeigen sprachliche Besonderheiten, die in der Umgebung der Figuren üblich sind. Im Roman sind außerdem umgangssprachliche Ausdrücke zu finden, die nur einer bestimmten Gemeinschaft zuzuschreiben sind. Dazu gehören „Gänge“ die nur für eine eingeweihte Gruppe von Personen einleuchtend sein können: „Seine Besuche beim Amt nannte Vater »Gänge«. Wir wußten sofort, wenn er von einem »Gang« zurückgekommen war. Seine Stimme zitterte , die Haut war blaß, das Gesicht fahl, er bekam kein Bissen herunter.“ (Hummel, S.25) Gänge waren regelmäßige Besuche des Vaters bei der örtlichen Behörde, bei der er seit Jahren Ausreiseanträge einrechte. Das waren jedoch vergebliche Versuche, die immer auf Ablehnung stießen. Gleichzeitig bezeichnete Familie Schmidt die KGB- Beamten als „die Bande“, die Alina auf ihre kindliche und zugleich humorvolle Art und Weise folgendermaßen beschreibt: „Wenn wir unter uns waren, nannte er [ der Vater – D.K.S.] sie die Bande. Mit der Zeit entstand in meinem Kopf ein Bild von der Bande. Natürlich sprach ich zu niemandem davon, aber meine Bande bestand aus schnauzbärtigen Männern in schwarzen Ledermänteln. Sie rauchten wie Fabrikschlote und bliesen meinem armen Vater […] den Rauch ins Gesicht. Sie sagten zu ihm […] (du) wirst hier nie rauskommen.“ (Hummel, S. 25f.) 60 Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnung der Schwarze Rabe. Die Entstehungsgeschichte des Wortes, das zur Benennung des Arrestantenwagens in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion diente, bleibt für einen Außenstehenden verborgen. „Wenn ich mich heute frage, warum ich jenes Jahr überlebt habe, fällt mir als erstes Mutter ein. Abends jagte sie uns aus dem Haus: Geht! Bevor sie kommen! Sie kamen in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, in einem Schwarzen Raben, der nicht schwarz war.“ (Hummel, S. 83) „Wenn der Schwarze Rabe mit dem Volksfeind wieder davonfuhr, zeichnete sich im Türrahmen die Schatten von dessen Frau und Kindern ab.“ (Hummel, S. 85) Interdiskursivität gehört zu literarischen Darstellungsverfahren, die entweder zu einem erfahrungshaftigen oder monumentalen Modus beitragen können. Aufgrund der oben angeführten Beispiele lässt sich feststellen, dass im Roman „Die Fische von Berlin“ der erfahrungshaftige Modus vorherrscht. Mithilfe der verwendeten Wörter wurde die Sprache des Alltags inszeniert, die von regionalen und gruppenspezifischen Bedingungen beeinflusst ist. Intermedialität: Ein weiteres Verfahren, der im untersuchten Roman relevant ist, stellt die Intermedialität dar, die die Wirkung der Medien in Literatur aufweist. Die Art der Medien in einem literarischen Text zeitigt bestimmte Modi des kollektiven Gedächtnisses. Zu den Medien des Gedächtnisses gehören u. a. Fotos, die Aleida Assmann folgenderweise charakterisiert: „Die Photographie […] gilt als sicherstes Indiz einer Vergangenheit, die nicht mehr existiert, als fortexistierender Abdruck eines vergangenen Augenblicks. Von diesem Vergangenheitsmoment bewahrt die Photografie eine Spur des Realen, mit dem die Gegenwart durch Kontiguität, durch Berührung verbunden ist“149 In Hummels Roman spielen Fotos eine besondere Rolle. Für die Hauptfigur ist ein Foto [neben dem Taschenmesser – D.K.S] Auslöser kindlicher Neugier und Beweggrund für Nachforschung der Jugendzeit ihres Großvaters. Alina bemerkt, dass im Zimmer von 149 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. S. 221. 61 Großeltern nur ein Foto hängt, dass vor zwanzig Jahren aufgenommen wurde. Ihr wird dann klar, dass es keine Fotos aus der Jugend des Großvaters gibt, außer einem, das verstaubt über dem Fernseher liegt. Das folgende Zitat stellt eine genaue Beschreibung dieses Fotos dar: „Es war nichts besonderes auf dem Bild zu sehen. Fünf Männer, die barfuß in hochgekrempelten Hosen auf einer Waldlichtung saßen, jeder eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand. Einer davon war Großvater. Ich erkannte ihn kaum, so jung sah er aus. […] Jemand hatte in blau verlaufener Tinte auf die Rückseite geschrieben: Igarka, 1956.“ (Hummel, S. 16f) Während Alina das Dachboden des neu bewohnten Hauses durchsucht, stoßt sie auf ein Fotoalbum der Vorbesitzer. Zu ihrer Überraschung sieht sie das gleiche Foto, das sie aus dem Haus der Großeltern kennt: „Es war ein Fotoalbum mit Schwarz-weiß-Fotografien, die erste war mit 1912 datiert.[…] Ich sah mir die Bilder fremder Menschen an […]. Und plötzlich stutzte ich, da war ein Foto, das kannte ich. Fünf Männer, die barfuß auf einer Waldlichtung saßen […] Statt einer Jahreszahl hatte jemand einen Namen unter das Foto geschrieben: Alois Metzger.“ (Hummel, S .75f) Die Fotos, die Alina findet, sprechen von der Vergangenheit, die bisher Alina verschwiegen wurde. Erst durch neugierige Fragen gelangt sie zu den Antworten, die sie von ihrem Großvater sukzessive bekommt. Aus den Gesprächen mit dem Großvater erfährt sie Näheres über seine Lebensgeschichte und Einzelheiten aus dem Familienleben. Sie vernimmt schließlich, dass sie einen dritten Großvater hat, was sie selbstverständlich aus der Fassung bringt. Alles, was sie hört und alle Geschehnisse, an die das Foto erinnert, betreffen private Sphäre der Familie und ihr alltägliches Ringen mit Widrigkeiten des Schicksals. Da die privaten Fotos mit dem Alltag der Familienmitglieder verbunden sind und in diesem Fall als Medium des kommunikatives Gedächtnisses dienen, etablieren sie im Roman den erfahrungshaftigen Modus. Neben Fotos sind im Roman auch andere Medien zu verzeichnen. Dazu gehören Denkmäler, die als Medien des kulturellen Gedächtnisses zu einem monumentalen Modus beitragen. Hierbei soll unterstrichen werden, dass der Denkmal-Begriff keinen spezifischen Bautypus kennzeichnet sondern mit Funktion des Erinnerns ausgestattet 62 ist.150 Im Roman tritt das Denkmal in Form eines Triumphbogens auf, den der Großvater Alina als Sehenswürdigkeit auf einem Ausflug zeigt: „»Laß uns einen Ausflug machen, Ich zeige dir eine Sehenswürdigkeit« sagte er. […] »Schau, da ist es.« Mitten auf dem Acker stand ein Triumphbogen. »Was ist das?« »Das Katharinentor. Erbaut zu Ehren der Zarin. Vor zweihundert Jahren soll sie hier durchgelaufen sein.«“ (Hummel, S. 129f.) Dieses Denkmal ruft bei dem Großvater die lokale Geschichte in Erinnerung und zugleich ein historisch bedeutsames Geschehen. Das Katharinentor ist Relikt aus der Zeit der Herrschaft von Zarin Katharina II. Es ist ein Denkmal, das die Ansiedlung, Wohlhabenheit und Privilegien der Deutschen im 18. Jahrhundert auf dem russischen Gebiet semantisiert. Das Denkmal erinnert den Großvater auch an eine Legende: „»Weißt du, da fällt mir eine hübsche Legende ein. Oder nennen wir es lieber Märchen. Katharina soll einst in weiser Voraussicht ein Goldrubelkonto in der Schweiz angelegt haben. Über die Summe gibt es die wildesten Gerüchte. Wieviel dürfte in zweihundert Jahren mit Zins und Zinsezsins daraus geworden sein? Das Geld sollte ihren Deutschen die Rückreise in die Heimat ermöglichen, wenn sie eines Tages nicht mehr in Russland bleiben konnten oder wollten.[…]«“ (Hummel, S. 130f) Sowohl der Triumphbogen als auch die Legende, die mündlich überliefert wird, verweisen auf den Fernhorizont kultureller Kommunikation. Sie übermitteln Botschaft, die von den deutschen Russen bewahrt und erinnert sein will. Obwohl sie eine entfernte Vergangenheit betreffen, beeinflussen sie ihre Weltanschauung und lassen sie, sich als eine Gemeinschaft ihrer Identität vergewissern, was am Beispiel des Großvater zu sehen ist: „»[…] ich glaube, es gibt so etwas wie eine Band zwischen uns und der Zarin, das bis heute überdauert hat. Ohne sie würden wir nicht hier stehen.,«“ (Hummel, S. 130) 150 Vgl., Erll, Astrid, Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität – Kulturspezifität. Berlin, New York: de Gruyter 2004. S. 241. 63 Raum- und Zeitdarstellung: Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus schließen sich nicht aus. Im Roman „Die Fische von Berlin“ greifen sie ineinander, was man an Raum- und Zeitdarstellung zeigen kann. Der oben erwähnte Triumphbogen gehört zu kulturellen Gedächtnisräumen. Zur Zeit des Ausfluges, den Großvater mit Alina unternimmt, befindet er sich mitten auf einem Acker, zu dem ein Feldweg mit Pfützen führt. Die Inschrift am Torbogen ist längst verwittert. Vor Alinas Augen erscheint ein Bauwerk, das sie wie folgt kommentiert: „Es war ein seltsamer Anblick: ein Triumphbogen, der in Schlamm und Dreck versank. Ein paar Jahre noch, und das Denkmal zum Ruhme der Zarin würde genauso windschief aussehen wie das Dorf in seinem Rücken.“(Hummel, S. 130) Das Katharinentor als Sehenswürdigkeit, vernachlässigt und den Naturgewalten ausgesetzt, verliert sein Erinnerungspotential unter russischer Bevölkerung. Akte des Vergessens sind an seiner äußeren Erscheinung sichtbar. Nur der Großvater ist sich seiner symbolischen Bedeutung bewusst. Er macht seiner Enkelin darauf aufmerksam, indem er den Triumphbogen am Ort zeigt, wo Zarin vor zweihundert Jahren durchgefahren sein soll. Das Denkmal, seine räumliche Umgebung, das Acker und ein altes, abgelegenes Dorf im Hintergrund sind einerseits als Raum vergangener Lebenswelt zu verstehen, andererseits als Gedächtnisraum verortet im Fernhorizont der Kultur. 64 4.4 Erinnerungsgestaltung in der Drei-Generationen-Familie „Das ist längst vergangen. Was vergangen ist soll man nicht wieder aufrühren.“ (Hummel, S. 71). Mit diesen Worten antwortet der Großvater auf neugierige Fragen seiner Enkelin, die von seiner Jugend etwas erfahren möchte. Alina ist die Einzige in der Familie, die nach der Vergangenheit fragt und allem Anschein davon hören will. Trotz der ausweichende Antworten, die sie anfänglich bekommt, lässt sich ihre Neugier nicht zähmen. Sie fragt so lange, bis sie schließlich Antworten bekommt. Das Schweigen in der Familie Schmidt hat Hintergründe. Es gibt „unzugängliche Erinnerungen, die unter Verschluss gehalten werden, und deren Torwächter Verdrängung oder Trauma heißen. Diese Erinnerungen sind zu schmerzhaft oder zu beschämend, um ohne äußere Hilfe an die Oberfläche des Bewußtseins zurückgeholt werden zu können.“ 151 Traumatische Erfahrungen der Großeltern, sowie das Geheimnis der drei Großväter halten die Familie vom Erinnern ab. Der Großvater, zum ersten Mal nach seiner Vergangenheit gefragt, antwortet mit einer Frage: „»Nun, sag mir eins, Wnutschka: Was ist die Strafe meiner strengen Fragestellerin, wenn ich mich weigere zu antworten?«.“ (Hummel, S. 52) Trotzdem erzählt er seiner Enkelin Stück für Stück seine Lebensgeschichte. Bevor der Großvater all seinen Mut zusammennimmt und die Enkelin in das größte Familien - Geheimnis einweiht, vergehen Monate. Erst am Ende seiner Geschichte erfährt sie warum der Großvater so lange geschwiegen hat: „»Wie es weiter ging, fragst du, Wnutschka? Ich höre deine Frage nicht, ich sehe sie in deinen Augen. Bei meiner Entlassung habe ich wie viele andere eine Schweigeverpflichtung vorgelegt bekommen. Ich unterschrieb sie, wie so viele andere Papiere zuvor, danach war es vergessen, es hatte keine Bedeutung. Und dennoch, drei Jahrzehnte lang habe ich mich daran gehalten, weil niemand Fragen gestellt hat. Niemand wollte etwas wissen. Ich war zurück, nach dem Wie und Warum fragten weder Frau noch Tochter, der ich an meines Bruders Statt ein guter Vater sein wollte. Und schließlich: es gab immer andere Dinge zu tun.«“ (Hummel, S. 214f) 151 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), H. 2, S.184. 65 Alina hilft dem Großvater die schwere Last der Erinnerung loszuwerden. Dank Alinas fragen wurden die bisher verdrängten Erinnerungen des Großvaters nach dreißig Jahren wach. Was Großvater endlich nach dreißig Jahren aussprach, will die Großmutter um jeden Preis verbergen: „Was hast du dauernd mit Großvater zu tuscheln?« fragte Großmutter mit ihrer Erzieherischen Stimme. »Wir tuscheln nicht. Er erzählt mir von seiner Jugend.« »Von seiner Jugend gibt’s nichts zu erzählen.« […] »Er weiß noch alles ganz genau. Nur daran, was es am Vortag zu Mittag gegeben hat, kann er sich oft nicht erinnern. Aber das ist ja auch nicht so wichtig,« »Es ist vieles nicht mehr wichtig.«“ (Hummel, S. 90) Während die Großmutter die Erinnerungen verdrängt, indem sie Vergangenes für unwichtig hält, sind für den Vater die vergangenen Ereignisse nicht erwähnenswert. Nach dem Jahr 1956 von Alina gefragt, antwortet er : „1956 war kein besonders bemerkenswertes Jahr. Aber das ist doch alles nicht mehr wichtig.[…] Siehst du, du verstehst es nicht. Manchmal fällt es ihm [dem Großvater – D.K.S] schwer zu begreifen, dass die Vergangenheit unwiderruflich vorbei ist. Das ist bei den Alten wie eine Krankheit, gegen die es kein Mittel gibt. Nur Schweigen. Aber, leider, es heilt nicht.“(Hummel, S. 47). Sein scheinbares Desinteresse an Vergangenheit lässt sich durch Sorgen des Alltags erklären, KGB – Verhöre und Ausreisepläne. Erst nach seiner Jugend gefragt, beginnt er zu erzählen: „Er schien ein wenig versöhnt, jetzt, da es um seine eigene Jugend ging. »Hm, im Februar 1953 wurde ich achtzehn, hatte gerade meinen Berufsabschluß gemacht, als Schneider. Das weiß ich noch ganz genau, weil ein paar Wochen später, Anfang März, Stalin starb. Drei Tage lang hat man seinen Tod verheimlicht, aus Angst, was denn mit dem Land ohne ihn, den Übervater, werden soll. Dann sind die Menschen weinend auf die Straße gegangen, überall, im ganzen Land, auch in den Gefängnissen und Arbeitslagern. Das ganze Volk hat getrauert. So ein Jahr vergißt man nicht.«“ (Hummel, S. 47) Der Vater erzählt vom Jahr 1953, das sich ihm wegen des achtzehnten Geburtstags und des Berufabschlusses eingeprägt hat. Da individuelle Erinnerungen grundsätzlich perspektivisch sind und auf subjektiv verarbeiteten Erfahrungen beruhen, unterscheidet 66 sich seine Version bezüglich des Jahres 1953 von der Version des Großvaters, der damals in Sibirien seine Strafe absaß: ”Der Frühling 1953 kam. […] Aus den Lautsprechern drang eine tränenerstickte Stimme zu uns. Was sie sagte, war ungeheuerlich: Der Vater aller Völker und Nationen, Genosse Stalin, war tot. Er, der unsterbliche, gottgleiche Pharao, das Sonnengestirn, um das unser Staat kreiste, hat nur um ein Jahr die Fertigstellung des Museums seiner Unsterblichkeit überlebt. Hilflos soll er die letzten Tage in seinem Bett gelegen haben, und keiner der treuen Hausgenossen hatte sich getraut, einen Arzt zu holen, denn die Leibärzte des Kremls, die besten Ärzte des Landes – waren das nicht allesamt Verbrecher, Judenpack, das ihm nach dem Leben trachtete? So blieb er vom Schlaganfall gelähmt, und stumm gesellte sich der größte Feind seines Volkes zu jenen, die er millionenfach vorausgeschickt hatte. Nach der Durchsage blieb es im Hof still, aber in den Baracken brach Jubelgeschrei aus. Männer, die nie zuvor ein Wort miteinander gesprochen hatten, fielen sich um den Hals und weinten vor Freude.“ (Hummel, S. 210) Ein und dasselbe Ereignis wurde unterschiedlich dargestellt. Dies lässt sich dadurch erklären, dass geschichtliche Ereignisse von unterschiedlichen Alterskohorten anders erfahren werden.152 Der Vater erlebt das Jahr 1953 als achtzehnjähriger Mann, der ins Erwachsenenleben eintritt. Der Großvater hat dagegen die schönsten Jahre hinter sich, sitzt im Arbeitslager in Sibirien und ihm ist nichts anderes übrig geblieben als „warten, daß die Zeit vergeht.“153 Daher macht es einen großen Unterschied in welchem Alter man ein Ereignis erlebt.154 Die Fähigkeit zu erinnern hängt von zahlreichen Faktoren ab, die auf den Menschen wirken und damit auch entscheiden, was ihnen im Gedächtnis bleibt. Nicht nur Persönlichkeit und Wertstellung sondern auch der ständige Umgang mit anderen Menschen sind hier von Belang. Da „das individuelle Gedächtnis […] vom weiteren Horizont des Generationengedächtnisses bestimmt“155 ist, sind die Erinnerungen der Figuren nicht völlig privat. In der Familie Schmidt finden keine familiären Veranstaltungen statt, die zum Erinnern veranlassen würden. Außerdem ist nur Alina an das Vergangene interessiert ist. Die Basis des Familiengedächtnisses wird durch die erinnernden Gespräche gebildet, die 152 Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: C.H. Beck 2007. S. 34. 153 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005/2006 S. 51. 154 Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. S. 34 155 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), S. 183– 190, hier S. 185. 67 Alina mit einzelnen Familienmitgliedern durchführt. Sie erfährt von Ereignissen in der Familie, die sich noch vor ihrer Geburt abgespielt haben. Dadurch übernimmt sie Erinnerungselemente von älteren Generationen, die sie später weiteren Generationen vermitteln kann. 4.4 Vergangenheitsbewältigung und Identität im Gedächtnisroman Die Gattungstypologische Differenzierung der fictions of memory zwischen dem Gedächtnisroman und dem Erinnerungsroman erlaubt zu entscheiden, ob in einem literarischen Text die Darstellung des Gedächtnisses oder die Inszenierung von Erinnerungen im Vordergrund steht. Das bereits im Punkt 4.3.3 untersuchte Verhältnis zwischen den Erzählebenen zeigt, dass im Roman „Die Fische von Berlin“ die intradiegetische Ebene dominiert. Der Akzent liegt demzufolge auf den zeitlich zurückliegenden Ereignissen. Das Moment der Erinnerungsabruf wird dagegen sehr kurz auf der extradiegetischen Ebene präsentiert, die minimal ausgestaltet ist. Zum Anlass des Rückblicks wird der Tod des Großvaters von Alina und die damit verbundene Reflexion: „Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, das zwischen dem, was mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochen geblieben ist. An manchen Tagen ist diese Gefühl nur unterschwellig da, an anderen drängt es empor an die Oberfläche. Es schein mir dann ganz nah, und doch weiß ich nicht, wie es sich greifen ließe.“ (Hummel, S. 7) Der Blick in die Vergangenheit liefert der erwachsenen Alina Antworten auf die Fragen nach ihrer Identität und der Bindung zu ihrem Großvater. Auf der intradiegetischen Ebene tritt Alina als Mädchen vor, das wegen der deutschen Abstammung unter russischen Schulfreunden kein leichtes Leben hat. Ihr deutscher Name sowie ihr Aussehen verursachen, dass sie oft unter Schulkameraden nicht akzeptiert und ständig als Deutsche und nicht einfach als Mitschülerin oder Freundin wahrgenommen wird. Das bereitet Alina Assimilationsprobleme: „Ich haßte Pausen, vor allem die Pausen am ersten Schultag. In den Pausen standen alle in Grüppchen herum. Für welches 68 Grüppchen sollte ich mich entscheiden, welches Grüppchen war das richtige für mich, ich musste zuhören, etwas sagen. Zuhören war einfacher, einfach war auch, daß, wer nur zuhörte, nicht dazugehörte.“ (Hummel, S.114). Der Akzeptanzmangel unter Altersgenossen verursacht, dass sie sich zurückhält und mit anderen Deutschen nicht umgehen will. Dies ist an folgenden Textpassagen sichtbar: „Auf dem Gang, in der Pause zwischen Mathe und Physik, riefen Jungen meinem Namensvetter im grünen Pullover: »Faschist! Faschist!« hinterher. Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen zwinkerten mir verschwörerisch zu. »Na, das gilt doch auch für dich? Gib’s endlich zu! Dann sind wir schon zwei!« Aber ich schüttelte nur schweigend den Kopf und lief weg.“ (Hummel, S. 127) Alina bleibt auch nicht verschont und wird mit dem Schimpfnamen Faschistin von Nachbarkindern geplagt. Auf die Beschimpfung reagiert jedoch keiner: „Lena und ihr Bruder spielten gerne Krieg, und ich mußte die Rolle der Besiegten übernehmen.[…] Wenn ich mich weigerte, riefen sie»Faschistin, Faschistin!« und ihr Großvater betrachtete seine spielenden Enkel mit wohlwollendem Lächeln.“ (Hummel, S. 49) Obwohl der Zweite Weltkrieg längst vorbei ist, wollen Kinder immer noch das Krieg-Spiel spielen und die Rollenverteilung ist für sie selbstverständlich. Am Beispiel der Krieg-Spiele, sowie der immer wieder auftretenden Kriegsveteranen, die mit Tapferkeitsmedaillen einkaufen gehen, wird im Roman das sowjetische Siegergedächtnis und das nationale Identitätsgefühl inszeniert. Alina dagegen, derer Großvater kein Kriegveteran ist, sucht erst nach eigener Identität : „Jahrelang lag ich abends im Bett und zweifelte daran, daß ich in der richtigen Familie aufwuchs. Meine Eltern und Geschwister waren stattlich und hatten dunkles Haar. Oft überlegte ich unter der Bettdecke, was ich dafür geben würde, nicht mehr rothaarig und sommersprossig zu sein und Schmidt zu heißen. Mit diesem Namen konnte ich nicht so tun, als wäre ich jemand anderer.“ (Hummel, S.13f) „Wenn Willi und ich uns abends Gute Nacht wünschten, stellte ich mir vor, wir wären beide Findelkinder. Er war der einzige in der Familie, dem ich ein wenig ähnlich sah. Mutter und Vater haben und adoptiert und uns den Namen Schmidt gegeben. Jahr für Jahr verging, ohne daß jemand kam, um uns abzuholen“ (Hummel, S. 37) Alina hört zwar oft von dem Vaterland, daraus resultiert jedoch lange Zeit nichts. Für sie ist Deitschland ein fernes Land, das sie in ihrem Schulatlas nicht finden kann. Sie kennt die Sprache ihrer Vorfahren nicht, weil es keinen Deutschunterricht in der Schule 69 gibt. Deutschkenntnisse könnten in ihrem Fall als Stärkung der eigenen Identität dienen, statt dessen schämt sie sich, dass sie diese Sprache nicht beherrscht. Verwirrend erscheint für Alina die Einstellung ihrer Schwester Irma, die von dem Vaterland nicht hören will. Während der Vater seit zwanzig Jahren versucht nach Deutschland auszureisen, will Irma in der Sowjetunion bleiben: „(…) ich kann es nicht mehr hören, dieses Gerede von Heimat und Vaterland! Von der Sprache, die unsere Kinder nicht mehr lernen werden. Was soll ich mit einer Sprache, die meine Urgroßmutter irgendwann irgendwo gesprochen hat? Ich lebe jetzt und hier und hier spricht man anders. Ich denke nicht daran, alles aufzugeben, nur weil unser Vater glaubt, anderswo wäre er willkommener. Dabei ist sonneklar, dass wir dieses Vaterland – oder besser Vorväterland – nie zu Gesicht bekommen werden. […]Ich will meine Leben leben. Ihr könnt ohne mich in die Berge oder sonst wohin fliegen“ (Hummel, S. 34) Irma gehört der Enkel-Generation, die sich inzwischen an das Leben in der Sowjetunion anpasste und sich damit wohl fühlt. Während sich Irma bereits mit den sowjetischen Bürgern identifiziert, ist Alina nicht sicher wo sie hingehört. Eine identitätsstiftende Funktion haben für Alina Gespräche, die sie mit dem Großvater führt. „Erinnerungsgeschichten, die in Familien erzählt werden, stellen nicht nur individuelle Vergangenheitsbilder dar, sondern zugleich Modelle für die allgemeine Haltung der Wir-Gruppe.“156 Der Großvater ist der Einzige in der Familie, der Alina die Geschichte der Vorfahren vor Augen führt: „ […] ich glaube, es gibt so etwas wie ein Band zwischen uns und der Zarin, das bis heute überdauert hat. Ohne sie würden wir nicht hier stehen.“ (Hummel, S 130) Die hier von dem Großvater verwendete Wir-Form weist nicht nur auf ihn und Alina, sondern bezieht sich auch auf alle Deutsche, die Katharina die Große nach Russland eingeladen hat. Dank dem Großvater, der die Geschichte der Vorfahren sowie der Familie erzählt, wird die Grundlage gelegt, auf der Alina ihre Identität ausbilden kann. Anhand der Erzählung über Deutsche in Russland, Vaters Bemühungen nach Deutschland auszufahren, sowie der Gespräche über das paradiesische Vaterland, wird das kollektive Identität der deutschen Minderheit in Russland inszeniert. 156 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2008 S.170. 70 Der Großvater erzählt viel und spricht in seinen Erinnerungen nicht nur von sich selbst. Als homodiegetischer Erzähler bedient sich er oft der communal voice. Durch WirForm spricht er für diejenigen, die mit ihm seine Erfahrungen teilten, ob im Gefängnis, in Sibirien oder im Arbeitslager bei Stalino. Dies ist an folgenden Beispielen sichtbar: „Irgendwo in der Nähe von Stalino flogen die Deutschen Luftangriffe. Wir fragten uns, wie lange würde es dauern, bis sie unsere Zelte oder die Rollbahn trafen?“ (Hummel, S. 145) „Als die Panzer abgezogen und die Leichen beseitigt worden waren und der Staub sich gelegt hatte, sahen wir, dass alles beim alten geblieben war. Die Freiheit kam nicht. Nicht für uns. Was wollten wir überhaupt noch mit ihr nach zehn, fünfzehn Jahren Gefangenschaft? Wartete draußen jemand auf uns nach so langer Zeit?“ (Hummel, S. 212) Indem die persönlichen Generationengedächtnisses gruppenspezifisch Erinnerungen werden, inszenierten wird des Großvaters er zum Vergangenheit.“157 Da zum Teil des „Sprachohr einer als er von traumatischen Erfahrungen erzählt, vom Tod und Leiden Tausender von Menschen, die verhaftet, gefoltert und hingerichtet wurden, wird ihm die Stimme der vergessenen Opfer des stalinistischen Terrors verliehen. Durch seine Erzählung wird das in der Sowjetunion Vergessene und das Verdrängte revitalisiert und damit das Opfergedächtnis inszeniert. Anhand der oben genannten Beispiel lässt sich feststellen, dass der Roman „Die Fische von Berlin“ in der Gattungstypologie der fictions of memory als Gedächtnisroman einzuordnen ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Roman nicht der Erinnerungsakt und Vergangenheitsdeutung fokussiert werden, sondern die Darstellung von Gedächtnis. 157 Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. In: Literatur In Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004. S. 351. 71 5. Gespräch mit Eleonora Hummel Kaniewska: Man spricht ständig von Familie Schmidt als von Russlanddeutschen. Fühlen Sie sich als Deutsche, Russlanddeutsche, oder bleiben Sie Kasachin? Hummel: „Russlanddeutsche“ ist ein umgangssprachlicher Begriff, der in den Medien neben „Deutsch-Russen“ oder (seltener) „Wolgadeutsche“ fälschlich benutzt wird. Zuletzt habe ich auch öfter gehört: „Deutsch-Kasachen“ (wobei ich mich frage, was das sein soll?). Ich persönlich lehne diese Bezeichnungen ab, da ich sie nicht für integrationsfördernd halte. Ich benutze den Begriff „Russlanddeutsche“ nur als Zugeständnis daran, dass er sich eingebürgert hat und für sich spricht, so dass schnell klar ist, wer gemeint ist. Korrekt wäre aber: Deutsche aus Russland/Kasachstan etc. Wenn man in der Sowjetunion aufgewachsen ist, lernt man solche „Feinheiten“ zu unterscheiden. Nur in Deutschland erlebe ich, dass z.B. in Kasachstan geborene Menschen pauschal als „Kasachen“ bezeichnet werden. Das trifft natürlich nicht zu. In Kasachstan leben neben Kasachen, Russen und Deutschen viele andere Nationalitäten. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, sämtliche Amerikaner als „Indianer“ zu bezeichnen. Kasachen sind die Urbevölkerung Kasachstans. Die aus anderen Gebieten nach Kasachstan deportierten Deutschen als „Kasachen“ zu bezeichnen, ist völlig absurd. Sie können höchstens die kasachische Staatsangehörigkeit besitzen. Bezeichnet man Russlanddeutsche als Kasachen könnten sie zu Recht etwas verständnislos reagieren. Insofern: selbstverständlich fühle ich mich als Deutsche. Ich bin nie etwas anderes gewesen. Mein Geburtsort spielt für mich keine entscheidende Rolle. Kaniewska: Erinnern Sie sich gut an die in Kasachstan verbrachten Jahre? Gedenken Sie sie positiv? Vermissen Sie diese Jahre oder erinnern Sie sich an unangenehme Situationen, die mit dem deutschen Nachnamen oder "arischem" Aussehen verbunden waren? Hummel: Ich hatte in der Privatsphäre der Familie eine behütete Kindheit. Jedoch ist das totalitäre System, in dem wir lebten, natürlich nicht völlig außen vor geblieben. Spätestens mit Schuleintritt begann für mich eine Art Doppelleben: was darf man nur zu Hause sagen, was soll man in der Schule sagen. Wie muss ich mich verhalten, um keine „politischen Belehrungsgespräche“ zu provozieren. Mir war frühzeitig klar: ich darf 72 nicht darüber reden, welche Radiosender bei uns zu Hause gehört und welche Themen von den Erwachsenen besprochen werden. Ich erinnere mich an eine Atmosphäre geistiger Enge, die von allgegenwärtiger staatlicher Propaganda forciert wurde. Die unangenehmen Situationen waren oft politischem Zwang geschuldet: Teilnahme an Demonstrationen, verpflichtende außerschulische Aktivitäten (Erntehilfe, „zivile“ Verteidigung ab Klasse 5, Altmetall- und Altpapiersammlungen). Hinzu kamen Hänseleien wegen meines „ausländisch“ klingenden Namens, der meine Herkunft sofort verriet, wo ich auch hinkam, und das Schimpfwort „Faschistin“, mit dem mich Gleichaltrige bedachten (sie hatten es oft genug von Erwachsenen gehört, denn ich möchte bezweifeln, dass Siebenjährige sich über den Begriff „Faschist“ im Klaren sind). Ich möchte diese negativen Erfahrungen nicht überbewerten, aber natürlich haben diese Dinge mich mit geprägt. Zu vermissen gibt es für mich allerdings nichts. Kaniewska: Was hat Sie eigentlich bewegt, diesen Roman zu schreiben? (Erinnerungen an Kindheit, das Gefühl des Andersseins, Sehnsucht; die Absicht, die Situation der Minderheiten zu zeigen; Wut, dass man Vieles verschweigt?) Hummel: Nichts von dem genannten. Die Motivation, diesen Roman zu schreiben, war erstens mein Wunsch, als Schriftstellerin tätig zu sein und zweitens, eine spannende Geschichte zu erzählen, die man so in Deutschland noch nicht oft gehört hat. Neben einer spannenden Geschichte, die den Leser/die Leserin unterhalten und im Idealfall zum Nachdenken bringen soll, war mir auch daran gelegen, einem Leser, der diese Geschichte nicht kennt, einen gewissen Erkenntnisgewinn zu verschaffen. Wenn man nach der Lektüre innehält, weil man vom Erzählten nicht unberührt geblieben ist, habe ich als Autorin schon viel erreicht. Insofern: die Hauptmotivation zu schreiben ist mein Wunsch, Geschichten zu erzählen, die Menschen berühren. Dabei habe ich nach dem passenden Stoff lange suchen müssen; dass ich ihn letztendlich in meiner eigenen Familiengeschichte gefunden habe, ist Zufall. Kaniewska: Man schreibt, dass Ihr Roman keine Autobiographie ist. In dem Interview mit Erinnerungen Professor gehen Carsten verloren“ Gansel sagten Sie „Nicht jedoch, in Worte dass es gefasste einige persönliche Berührungspunkte gab. „Das Messer mit dem mein Großvater unter dem 73 Kopfkissen schlief, ging mir jahrelang nicht aus dem Kopf.“ Wer hat Ihnen von dem Messer erzählt? Hummel: Es ist richtig, dass ein Roman „keine Autobiographie“ ist, es gar nicht sein kann. Dass mein Roman autobiographische Züge trägt, kann aber wohl nicht abgestritten werden – auch von mir nicht. Selbstverständlich gibt es persönliche Berührungspunkte. Die gibt es aber in jedem Schreiben, selbst bei Sachbüchern; es ist unvermeidlich, dass Erfahrungen und Meinungen des Verfassers mit einfließen, er etwas von sich hineinschreibt. M.E. ist es jedoch unwichtig für die literarische Bewertung des Geschriebenen. Es dient lediglich der Befriedigung der Neugier des Lesers auf die Person des Autors, die ja auch legitim ist. Statt diese Neugier restlos zu befriedigen bevorzuge ich jedoch, solche Dinge der Phantasie des Lesers zu überlassen. Ich kann heute nicht mehr sagen, wer mir von dem Messer erzählt hat. Man hat in der Familie darüber gesprochen. Ich habe es als Kind mitbekommen und das Gehörte hat sich im Gedächtnis festgesetzt, bis es schließlich zur „Primärvision“ meines Romans wurde: um dieses Bild herum habe ich den Rahmen (= Handlung) gestrickt. Kaniewska: In dem Interview sprachen Sie von „drei Großvätern“ Stimmt in der Wirklichkeit nur die Anzahl der Opas, oder vielleicht etwas mehr von ihrer Geschichte? Hummel: Nun ja, es stimmt schon einiges mehr in meinem Roman, aber es ist kein Sachbuch, es erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch und ich halte es für unnötig, Punkt für Punkt aufzuzählen, was davon wahr ist und was ausgedacht. Es ist ein literarisches Werk, in dem Fiktion naturgemäß einen großen Anteil hat. Das Fundament jedoch ist real und exemplarisch für hunderttausende andere Schicksale. Kaniewska: Haben Sie das Foto „Igarka 1956“ völlig ausgedacht? War jemand vielleicht von Ihren Angehörigen in Igarka? Hummel: Es gibt tatsächlich ein ähnliches Foto, das mich inspiriert hat. Es wurde 1957 in Omsk aufgenommen, dem Ort, in dem mein wahrer Großvater tatsächlich 11 von seinen 25 aufgebrummten Jahren Lagerhaft abgesessen hat. Auf Igarka und Norilsk bin ich gekommen, weil mein einziger verfügbarer Augenzeuge von diesen Orten aus eigener Erfahrung berichten konnte. Meinen Großvater konnte ich nicht mehr befragen, da er zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben war. Es war mir wichtig, nicht nur auf „Buchwissen“ zurückzugreifen, sondern Informationen aus erster Hand zu erhalten. Daher bin ich bei den genannten Orten von der Realität abgewichen. Das heißt also, ja, 74 ein Angehöriger von mir war in Igarka. Es handelt sich um einen Großonkel, der vor wenigen Jahren im Alter von 95 gestorben ist. Seine Erinnerungen an die Zeit im Norillag waren noch sehr klar und haben mir bei der Beschreibung des Lagers sehr geholfen. Kaniewska: Erinnert man sich in Deutschland oder in Russland an „Russlanddeutsche“? Gibt es Denkmäler, Feiertage oder Spuren, dass es in der ehemaligen Sowjetunion Deutsche gab, die man als Volksfeinde betrachtet hat? Hummel: Denkmäler wird es schon geben (zumindest in Deutschland ist mir eine Plastik eines russlanddeutschen Künstlers bekannt), Feiertage sind mir nicht bekannt. Eine enge Verbindung zwischen Russland und Deutschland gibt es ja schon seit Jahrhunderten und selbstverständlich haben Deutsche in Russland Spuren hinterlassen. Am Hofe Peter I. gab es zahlreiche deutsche Künstler, Gelehrte und Handwerker, die für einen regen Austausch sorgten. Als Katharina II. deutsche Kolonisten ins Land holte, haben diese ganze Landstriche urbar gemacht, Dörfer, Kirchen, Schulen gebaut, Landwirtschaft, Viehzucht und Handwerk betrieben. Wie viel davon noch im Bewusstsein der heutigen Bevölkerung ist, lässt sich für mich schwer sagen. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass der Anteil der Deutschen heute überhaupt ein Thema in Russland ist, geschweige denn Schulstoff. Auch in Deutschland werden die Hintergründe viel zu wenig thematisiert. Die meisten Einheimischen wissen nicht und wollen auch z. T. nicht verstehen, warum die Bundesrepublik Millionen deutscher Aussiedler aus Russland wieder aufgenommen hat, nachdem deren Vorfahren vor Jahrhunderten als „Wirtschaftsflüchtlinge“ „freiwillig“ ausgewandert waren. Aber jetzt, da es ihnen in Russland nicht mehr gefiele und höchstens noch ein „deutscher Schäferhund des Uropas“ (oft gehörter Spruch in Bezug auf Spätaussiedler) an ihre Herkunft erinnere, kämen sie wieder in Massen hierher. So denken leider viele „Einheimische“, wenn von Aussiedlern die Rede ist. Hier müsste die Politik anknüpfen und bessere Aufklärung über die Geschichte der Deutschen aus Russland betreiben. Als Teil deutscher Geschichte sollte die Aus- und Rückwanderung in allen Bundesländern als Schulstoff vermittelt werden. Kaniewska: Ist oder war die Geschichte Russlanddeutschen politisch instrumentalisiert? Spricht man in der Gegenwartpolitik in beiden Ländern davon oder ist Schwamm drüber gelegt worden? 75 Hummel: Die aktuelle Integrationsstudie der Bundesregierung hat belegt, dass die Russlanddeutschen die am besten integrierte Migrantengruppe ist. Das ist sehr erfreulich und sollte m. E. noch stärker thematisiert werden. Ich hatte den Eindruck, dass diese gute Nachricht recht schnell wieder vom Bildschirm der Medien verschwunden ist. Fallen z.B. russlanddeutsche Jugendliche negativ auf, scheinen sie mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie die aktuelle Lage in Russland ist, kann ich nicht beurteilen. In Kasachstan soll die Regierung „Rückkehrerprogramme“ verabschiedet haben, um Russlanddeutsche, die in der Bundesrepublik beruflich keinen Fuß fassen konnten oder aus anderen Gründen unzufrieden sind, wieder zurück zu locken. Wie erfolgreich diese Programme sind, kann ich nicht sagen. Man spricht von mehreren hundert Familien, die dem Ruf der kasachischen Regierung gefolgt sein sollen. Ich gehe davon aus, dass man in den ehemaligen Siedlungsgebieten (Ukraine, Russland, Kasachstan) die Geschichte der Russlanddeutschen noch weniger thematisiert als in der Bundesrepublik. Ein Grund mag darin liegen, dass nur noch wenige Betroffene (Russlanddeutsche) dort verblieben sind. Ein anderer Grund mag sein, dass diese Geschichte zu bedrückend für die Beteiligten ist, um sich mit ihr auseinander zu setzen und man dazu neigt, Gras darüber wachsen zu lassen. Kaniewska: Kennen Sie die Geschichten über Lager, Stalin, KGB noch aus der Zeit der Kindheit, oder haben Sie es erst in Deutschland erfahren oder selbst nachgeforscht? Hummel: Ich bin mit diesen Geschichten im Hintergrund aufgewachsen, habe mich aber erst bewusst dafür interessiert, als mein Großvater (der einzige von den dreien, den ich kennenlernen durfte) verstorben war und mir klar wurde, dass ich ihn nie mehr würde etwas persönlich fragen können. Damals war ich 19 und lebte bereits jahrelang in Deutschland, seitdem ist mein Interesse erwacht. Inzwischen habe ich mich eingehend mit dem Thema befasst. Es ist noch längst nicht alles dazu gesagt. Kaniewska: Ich bedanke mich bei Ihnen dafür, dass Sie für unser Gespräch Zeit gefunden haben. Und natürlich herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung „Die Venus im Fenster“ ! Leser, die das Leben von Alina berührt hat, werden bestimmt froh, die Fortsetzung ihrer Geschichte verfolgen zu können. [Dieses Gespräch wurde am 7. April 2009 durchgeführt – D.K.S] 76 6 Schlussbetrachtungen Der Roman „Die Fische von Berlin“ von Eleonora Hummel ist nicht nur eine Erzählung über Familie Schmidt. Der mit traditionellen literaturgeschichtlichen Ansätzen untersuchte Bezug auf die außertextuelle Wirklichkeit verweist bereits darauf, dass der Roman weitaus mehr als Familiengeschichte zu bieten hat. Hinter dem Familienleben verbergen sich Geschichtsbilder, die einen neuen Zugang zur Geschichte der Deutschen eröffnen. In der Darstellungsverfahren Analyse als wurde Medium der des Roman anhand Gedächtnisses der präsentiert literarischen und als Gedächtnisroman in die Gedächtnisgattung fictions of memory eingeordnet. Wie in der Analyse bereits gezeigt wurde, sind im Roman verschiedene Gedächtnisformen inszeniert worden. In der Figurenanalyse wurden zwei Hauptfiguren präsentiert, deren persönliche Erinnerungen im Roman im Fokus stehen. Ihre Lebensgeschichten und Umgebung sowie Beziehungen zu anderen Menschen wurden zu Faktoren, die das individuelle Gedächtnis der Figuren beeinflussten. Am Beispiel der Interaktion der einzelnen Familienmitglieder und der daraus resultierenden unterschiedlichen Vergangenheitsversionen wurde das Generationengedächtnis problematisiert und dabei veranschaulicht, wie der Generationenwechsel der Zeitzeugen die Wahrnehmung der geschichtlichen Ereignisse beeinflusst. In der Analyse wurde auch das Phänomen der Erinnerungsverdrängung in der Familie Schmidt thematisiert, das sich aufgrund der traumatischen Erfahrungen einzelner Familienmitglieder manifestierte. Darüber hinaus wurden im Roman zwei Basis-Register des kollektiven Gedächtnisses, das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis anhand der Interdiskursivität und der Intermedialität dargestellt. In diesem Zusammenhang wurde Wirkung der Medien auf individuelle und kollektive Kommemoration gezeigt. In der Analyse wurde auch Siegergedächtnis problematisiert und am Beispiel der generationsübergreifenden Erfahrungen das Opfergedächtnis diskutiert. Die Analyse von „Die Fische von Berlin“ ließ feststellen, dass der Roman ein Medium des kollektiven Gedächtnisses ist. Der Roman erfüllt eine Erinnerungsfunktion, indem er die nicht aktualisierten Elemente der Erinnerungskultur einschließt. Eleonora Hummel kommentiert diese Problematik folgendermaßen: „Es gibt auch heute keinen würdigen Umgang mit Opfern des Stalinismus. Die Archive sind für die Öffentlichkeit 77 wieder geschlossen. Als hätte es diese kurze >> Tauwetterperiode<< in den 90ern nie gegeben. Als wäre man damals über die Dinge, die ans Licht kamen, dermaßen erschrocken gewesen, dass man den Deckel über der Kiste mit Erinnerungen schnell wieder zugeklappt hat.“158 Im Roman wird die unwürdige Behandlung der Menschen in der Zeit des Stalinismus problematisiert sowie Zwangslage der Nachkriegsgeneration der Deutschen, die aus der Sowjetunion nicht auswandern durften. Da Eleonora Hummel nicht der Schriftsteller–Elite angehört, deren Werke kanonisiert werden, besteht kaum eine Chance, dass der Roman etwas auf der politischen Szene bewirkt. Das Kollektivgedächtnis refigurierende Wirkung lässt sich jedoch dadurch bemerken, dass der Roman Widerhall in der Öffentlichkeit fand. Der Autorin für ihr Romandebüt verliehener Albert-von-Chamisso-Förderpreis sowie zahlreiche Pressestimmen, die die Problematik des Romans erkannten, zeugen davon, dass der Roman in breiten gesellschaftlichen Kreisen rezipiert wurde. Die Autorin stieß auch auf einen indirekten Verweis seitens eines Journalisten, den sie dergestalt beschreibt: „Ein russischer Journalist empfahl mir, mich in Zukunft anderen Themen zuzuwenden, denn » wozu die traurigen Geschichten aufwärmen, über die schon alles gesagt ist?«.“159 „Ich weiß auch heute nicht, was einfacher ist, zu schweigen oder zu reden….“ 160 Die Worte des Großvaters problematisieren die aktuelle Frage: Soll man die Vergangenheit aufrühren oder lieber der Vergessenheit anheim fallen lassen? Die zeitgenössischen Europäer versuchen sich mit der problematischen Vergangenheit auseinander zu setzen. Während manche für Genugtuung plädieren, sprechen sich andere für kollektive Amnestie aus. Das Vergessen würde jedoch die Ignoranz gegenüber den Opfern bedeuten, und das Schweigen würde als Akzeptanz der verbrecherischen Taten gelten. Der Streit verschiedener Erinnerungsgemeinschaften um die Erinnerungshoheit sowie daraus resultierende Verdrängung und Ersetzung der Erinnerungen verursachen, dass Vieles unausgesprochen bleibt und vergessen wird. Literatur ist dann der beste Weg, dem drohenden Vergessenen entgegenzuwirken. 158 Gansel, Carsten , Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren - ein Gespräch. In: Carsten Gansel (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007 S. 291. 159 Gansel, Carsten , Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren - ein Gespräch . S. 291. 160 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005/2006. S. 83. 78 7 Literaturverzeichnis Armborst, Kerstin: Ablösung von der Sowjetunion: die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. 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Göttingen: V&R unipress 2007 Gansel, Carsten: Kinder und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Scriptor 2002 Gebauer, Gunter; Wulf, Christoph: Soziale Mimesis. In: Wulf, Christoph (Hrsg.), Dietmar Kamper; Hans Ulrich Gumbrecht: Ethik der Ästhetik. Berlin: Akademie Verlag 1994 Genette, Gerard: Die Erzählung. 1./ 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag 1994/1998 Griese, Birgit: Zwei Generationen erzählen: narrative autobiographischen Erzählungen Russlanddeutscher. Identität in Frankfurt a. M. : Campus Verlag 2006 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Familiengedächtnis. In: Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen. Berlin; Neuwied: Luchterhand 1966 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005,2006 Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft: Begriffe, Verfahren, Arbeitstechniken. Berlin: Walter de Gruyter: 2004 Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung: die Geschicke einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses. Osteuropa– Studien Bd.3. LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 1999 Kriese, Birgit: Zwei Generationen erzählen: Narrative Identität in autobiographischen Erzählungen russlanddeutscher. Campus Verlag, 2006 Lanser, Susan: Fictions of Authority: Women Writers and Narrative Voice. Cornell University Press 1992 S. 20ff. Zitiert nach Birgit Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. Middeke, Martin: Zeit und Roman: Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002 80 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. 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Hamburg: Hamburger Ed. 2001 Wischermann, Clemens (Hrsg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Studien zur Geschichte des Alltags. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002 www.eleonora-hummel.de 81