Neumann 2002. S. 5.

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Zur literarischen Inszenierung von Gedächtnis
und Erinnerung in Eleonora Hummels Roman
„Die Fische von Berlin“
INHALTSVERZEICHNIS
1
EINLEITUNG
2
2
ZU ASPEKTEN VON GEDÄCHTNIS UND ERINNERUNG
4
2.1
GEDÄCHTNISFORMEN: ALEIDA UND JAN ASSMANN
4
2.1.1
INDIVIDUUM UND GENERATION
8
2.1.2
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS
11
2.1.3
KOMMUNIKATIVES GEDÄCHTNIS VS. KULTURELLES GEDÄCHTNIS
14
2.2
SOZIOKULTURELLER ASPEKT DER GEDÄCHTNISTHEORIE
16
3
LITERATUR ALS GEDÄCHTNISMEDIUM
20
3.1
LITERARISCHE WELTERZERZEUGUNG NACH PAUL RICOEUR
20
3.2
GATTUNGSTYPOLOGIE DER FICTIONS OF MEMORY: GEDÄCHTNISROMAN
VS. ERINNERUNGSROMAN
23
3.3
FÜNF MODI DER RHETORIK DES KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNISSES
29
4
ZUR ANALYSE VON ELEONORA HUMMELS ROMAN
„DIE FISCHE VON BERLIN“
35
4.1
ZUM INHALT UND ZUM TITEL DES ROMANS
35
4.2
„DIE FISCHE VON BERLIN“ - EIN AUTOBIOGRAFISCHER ROMAN
37
4.3
ZUR RHETORIK DER ERINNERUNG
39
4.3.1
ZUR AUßERLITERARISCHEN WELT – MIMESIS I
39
4.3.2
ZUR FIGURENANALYSE
44
4.3.3
ERZÄHLERISCHE VERMITTLUNG VON ERINNERUNGEN ANHAND DER
ERZÄHLTHEORIE VON GERARD GENETTE.
50
4.3.4
ZUR ZEITDARSTELLUNG IM ROMAN
54
4.3.5
ZU MODI DER GEDÄCHTNISRHETORIK IM ROMAN
59
4.4
ERINNERUNGSGESTALTUNG IN DER DREI-GENERATIONEN-FAMILIE
65
4.5
VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG UND IDENTITÄT IM GEDÄCHTNISROMAN
68
1
5
GESPRÄCH MIT ELEONORA HUMMEL
72
6
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
77
7
LITERATURVERZEICHNIS
1
Einleitung
782
„Wie nach Rom führen viele Wege zum Gedächtnis.“1 Mit diesen Worten hebt Aleida
Assmann, eine deutsche Anglistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, die Vielzahl
der
Wissenschaftsbereiche
hervor,
in
denen
sich
das
Gedächtnis
als
Untersuchungsgegenstand etablierte. Mit diesem Phänomen setzten sich bereits in der
Antike Dichter und Philosophen auseinander. Im Laufe der Zeit wurde es zum
Diskussionsthema
unter
anderen
der
Theologen,
Psychologen
und
Medienwissenschaftler. Da jede Disziplin das Gedächtnis aus einer anderen Perspektive
betrachtete, entstand ein breites Spektrum der Studien, die die Gedächtnistheorie
beachtlich ausbauten. Dazu trägt auch die Literaturwissenschaft bei, die das Gedächtnis
im Bezug auf literarische Texte untersucht. In der Literatur wird nicht nur das
Gedächtnis selbst, sondern seine Erscheinungsformen und damit verbundene
Erinnerungsprozesse mithilfe von narrativen Verfahrensweisen präsentiert.
In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeichnet sich in den letzten Jahren die
Tendenz zu der Erinnerung an den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie an
Nachkriegszeit ab. Konjunktur der Romane, in denen Gedächtnis und Erinnerung ins
Gewicht fallen, lässt sich einerseits mit dem Willen der Autoren erklären, das
Schweigen über Vergangenheit zu brechen. Andererseits bieten Kriege einen
interessanten Stoff an, der sich in Verbindung mit literarischer Fiktion gut vermarkten
lässt. Abgesehen von dem Schreibanlass erlaubt die garantierte Meinungsfreiheit sowie
Mangel an Zensur offene Darstellung vergangener Ereignisse und die Offenbarung der
kontroversen Themen, die bisher ausgeblendet waren. Seit 1989 bemerkt man auf der
politischen Szene Rückkehr der Erinnerung. Der öffentliche Umgang mit der
1
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.
München: C.H. Beck 1999. S 27.
2
unbewältigten Vergangenheit braucht jedoch Zeit und Diplomatie. Während in der
politischen Debatten nur ausgewählte Elemente der Geschichte erörtert werden, ist
Literatur ein Instrument, das die politischen Erinnerungslücken füllen kann. Sie
verweist auf Akte des Vergessens und bietet die Möglichkeit, sich die Vergangenheit
aus einer neuen Perspektive anzusehen.
Einen Blick in die Vergangenheit vermittelt der Roman „Die Fische von Berlin“ von
Eleonora Hummel, der der Analysegegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Er zeigt die
bisher selten in der Öffentlichkeit angesprochene Problematik von Deutschen auf, die
seit Generationen auf den russischen Gebieten wohnen und trotzdem eine starke innere
Verbundenheit mit ihren Vorfahren und mit dem Vorväterland spüren. „Die Fische von
Berlin“ gehört zu denjenigen Romanen, die einen neuen Weg einschlagen und Deutsche
in einem anderen Licht im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg darstellen. Im Roman
werden diejenigen Ereignisse und Momente vor dem geschichtlichen Hintergrund
exponiert, die für die erinnernden Individuen eine besondere Rolle spielen. Ob das
Dargestellte der wahren Vergangenheit entspricht, ist eine andere Frage. Bei dem
Erinnerungsboom in der Literatur handelt sich jedoch nicht ausschließlich um
dokumentarisch bewiesene Ereignisse, sondern um subjektiv erlebte oder vorgestellte
Vergangenheit.
Die These der vorliegenden Magisterarbeit ist es, dass in Eleonora Hummels Roman
„Die Fische von Berlin“ Erinnerung in einer Weise materialisiert wird, die den Roman
in Verbindung mit literarischen Darstellungsverfahren zu einem Medium des
Gedächtnisses macht. In dieser Arbeit werden entsprechend zwei Schwerpunkte
behandelt: Zum einen wird die theoretische Grundlage gelegt, auf dem der Roman im
Nachstehenden analysiert wird. Als Erstes werden daher zwei Phänomene diskutiert:
Erinnerung und Gedächtnis, die für Verständnis weiterer Theorien äußerst wichtig sind.
Zudem werden Gedächtnisformationen u. a. kollektives Gedächtnis aus der modernen
kulturwissenschaftlichen Sicht von Aleida und Jan Assmann dargestellt und anhand der
länger bestehenden Theorie von Maurice Halbwachs im soziokulturellen Kontext
verortet. Darüber hinaus wird das Zusammenwirken von Literatur und Erinnerung
skizziert. Es wird der Begriff fictions of memory als literarische Gedächtnisgattung mit
ihrer Binnendifferenzierung expliziert und die Rhetorik der Erinnerung als Strategie,
die literarische Formen mit erinnerungskulturellen Kontexten aneinander fügt,
3
präsentiert. Dabei werden auch textuelle Darstellungsverfahren erwähnt, die
Inszenierung von Gedächtnis und Erinnerung ermöglichen und literarische Texte als
Gedächtnismedien funktionalisieren. Der zweite Schwerpunkt betrifft die Präsentation
der Erinnerungen im Roman in Anlehnung an Assmanns Gedächtnistheorie. Einer
genauen Untersuchung werden die gedächtnistheoretischen Konzepte sowohl aus der
literarischen als auch sozialen Sicht unterzogen. In den Fokus werden Erinnerungen von
Hauptfiguren: Alina und dem Großvater gestellt und mithilfe der narrativen
Inszenierungsverfahren wie Erzähl- und Zeitform an Beispielen im Roman
konkretisiert. Es wird auch das Generationengedächtnis und sein Einfluss auf
individuelle Erinnerungen sowie Unterschiede in der Wahrnehmung von Vergangenheit
und Identitätsausbildung in der Drei-Generationen-Familie zur Darstellung gebracht.
Zum Schluss wird die Zusammenfassung der Analyseergebnisse präsentiert.
2.
Zu Aspekten von Gedächtnis und Erinnerung
2.1
Gedächtnisformen: Aleida und Jan Assmann
Das folgende Kapitel stellt die Theorie von Aleida und Jan Assmann zum Thema
Gedächtnisformen dar. Die Gedächtnis-Präsentation verlangt allerdings eine Erklärung
der Grundbegriffe, wie Gedächtnis und Erinnerung, die für das Verständnis der
weiteren Kapitel äußerst wichtig sind und zugleich die Grundlage dieser Arbeit bilden.
Für die Untersuchung der Begriffe erweist es sich als relevant, die von Aleida Assmann
vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Gedächtnis als ars und vis zu skizzieren.
Gedächtnis als ars hat seinen Ursprung in der antiken Mnemotechnik - der
Gedächtniskunst: „Die römische Mnemotechnik wurde konzipiert als ein erlernbares, zu
ganz verschiedenen Zwecken einsetzbares Verfahren, das zuverlässige Speicherung und
identische Rückholung des Eingegebenen anzielt.“2
2
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.
München: C.H. Beck 1999. S. 27.
4
Aleida Assmann nennt dieses Verfahren Speichern, das sie mit Auswendiglernen als
einem bewussten und geplanten Akt vergleicht. Hier spielt die Zeitdimension keine
Rolle und der Output gleicht immer dem Input. Gedächtnis als vis wird dagegen als
Prozess des Erinnerns charakterisiert, bei dem die Zeit modifizierend mitwirkt, sodass
zwischen
der
Form
der
eingelegten
Informationen
und
ihrer
Rückholung
Unstimmigkeiten bestehen. Das Gedächtnis ist in diesem Fall als eine Energie zu
interpretieren:
„Diese Energie kann die Möglichkeit des Rückrufs erschweren wie im Fall
des Vergessens oder blockieren wie im Fall des Verdrängens, sie kann
aber auch von einer Einsicht, vom Willen oder einer neuen Bedürfnislage
gelenkt sein und zu einer Neubestimmung der Erinnerungen
veranlassen.“3
Die Unterscheidung in ars und vis des Gedächtnisses indiziert bereits die
terminologische Abgrenzung von Gedächtnis und Erinnerung. Obwohl beide Begriffe
in der deutschen Sprache oft als Synonyme verwendet werden, lassen sie in der
Gegenüberstellung differente Merkmale erkennen. Selbst in der Etymologie der Wörter
sind Unterschiede zu sehen: Erinnerung ist vom Verb erinnern abgeleitet, Gedächtnis
dagegen von denken und gedenken.
Aleida Assmann spricht sich dafür aus, beide Begriffe nicht als Begriffsoppositionen,
sondern als Begriffspaar zu bestimmen. Ihre Stellungnahme ist dadurch belegt, dass
beide Begriffe miteinander in Zusammenhang stehen, in dem sie sich komplementär
zueinander verhalten.:
„ ‚Erinnern’ (steht) in der Regel für die Tätigkeit des Zurückblickens auf
vergangene Ereignisse, ‚Gedächtnis’ hingegen für die Voraussetzung
dieser Tätigkeit, verankert im biologischen Organ des Gehirns […].Ohne
ein organisches Gedächtnis kann sich niemand erinnern; Gedächtnis steht
demnach für die allgemeine Anlage und Disposition zum Erinnern […],
Erinnern bezieht sich demgegenüber auf die konkreten und
diskontinuierlichen Akte des Erinnerns […].“4
Aleida Assmann zufolge ist Erinnerung ein untrennbarer Teil des Gedächtnisses.
Dementsprechend ist das Gedächtnis sowohl organisches Substrat des Erinnerns, als
3
4
Ebd., S. 29.
Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen.
Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006. S. 180.
5
auch Ergebnis und Sammelbegriff für Erinnerungen.5 Von diesem Standpunkt aus kann
mit Gedächtnis ein passiver Speicher der angesammelten Daten gemeint werden, aus
dem die aktiven Erinnerungen auswählen und aktualisieren.6
Die oben angegebene Erläuterung der Begriffe soll in die Komplexität der GedächtnisThematik einführen, die sich in verschiedenen Wissenschaftsbereichen u. a. in der
Geschichtswissenschaft, Soziologie und auch in der Literaturwissenschaft etablierten.
Die Interdisziplinarität des Gedächtnisphänomens trug dazu bei, dass eine Vielfalt
seiner Erscheinungen entstand, die nicht nur im fachübergreifenden Kontext sondern
auch
innerhalb
einzelner
Wissenschaftsdisziplinen
bei
einer
Konfrontation
Ambivalenzen aufweisen. Aus diesem Grund versuchte Aleida Assmann einen
integrativen Blick in das Spektrum der Gedächtniskonzeptionen zu verschaffen, indem
sie ein eigenes Gedächtniskonzept vorschlug.7 Dieses soll die Verbindungslinien
sämtlicher Forschungsdomäne zeigen und Gemeinsamkeiten über Disziplin-Grenzen
hinweg präzisieren. Die Forscherin stützte sich dabei auf theoretischen Ansätzen
anderer Wissenschaftler, die einen Beitrag zu Klärung des Gedächtnisbegriffes aus
unterschiedlichen Blickwinkeln leisteten. Von Bedeutung sind hier Studien des
französischen Soziologen Maurice Halbwachs, auf dem später in dieser Arbeit Bezug
genommen wird. Aleida Assmann unterscheidet in ihrem Gedächtniskonzept vier
Stufen des Gedächtnisses, die sie auch Formen oder auch Formationen nennt. Diese
werden nach folgenden Kriterien unterschieden: „Nach Raum- und Zeitradius,
Gruppengröße sowie nach Flüchtigkeit und Stabilität“.8 Die stufenartige Gliederung
vom Gedächtnis des Individuums und der Generationen über die kollektive Ebene bis
zum kulturellen Gedächtnis weist darauf hin, dass die einzelnen Formen, eine nach der
anderen, gemäß den aufgestellten Kriterien ein immer größeres Ausmaß annehmen. Es
ist auch zu unterstreichen, dass alle vier Formationen interferieren:
„[…] wir (sind) als Individuen mit unseren biographischen Erinnerungen
in unterschiedliche Gedächtnishorizonte eingespannt, die immer weitere
Kreise ziehen: das Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft, der
Generation, der Gesellschaft, der Nation, der Kultur. Es ist nicht immer
5
Vgl., ebd.
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. S.160.
7
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), H. 2,
S.183.
8
Ebd., S.184.
6
6
leicht zu bestimmen, wo die eine Gedächtnisform aufhört und die andere
anfängt […].“9
Sie basieren aufeinander, greifen ineinander und stehen miteinander in einer
wechselseitigen Beziehung. Daher sind die Trennungslinien zwischen den einzelnen
Gedächtnisformen nicht klar markiert. Laut Aleida Assmann dient die Aufteilung der
Formationen
nicht
ihrer
Abgrenzung,
sondern
der
Hervorhebung
ihrer
Andersartigkeiten.
Während Jan Assmann das kollektive Gedächtnis vorschlägt, das er in zwei weitere
unterteilt, in kommunikatives und kulturelles Gedächtnis, stellt Aleida Assmann vier
Formen des Gedächtnisses zur Diskussion dar. Dies hat zur Folge, dass Jan Assmann in
seiner Theorie zwar das individuelle Gedächtnis berücksichtigt, jedoch nur als Teil des
kommunikativen Gedächtnisses.10 In den nachstehenden Unterpunkten werden einzelne
Formen des Gedächtnisses in Anlehnung an Theorien von Jan und Aleida Assmann
dargelegt.
9
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 184
Vgl., ebd.
10
7
2.1.1 Individuum und Generation
Aleida Assmann unterscheidet in ihrer Gedächtnisforschung unter anderen zwischen
dem individuellen Gedächtnis und dem Generationengedächtnis. Die Aufteilung der
Formationen dient jedoch keineswegs ihrer Abgrenzung, wie es bereits im Punkt 2.1
erläutert wurde, sondern der Hervorhebung ihrer Andersartigkeiten. 11 Diese zwei
Formationen werden durch entsprechende Merkmale charakterisiert, die einen tiefen
Einblick sowohl in die Differenzierung als auch in die Wechselbeziehung der Termini
verschaffen sollten.
Das individuelle Gedächtnis bezieht sich auf ein Erinnerungsvermögen einer einzelnen
Person. Die Individualität der Menschen verursacht, dass sie unterschiedliche
Wahrnehmungspositionen einnehmen und dadurch aus einer anderen Perspektive die
Welt betrachten. Daher sind die persönlichen Erinnerungen in der Theorie von Aleida
Assmann „perspektivisch und darin unaustauschbar und unübertragbar“.12 Es muss
hierbei hervorgehoben werden, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen
Meinungsaustausch im Prozess der Interaktion handelt. In dieser Hinsicht weisen die
Unaustauschbarkeit und Unübertragbarkeit auf die eigenartige Natur des Menschen hin,
dank der ein und derselbe Sachverhalt von zwei Personen anders erinnert wird. Dazu
tragen zahlreiche Faktoren bei, die Persönlichkeit eines Menschen bilden, wodurch jede
einzelne Person das Wesentliche an einer Sache an einer anderen Stelle erfasst und
dieses in Erinnerung hat. Zu weiteren Eigenschaften des individuellen Gedächtnisses
lässt sich auch das fragmentarische Wesen der Erinnerungen rechnen. Laut Aleida
Assmann sind sie „begrenzt und ungeformt“.13 Hierzu lässt sich die Eigenart der
11
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002) H. 2,
S.183.
12
Ebd., S. 184.
13
Ebd.
8
Erinnerungen mit Gedanken vergleichen, die oft unbewusst durch den Kopf gehen, ohne
den klaren Rahmen schweben und wie im Nebel erscheinen, um danach zu
verschwinden. Erst in Worte gekleidet, nehmen sie eine feste Gestalt an und erhalten
eine Struktur. Diese erlaubt, die einzelnen Erinnerungen in eine wechselseitige Relation
zu setzen und sie miteinander zu ergänzen.
Einmal schriftlich oder mündlich dargestellte Erinnerungen garantieren jedoch nicht für
ihre Beständigkeit, denn erst „oft wiederholte Erinnerungen sind am besten
konserviert.“14 Trotzdem bleiben sie instabil. Unter dem Einfluss des Umfelds sowie
der eigenen Persönlichkeitsentfaltung ändern sich alle Erinnerungen bis zu einem
gewissen Grade. Indem die Menschen im Laufe der Zeit ihre Weltanschauung ändern
und die Vergangenheit aus einer anderen Perspektive betrachten, erfahren ihre
Erinnerungen einen Wandel. Außerdem stehen Erinnerungen einer Person mit den
Erinnerungen Anderer in einem Zusammenhang und werden ständig mit ihnen
konfrontiert. In Folge der alltäglichen Kommunikation werden die Erinnerungen
einander mitgeteilt. Während einige miteinander konform gehen und demzufolge dem
Gedächtnis eingeprägt werden, finden die anderen keine Bestätigung. Diese lassen nach
und daraufhin entfallen oft dem Gedächtnis.15
Die oben angegebenen Merkmale der persönlichen Erinnerungen fügen sich zu dem
Begriff des individuellen Gedächtnisses zusammen. Sein Wirkungsbereich lässt sich
sowohl räumlich als auch zeitlich bestimmen. Den Raum setzt die Reichweite des
individuellen Gedächtnisses fest, nämlich an allen Orten, wo die Erinnerungen der
Einzelmenschen mit den Erinnerungen der anderen Menschen in Berührung kommen
oder aus gemeinsamen Erfahrungen hervorgehen. Laut Aleida Assmann sind den
Erinnerungen „feste zeitliche Grenzen gesetzt“.16 Sie vergehen, indem ihr Träger sein
Leben beschließt. Darüber hinaus erstreckt sich die Existenz-Zeit der individuellen
Erinnerungen von 80 bis auf 100 Jahre. Dies ist ein Zeitabschnitt, in dem drei bis fünf
Generationen
zeitgleich
bestehen.
Während
die
Generationenmitglieder
ihre
persönlichen Erinnerungen in einem Familien- oder Bekanntenkreis einander mitteilen,
vergrößert
sich
ihr
Erinnerungsschatz.
Diejenigen
Erinnerungen,
die
längst
14
Ebd.
Vgl., ebd.
16
Ebd.
15
9
verschwunden sein könnten, werden durch Nachfragen der Bekannten wieder ins
Bewusstsein gerufen. Geschichten, die mehrmals gehört wurden, überlagert sich mit
dem Selbsterlebten und werden durch das Weitererzählen als eigene Erinnerung
gefestigt.17 Der gegenseitige Einfluss der individuellen Erinnerungen verursacht, dass
sie immer größere Kreise ziehen.
Demzufolge ist das individuelle Gedächtnis in seiner Komplexität in ein größeres
Gedächtnis der Generation einbezogen. Die persönlichen Erinnerungen sind mit dem
Generationen-Gedächtnis eng verbunden und stehen mit ihm in Korrelation.
Zusammenhängende
individueller
Erinnerungen
gestalten
das
Generationen-
Gedächtnis. Dieses wiederum ist ein wichtiger Faktor in der Entwicklung des
individuellen Gedächtnisses. Während ein individuelles Gedächtnis auf persönliche
Erinnerungen eines Individuums zurückzuführen ist, lässt sich das GenerationenGedächtnis von den gemeinsamen Erinnerungen einer Gesamtheit der Menschen
ungefähr gleicher Altersstufe herleiten. Aufgrund des Lebens in einer Gemeinschaft, ob
es ein Bekanntenkreis, eine Stadt oder noch eine größere Gesellschaftsform ist, bilden
sich Gruppen heraus, derer Angehörige ihre Erinnerungen austauschen. Auch wenn sie
sich nicht kennen und der persönliche Austausch zwischen ihnen nicht zustande kommt,
können sich ihre Erinnerungen gegenseitig bestätigen. Damit es möglich wäre, müssen
sie einen gemeinsamen Bezugspunkt haben. Ähnliche Lebensauffassung und
Haltungen, vergleichbare Werte und Hoffnungen, die für eine Generation repräsentativ
sind, schaffen einen Erfahrungshintergrund, der eine Grundlage für gemeinsame
Erinnerungen der Generationsmitglieder ist. Die Gesamtheit der Erinnerungen einer
Generation nennt Aleida Assmann das „Erinnerungsprofil“18. Aus ihm resultiert das
Generationen- Gedächtnis.
Sein Dauer ist durch Generationenwechsel bestimmt, der jeweils nach ungefähr 40
Jahren stattfindet.19 Wechselt die Generation, verändert sich auch das Erinnerungsprofil,
das durch die Überzeugungen, Wertmaßstäben und Perspektiven bedingt ist. Innerhalb
einer Familie ist die Abgrenzung der einzelnen Generationen ganz klar. Bestimmte
Generationen unterscheiden sich voneinander jedoch nicht nur durch das Alter sondern
17
Vgl., ebd. S. 185.
Ebd.
19
Vgl., ebd.
18
10
auch durch ihre Zeitlichkeit. Ein Geschehen bringt andere Wahrnehmungen bei kleinen,
jungen und alten Menschen hervor, noch andere in der Kriegs- oder Friedenszeit. Hier
sind historische Ereignisse und „gesellschaftliche Innovationen“20 entscheidend, die
Weltanschauung der einzelnen Generationen prägen.
Ein Altersabstand zwischen Generationen kann beispielsweise nur drei Jahre betragen.
Er ist aber groß genug, damit die Generationen ein Ereignis aus unterschiedlichen
Perspektiven einschätzen könnten. Zahlreiche Komponenten des Lebens, wie
Geburtsjahr, Begleitumstände oder Handelnsmöglichkeiten bewirken, dass sich jede
Generation als außergewöhnlich betrachtet und das Erlebte anders als andere
Generation versteht. Daher hält sich jede einzelne Generation für unterschiedlich im
Vergleich zu allen anderen.21 Darüber hinaus beruht die Entwicklung einer Generation
entweder auf der Prägung der Schlüsselerlebnisse oder auf der bewussten Abwendung
von dem Bestehenden.
2.1.2 Das kollektive Gedächtnis
Das kollektive Gedächtnis ist eine Formation, die sich selbst naturwüchsig nicht
herausbildet, weil sie keine biologische Grundlage hat.22 Sie wird hingegen geschaffen.
Das kollektive Gedächtnis, auf der dritten Stufe der Gedächtnistheorie von Aleida
Assmann lokalisiert, bezieht sich auf Institutionen und Körperschaften, die zielbewusst
bestimmte
Gedächtnisinhalte
konstruieren.
Diese
werden
mithilfe
von
den
Gedächtnismedien den Individuen übertragen. Symbolische Stützen, wie Denkmäler
und regelmäßige Riten verpflichten sie, die Gedächtnisinhalte zu vertreten und die
treibende Kraft des kollektiven Gedächtnisses zu sein.23 Aufgrund dessen werden die
Erinnerungen fundiert. Bevor man etwas Bestimmtes in das kollektive Gedächtnis
20
Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung bis öffentlichen
Inszenierung. München: Verlag Z.H Beck 2007. S. 33.
21
Vgl., ebd. S. 34.
22
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), H. 2,
S. 186.
23
Vgl., ebd.
11
einnimmt, muss eine politisch oder körperschaftlich organisierte Gruppe vorhanden
sein, die universale Formen der Kommemoration zur Entfaltung bringt.
Das kollektive Gedächtnis weist in seiner Struktur gewisse Gemeinsamkeiten sowie
Unterschiede im Vergleich zu dem individuellen und dem Generationen-Gedächtnis.
Während die individuellen Erinnerungen auf gegenseitige Bestätigung abzielen, ist das
Kollektiv mit seinem Gedächtnis auf Eigenständigkeit gerichtet und strebt die
gegensätzliche Struktur im Vergleich zu anderen kollektiven Gedächtnissen an. 24 Das
fragmentarische Wesen der einzelnen Erinnerungen ersetzen im Fall des Kollektivs
fertige und klare Aussagen in Form von Erzählungen. Die Stabilität, die dem
individuellen Gedächtnis fehlt, garantieren hier materielle Symbole. Diese verstärken
die Erinnerungen, die ständig wach gehalten und von Generation zu Generation
weitergegeben werden. Abhängig von dem System, in dem man lebt, werden
nachkommende Generationen die Erinnerungen des Kollektivs entweder ohne Anstoß
von außen annehmen oder sich in die Rolle der Träger einleben müssen.25 Analog dem
individuellen Gedächtnis ist auch das kollektive Gedächtnis perspektivisch und selektiv.
Das Selektionsverfahren der Erinnerungen richtet sich nach Wichtigkeit und
Brauchbarkeit ihrer Inhalte. Dies wird ganz deutlich am Beispiel des kollektiven
Gedächtnisses einer Nation veranschaulicht. Zu den Auswahlkriterien gehören hier
historische
Orientierungspunkte,
die
positive
Vorstellung
von
der
Nation
aufrechterhalten oder in die Zielsetzung integriert sind.26 Laut Aleida Assmann
unterscheidet man vier Typen des kollektiven Gedächtnisses. Dazu gehören das
„Siegergedächtnis“ und das „Gedächtnis der Besiegten” sowie das „Opfer- und TäterGedächtnis“.27 Bevor die einzelnen Typen expliziert werden, muss es unterstrichen
werden, dass zwischen sowohl den Besiegten und Opfern als auch zwischen den Tätern
und Siegern entscheidende Unterschiede bestehen. Während ein Besiegter und ein
Sieger nur in einer kriegerischen Auseinandersetzung zu finden sind, können Opfer und
Täter in beliebigen Lebensbereichen auftreten.28
24
Vgl., ebd.
Vgl., ebd.
26
Vgl., ebd. S. 187.
27
Ebd. S. 187.
28
Vgl., ebd.
25
12
Da man sich gerne an Positiva erinnert, sind Siege zum Gegenstand der kollektiven
Kommemoration geworden. Das Siegergedächtnis beinhaltet demzufolge heldische
Zeiten, die das positive Selbstbild untermauern oder sogar das Selbstwertgefühl steigern
können. Das Gedächtnis der Besiegten bezieht sich gleichfalls auf Kampfhandlungen, in
denen jedoch nicht ein Sieg sondern eine Niederlage als Bezugspunkt erscheint, der sich
ins Gedächtnis schreiben lässt. Als notwendige Vorbedingung gilt dafür „eine
martyriologische Erzählung des tragischen Helden“29, in der sich die Niederlage
entfaltet. Mit anderen Worten kann auch eine Erniedrigung auf dem Kampfplatz das
heroische Bild eines Kollektivs gestalten. Obwohl das Gedächtnis der Besiegten sich
auf Antipathie und Rache stützt, können die eine Gefahr mit sich bringenden
Erinnerungen eliminiert werden.30 Den Frieden gewährleistet hier das Vergessen, das
mit der Zeit weniger bedeutende Erlebnisse aus dem Gedächtnis löscht. Selbst die
Aufnahme eines Ereignisses in das kollektive Gedächtnis braucht ihre Zeit. Eine
Erfahrung, die tiefe psychische Wunden hinterlässt, ist es besonders schwierig, in das
kollektive Gedächtnis anzunehmen. Dem Sprichwort folgend „Die Zeit heilt alle
Wunden“, muss eine Gesellschaft die Zeit in Anspruch nehmen, bevor sie die
traumatischen Erlebnisse verarbeitet, sie anerkennt und symbolisch gestaltet. Da das
erfahrene Unglück eine beeinträchtigende Wirkung hat und zudem nicht leicht zu
vergessen ist, benötigt man Mittel und Wege, dank denen man die Erfahrungen
akzeptiert und ihre negativen Folgen bewältigt. Da das Opfergedächtnis auf
Anerkennung des erlittenen Unrechts und Ausgleich der Schaden [die der
Opfergemeinschaft
zugefügt wurden – D.K.S] basiert, ist in diesem Fall die
Kommemoration eine Lösung, die nicht vergessen lässt, aber eine gewisse
Erleichterung bringt. Werden dabei keine entsprechenden Andenkensformen von der
betroffenen Gruppe herausgebildet, wird das Leid latent tradiert.31
Im Vergleich von Opfer- und Tätergedächtnis lässt sich bemerken, dass eine
Gemeinschaft nicht immer selbst entscheidet, woran sie sich erinnern soll. Während die
Opfer das Vergessen ihres Leides nicht zulassen wollen, würden die Täter ihre Schuld
am liebsten verschweigen. Daher ist die Entstehung des Tätergedächtnisses oft durch
Pression der Außenwelt bedingt. Erst dann wird die eigene Schuld eingestanden und das
29
30
Ebd.
Vgl., ebd.
31
Vgl., ebd.
13
Leid der Opfer geachtet. Unter diesem Aspekt lässt der perspektivische Charakter des
kollektiven Gedächtnisses nach, der durch Folgen der ständig voranschreitenden
Globalisierung hinausgedrängt wird. Besonders sichtbar ist es in dem politischen
Bereich, wo das kollektive Gedächtnis ein Gestaltungselement ist. Der gegenseitige
Einfluss
der
Staaten,
Verbreitung
des
Problems
über
die
Medien
und
Internationalisierung der ethischen Standards verursacht, dass das kollektive Gedächtnis
nicht mehr auf die Polemik zielt, sondern immer öfter im Einklang mit anderen
Gedächtnissen steht.32
2.1.3 Kommunikatives Gedächtnis vs. kulturelles Gedächtnis
„Oberhalb des kollektiven Gedächtnisses ist […] als eine weitere Ebene das kulturelle
Gedächtnis anzusetzen.“33 Diese Ansicht vertritt Aleida Assmann, die das individuelle
Gedächtnis, Generationengedächtnis und das kollektive Gedächtnis unterhalb der
letzten Ebene stellt, auf der sich das kulturelle Gedächtnis befindet. Im Nachstehenden
wird der Theorie von Jan Assmann gefolgt, die besagt, dass kollektives Gedächtnis zum
Oberbegriff in der Gedächtnistheorie wurde und sich in zwei Basis – Register teilen
lässt, in das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis.34 Diese zwei
Erinnerungsmodi werden als Oppositionsbegriffe dargestellt, weil „zwischen einem
kollektiven Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, und einem kollektiven
Gedächtnis, das sich auf symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt, ein
qualitativer Unterschied besteht.“35
Kommunikatives Gedächtnis:
Das kommunikative Gedächtnis wird nur kurz angesprochen, weil er mit den
individuellen Erinnerungen und dem Generationengedächtnis, die bereits im Punkt 2.1
dargelegt wurden, in Zusammenhang steht. Dieses Gedächtnis ist mit einer Drei bzw.
Vier-Generationen-Gruppe verbunden, mit der es wächst und vergeht.36 Es bezieht sich
32
Vgl., ebd., S. 189.
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), S. 183–190,
hier S. 189.
34
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005.
S. 112.
35
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 27.
36
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München. C.H. Beck 1999. S. 50.
33
14
auf lebendige Erinnerungen, die ein Individuum mit seinen Zeitgenossen im Alltag teilt.
Da
das
kommunikative
Gedächtnis
auf
der
mündlichen
Form
der
Erinnerungsvermittlung basiert, reichen die Erinnerungen normalerweise nicht weiter
als 80 bis 100 Jahre zurück. „Diesen unmittelbaren Erfahrungshorizont bildet
neuerdings den Gegenstand der ‚Oral History’, eines Zweiges der Geschichtsforschung,
die […] ausschließlich auf Erinnerungen (beruht), die in mündliche Befragung erhoben
wurden. Das Geschichtsbild, das sich in diesen Erinnerungen und Erzählungen
konstituiert, ist eine ‚Geschichte des Alltags’, eine ‚Geschichte von unten’ “37
Kulturelles Gedächtnis:
Während sich das kommunikative Gedächtnis auf rezente Vergangenheit richtet, sind
bei dem kulturellen Gedächtnis feste Bezugspunkte in der Vergangenheit von
Relevanz.38 Dazu gehören Ereignisse, die in einer fernen Vergangenheit liegen, und die
als Gemeinschaft fundierend angesehen werden. Die Erinnerungen und Erfahrungen
werden nicht spontan im Alltag von Zeitzeugen vermittelt, sondern sie werden an
Medien der Speicherung gebunden, die den Mitgliedern einer Gemeinschaft die
Kommunikation über Generationen hinweg ermöglichen und ihre Identität bestätigen.
Zu dem Überlieferungsbestand an Inhalten und Sinngebungen des kulturellen
Gedächtnisses, der als Stütze des Gedächtnisses dient, gehören „Texte, Bilder und
Skulpturen neben räumlichen Kompositionen wie Architektur und Landschaften sowie
zeitliche Ordnungen wie Feste, Brauchtum und Rituale […].“39
Aleida Assmann trifft bei dem kulturellen Gedächtnis eine Unterscheidung in
Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis. An diesen Formationen lässt sich
veranschaulichen wie die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses vergessen und danach
aktiviert werden können. Das Speichergedächtnis lässt sich als unbewohntes Gedächtnis
bezeichnen.40 Ihm „entspricht da kulturelle Archiv, in dem die materielle Überreste
vergangener Epochen auch dann noch fortbestehen können, wenn sie ihre lebendigen
37
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: Beck 2007S. 51.
38
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: Beck 2007 S. 52.
39
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13 (2002), S. 183–190,
hier S. 189.
40
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005.
S. 31.
15
Bezüge und Kontexte verloren haben.“41 Dazu werden Medien gezählt, wie Dokumente,
Fotos oder Denkmäler, deren jetzt keiner Aufmerksamkeit schenkt, die jedoch in
Zukunft wieder zum Gegenstand professioneller Debatten werden können.
Das Funktionsgedächtnis nennt Aleida Assmann das bewohnte Gedächtnis.42 Es „bildet
ein Reservoir von zeitübergreifenden Botschaften aus der Vergangenheit. Darunter
werden
solche
Artefakte
verstanden,
die,
durch
beständige
Pflege
und
Auseinandersetzungen aufbereitet, nicht gänzlich verstummen, sondern von jeder
Generation neu vernommen und aufgenommen werden.“43 Obwohl beide Formen des
kulturellen Gedächtnisses auf den ersten Blick entgegengesetzt sind, stehen sie
zueinander in einer Wechselbeziehung. Das Speichergedächtnis bildet den Hintergrund
für
das
Funktionsgedächtnis,
so
dass
seine
Elemente
jederzeit
in
das
Funktionsgedächtnis übertragen werden können. Verlieren sie an Interesse, fallen sie
wieder ins Archiv zurück.
2.2
Soziokultureller Aspekt der Gedächtnistheorie
Mit dem Gedächtnis-Thema befassen sich seit längerem zahlreiche wissenschaftliche
Disziplinen.
In
den
sozialwissenschaftlichen
letzten
Jahren
Forschungen
ist
es
geworden.
auch
zum
Gegenstand
der
Da
sich
Soziologie
mit
Voraussetzungen und Folgen des Zusammenlebens handelnder Menschen kritisch
auseinandersetzt, konnte ihr Gedächtnis als soziales Phänomen nicht unbemerkt bleiben.
Besonders große Aufmerksamkeit schenken die Soziologen dem sozialen Gedächtnis,
das auch als Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft bezeichnet wird. 44 Das soziale
Gedächtnis stützt sich auf Kommunikation und Interaktion eines Individuums mit
anderen Menschen. Der Träger des Gedächtnisses ist in diesem Fall eine soziale
41
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 189.
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. S. 134.
43
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 189.
44
Assmann, Aleida: Der Lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
München: C. H. Beck 2006. S. 27.
42
16
Gruppe, in der einzelne Individuen gemeinsame Erfahrungen austauschen, indem sie
sich symbolischer Medien wie Fotografien und Tagebücher bedienen.45
Die Fähigkeit zu erinnern hängt von zahlreichen Faktoren ab, die auf den Menschen
wirken und damit auch entscheiden, was ihm im Gedächtnis bleibt. Nicht nur Charakter
und Wertstellung sondern auch der ständige Umgang mit anderen Menschen sind hier
von Belang: „Das Gedächtnis entsteht nicht nur in, sondern vor allem zwischen den
Menschen“46 Diese zutreffende Aussage von Assmanns weist darauf hin, dass alle
Gedächtnisformen ohne Leben der Menschen in der Gemeinschaft nicht denkbar wären.
Die Grundlage der Herausbildung des Gedächtnisses ist daher die Sozialisation:
„[…] ein absolut einsamer Mensch (könnte) überhaupt keine
Erinnerungen bilden, weil diese stets in Kommunikation, d. h. im
sprachlichen Austausch mit Mitmenschen, aufgebaut und verfestigt
werden. Das Gedächtnis als Zusammenhalt unserer Erinnerungen
wächst also […] von außen in den Menschen hinein […].“47
Während ein Individuum gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen übernimmt und in
kommunikativen Prozessen teilnimmt, werden für sein Gedächtnis soziale Rahmen
gebildet. Dieser von Maurice Halbwachs eingeführte Begriff impliziert einen
Bezugsrahmen, in dem einzelne Individuen über ihre gemeinsamen Erfahrungen
miteinander kommunizieren. Soziale Rahmen sind Personen, verschiedene Gruppen
oder Gemeinschaften, die sich durch, infolge der Kommunikation und Interaktion,
entstandene gemeinsame Erfahrungen und geteiltes Wissen auszeichnen.48 Durch den
Informationsaustausch entsteht eine gemeinsame Orientierungsbasis, die Anlass zum
Erinnern bietet.
„Selbst die noch so privaten Erinnerungen des Einzelnen bilden sich in
der Interaktion mit anderen, entstehen stets auf dem Boden der Sozialität.
Was ich erinnere, erinnere ich mit Blick auf andere und dank der
Erinnerungen anderer. Es gibt mithin keine scharfem Grenzen zwischen
eigenen und fremden Erinnerungen, einmal, weil sie im Prozeß
alttäglicher Gegenseitigkeit und unter Verwendung gemeinsamer
45
Vgl., ebd., S. 33.
Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis In: (Hrg.)
Merten, K.; Schmidt, S.J; Weischenberg, S.: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die
Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994. S. 114.
47
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S.184.
48
Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen
kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. Berlin - New
York: Walter de Gruynter 2005. S. 54
46
17
Bezugsrahmen entstehen, und zum anderen, weil jeder Mensch auch
Erinnerungen anderer mit sich trägt.“49
Es ist hervorzuheben, dass die individuellen Erinnerungen trotzt der Bezeichnung und
allen subjektiven Merkmalen „nicht selbstgenügsam und rein privat“ sind.50 Laut
Halbwachs könnte ein Mensch überhaupt keine Erinnerungen haben, wenn er einsam
wäre. Daher gibt es, seiner Ansicht nach, kein Gedächtnis, das nicht sozial ist.51 Im
Weiteren
werden
soziale
Prozesse
besprochen,
die
die
Gedächtnis-
und
Identitätsbildung der Familie beeinflussen.
Innerhalb des sozialen Gedächtnisses wirkt besonders das Familiengedächtnis mit. Da
die Familie die naheste Umgebung eines Individuums ist, auf ihn einwirkt und seine
Lebensbedingungen beeinflusst, bestimmt sie auch im großen Maße die individuellen
Erinnerungen. Sie ist demzufolge eine Institution, die bei der Gedächtnisbildung eines
Menschen soziale Rahmen herstellt.
„Eine Eigenschaft des individuellen Gedächtnisses wäre vor diesem
Hintergrund, daß jede Vergangenheit, die in den generationellen
Kommunikationszusammenhang der eigenen Familie hereinragt, von
»sozialen Markern« indexiert ist – das heißt, neben dem Schulwissen und
den Informationen aus den Medien existiert ein Bild von der
Vergangenheit, das aus der direkten, persönlichen Kommunikation
resultiert, und dieses Bild ist vor dem Hintergrund seiner sozialen
Entstehungsgeschichte ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern
Gewissheit.“52
Es ist dabei hervorzuheben, dass die Familiengeschichte einen größeren Zeitraum
umfasst. Die jüngeren Familienmitglieder erfahren über Ereignisse in der Familie, die
sich noch vor ihrer Geburt abspielten.53 Die Unterhaltung der Familienmitglieder, die
zur Vergangenheitsrekonstruktion führt, ist sonach Basis des Familiengedächtnisses.
„Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem innerhalb
einer Gruppe – der so genannte memory talk – stellt einen dynamischen
Akt der Vergangenheitsrekonstruktion dar: Beim memory talk werden
vorhandene, autobiographische Erinnerungen nicht reproduziert, sondern
gemeinsam konstruiert und ausgehandelt.“54
49
Assmann, Aleida/ Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. S 115.
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 184.
51
Vgl. Assmann, Aleida/ Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. S. 117.
52
Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H.
Beck 2008. S. 171f.
53
Vgl., ebd.
54
Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen
50
18
Der Begriff memory talk, auch als conversational remembering bekannt, wurde in der
Psychologie eingeführt. In dieser Disziplin diente er zur Bezeichnung des spezifischen
Dialogs zwischen einer Mutter mit ihrem Kind, in dem durch Wiederholungen seitens
Mutter bestimmte Erinnerungen betont und durch Fragen einige Einzelheiten des
Erinnerten vom Kind eingefordert wurden.55 In der Gedächtnisforschung setzte sich der
Terminus als Sprechakt durch, der einer wechselseitigen Kommunikation entspricht.
Durch memory talk wird die Vergangenheit nicht nur erinnert, sondern auch im Dialog
konstruiert.56
Das Familiengedächtnis nimmt einen starken Bezug auf Generationen-Gedächtnis. In
der Familie kommen mindestens zwei Generationen vor, die sich reibungslos
identifizieren
lassen.
Obwohl
einzelne
Familienmitglieder
unterschiedliche
Persönlichkeiten repräsentieren und verschiedener Alterstufen sind, lassen sie „ein über
mehrere Generationen sich erstreckendes Gedächtnisgeflecht“57 entstehen.
„Das Familiengedächtnis» bildet […] einen Rahmen, der sicherstellt, dass
sich alle Beteiligten an dasselbe auf dieselbe Weise zu erinnern glauben.
Das Familiengedächtnis hat […] eine synthetisierende Funktion, die die
Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft Familie
gerade ausgehen, sie würden über dasselbe sprechen und sich an dasselbe
erinnern.“58
Aleida Assmann nennt dieses Phänomen Drei-Generationen-Gedächtnis, in dem die
individuellen Erinnerungen sich gegenzeitig beeinflussen.59 Die Großeltern, ihre Kinder
und Enkel tauschen ihre Erinnerungen durch Gespräche aus. Dies verursacht, dass
besonders die jüngeren Generationen einen Teil der Erinnerungen der älteren
Familienmitglieder in ihr Gedächtnisvermögen übernehmen, weil die Grenze zwischen
dem selbst Erlebten und dem Gehörten durchlässig wird.
kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. Berlin - New
York: Walter de Gruyter 2005. S. 57.
55
Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. S. 96.
56
Vgl. Assmann, Aleida: Der Lange Schatten der Vergangenheit. S. 28.
57
Wischermann, Clemens ( Hrsg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung.
Studien zur Geschichte des Alltags. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002. S. 18.
58
Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2008 S.
165.
59
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 185.
19
„Das Familiengedächtnis (stellt) aus verschiedenen aus der Vergangenheit
behaltenen Elementen solcher Art einen Rahmen her, den es intakt zu
halten sucht, und der gewissermaßen zur traditionellen Ausrüstung der
Familie gehört. Obwohl er aus datierbaren Daten und Fakten besteht, die
nur eine bestimmte Zeit gedauert haben, findet man doch auch Urteile der
Familie selber oder ihrer Umgebung über sie darin verwoben“60
Das Zitat weist darauf hin, dass das Familiengedächtnis stark mit den anderen
Gedächtnisformen verbunden ist. In ihm wirken die Erinnerungen einzelner
Familienmitglieder aufeinander, gleichzeitig wird es aber auch von außen stehenden
Menschen beeinflusst. Darin dringen also die von außen her übernommenen und in der
eigenen Erinnerung verarbeiteten Wissensbestände ein. Familiengeschichten sind
Erinnerungsmedien,
die
im
Erinnerungsquellen
wie
beispielsweise
andererseits
Vergangenheit
geschichtlichen
Kontext
einerseits
Dokumentarfilme
in
mit
Polarität
anderen
stehen,
sich einander vervollständigen können. Auf jeden Fall entreißen sie die
einer
Familie
dem
Vergessen.
Zugleich
stützen
sie
das
Familiengedächtnis und bauen eine spezifische Gruppenidentität auf, die nur einer
konkreten Familie zugeschrieben werden kann.61 Diese Familie als eine Art der
Wir-Gruppe ist, aufgrund der alle Familienmitglieder verbindenden Vergangenheit,
durch gemeinsames Wesen oder Haltung gekennzeichnet.62
3
Literatur als Gedächtnismedium
3.1
Literarische Welterzerzeugung nach Paul Ricoeur
Aus der kulturwissenschaftlichen Sicht ist das Gedächtnis nicht autonom. Daher ist es
auf materielle Stabilisatoren angewiesen, die ihm den Fortbestand gewähren.63 Um die
flüchtigen Erinnerungen festzuhalten, greifen Menschen seit Jahrhunderten auf
60
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Familiengedächtnis. In: Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und
seine soziale Bedingungen. Berlin; Neuwied: Luchterhand 1966. S. 109f. Zitiert nach Griese, Birgit:
Zwei Generationen erzählen: narrative Identität in autobiographischen Erzählungen Russlanddeutscher.
Frankfurt a. M. : Campus Verlag 2006. S. 86.
61
Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg:
Hamburger Ed. 2001. S. 145.
62
Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. S.170.
63
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume S. 249.
20
verschiedene Speichermedien zurück, die sie vor der Vergessenheit bewahren sollen.
Schrift, Fernseher oder Internet dienen zur Speicherung und Übermittlung von
Versionen
gemeinschaftlicher
Gedächtnisses
dient
auch
Vergangenheit.
Literatur.
Als
Literarische
Medium
Texte
des
kollektiven
„erfüllen
vielfältige
erinnerungskulturelle Funktionen, wie die Herausbildung von Vorstellungen über
vergangene Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlungen
von Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des
kollektiven Gedächtnisses.“64 Während des Erinnerungsprozesses wird das Vergangene
nicht in derselben Gestalt abgerufen, wie es tatsächlich war, sondern jedes Mal wird
eine
neue
Vergangenheitsversion
entwickelt.
In
Gedächtnismedien,
auf
die
Erinnerungen ausgelagert werden, werden demzufolge neue Wirklichkeiten oder Welten
konstruiert. Daraus resultiert die Feststellung, dass „Medien keine neutrale Träger von
vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen (sind). Was sie zu entkodieren
scheinen – Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen, Werte und Normen,
Identitätskonzepte – erzeugen sie vielmals erst.“ 65
Die
literarische
Welterzeugung
wird
im
Weiteren
am
Beispiel
des
literaturwissenschaftlichen Modells des Kreises der Mimesis von Paul Ricoeur
verdeutlicht, der für Verständnis des Verhältnisses von Literatur, kollektivem
Gedächtnis und der Erinnerungskultur äußerst wichtig ist. Bevor das Modell präsentiert
wird, soll als Erstes der Begriff Mimesis erklärt werden. Er war bereits in der Antike
bekannt und von Platon und Aristoteles als soziale Fähigkeit der jungen Menschen
begriffen,
Handlungen,
Vorbilder,
Einstellung,
Verhaltensweisen
und
Werte
nachzuahmen. „Bei sozialer Mimesis handelt es sich also nicht um Imitation, sondern
um Prozesse mit individuellen Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.“66 Analog
dazu bedeutet Mimesis in der Literatur die „kreative Nachahmung von Lebenswelt in
einer fiktionalen Konfiguration von Wirklichkeit.“67 Ricoeur hat in seinem Modell drei
Darstellungsstufen der Mimesis vorgeschlagen: Mimesis I, Mimesis II und Mimesis III,
64
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005. S.
143.
65
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 124.
66
Gebauer, Gunter;Christoph Wulf : Soziale Mimesis. In: Christoph Wulf (Hrsg.), Dietmar Kamper,
Hans Ulrich Gumbrecht: Ethik der Ästhetik. Berlin: Akademie Verlag 1994. S. 76.
67
Middeke, Martin: Zeit und Roman: Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer
Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen &
Neumann 2002. S. 5.
21
die für die literarische Welterzeugung grundlegend sind.68 Die erste Darstellungsstufe
betrifft das Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur. Mimesis I bezeichnet also
die erinnerungskulturelle Präfiguration eines Textes, was man als „Bezug zur
vorgängigen außertextuellen Welt“ verstehen kann.69 „Literatur kann Bezug nehmen auf
die
materiale
Dimension
der
Erinnerungskultur
(z.B.
auf
konkurrierende
Gedächtnismedien), auf ihre soziale Dimension (z.B. auf Erinnerungsgemeinschaften,
Institutionen) und schließlich auf ihre mentale Dimension (z.B. auf machtvolle
Schemata der Vergangenheitsrepräsentation).“70 Überdies wird in der Literatur auf die
nicht – bewusste und nicht intentionale Formen des kollektiven Gedächtnisses wie
Stereotypen, Wahrnehmungen oder Handlungsmuster verwiesen.71 Im Rahmen Mimesis
I werden also Elemente aus der erinnerungskulturellen Wirklichkeit gewählt, die man
auf der zweiten Stufe, Mimesis II, aus ihren Kontexten löst, neu strukturiert,
zusammenfügt und zu einer neuen Geschichte konfiguriert. Hierbei erscheinen die
literarischen Darstellungsverfahren wie Erzählform, Raum- und Zeitdarstellung als
konstitutiv. Der Kreis der Mimesis schließt sich auf der dritten Stufe, Mimesis III. Hier
erfolgt der Rezeptionsakt, indem das Dargestellte aktualisiert und die Wirklichkeit des
Lesers bereichert wird.72 Wie in Mimesis I kommt es hier zu einer Austauschbewegung
zwischen Erinnerungskultur und literarischem Text, jedoch in umgekehrter Richtung:
„Bedeutungszuschreibungen des Lesers wirken sich also nicht nur auf sein
Textverständnis
aus.
Die
literarische
Darstellung
verändert
auch
seine
Wirklichkeitswahrnehmung und letztendlich […] auch die kulturell Praxis und damit
diese Wirklichkeit selbst.“73
68
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 150.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 150.
70
Ebd. S. 151.
71
Vgl., ebd. S. 151.
72
Vgl., ebd. S. 152.
73
Ebd. S. 153.
69
22
3.2
Gattungstypologie der fictions of memory: Gedächtnisroman vs.
Erinnerungsroman
Die gesteigerte Tendenz zur Thematisierung der Erinnerungen nicht nur in der deutschsondern vor allem in der englischsprachigen Gegenwartsliteratur bewirkte, dass eine
neue Gedächtnisgattung entstanden ist, die in Kanada als
fictions of memory
eingeführt wurde. Hierbei wird dieser Begriff in Anlehnung an Theorie von Birgit
Neumann spezifiziert und darauf folgend expliziert. Der Fiktionsbegriff als erster Teil
der Bezeichnung verweist auf den soziokulturellen Entstehungskontext von Literatur.74
In dieser Hinsicht implizieren die Fiktionen sowohl „fiktionale Texte und die in ihnen
inszenierten Gedächtniswelten als auch die in der Erinnerung erzeugten [kulturell
geteilten und manifestierten – D.K.S] Fiktionen von der Vergangenheit“, die Basis für
literarische Texte bilden.75 Der zweite Teil des Begriffs, memory, ist hingegen auf die
unterschiedliche
Erscheinungsformen
des
Vergangenheitsbezugs
in
Literatur
zurückzuführen.
In fictions of memory nimmt sonach die Erinnerungsthematik einen besonderen Platz
ein. Erinnerungen sind jedoch nicht allein für eine Gattung da. Vergangenheit und
Geschichte stehen auch in anderen Romanen zur Diskussion. Als gattungsspezifische
Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen
kanadischer Fictions of Memory. Herausgegeben von Astrid Erll, Angsar Nünning. Berlin - New
York: Walter de Gruyter 2005 S. 8.
75
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004 S. 336.
74
23
Besonderheit von fictions of memory, die sie von anderen Vergangenheit fokussierten
Gattungen scheidet, lässt sich das identitätsbildende Potential der Erinnerungen
anführen. Die Abgrenzung wird am Beispiel eines historischen Romans im Vergleich
zu fictions of memory veranschaulicht. Beide Gattungen weisen Prallelen auf, die u. a.
in der „Temporalisierungsfunktion in einem Spannungsverhältnis zwischen dem
Damals und dem Heute“ erkennbar werden.76 Während sich allerdings ein historischer
Roman mit der Frage der Objektivität und Zuverlässigkeit der dargestellten
Vergangenheit befasst, fokussieren fictions of memory erinnerte Vergangenheit, die für
die Identitätsstiftung eines Individuums oder eines Kollektivs bedeutend sein kann. Von
diesem Standpunkt aus, sind unter fictions of memory als Gattungsbegriff diejenigen
Romane zu verstehen, die sich durch einen Zusammenhang von Erinnerung, Identität
und Narration auszeichnen.77
Im Nachstehenden werden konstitutive Kriterien für die Binnendifferenzierung von
fictions of memory genannt. Die Dominanz bestimmter Erzählebenen in einem Roman
ist bereits das erste Kriterium für Gattungstypologie, das eng mit der Differenzierung
zwischen Gedächtnis und Erinnerung verbunden ist. Die bereits im Punkt 2.1
explizierte Trennungslinie zwischen Gedächtnis und Erinnerung, bildet die Grundlage
für die Entstehung der Differenzen, die in der literarischen Inszenierung dieser beiden
Phänomene zum Vorschein kommen. Während die literarische Realisation von
Gedächtnis auf die Darstellung vergangener Ereignisse oder Erlebnisse der Figuren
ausgerichtet ist, exponiert die Präsentation von Erinnerung die Gegenwart, in der eben
erinnert
wird.
Die
Inszenierung
von
Gedächtnis
wird
durch
die
Vergangenheitsgestaltung überwiegend auf der diegetischen Ebene der Erzählung
vollbracht, die auch als Binnenerzählung bezeichnet wird (Gerard Genette).
Dahingegen wird die Erinnerungsdarstellung in der Regel auf der extradiegetischen
Ebene realisiert, wo ein Erzählakt erkennbar wird. Dieser wiedergibt die „aktuellen,
dynamischen
Bedingungen
der
Rekonstruktion
und
Repräsentation
von
Vergangenem.“78
Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration S. 7.
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory. S. 333.
78
Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration. S. 209.
76
77
24
Das zweite Kriterium bildet die erzählerische Vermittlungsform, die
die Art der
Identitätsstiftung und die Form der narrativen Erinnerungsinszenierung bestimmt.
Neumann bedient sich hier nicht nur der Erzähltheorie von Gerard Genette, sondern
auch der Typologie der Erzählerstimmen, die von Susan Lanser entworfen wurde. Als
relevant erscheinen in dieser Hinsicht, zwei Stimmtypen der homodiegetischen
Erzählinstanz. Die personal voice, die mit der Hauptfigur gleichzusetzen ist und vor
allem persönliche Erfahrungen anspricht, vermittelt individuelle Identitätsstiftungen.
Die communal voice hingegen bringt die gruppenkonstitutive Erfahrungen und Werte
einer Erinnerungsgemeinschaft zum Ausdruck.79
Das nächste Kriterium ist die Perspektivenstruktur, die als geschlossen oder offen in
Erscheinung tritt. Die geschlossene Variante lässt die gemeinschaftlich geteilte
Vergangenheits- und Identitätsstiftung erkennen. Die offene Perspektive zeugt von
rivalisierenden, oft widersprüchlichen Versionen der Vergangenheit.
Die oben angegebenen Kriterien ermöglichen gattungstypologische Unterscheidung
von fictions of memory durchzuführen und demzufolge den Erinnerungsroman und den
Gedächtnisroman herauszukristallisieren. Laut Birgit Neumann lässt sich die fictions of
memory
nach
vier
Erscheinungsformen
differenzieren.
Dazu
gehören
der
autobiografische Gedächtnisroman, der kommunale Gedächtnisroman, sowie der
autobiografische Erinnerungsroman und der soziobiografische Erinnerungsroman. 80 Im
Weiteren sollen die vier Formen ausführlich besprochen werden.
In dem autobiographischen Gedächtnisroman werden die Vergangenheitserfahrungen
eines erzählenden Ichs auf der diegetischen Ebene fokussiert. Der Erzähler wird vom
Urheber des Textes als Instanz kreiert, die zur Vermittlung seiner Geschichte bestimmt
ist. Der Erzähler ist demzufolge, laut der Erzähltheorie von Gerard Genette,
autodiegetisch. Er repräsentiert „den höchsten Grad des homodiegetischen Erzählers“
und ist zugleich das erzählende und das erlebende Ich.81 Während sich das erzählende
Ich mithilfe von personal voice an seine Vergangenheit erinnert, entsteht ein Verhältnis
zwischen ihm jetzt - auf der extradiegetischen Ebene und seinem Selbst von damals 79
Vgl. Lanser, Susan: Fictions of Authority: Women Writers and Narrative Voice. Cornell University
Press 1992 S. 20ff. Zitiert nach Birgit Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. S. 209.
80
Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. S. 213ff.
Genette, Gerard: Die Erzählung. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag 1998. S 176.
81
25
auf der diegetischen Ebene. Der Blick in die Vergangenheit bietet dem Erzähler, die
subjektive Erfahrungsverarbeitung an und ermöglicht die Frage nach seiner Identität zu
beantworten. Zu weiteren Merkmalen dieses Romans gehören: Der chronologische
Handlungsablauf auf der diegetischen Ebene, die geschlossene Perspektivenstruktur, in
der die Vergangenheit einheitlich interpretiert wird und der Realitätsbezug in Form von
detailgenauer Beschreibungen von Orten und Zeiten. Diese erwecken den Eindruck der
Authentizität und sind jedoch wegen der Subjektivität und Selektivität des individuellen
Gedächtnisses relativ eng eingeschränkt.
Der kommunale Gedächtnisroman hebt die Kollektividentität hervor, die von einer
sozialen Gruppe beziehungsweise einer kulturellen Minderheit anhand geteilter
Vergangenheitsbezugspunkte gestiftet wird. Die geschlossene Perspektivenstruktur
einer Familie, Gruppe oder einer Gemeinschaft ist kulturell homogen und lässt kaum
einen oder keine kulturell fremde Einflüsse eindringen, die die gruppenspezifische
Vergangenheitsdeutung nicht gelten lassen würden. Als Vermittler der Erzählung wird
entweder der homodiegetische oder der heterodiegetische Erzähler eingesetzt. Der
homodiegetische Erzähler, bedient sich im kommunalen Gedächtnisroman der
communal
voice.
„Sie
zeigt,
dass
die
Existenz
und
Kontinuität
von
Kollektivgedächtnissen auf das individuelle Gedächtnis angewiesen ist, in dem sich das
Erleben der kollektiven Erinnerung vollzieht.“82
Neumann zufolge wird das Gedächtnis einer Gruppe durch individuelle Erinnerungen
konsolidiert. Der homodiegetische Erzähler wird sonach zu einem „Sprachrohr
gruppenspezifischer Erfahrungen und Wertvorstellungen.“83 Seine Erfahrungen werden
als repräsentativ für die Erinnerungsgemeinschaft dargestellt. Diesbezüglich erscheinen
Erinnerungen eines Individuums als modellhaft für das Kollektivgedächtnis. „Die
heterodiegetische Erzählinstanz hingegen [ die in diesem Fall ebenfalls als communal
voice erscheint – D.K.S] entwirft qua Innenweltdarstellung eine Matrix kollektiver
Erinnerungen.“84 Laut Neumann werden geteilte Erfahrungen einzelner Mitglieder
einer Erinnerungsgemeinschaft durch interne Fokalisierung vermittelt. Die vollständige
Vorstellung von der gruppenkonstitutiven Vergangenheit tritt jedoch erst durch die
82
Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration S. 167.
Ebd. S. 167f.
84
Ebd. S. 209.
83
26
sich gegenseitig stützenden und ergänzenden Elemente der Einzelerinnerungen und ihre
Korrelation in Erscheinung. Die Akt des Erinnerns, die mit der communal voice
vorwiegend auf der diegetischen Ebene vermittelt wird, hat nicht nur die
Aktualisierungs-
und
Vergegenwärtigungsfunktion,
sondern
sie
bestätigt
die
Gruppenzugehörigkeit und den Zusammenhalt der Gruppe, sowie den Fortbestand des
Kollektivgedächtnisses und die damit verbundene fortwirkende Vergangenheit.85
Darüber hinaus werden insbesondere die früher als nebensächlich behandelten
Erfahrungen ans Licht gezogen und das gesellschaftliche Vergessen folglich verhindert.
Im kommunalen Gedächtnisroman gewinnen außerdem an Bedeutung intermediale
Bezüge, fremdsprachliche Begriffe und semantisierte Räume und Objekte, in denen
sich das Gedächtnis der Gemeinschaft veranschaulichen lässt.
In dem autobiographischen Erinnerungsroman dominiert die Gegenwartsebene, auf der
die personal voice erzählt. Im Mittelpunkt steht der Akt des Erinnerns und die mit ihm
verbundene Probleme mit der Rekonstruktion der Vergangenheit, wie Verdrängen oder
Gedächtnislücken. Die Pluralität und Zwiespältigkeit der Vergangenheitsdeutung
verursacht, dass der homodiegetische Erzähler der eigenen Vergangenheit keine
unmissverständliche Bedeutung verleihen kann. Jede mögliche Version der
Vergangenheit erzeugt eine neue Identität. Daher sind das erinnernde Ich und das
erinnerte Ich heterogen. Birgit Neumann bringt die Problematik der Identitätsstiftung
im autobiografischen Erinnerungsroman folgendermaßen zum Ausdruck: „Die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führt nicht zu dem erhofften Verständnis
für das Gewordensein der individuellen Identität. Vielmehr bleibt die Identität instabil
und bis zu einem gewissen Grad unerschließbar.“86
Die individuelle Identität erweist sich sonach nicht als Summe der vergangenen
Erfahrungen, wie es in dem autobiografischen Gedächtnisroman der Fall ist, sondern
sie bildet sich erst im Prozess des Erzählens heraus. Der autobiografische
Erinnerungsroman zeichnet sich darüber hinaus durch die Multiperspektivität. Diese
lässt dem homodiegetischen Erzähler einerseits die Erinnerungen intermedial oder
intertextuell präsentieren, andererseits kann sie seine Vergangenheitsversion durch
extraliterarische Referenzen in Frage stellen. Ein weiteres Merkmal
ist die
anachronische Zeitstruktur, die durch ständige Durchbrechung der erinnerten
85
86
Vgl., ebd. S. 227.
Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität – Narration. S. 220.
27
Fragmente von Situationen des Erinnerungsabrufs und Reflexionen des Erzählers
entsteht.
Der
soziobiografische
Erinnerungsroman
thematisiert
die
Pluralisierung
der
Vergangenheitsauslegungen, die oft in Widerspruch zueinander stehen und miteinander
konkurrieren. In den Vordergrund werden daher nicht die geteilte Vergangenheit,
sondern die voneinander abweichenden Erinnerungsversionen geschoben. Da die
Handlung zum größten Teil auf der extradiegetischen Ebene abläuft, werden da die aus
der
Unstimmigkeiten
Identitätsinterpretationen
resultierenden
präsentiert.
Verwerfungen
In
diesem
der
Gegenwarts-
Zusammenhang
können
und
sich
Erinnerungen mit ihrer sozialen Funktion für eine Gemeinschaft entweder als
konstitutiv oder als destruktiv erzeigen. Die im Endeffekt erzeugte Modelle der
Vergangenheit und sich daraus ergebene Identität sind als präsentische Konstrukte zu
verstehen, die gegenwartsbezogen und durch Kontexte ihrer Rekonstruktion bestimmt
sind.
Die Vergangenheit in dem soziobiografischen Erinnerungsroman lässt sich von
zweierlei Erzählinstanzen schildern. Einerseits kann der heterodiegetische Erzähler
multiperspektivisch eine Einsicht in den Bewusstseinstrom und zugleich in die
persönliche
Vergangenheitsdeutungen
unterschiedlicher
Figuren
gewähren.
Andererseits können zwei oder mehrere homodiegetische Erzähler die zurückliegenden
Geschehnisse mit unterschiedlichen Resultaten in Erinnerung bringen. In beiden Fällen
lässt sich kein übergeordnetes Bild der Vergangenheit darstellen, weil die inszenierten
Vergangenheitsversionen differieren oder sich relativieren. Der gruppenspezifische
Plot, der den soziobiografischen Erinnerungsroman kennzeichnet, ist deswegen nicht
konsensorientiert,
sondern
konfliktorientiert.
Aus
diesem
Grund
ist
die
Identitätsbildung sowohl des Individuums als auch des Kollektivs erschwert. Darüber
hinaus ist auch die Perspektivenstruktur zu erwähnen, die entweder heterogen oder
offen sein kann. Bei der heterogenen Struktur wird auf gewisse Interrelationen
zwischen Erinnerungen der Figuren gewiesen. Diese streben danach, wegen ihrer
unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Zugehörigkeit, eben ihre Vorstellung von
der kollektiven Vergangenheit und Identität als entscheidend anzuerkennen. Bei der
offenen Perspektivenstruktur dagegen herrscht eine Polyphonie der Erinnerungen, die
voneinander unabhängig bleiben. Die Wirkungsbereich der Erinnerungsversionen ist
28
durch den Typ des Plotmusters bedingt. Im Fall des intragruppalen Plotmusters tritt der
private Erinnerungsraum hervor. Hier wird die individuelle Interpretation von der mit
Familie oder Freunden geteilten Vergangenheit und ihre Bedeutung für die Vorstellung
von sich selbst als Teil einer Gruppe inszeniert. Bei dem intergruppalen Plotmuster
handelt es sich um einen öffentlichen Erinnerungsraum in dem unterschiedliche
Erinnerungsversionen
von
Vertretern
unterschiedlicher
sozialer
Gruppen
um
Deutungsanspruch innerhalb einer Kultur ringen.87
Die von Neumann vorgeschlagenen Gattungsausprägungen von fictions of memory
bieten vier verschiedene Zugangsarten zu Erinnerungen in literarischen Texten dar.
Anzumerken ist, dass zwischen einzelnen Typen keine klare Demarkationslinien
bestehen. Daher lassen sich nicht nur ihre Unterschiede sondern auch Gemeinsamkeiten
erkennen. Durch den Zusammenhang zwischen narrativen Verfahren, Identität und
Erinnerung wird veranschaulicht, wie man Erinnerungen literarisch präsentieren kann
und welche Funktionen sie im Bezug auf Identität und Gemeinschaft erfüllen.
3.3
Fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses
Fictions of memory als Gedächtnisgattung erfordert eine spezifische Vorgehensweise,
die der Inszenierung von Erinnerungen und Identität vorausgesetzt wird. Diese
repräsentiert Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses bzw. Rhetorik der Erinnerung, die
literarische Formen mit erinnerungskulturellen Kontexten in Einklang bringt. Sie lässt
sich als eine erzähltheoretische Strategie bezeichnen, die einen literarischen Text als
Gedächtnismedium funktionalisiert.88 Im Nachstehenden werden fünf Modi der
Rhetorik
der
Erinnerung
präsentiert,
die
„sich
als
Ensemble
textueller
Darstellungsverfahren (konstituieren)“89
Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus:
87
Vgl. ebd., S. 232.
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005.
S. 168.
89
Ebd.
88
29
„Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus sind als zwei sich nicht
ausschließende, sondern vielmehr stets ineinander greifende Formen des
literarischen Vergangenheitsbezugs zu verstehen.“90
Da in literarischen Texten zwischen beiden Modi ein Zusammenhang besteht, werden
sie gemeinsam expliziert. Mit dem erfahrungshaftigen Modus wird das in Literatur
angewandte
Verfahren
definiert,
dadurch
die
Inhalte
des
kommunikativen
Gedächtnisses inszeniert werden. In dieser Hinsicht handelt es sich um Erfahrungen und
alltägliche Situationen mit allen Einzelheiten. Dazu gehören u. a. Verhaltensweisen,
Denken und Fühlen der Individuen, die in bestimmten Orten und Zeitpunkten platziert
sind. Der monumentale Modus dagegen lässt sich auf den Begriff Monument
zurückführen, den Aleida Assmann folgendermaßen definiert:
„Statuen und Bauwerke, Texte und andere kulturelle Artefakte dürfen als
Monumente verstanden werden, wenn sie über die Eigenschaft der
Stilisierung hinaus eine an die Mit- und Nachwelt gerichtete Botschaft
kodieren. Monument ist, was dazu bestimmt ist, die Gegenwart zu
überdauern und in (dem) Fernhorizont kultureller Kommunikation zu
sprechen.“91
Assmann drückt dadurch aus, dass Monumente spezielle Zeichen sind, die Inhalte des
kulturellen Gedächtnisses symbolisch darstellen. Sie repräsentieren diese Seite der
Kultur, „die gesehen, bewahrt (und) erinnert sein will.“92 Der monumentale Modus
stellt somit eine fundierte Geschichte dar, in der das verbindliche kulturelle Gedächtnis
im Vordergrund steht. Im Weiteren werden die von Astrid Erll dargelegten literarischen
Ausdrucksformen charakterisiert, die sowohl den erfahrungshaftigen als auch den
monumentalen Modus erzeugen lassen.93
Als Erstes ist die Selektionsstruktur zu erwähnen, die einzuschätzen erlaubt, in
welchem außertextuellen Gedächtnisrahmen, kommunikativen oder kulturellen, die
dargestellte Handlung erinnert wird. Die paratextuelle Gestaltung deutet darauf hin,
welcher Modus im Vordergrund steht. Durch Mottos oder Zitate aus anerkannten
Werken wird die Monumentalität eines Textes unterstrichen. Widmungen an Personen,
90
Ebd. S. 175.
Assmann, Aleida: Kultur als Lebenswelt und Monumente. In: Alida Assmann & Dietrich Harth (Hrsg.):
Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 14. Zitiert nach Erll, Astrid:
Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 170.
92
Ebd. S.13.
93
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 170ff.
91
30
aus dem Alltag weisen dagegen auf seine Erfahrungshaftigkeit hin. Die Intertextualität,
die dem kulturellen Gedächtnis näher steht, bezeichnet eine Bezugnahme auf
kanonische oder klassische Texte, indem ein Werk beispielsweise „Zitate, Symbolik,
sprachliche Besonderheiten (übernimmt) […] und sich damit auch einen Teil der
Autorität des Prätextes zu Eigen (macht).“94 Eine weitere Darstellungsform bildet die
Intermedialität, die der Etablierung beider Modi dienen kann. Rekurriert man im Text
auf Medien des kulturellen Gedächtnisses wie Denkmäler oder heilige Schriften wird
der monumentaler Modus konstituiert. Medien wie Fotos oder Tonbandaufnahmen, die
im kommunikativen Gedächtnis von Belang sind, verweisen auf den erfahrungshaftigen
Modus. Auch die Interdiskursivität, die auf sprachliche Besonderheiten verweist, ist
eine literarische Ausdrucksform, die beide Modi erzeugen kann. Verwendet man im
Text eine gruppenspezifische oder Alltagssprache, so ist da das kommunikative
Gedächtnis relevant. Wenn die Ausdrücke formelhaft oder archaisch sind, wird das
Dargestellte zum Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses. Bestimmte Plotstrukturen
oder Gattungsmuster können nur einem von Modi zugerechnet werden. Dem
monumentalen Modus wird unter anderen Tragödie und Epos zugeordnet, Romanze
oder Bildungsroman hingegen dem erfahrungshaftigen.95
Eine wesentliche Rolle in der Rhetorik der Erinnerung spielt ebenfalls der Erzähler.
Während der heterodiegetische Erzähler (Gerard Genette), der einen olympischen
Überblick über Zeit, Raum und Figuren hat, das kulturelle Gedächtnis vermittelt,
können der homodiegetische und der autodiegetische Erzähler zum erfahrungshaftigen
Modus
beitragen.96
Bei
der
Konstituierung
der
Modi
kommt
auch
die
Innenweltdarstellung zum Ausdruck. Hier ist die interne Fokalisierung relevant, in der
die Ereignisse aus der Perspektive der erzählten Figur geschildert werden. Dadurch
werden Fragen aus dem Gebiet des kommunikativen Gedächtnisses präsentiert wie
Lebenserfahrung, Emotionen oder sinnliche Eindrücke von Wahrgenommenen. Durch
die Innenweltdarstellung wird auch der monumentale Modus gebildet, indem man
Aspekte des kulturellen Gedächtnisses betont, die im Allgemeinen problematisch und
daher
nicht
einfach
zu
vermitteln
sind.97
Beide
Modi
gewinnen
als
Darstellungsverfahren besondern in denjenigen Texten an Relevanz, die sowohl
94
Ebd. S. 171.
Vgl., ebd. S 171f.
96
Vgl., ebd. S. 172.
97
Vgl., ebd. S 173.
95
31
Gegenstände
des
kulturellen
als
auch
des
kommunikativen
Gedächtnisses
widerspiegeln.
Historisierender Modus:
Der historisierende Modus wird durch Darstellung der wissenschaftlichen Geschichte in
der Literatur konstituiert. Daher wird mit ihm der historischer Roman als
zusammengehörig angesehen. Historisierende Schilderungen zeichnen sich durch
Zeitbewusstsein und historische Details aus, die „als Gegenstände einer vergangenen
Epoche zu bewahren“ sind.98 Zu literarischen Ausdrucksformen, die diesen Modus
hervorbringen gehört die Zeitdarstellung sowie Verweise auf Quellen, und Paratexten
mit geschichtswissenschaftlichen Beiträgen.99
Antagonistischer Modus:
Nicht alle literarischen Texte thematisieren das Gedächtnis der dominierenden
Erinnerungskultur. Da wo eine Gegen-Erinnerung erzeugt wird, kommt der
antagonistischer Modus zum Einsatz:
„Im literarischen Texten werden nicht nur Erinnerungskonkurrenzen auf
nationaler Ebene antagonistisch verhandelt, sondern es werden auch die
Vergangenheitsversionen verschiedener innergesellschaftlicher Gruppen
einander gegenübergestellt: Aus der Vielfalt der Gedächtnisse von
sozialen Klassen, Geschlechtern, Generationen oder religiösen
Gemeinschaften ergeben sich »Fronten« antagonistischer Texte.“100
Der antagonistische Modus wird durch Schilderung des Gedächtnisses verschiedener
Gemeinschaften
konstituiert,
deren
Vergangenheitsdarstellungen
sich
aus
unterschiedlichen Gründen gegenüberstehen. Darüber hinaus ist bei diesem Modus das
Gedächtnis derjenigen Gruppen zu erkennen, die wegen anderer, im Unterschied zur
Mehrheit, Welthierarchien oder Geschichtsbilder unterrepräsentiert werden. 101 Die
konkurrierenden Gedächtnisse werden mithilfe von folgenden narrativen Verfahren
dargestellt:
98
Ebd. S. 177.
Vgl., ebd.
100
Vgl., ebd. S. 179
101
Vgl., ebd. S. 178.
99
32
Durch Selektionsstruktur ist genau erkennbar welche Erinnerungskonkurrenzen ans
Licht treten. Es wird markant, welche Gruppen mit ihren
Erinnerungen,
Identitätskonzepten und Weltanschauungen gezielt veredelt und welche absichtlich
außer Acht gelassen und vergessen werden. Die Figurenkonstellation veranschaulicht
welche
Figuren
die
‚richtigen’
Erinnerungen
repräsentieren.
Durch
die
Raumdarstellung werden soziale Gruppen mit ihrer Umgebung in Opposition gestellt.
Die
Darstellung
der
antagonistischen
Gedächtnisversionen
ermöglicht
auch
die Perspektivenstruktur. Mit dem Erzählerwechsel, ändert sich auch die Perspektive,
aus der die Vergangenheit rekonstruiert wird. Die Perspektivenstruktur bleibt jedoch
geschlossen, denn:
„Als Medium des gesellschaftlichen Ringens um Erinnerungshoheit kann
Literatur Elemente anderer Gedächtnisse zwar zulassen, wird sie aber
entweder dekonstruieren oder mit der im Text privilegierten Perspektive in
einem Fluchtpunkt zusammenführen.“102
Zur Bildung des antagonistischen Modus trägt außerdem communal voice ( Lanser) bei,
die entweder als Wir-Erzählung oder als mehrere Ich-Erzähler die Gegen-Erinnerung
einer
Erinnerungsgemeinschaft artikuliert. Der antagonistische Modus kann in
Verbindung mit anderen Modi in Erscheinung treten. Ist er in einem Text
vorherrschend,
wir
das
„Eingreifen
in
das
gesellschaftliche
Ringen
um
Erinnerungshoheit“103 zur Darstellung gebracht.
Reflexiver Modus:
„Im reflexiven Modus werden Funktionsweisen und Probleme des kollektiven Gedächtnisses
inszeniert“.104 Während jedoch die vier Modi der Gedächtnisbildung dienen, ist der
reflexiver Modus für die Gedächtnisreflexion gedacht.105 Als Anteil bei der Realisation
von diesem Modus steuern zwei Darstellungsverfahren bei: Die implizite Inszenierung
der Beobachtung von Erinnerungskultur wird durch Dialoge der Figuren, die sich über
die Vergangenheit unterhalten oder durch Schilderung der Denkmäler und Rituale
präsentiert. Der explizite Thematisierung von Gedächtnis – Kultur – Relationen wird
dagegen anhand von erzählerischer Vermittlung vorgeführt.106 Für die Reflexion über
102
Ebd. S. 180.
Ebd. S. 182.
104
Ebd. S. 189.
105
Vgl., ebd. S. 184.
106
Vgl., ebd.
103
33
das kollektive Gedächtnis ist die Perspektivenwechsel erforderlich, der durch den
Erzählerwechsel in Erscheinung tritt, indem ein Geschehen von verschiedenen Figuren
auf abweichende Art und Weise vermittelt wird. Bei dem homodiegetischen oder dem
autodiegetischen Erzähler (Gerard Genette) ist der Perspektivenwechsel in gleichem
Maße sichtbar. Da der Erzähler in einem Text einmal als das erzählende Ich [das die
vergangenen Ereignisse rekonstruiert – D.K.S.], und ein andermal als das erlebende Ich
erscheint, ermöglicht er dem Leser die Erinnerungsfrage aus zwei Blickwinkeln zu
betrachten. Dies veranlasst zum Nachdenken über die möglicherweise eintretenden
Unstimmigkeiten zwischen dem Erfahrenen und dem Erinnerten. Der reflexive Modus
ermöglicht der Leserschaft, an einer distanzierten Betrachtung von Erinnerungskulturen
teilzuhaben“ und das kollektive Gedächtnis unter verschiedenen Aspekten zu
untersuchen und zu ergründen. 107
Alle von Erll vorgeschlagenen Modi können einem literarischen Text innewohnen. Sie
schließen sich demzufolge nicht aus, sondern bauen aufeinander. Die Verbindung
verschiedener Modi in flexiblen Kombinationen ist für die Rhetorik des kollektiven
Gedächtnisses konstitutiv.
107
Ebd. S. 189.
34
4
Zur Analyse von Eleonora Hummels Roman
„Die Fische von Berlin“
4.1
Zum Inhalt und zum Titel des Romans
„Die Fische von Berlin“ ist die Geschichte der Familie Schmidt, die im „Weißen
Grab“108 in Kasachstan lebt. Die deutschen Wurzeln und vor allem der deutsche Name
der Familie sind Auslöser zahlreicher unangenehmer Situationen, mit denen sie seit
Jahrzehnten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ringen muss. Während Alina,
die Hauptfigur, bereits als elfjähriges Kind den Vorurteilen der Altersgenossen
entgegentritt, rennt der Vater der Familie hartnäckig gegen die Schikanen der Behörde
an. Um jeden Preis versucht er die ersehnte Genehmigung zur Ausreise in die Heimat
der Vorfahren, „Deitschland“109, zu erhalten. Inzwischen sucht die Familie den
Zwischenaufenthalt - „einen besseren Platz zum Gehen“, in ständiger Bereitschaft
jederzeit die Koffer packen zu müssen.110
Zwischendurch genießt Alina unbekümmert die sonntäglichen Besuche bei den
Großeltern und entdeckt zufällig, dass die Erwachsenen etwas ihr verschweigen. Das
unter
dem
Kopfkissen
des
Großvaters
gefundene
Taschenmesser
mit
Anfangsbuchstaben K und B und das Foto mit dem Inschrift „Igarka, 1956“ sind der
rote Faden zu den Familiengeheimnissen. Sie lösen die kindliche Neugier bei Alina aus,
die behutsam versucht, das Geheimnis ihrer Familie aufzudecken. Sie beginnt zu fragen,
und allmählich erhält sie von ihrem Großvater Antworten. Die oft unterbrochenen und
im Geheimen vor anderen Familienmitgliedern geführten Gespräche führen zur
Annäherung von Enkelin und Großvater. Dieser öffnet sich und zieht sie ins Vertrauen.
108
Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005, 2006. S. 8. (Bei Zitaten
werden in Klammern die Seitenangaben gegeben)
109
Ebd. S. 30.
110
Ebd. S. 30.
35
Er erzählt seine Lebensgeschichte ohne ihr die schreckenerregenden Einzelheiten zu
sparen. Alina hört von den Großen Säuberungen, Lagergeschichten und Volksfeinden.
Sie erfährt, warum ihr Großvater hinkt und woraus seine besondere Vorliebe für
Ofenwärme resultiert. Zum ersten Mal vernimmt sie die Familiengeschichte, die auch
das Leben der Großeltern enthält. Der Großvater vertraut seiner Enkelin seine
Liebesgeschichte an, die jedoch nichts mit ihrer Großmutter zu tun hat. Sie erfährt, dass
er seine glücklichsten Momente in Berlin mit seiner Verlobten Thea verbrachte, wo er
„Fische für sie im See (fing), an dessen Rand Kastanienbäume wuchsen“111.
Alina und ihrer Eltern gelingt es schließlich, über den Umweg Kaukasus, die
Genehmigung zur Ausreise zu bekommen. Bevor sie aufbrechen, ist Alina die ganze
Familiengeschichte bekannt. Sie erfährt auch von ihrem dritten Großvater, den sie nie
kennen lernen konnte. Danach fährt sie nach Berlin und verlässt die Großeltern, die
immer noch auf die Genehmigung warten. Kurz danach stirbt der Großvater.
Der Roman endet mit einem Epilog, in dem Alina bereits als erwachsene Frau den See
in Berlin sucht, von dem ihr der Großvater erzählt hat. Sie steht an einem See und
beobachtet einen Angler, der einen Fisch zurück ins Wasser gleiten lässt. Eine
unerklärliche Kraft hält sie an diesem Ort fest. Trotz der Unsicherheit, ob es der richtige
See ist, ist sie überzeugt, dass es mindestens die Fische sein müssen. Die Fische von
Berlin, die der Großvater für seine große Liebe Thea angelte. Der Titel des Romans
„Die Fische von Berlin“ lässt sich auf die teuersten Erinnerungen des Großvaters
zurückführen, auf den Ort, wo er als jünger Mann seine erste unvergessliche Liebe
erlebte, auf Paradies, aus dem er mit Gewalt ausgerissen wurde und in das er nie
zurückkommen durfte.
Der Roman stellt jedoch nicht nur das Leben der Familie Schmidt dar, die einerseits
von kleiner Alina und andererseits von dem Großvater erzählt wird. Der Roman ist auch
ein Panoramabild der Geschichte, die sich zwischen den 30er und 70er Jahren des 20.
Jahrhunderts in der ehemaligen Sowjetunion und im Deutschen Reich abspielte.
111
Ebd. S. 173.
36
4.2
„Die Fische von Berlin“ - Ein autobiografischer Roman
Ein autobiografischer Roman im Gegensatz zur Autobiografie beruht nicht allein auf
der Mischung von Fakt und Fiktion. Während eine Autobiografie eine literarische
Darstellung der eigenen und wirklichen Lebensgeschichte ist, lässt ein autobiografischer
Roman die Vermischung von wahren und erfundenen Ereignissen und Personen zu. Die
Mischung von Tatsachen und Fiktion lässt sich im Roman „Die Fische von Berlin“
bemerken.
Nachdem man den Lebenslauf von Eleonora Hummel genauer betrachtet, kann man die
Feststellung wagen, dass Manches von der Biographie der Autorin mit dem im Roman
Dargestellten übereinstimmt. Der deutsche Nachname der Hauptfigur und die deutsche
Abstammung ihrer Familie, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lebt und
schließlich nach Deutschland ausreist, entsprechen im großen Maße der Biografie der
Autorin:
„Eleonora Hummel, geboren 1970 in Zelinograd (damals eine mittelgroße
Stadt in der kasachischen Steppe[…] ), entdeckte früh die Liebe zur
Literatur. […] 1980 zog Eleonora Hummel mit ihrer Familie in den
Nordkaukasus, 1982 folgte die Übersiedlung in die damalige DDR, ein
Schritt, den zu jener Zeit nur wenige deutschstämmige Aussiedler
gegangen sind, was einen gewissen Exotenstatus mit sich brachte.“ 112
Da die Autorin die Geschichte aus der Kinderperspektive erzählen lässt, gewinnt in
diesem Fall auch das Alter von Hauptfigur an Bedeutung. Die ungefähr elfjährige Alina,
mit deren Augen der Leser die dargestellte Welt betrachtet, ist in demselben Alter, in
dem die Autorin zur Zeitpunkt der Handlung, die sich an der Wende der 70er und 80er
Jahre abspielt, hätte sein können.
112
Siehe dazu: www.eleonora-hummel.de. Letzter Zugriff am 25.05.2009.
37
Der in Ich-Form geschriebene Roman verleiht den Eindruck, dass die Hauptfigur, die
zugleich Erzähler ist, auch mit der Autorin des Romans konform geht. Dies ist am
folgender Textpassage sichtbar:„Selbst heute verlässt mich nicht das Gefühl, daß
zwischen dem was mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochenen geblieben
ist. […] Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus.“113
In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Authentizität der erzählten
Geschehnisse und der handelnden Figuren zu stellen. Dem von Carsten Gansel
geführten Gespräch mit Eleonora Hummel lässt sich entnehmen, dass der Roman „Die
Fische von Berlin“ keine idealtypische Autobiographie ist. Die Autorin Eleonora
Hummel unterstreicht, dass der Leser nicht mit authentischen Lebenserinnerungen zu
tun hat. Dies ist an den Aussagen der Autorin über die geschriebene Geschichte
sichtbar:
„Persönliche Berührungspunkte waren [...] eine zusätzliche Motivation,
wobei ich die Betonung auf berührt legen möchte. Eine Geschichte, die
berührt, bleibt länger im Gedächtnis, und so ging es mir auch.“114
„Zwingend war für mich, die Figur des Großvaters darzustellen, dass sie
glaubwürdig ist. Da ich alles Wissen über meine drei Großväter nur vom
Hörensagen habe, konnte ich auf keine reale Person zurückgreifen.[...]
Ich habe mir im Roman einen Großvater erschaffen, den ich nie hatte,
aber wahrscheinlich gerne gehabt hätte.“115
Daher sind die Erzähler im Roman nicht mit den realen Personen gleichzustellen. In
diesem Fall liegt eine Nichtidentität von Autor und Erzähler vor, besonders im Fall des
Großvaters, der von Hummel ausgedacht wurde. Hummel gesteht jedoch selbst, dass es
die Gegenstände, die Alina auf die Entdeckungsreise der Familiengeheimnissen führen,
das alte Messer und das Foto, in Wirklichkeit gab: „Das Messer mit dem mein
Großvater unter dem Kopfkissen schlief, ging mir jahrelang nicht aus dem Kopf. Das
war mein Faden, an dem ich die Geschichte zu entrollen begann.“116
113
Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005,2006. S. 7.
Gansel, Carsten , Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren - ein
Gespräch. In: Carsten Gansel (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften<
des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007 S .297.
115
Ebd.
116
Ebd. S .297.
114
38
Hier aus wird ersichtlich, dass „Die Fische von Berlin“ keine Autobiografie, sondern
ein Roman ist, der autobiografische Züge trägt, die Hummel selbst als
Berührungspunkte bezeichnet.
4.3
Zur Rhetorik der Erinnerung
4.3.1 Zur außerliterarischen Welt – Mimesis I
Die Vielzahl der literaturtheoretischer Ansätze ermöglicht ein literarisches Werk aus
unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Bei der Analyse des Romans von
Hummel erscheint ein kontextorientierter Ansatz angebracht, der die historische
Wirklichkeit als Bezugsfeld zum Text in Betracht zieht.117 In diesem Punkt wird
vorgeführt, wie sich die fiktive Welt gegenüber der außerliterarischen Realität verhält,
indem man den historischen und politischen Hintergrund des Romans berücksichtigt.
Der Roman ist deutlich auf die außerliterarische Welt referiert und durch die Erinnerung
an die Sowjetunion präformiert. Die historischen Ereignisse stehen jedoch nicht im
Fokus, sondern sie werden durch Darstellungen des Alltagslebens und Formen der
Erinnerung, sowie durch den Umgang der Figuren mit
der Vergangenheit
wiedergegeben.
Das bereits im Punkt 4.3.3 präsentierte Verhältnis der Erzählebenen indiziert, dass im
Roman drei Ebenen vorhanden sind, wobei in diesem Zusammenhang lediglich die
intradiegetische und die metadiegetische Erzählung relevant ist. Diese stellen eine
allgemeine politische und historische Situation der Russlanddeutschen in der
Sowjetunion dar. Dabei soll hervorgehoben werden, dass sie keine Abbildung der realen
historischen Ereignisse enthalten, sondern eine Konstruktion möglicher geschichtlichen
Ereignisse, eine Mimesis der Geschichte zwischen der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.118
117
Vgl. Nünning, Ansgar. Nünning, Vera: Grundkurs anglistisch-amerikanische Literaturwissenschaft.
Stuttgart: Klett 2007. S.38ff.
118
Vgl. Schmid, Wolf : Elemente der Narratologie. Edition: 2. Walter de Gruyter 2008. S. 39.
39
Die intradiegetische Ebene, auf der die Hauptfigur [Alina – D.K.S] erzählt, weist auf die
70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hin: „Natascha aus der Damenoberkleidung ist
letzte Woche am Bügeltisch zusammengebrochen. Bis der Notarzt kam, hat sie
geschrien, daß ihr Bruder gleich in den ersten Kriegstagen in Afghanistan gefallen ist.“
( Hummel S. 28)
Der von Alinas Eltern geführte Dialog über die letzten Geschehnisse in der Arbeit,
macht den Leser auf ein, als erstes im Roman genanntes, historisches Ereignis
aufmerksam, nämlich auf den Afghanistankonflikt, der tatsächlich in die Weltgeschichte
einging. Obwohl die Anhänger des Islamismus seinen Anfang auf die Machtergreifung
Dauds [afghanischer Staatsmann von 1973-1978 – D.K.S]
1973 datierten, wurde
offiziell anerkannt, dass ihn die sowjetische Invasion 1979 zeitigte.119 Diese wurde zum
weltpolitischen Ereignis, das international missbilligt wurde. Der von der Mehrheit der
UN-Mitglieder geforderte sofortige Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan
kam jedoch nicht zustande. Damit wurde auch die bisherige Entspannungspolitik der
Großmächte zerstört. Ende 1980 wandelte sich der Krieg mit der afghanischen
Bevölkerung, zu einem Krieg der Supermächte.120 Die USA, ohne sich direkt an dem
Krieg zu beteiligen, unterstützten finanziell den Aufbau und die Organisation des
aktiven islamitischen Widerstands, den man als beste Reaktion auf die sowjetische
Invasion einsah.121 Vor diesem Krieg wollte im Roman Alinas Vater seinen Sohn Willi
bewahren, der in einem Jahr als volljähriger Mann in die Sowjetarmee einberufen
werden könnte und höchstwahrscheinlich nach Afghanistan fahren müsste.
„Wir müssen unsere Taktik ändern. Sie wollen, dass ich aufgebe! Aber
da haben sie sich geschnitten. Hilde ich gebe unseren Sohn nicht als
Kanonenfutter her. Wir haben noch ein Jahr, bis er einberufen wird. In
einem Jahr müssen alle Zelte abgebrochen sein.[…]“ (Hummel S. 30)
Der weitere geschichtliche Kontext bezieht sich auf Tod Stalins, den Alinas Vater
erwähnt, indem er nach dem Jahr 1953 gefragt wird:
„Hm, im Februar 1953 wurde ich achtzehn, hatte gerade meinen
Berufsabschluß gemacht, als Schneider. Das weiß ich noch ganz genau,
weil ein paar Wochen später, Anfang März, Stalin starb. […] Das ganze
Volk hat getrauert. So ein Jahr vergisst man nicht.“ ( Hummel S. 47)
119
Vgl. Schetter, Conrad J.: Kleine Geschichte Afghanistans. 2.Auflage. C.H. Beck 2004. S. 101.
Vgl., ebd.
121
Vgl., ebd. S.108.
120
40
Die Sowjetunion kam am 5. März 1953 zum Erliegen, als der Tod des sowjetischen
Diktators offiziell angekündigt wurde. Die UdSSR fühlte sich nach dem Tod Stalins,
„Vaters der Völker“, der in Folge eines Schlaganfalls starb, verlassen wie eine Weise.122
Dies widerspiegelt sich in der Erzählung des Großvaters:„Der Frühling 1953 kam. […]
Aus den Lautsprechern drang eine tränenerstickte Stimme zu uns. Was sie sagte, war
ungeheuerlich: De Vater aller Völker und Nationen, Genosse Stalin, war tot.“ (Hummel
S. 210)
Die Größe des empfundenen Verlust der Kommunisten in der Wirklichkeit, brachte die
enorme und hysterische Trauerbezeugung zum Ausdruck. „Das betraf die Teilhaber der
Macht ebenso wie alle Schichten der Bevölkerung bis hin zu den Dichtern (…)“.123 Mit
Stalin, der eine totalitäre Diktatur in der UdSSR errichtete, verbindet man in der
Geschichte ein weiterer Ereignis, von dem im Roman der Großvater erzählt:„Es begann
nicht erst 1937, und es war danach nicht plötzlich zu Ende, das, was man die Großen
Säuberungen nannte. Vielleicht wurde in diesem Jahr am gründlichsten gesäubert.“
(Hummel, S. 83)
Die Großen Säuberungen, die im Rahmen Stalinscher Politik durchgeführt wurden,
hatten zum Ziel nicht nur Ausgrenzung der parteilichen Opposition, sondern
Verhaftungen aller gesellschaftlichen Schichten, Berufsgruppen und Volksgruppen, die
die unter Kategorie „Feinde des Volkes“ fielen.124 Den Höhepunkt erreichten sie in den
Jahren 1936 – 1938. Die sich in der gleichen Zeit verschlechternden deutschsowjetischen Verhältnisse verursachten, dass die deutsche Volksgruppe stärker als
andere unter den Repressalien gelitten hat.125 In folgendem Textabschnitten, die zu der
Erzählung des Großvaters gehören, lassen sich die Methoden der Geheimdienste und
das Ziel der Säuberung erkennen:
122
Vgl. Bonwetsch, Bernd/ Roger Engelmann / Thomas Großbölting / Hermann Wentker (Hg.):
Kommunismus in der Krise: Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen. Analysen und Dokumente der
BStU. Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. S. 170
123
Ebd.
124
Kriese, Birgit: Zwei Generationen erzählen: Narrative Identität in autobiographischen Erzählungen
russlanddeutscher. Campus Verlag, 2006. S. 121.
125
Vgl. Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung: die Geschicke
einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen
Verhältnisses. Osteuropa–Studien Bd.3. LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 1999. S.119.
41
„Sie holten Leute von ihrem Arbeitsplatz ab, wenn sie sie zuvor nicht zu
Hause angetroffen hatten. Sie befragten Eltern und Geschwister nach dem
Aufenthalt der Gesuchten und gingen nie ohne Antwort. […] Sie
durchsuchten Kommoden […] wühlten in Unterwäsche auf der Suche
nach Dokumenten, die ein Verbrechen beweisen sollten, das nie
stattgefunden hat.“ (Hummel S. 84f)
„Es gab keine Regeln außer: es kann jeden treffen. Zu oft ahnte man bei
der Verhaftung gar nicht von den Gründen. Man erfuhr sie erst später,
beim Verhör, wenn sie sie einem vorlasen, und sie lauteten immer gleich:
Feind des Volkes, Konterrevolutionär, Verräter. Jemand von dem, die
Gesellschaft gesäubert werden mußte.“ (Hummel, S. 86)
Angesichts des sich abzeichnenden Kriegs, hegte die Sowjetregierung gegen die
deutsche Bevölkerung den gesteigerten Verdacht, sie könnten Spione und Verräter sein.
Die Erfassung von Geheimlisten mit persönlichen Daten der Russlanddeutschen in der
UdSSR, erleichterte den sowjetischen Geheimdiensten die Verhaftungen und
darauffolgende
Verhöre.126
Während
des
Zweiten
Weltkrieges
wurden
die
Russlanddeutschen inhaftiert, verurteilt und auf Anordnung Stalins nach Sibirien und
Zentralasien deportiert.127 Erst 1964 wurde das Dekret des Präsidiums des Obersten
Sowjets, die im Erlass von 1941 erhobene allgemeine Beschuldigung über
Wolgadeutsche
und
Anschuldigung
aufgehoben.128 Einen weiteren
der
Kollaboration
mit
den
Faschisten
historischen Hintergrund verbirgt die folgende
Textstelle: „Das Katharinentor. Erbaut zu Ehren der Zarin. Vor zweihundert Jahren soll
sie hier durchgefahren sein. […] Ist es nicht ein merkwürdiges Gefühl, demselben
Boden zu betreten, den einst Katharinas Fuß berührt hat?“ (Hummel, S. 130)
Der Triumphbogen von Katharina
erscheint in der Analyse des Romans von
Bedeutung, weil er auf die Geschichte der deutschen Vorfahren von Familie Schmidt
weist. Die in der realen Welt bekannte Geschichte von Katharina II und
Russlanddeutschen wird jedoch nicht erzählt, sondern durch eine Legende angedeutet.
Die Überprüfung der Zusammenhänge zwischen den Deutschen in Russland und der
Zarin wird den Lesern überlassen. Die Etablierung der Deutschen auf dem
gegenwärtigen Gebiet Russlands lässt sich bereits auf 15. Jahrhundert zurückführen. In
der Untersuchung erweist sich die Fortsetzung der zaristischen Ansiedlungspolitik von
126
Vgl. Armborst, Kerstin: Ablösung von der Sowjetunion: die Emigrationsbewegung der Juden und
Deutschen vor 1987. LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 2001. S.38.
127
Vgl. Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. S.333.
128
Vgl. Armborst, Kerstin: Ablösung von der Sowjetunion. S.38.
42
Katharina II als relevant, die in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts begann. Mit
der Absicht das Reichtum des Staates zu vergrößern, ließ die Zarin die
Bevölkerungszahl erhöhen. Vor allem sollte das menschenleere Land an der mittleren
und unteren Wolga und in Sibirien von arbeitsamen Untertanen besiedelt werden.129 Der
im Ausland veröffentlichte Manifest vom 22 Juli 1763, der zur Einreise nach Russland
einlud, garantierte eine Anzahl von Sonderrechten, die effektiv neue Ansiedler
anlockten.130 Die Russlanddeutschen, die geschlossen an der Wolga siedelten, erhielten
die Möglichkeit, eine eigene nationale Staatlichkeit aufzubauen. So konnten sie ihre
Religion, ihre Sprache und ihre Kultur bewahren. Weitere Privilegien, wie Minderung
der Steuerlast, trugen dazu bei, dass die Russlanddeutschen erfolgreicher als die
russischen Landwirte waren und bis in die 70-er Jahre des 19. Jahrhunderts mit ihrer
Lage im Russischen Reich zufrieden sein konnten.131 Ihre Situation änderte sich
wesentlich, nach der Einführung der Reformen von Alexander II, die alle Privilegien
entzogen
und
Russlanddeutsche
mit
Russen
rechtlich
gleichsetzten.
Damit
verschlechterte sich ihr Status. Ihre nachhaltige Präsenz und Dominanz in staatlichen
Institutionen löste allmählich Protestpotenzial gegen Fremden aus, das kurz vor dem
Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Zenit stand.
129
Vgl. Klötzel, Lydia: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. S. 28f.
Vgl. ebd., S. 28.
131
Vgl. ebd, S. 43.
130
43
4.3.2 Zur Figurenanalyse
Für das erzählte Geschehen in einem literarischen Text ist der Entwurf der Figuren
konstitutiv. Da die Figuren als eins der wichtigsten Elemente im Roman erscheinen,
weil sie Geschehenszusammenhang erschaffen, werden sie im Nachstehenden auf drei
Ebenen untersucht: Figurenkonzeption, Figurencharakteristik und Figurenkonstellation.
Bevor eine detaillierte Analyse präsentiert wird,
sollen alle Figuren in ihrer
Konfiguration dargestellt werden. Was damit gemeint ist, erläutert dieses Zitat: „Die
Beziehung aller vorkommenden Figuren, die mit- oder gegeneinander handeln, wird
durch den Begriff Konfiguration zusammengefasst.“132
Figurenkonfiguration:
Aufgrund der Präsenz der Figuren im erzählten Geschehen wird zwischen Haupt- und
Nebenfiguren unterschieden. Zu den Hauptfiguren im Roman „Die Fische von Berlin“
gehört Alina und ihr Großvater. Sie gehören Familie Schmidt an, deren Mitglieder:
Alinas Vater, Mutter, Schwester Irma und Großmutter die Nebenfiguren darstellen. Sie
beteiligen sich oft am Geschehen, man lernt ihre Lebensgeschichte kennen, und sie
wirken
im
Leben
der
Hauptfiguren
mit.
Andere
Figuren
wie
Bekannte,
Klassenkameraden, Lehrer, Nachbarn sowie Alinas Bruder Willi und andere Verwandte
treten in kleinen Episoden auf, oder werden nur kurz erwähnt. Figuren die im
Vordergrund stehen, zeichnen sich durch die kulturelle Homogenität aus. Familie
Schmidt gehört zur deutschen Minderheit, die seit einigen Generationen auf dem Gebiet
der ehemaligen Sowjetunion lebt. Die Eltern, vor allem Alinas Vater, bemühen sich seit
zwanzig Jahren nach Deutschland ausreisen zu dürfen. „Die Eltern [von Alina- D.K.S]
wollten fort. Das einzige Thema, das sie vereinte. Es ging um ein fernes Land, von dem
als Deitschland die Rede war.“ ( Hummel, S. 24)
Figurencharakteristik und Figurenkonzeption:
Figuren lassen sich aufgrund ihres Aufbaus und ihrer Beziehung zur Handlung
analysieren. Im Nachstehenden werden die sogenannte oppositive Modelle verwendet,
132
Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft: Begriffe, Verfahren, Arbeitstechniken. Berlin: Walter de
Gruyter: 2004 S. 112.
44
die Manfred Pfister bei der Figurenkonzeption vorschlägt.133 Figurencharakteristik und
Figurenkonzeption werden gemeinsam behandelt, denn: „eine bestimmte Konzeption
der Figur kann auch eine entsprechende Auswahl aus dem Arsenal der
Charakterisierungstechniken nach sich ziehen“134 In diesem Abschnitt werden die
Hauptfiguren vorgestellt, die eine ausgeprägte individuelle Eigenart repräsentieren.
Zunächst wird Alina als bedeutendste Figur besprochen, die zugleich die Erzählerin ist.
Man lernt sie als kleines Mädchen kennen, das über sich selbst und seine Umgebung
bekannt gibt: „Ich war ein Nachzügler. Sieben und sechs Jahre trennten mich von
Schwester und Bruder.“(Hummel, S. 13) Sie ist elf Jahre alt. Im Gegensatz zu allen
Familienmitgliedern ist sie rothaarig und sommersprossig, was ihr in Verbindung mit
dem deutschen Namen Schmidt Unannehmlichkeiten unter russischen Schulkameraden
und Nachbarnkinder bereitet. Während sich die meisten Kinder in Grüppchen sammeln,
steht sie immer abseits: „Die Mädchen drehten sich nach mir um, tuschelten, kicherten,
flüsterten, fragten mich etwas. Ich wußte, sie hatten mir schon einen Stempel
aufgedrückt, der nicht mehr abzuwaschen war.“ (Hummel, S. 113) Wegen der
deutschen Abstammung hat sie auch festgelegte Rolle, die sie im Krieg-Spiel mit nichtdeutschen Kindern übernehmen muss: „Lena und ihr Bruder spielten gerne Krieg, und
ich mußte die Rolle der Besiegten übernehmen. Ich wollte keinen Krieg spielen. Wenn
ich mich weigerte, riefen sie »Faschistin, Faschistin!«“ (Hummel, S. 49) Alina als Figur
ist mehrdimensional. Im Laufe des Geschehens erfährt man immer mehr von ihrer
Person und Handlungen. Alinas kindliche Eigenschaften wie Neugier und Naivität oder
Natürlichkeit sind im Roman durch ihre Denkart oder ihr Verhalten dargestellt. Die
abendlichen, im Geheimen von ihren Eltern geführten, Gespräche und Pläne bezüglich
der Ausreise betrachtet Alina als Spiel: „Was folgte kam mir wie ein Spiel vor. Abends
beugten wir uns über eine Karte und lasen uns gegenseitig Städtenamen vor. Das Land
war groß, unsere Auswahl nicht.“ (Hummel, S.30). Wenn man ihre Schwester als
Mädchen aus Blut und Milch bezeichnet, will sie überprüfen, ob sie auch so eins ist:
„Ich nahm ein Glas Milch, stach mir mit einer Nadel in den Finger und ließ zwei
Tropfen Blut in das Glas fallen. Die Milch blieb weiß. Der Finger tropfte bis Mutter mir
ein Pflaster gab und die Milch wegschüttete.“ (Hummel, S. 33) Wenn Irma mit den
133
Vgl. Gansel, Carsten: Kinder und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin:
Cornelsen Scriptor 2002. S.38f.
134
Ebd. S. 38.
45
Eltern nicht wegfahren will und darüber bei ihrer kleinen Schwester weinend klagt,
kann Alina nicht völlig begreifen, worum es ihrer Schwester geht: „Ich verstand nur
halb was sie sagte. Ihre Augen waren so hell, wie ich sie noch nie bei jemandem
gesehen hatte. Wie in fremder Mensch sah sie plötzlich aus, meine Schwester.“
(Hummel, S. 35)
Alina ist eine offene Figur und lässt sich auf Anhieb nicht einstufen. Durch
Beobachtungsgabe und Fragen findet sie Geschichte und Geheimnisse ihrer Familie
heraus, die bisher gut behütet waren. Wenn sie erfährt, dass sie einen dritten Großvater
hat, fühlt sie sich von ihrer Familie enttäuscht. Sie schaut sich das Familienleben zum
ersten Mal aus einer anderen Perspektive an:
„Ich ging nicht heim.[…] Ich wollte krank werden, tagelang im Bett liegen
und keinen sehen müssen, am wenigstens Großvater.[…] Wie sollte ich
denn nun den alten Mann anreden, der doch irgendwie zur Familie
gehörte… Mit Großonkel vielleicht? […] ich hatte gar keinen Namen
mehr für ihn. Ein Haus, erbaut auf Lügen, stürzt irgendwie ein.“
(Hummel, S. 150)
Alina ist ein Individuum, das eine einmalige Geschichte erlebt. Trotz des Kindesalters
kommt sie mit allem zurecht und dadurch wahrscheinlich reifer ist als andere Kinder in
ihrem Alter. Sie trägt nicht nach. Die Bindung zu ihrem Großvater erscheint stärker zu
sein. Sie geht wieder zu ihm und akzeptiert als Großvater: „Ich ging wieder zu ihm.
Vielleicht war etwas dran an Mutters Vermutung, ich würde erwachsen werden. Ich
hielt es nicht lange aus in der Schmollecke. Der Groll hatte sich verzogen,
übriggeblieben war eine seltsame Leere.“(Hummel, S. 155)
Am Ende der Handlung erscheint Alina plötzlich als erwachsene Frau, die bereits in
Deutschland lebt und des verstorbenen Großvater gedenkt. Es gibt keine genaueren
Angaben zu ihrem Leben oder Aussehen. Sie sucht nun den Großvaters beliebtesten See
in Berlin.
Die zweit relevanteste Figur ist der Großvater. Zur seinen äußeren Erscheinung sowie
zu seinen Angewohnheiten führt eine direkte Charakterisierung durch die Erzählerin,
Alina. Sie beschreibt ihren Großvater folgenderweise: „Mein Großvater war ein
hochgewachsener, schweigsamer Mann mit Glatze, die wie poliert aussah.“ (Hummel,
46
S. 8) „Im Sommer arbeitete er ohne müde zu werden im Garten und wurde braun wie
ein Seemann. Seine Schulter waren breiter als die meines Vaters.[…]Er machte keine
Diät und hatte einen gesunden Appetit.“ (Hummel, S. 19) Er hinkte, mochte Wärme und
rauchte Belomor – Zigaretten. Jeden Sonntag hörte er Radiosender: Stimme Amerikas.
Er war „ein alter Mann mit kahler Stirn, faltiger Haut und sonderbaren
Angewohnheiten.“ (Hummel, S. 53) Seine Vorlieben, deren Ursachen man aus seiner
Erzählung kennen lernt, formuliert sie dagegen in einem Satz: „Großvater mit seiner
seltsamen Leidenschaft fürs Heizen und Angeln, für Fische und Öfen.“ Der Großvater
stellt eine offene und mehrdimensionale Figur dar. Obwohl er zunächst als älterer Mann
mit seltsamen Gewohnheiten auftritt, erfährt man allmählich von seiner Jugend, erster
Liebe und Strafe, die er in einem Arbeitslager in Sibirien absitzen musste. Als Junger
Mann erlebt und überlebt er die stalinistischen Säuberungen. Er wird zwar als Feind des
Volkes verhaftet, wird aber erstaunlicherweise als Einziger aus dem Gefängnis
entlassenlassen. Während des Zweiten Weltkrieges wird er als arbeitsfähiger Mann vom
Wehrkommando mobilisiert und ins Lager bei Stalino geliefert. Nachdem der Konflikt
zwischen Deutschland und Sowjetunion ausgebrochen war, kehrte er nach Hause
zurück, wo bereits Deutsche stationiert waren. Durch Evakuierung gelangt er
schließlich nach Berlin, wo er für einen Bauer arbeitet und seine Tochter heiraten will.
Kurz nach dem Kriegsende wird er jedoch vom sowjetischen Militärtribunal wegen des
Vaterlandsverrats zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt. Nach elf
Jahren kehrt er nach Hause zurück und lebt mit der Frau seines Bruders.
Der Großvater ist ein Individuum mit schwerem Erinnerungsgepäck und reicher
Vergangenheit. Trotz bewegter Zeiten, in denen er lebt und trotz der zahlreichen
Situationen, die bei ihm Angst, Freunde oder andere Gefühle wecken sollten, werden
kaum Emotionen in seiner Erzählung sichtbar:
„In der Dunkelheit der Polarnacht achtete ich nicht darauf, daß meine
Hände klamm und meine Füße gefühllos wurden. Die Tagesnorm mußte
erfüllt werden.“(Hummel, S 188)
„Eines Abends stellte ich fest, daß sich zwei Zehen an meinem rechten
Fuß verfärbt hatten. Ein paar Tage später waren sie fast schwarz. Dann
kam das Fieber. Dazwischen fehlt mir die Erinnerung. Schlief ich
Stunden, Tage oder Wochen? Ich wachte auf der Krankenstation auf, ohne
Zehen.[…] Sobald ich wieder zu mir gekommen war, wurde ich
arbeitstauglich geschrieben.“ (Hummel, S. 189)
47
Er berichtet mehr von den Ereignissen, als von sich selbst. Nur an wenigen Stellen sind
seine Gedanken oder sein Verhalten erkennbar. Diese werden nur kurz erwähnt und
ohne Kommentar gelassen, was an folgendem Zitat sichtbar ist: „Im Krieg, fern der
Heimat, war ich Mitte zwanzig und stellte plötzlich fest, dass ich gern an kommenden
Tage dachte.“ (Hummel, S. 173) Die Art und Weise, wie der Großvater von seinem
Leben erzählt, sagen mehr von seiner Figur, als der Inhalt seiner Erzählung. Die
emotionsfreie Wiedergabe der spannenden Lebensgeschichte drückt in seinem Fall
keine Gleichgültigkeit aus. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Vergangenheit aus der
Perspektive eines erfahrenen Mannes erzählt wird, der sich längst mit seinem Schicksal
abfand. Das anfängliche Zögern mit Antworten auf Fragen nach seinem vergangenen
Leben zeigt, wie es schwierig ist, von traumatischen Erlebnissen zu sprechen, die man
lieber verdrängen oder vergessen als wachrufen möchte. Die Großvaters Ausreden:
„Mein Leben eignet sich nicht für einen Schulaufsatz.“(Hummel, S. 54) oder „»Das ist
längst vergangen. Was vergangen ist, soll man nicht wieder aufrühren«“ (Hummel, S.
52) zeugen auch von der Unsicherheit des Großvaters, der sich nicht entscheiden kann,
ob er seine Geschichte einem kleinen Mädchen erzählen soll, oder nicht. Während er
seine Geschichte offenbart, riskiert er mit vollem Bewusstsein, dass sich seine Enkelin
von ihm abwenden kann. Trotzdem bleibt er gegenüber ihr ehrlich und gesteht, dass er
nicht ihr wahrer Großvater ist.
Figurenkonstellation:
Figurenanalyse wäre nicht komplett, wenn man die Figurenkonstellation auslassen
würde. Diese thematisiert die Interaktion und die Rolle der Figuren als Teile eines
größeren Systems. Zu den Typen der Konstellationen gehören Paare, die man in
Korrespondenz- und Kontrastpaare unterscheiden kann.135 Ein Korrespondenzpaar
bilden Alina mit ihrem Großvater. Aufgrund der Unterschiede im Alter, in
Lebenserfahrung und Zeiten, in denen sie ihre Kindheit verbrachten, lässt sich kaum
von ähnlichen Charakterzügen sprechen. Zwischen beiden Figuren lässt sich jedoch eine
Geistesverwandtschaft bemerken. Es ist eine innere Verbundenheit, die zwischen beiden
Figuren von Anfang an besteht. Bereits die Anrede Wnutschka gegenüber Alina weist
auf eine besondere Beziehung zwischen ihr und dem Großvater: „Großvater sprach
135
Vgl. Bachorz, Stephenie: Zur Analyse der Figuren. In: Peter Wenzel (Hg.): Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. WTV – Wissenschaftlicher Verlag, Trier, 2004.
Bd. 6. S. 56f.
48
mich selten beim Namen an. Er nannte mich Wnutschka, Enkelin, obwohl ich nicht die
einzige war, nur seine jüngste.“ (Hummel, S. 10) Auf diese Art und Weise wird Alina
durch den Großvater favorisiert. Es wird auch die stärkere familiäre Beziehung zu ihr
als zu anderen Enkeln hervorgehoben. Dies lässt sich dadurch erklären, dass
wahrscheinlich Alina als Einzige in der Familie nicht weiß, dass der Großvater
tatsächlich der Bruder des richtigen Großvaters ist. Der Großvater ist nur in Begleitung
von
Alina offen und gesprächig. Gegenüber anderer Familienmitglieder bleibt er
verschlossen und schweigsam. Davon zeugen Worte des Bruders Willi:
„»[…]Mit Großvater kann man nicht reden. Der ist stumm wie ein Fisch,
und Großmutter überwacht ihn wie ein Drache. […] Ich habe mich schon
oft gefragt: Was machst du eigentlich, wenn du bei ihnen bist?«
»Reden. Er redet mit mir schon.«
Willi sah mich mit einem komischen Ausdruck von der Seite an. Viel
später […] sagte er: »Dann ist ja gut«“ (Hummel, S. 152f.)
Gespräche mit dem Großvater sind nicht nur deswegen bemerkenswert, weil er sie
ausschließlich mit Alina führt. Sie sind außerordentlich, weil er ihr seine Ängste und
Wünsche mitteilt. Um ihr zu erklären, warum er einen Taschenmesser unter dem
Kopfkissen liegen ließ, gesteht er ihr, dass er Angst vor der Dunkelheit hat und finden
bei ihr volles Verständnis:
„Du lachst mich sicher aus, wenn ich sage, ein alter Mann wie ich hat
Angst vor der Dunkelheit.« Ich fasste ihn am Ärmel und schnipste die
Aschespur mit dem Finger weg. »Nein, ich lache dich nicht aus. Ich
fürchte mich auch im Dunkeln.«
»Du weißt gar nicht, was das für ein Trost für mich ist!«“
( Hummel, S. 55)
Alina ist auch die Einzige, die weiß, warum der Großvater nach Deutschland fahren
will. Der Grund ist nicht nur das Vorväterland sondern vor allem Erinnerungen an seine
Braut und einige der wenigen Glücksmomente in seinem Leben: „Großvater sagte oft,
daß er noch einmal Berlin sehen wolle. Aber ganz sicher würde er es nach seinem Tod
sehen. Denn wo sonst war der Ort zu vermuten, der ihm Paradies sein konnte.“
(Hummel, S. 58)
Beide Figuren stellen eine Bindung her, die keinen der anderen Familienmitglieder
gelingt.
Im Geheimen von anderen geführte Gespräche vertiefen die Enkelin –
Großvater – Beziehung:
49
„Großvater verstummte, als Großmutter Silhouette im Türrahmen
auftauchte. »Was steckt ihr hier im Finstern die Köpfe zusammen wie
zwei Verschwörer?«
»Wir halte die Mücken davon ab, zu dir in die Küche zu kommen« […]
»Ja, die Mücken, eine rechte Plage, ich bin schon ganz zerstochen«, sagte
er mit einem Seitenblick auf mich. Aus irgendeinem Grund freute ich
mich. Uns verband nun ein Geheimnis, von dem die anderen
ausgeschlossen waren.“ (Hummel, S. 88)
Die enge Bindung wird in dem Moment unterbrochen, wenn Alina erfährt, dass sie mit
einem beinahe fremden Menschen zu tun hat. Dies dauert jedoch nicht lange, weil die
innere Verbundenheit mit dem Großvater stärker als alle andere Gefühle ist.
4.3.3
Erzählerische Vermittlung von Erinnerungen anhand der
Erzähltheorie von Gerard Genette.
Im folgenden Abschnitt wird die Erinnerungsgestaltung im Roman „Die Fische von
Berlin“ anhand des Verhältnisses der Erzählebenen und darauffolgend anhand der
Erzählform (Gerard Genette) dargelegt. Das Verhältnis der Erzählebenen soll die Orte
des Erzählens präsentieren. Im Roman lassen sich drei Ebenen der Erzählung
unterscheiden, die Gerald Genette in extradiegetisch, intradiegetisch und metadiegetisch
einteilt. Die erste genannte Ebene wird als Erzählakt des Erzählers erklärt, der eine
Erzählung hervorbringt. Auf dieser Ebene wird eine Handlung platziert, die einen
Rahmen für eine weitere Ebene bildet. In dem Roman hat Hummel die umschließende
Rahmenerzählung integriert, die sowohl zu Beginn als auch zu Abschluss der Erzählung
markant ist. Dies ist an den wenigen Textpassagen zu sehen:
„Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, daβ zwischen dem, der
mein Groβvater war, und mir etwas unausgesprochen geblieben ist. An
manchen Tagen ist dieses Gefühl nur unterschwellig da, an anderen
drängt es empor an die Oberfläche. Es scheint mir dann ganz nah, und
doch weiβ ich nicht, wie es sich greifen lieβe. [...] in meiner Erinnerung
gibt es keinen Sonntag an dem nicht Groβvater am Ende meines Weges
die Tür geöffnet hätte [...].“ 136
136
Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005,2006. S. 7. (Bei Zitaten
werden in Klammern die Seitenangaben gegeben)
50
Diese zitierten Textstellen befinden sich am Anfang des Romans und leiten ihn ein. Die
in der Präsensform konstruierten Sätze weisen darauf hin, dass sich der Erzähler in der
Jetztzeit befindet. In derselben Weise wurde der Satz: „Ich weiβ nicht mehr, wie lange
ich dort gestanden [...] habe.“ (Hummel S.222) im abschließenden Abschnitt gebildet,
der samt den einleitenden Sätzen den Rahmen entstehen lässt, der die darauf folgende
Geschichte umschließt.
Die zweite und zugleich die dominante Erzählebene ist intradiegetisch und wird als
Geschichte in der Geschichte bezeichnet. Sie ist in der Analyse des Romans besonders
von Bedeutung, weil sie Erinnerungen in den Vordergrund stellt. Sie schließt in sich die
chronologische Darstellung von Kindheit der Hauptfigur Alina, die innerhalb von
ungefähr zwei Jahren ihren Verlauf nimmt. Das wird durch die folgenden Sätze
deutlich:
„Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus.
[...] Im Winter trug ich dicke warme Kleidung, die meine Mutter viel
zu groß kaufte. Pelz, Handschuhe, Filzstiefel – sie sollten mir in fünf
Jahren noch passen.“ (Hummel S.7)
Obwohl diese Erzählebene eine Binnenerzählung ist, spannt sie einen Bogen um eine
weitere Geschichte, die von dem Großvater erzählt wird. Diese befindet sich auf der
dritten, metadiegetischen Ebene und umfasst seine Erinnerungen an seine Jugend.
Hierbei ist die zentrale Rolle der Dialoge zu unterstreichen, die sich zwischen der
Hauptfigur und dem Großvater entspannen, der sich mithin seine Geschichte in die
Erinnerung zurückrufen kann. Dies ist an dem Dialog sichtbar, der dem Leser den
ersten Einblick in die Vergangenheit des Großvaters verschafft:
„»Erinnerst du dich an das Foto, wo du im Wald sitzt?« fuhr ich im
Flüsterton fort [...]
»Du fragst mich, ob ich mich daran erinnere, Wnutschka?« flüsterte
er zurück. »Nun, ich tu’s, so klar als wär’s gestern gewesen. Dieser
Wald
steht in Sibirien [...]«
»Was hattest du zu tun? [...].« Großvater schwieg [...] aber dann
sagte er: »Warten, daß die Zeit vergeht..«“ (Hummel S.51)
Zu dieser Ebene gehören auch zahlreiche Episoden, die die Vorgeschichte der einzelnen
Familienmitglieder von Alina betreffen, die sie aus den Erzählungen anderer kennt. Das
folgende Zitat stellt die Geschichte des Vaters dar:
51
„Seine Mutter sagte, werde Schneider, Sohn. Essen, trinken und sich
anziehen müssen die Leute immer, egal ob Krieg ist oder Frieden.
Mein Vater wurde Schneider. Abends, nach seiner Arbeit als
Schneiderlehrling vom Meister Pawlow, nähte er Schirmmützen im
trüben Schein der einzigen Glühbirne im Haus.“ (Hummel S.22)
Die Frage nach den Erzählebenen sollte man mit der Stellung des Erzählers zum
Erzählten ergänzen.137 In Genettes Erzähltheorie fällt die zentrale Unterscheidung
zwischen dem hetero-, und homodiegetischen Erzähler. Gut! Der heterodiegetische
Erzähler trifft auf den Roman nicht zu, weil er in der von ihm erzählten Geschichte
nicht vorkommt. Dementsprechend ist er kein Teil der Diegese, was im Roman von
Hummel der Fall ist. Da kommt vorwiegend der homodiegetische Erzähler zum
Vorschein. Dieser ist an der erzählten Welt beteiligt, das bedeutet, er erzählt und erlebt
zugleich. Er ist demzufolge als Figur in der Geschichte anwesend.138
Berücksicht man die Differenzierung zwischen der Erzählebenen hinzu, ergeben sich
auf diese Weise folgende Erzählertypen, die getrennt besprochen werden. Der erste Typ
ist extradiegetisch – homodiegetisch und befindet sich auf der höchsten Stufe der
Erzählung. Im Roman ist Alina die Erzählerin, die aus der Erwachsenenperspektive
spricht. Das ist an dem Satzanfang zweier Textstellen sichtbar: „Selbst heute verläβt
mich nicht das Gefühl [...]“(Hummel, S.7) so wie: „In meiner Erinnerung gibt es keinen
Sonntag [...].“ (Hummel, S.7) Die Erzählerin hebt damit den Akt des Erinnerns hervor,
der auf der nächsten, intradiegetischen Ebene zum Vorschein kommt. Hier ist Alina
dagegen die intradiegetisch - homodiegetische Erzählerin, die als Kind erscheint.
Zutreffend sind folgende Sätze:„Ich war Nachzügler. Sieben und sechs Jahre trennten
mich von Schwester und Bruder. [...] Irma [Schwester von Alina – D.K.S] war vor
kurzem achtzehn geworden und ging ihrer eigenen Wege.“ (Hummel S.14)
Der Autorin erschien es als einleuchtend, die Erzählerin aus einer gewissen Distanz
sprechen zu lassen.139 Die Absicht diese Distanz zum Erzählten zu gewinnen ist
137
Vgl. Scheffel, Martinez; Matias Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München:
C.H. Beck Studium 1999. S. 81.
138
Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1994. S.175.
139
Gansel, Carsten /Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren ein Gespräch. In: Gansel, Carsten ( Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen
Gesellschaften< des Real- Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007. S.
287.
52
dadurch begründet, dass die Erzählerin als Kind nicht immer die kindliche Perspektive
einhält. Daher wurde die erwachsene Alina als Erzählerin auf der extradiegetischen
Ebene ganz bewusst von der Autorin eingeführt, damit die kindliche Erzählerin eine
gewisse Äußerungsfreiheit gewinnen könnte und einige Aussagen und ihre Denkweise
wegen der Wortauswahl dem Leser nicht suspekt würden, wie an dieser Stelle: „Bei
jedem Schritt, den ich tat, versuchte ich mir Eigenheiten der Stadt einzuprägen. Aber
ich fand sie nicht. Die Stadt war trist, ein weiβes Grab im Winter, ein Staublager im
Sommer.“ (Hummel S. 60)
„Die Beschäftigung mit Ich – Erzählinstanzen [deren der homodiegetischer Erzähler
entspricht – D.K.S] ist [...] eine Beschäftigung mit der literarischen Inszenierung von
Erinnerung.“140 Diese Aussage trifft besonders auf den Roman zu, weil es außer Alina
noch einen Erzähler gibt, der seine Erinnerungen wachruft. Es ist der Groβvater, der
auf der letzten dialogisch gestalteten Erzählebene der metadiegetisch – homodiegetische
Erzähler ist, was am folgenden Textausschnitt sichtbar ist:
„ »Ich erinnere mich nicht an seinen Namen, aber ich würde ihn
wiedererkennen« sagte der Groβvater. »Es war ein See bei Berlin mit
einer Allee aus Kastanienbäumen, die damals blühten[...]. Jeder sollte
wissen, wo seine Heimat ist und woran er sie erkennen kann. Daβ du
das auch irgendwann weiβt, das wünsche ich dir, Wnutschka.«“
(Hummel S. 82)
Es ist auch zu bemerken, dass es zu dem ständigen Erzähler - und folglich zum
Ebenenwechsel kommt. Alina hat eine Vermittlerrolle zwischen den Ebenen. Sie
erzählt ihre Geschichte und führt zwischendurch die Dialoge ein, in denen der
Groβvater seine Stimme erhebt. Auf der metadiegetisch – homodiegetischen Ebene
wird also die intradiegetisch – homodiegetische Erzählerin
zu dem Hörer. Der
Groβvater als Erzähler auf der metadiegetischen Ebene unterbricht jedoch vielfach seine
Geschichte, so dass Alina als Erzählerin auf der darüberliegenden Ebene wieder das
Wort ergreift. Beide Erzähler zeichnen sich durch die interne Fokalisierung aus. Die
Erzählweise wird monoperspektivisch dargestellt und jeder Erzähler ist in seiner
eigenen individuellen Erzählung der Protagonist.
140
Erll, Astrid; Marion Gymnich; Ansgar Nünning (Hrsg.): Literatur, Erinnerung, Identität.
Theorienkonzeptionen und Fallstudien. Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003 . S.18.
53
4.3.4
Zur Zeitdarstellung im Roman
„Wie jedes Geschehen ist auch der Akt des Erzählens selbst ein zeitliches
Phänomen.”141 Während man bei der Erzählanalyse zwischen dem Erzählen und dem
Erzählten unterscheidet, lässt sich dementsprechend in der Zeitform zwischen der
Erzählzeit und der erzählten Zeit differenzieren. Da der Roman „Die Fische von Berlin“
keine näheren Informationen über die Dauer des Erzählens enthält, wird die Erzählzeit
nach dem Seitenumfang von Roman gemessen und beträgt 223 Druckseiten. „Die
erzählte Zeit meint demgegenüber die Dauer der erzählten Geschichte.“142
Berücksichtigt man alle drei Erzählebenen, auf denen Großvater und Alina erzählen,
umfasst die erzählte Geschichte einen Zeitraum von etwa 60 Jahren. Betrachten man die
Geschichten der Hauptfiguren separat, so spricht der Großvater von Ereignissen, die
sich zwischen 30er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts abspielten. Seine Geschichte
beginnt kurz vor dem Jahr 1937, was an folgenden Textpassagen sichtbar wird:
„Das Dorf hieß Timofejewka, im Gebiet Stalino […]. Dort bin ich
aufgewachsen. Bevor ich lesen und schreiben lernte, hörte ich die Alten
von den guten Jahren reden, wenn sie sich draußen auf der Bank vor ihren
Häusern auf einen Schwatz trafen, später nicht mehr. Es begann nicht erst
1937, und es war danach nicht plötzlich zu Ende, das was man die Großen
Säuberungen nannte. Vielleicht wurde in diesem Jahr an gründlichsten
gesäubert. Die Bänke vor den Häusern blieben lange leer.“ (Hummel, S.
83)
Der Großvater erzählt Alina seine Erlebnisse bis zum Jahr 1957, in dem er aus Sibirien
nach Kasachstan zurückkehrt. Seine Erzählung endet er mit diesen Worten: „Bei meiner
Entlassung habe ich […] eine Schweigeverpflichtung vorgelegt bekommen. Ich
unterschrieb sie […], danach war es vergessen, es hatte keine Bedeutung. Und dennoch
drei Jahrzehnte lang habe ich mich daran gehalten […]. Ich war zurück, nach dem Wie
und Warum fragten weder Frau noch Tochter, der ich an meines Bruders Statt ein guter
Vater sein wollte.“ (Hummel, S. 215)
141
Martinez Matias, Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck
1999. S. 30.
142
Ebd. S. 31.
54
Alinas Geschichte umfasst dagegen mindestens 10 Jahre. Sie beginnt im Jahr 1987, ein
Jahr vor dem Ausbruch des Krieges in Afghanistan und endet einige Jahre nach dem
Mauerfall in Berlin. Davon zeugt dieses Zitat: „Vieles hatte sich verändert. Die letzten
Jahre waren vergangen wie ein Atemzug. Die Mauer, in Stückchen abgetragen und an
Souvenirjäger verkauft“ ( Hummel, S. 219)
Bei der Zeitanalyse, die nach Erzähltheorie von Gerard Genette durchgeführt wird, ist
das Verhältnis zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit zu berücksichtigen, das
sich an drei Kriterien: Ordnung, Dauer und Frequenz untersuchen lässt.
Ordnung:
Bei der Ordnung handelt es sich um die Übereinstimmung bzw. die Dissonanz zwischen
der Abfolge des erzählten Geschehens und der Abfolge seiner Darstellung. 143 Werden
die Ereignisse nicht chronologisch erzählt, spricht man von einer narrativen
Anachronie, die sich im Hummels Roman in Form von Analepse und Prolepse darstellt.
Die Analapse ist bereits nach den ersten Sätzen im Roman sichtbar, wo zum Übergang
von der Gegenwartsebene zur Vergangenheitsebene kommt. Zuerst denkt die Erzählerin
an die zwischen ihr und ihrem Großvater entstandene innere Bindung und erst danach
erinnert sie sich an die Tage, in denen sie ihn noch als kleines Mädchen besuchte:
„Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, dass zwischen dem, der mein Großvater
war, und mir etwas unausgesprochenes geblieben ist.[…] Jahr für Jahr ging ich sonntags
den gleichen Weg zu seinem Haus.“ (Hummel, S. 7) Dieses Zitat zeigt, dass die
sonntäglichen Besuche bei dem Großvater zu einem früheren Zeitpunkt stattfanden, als
die Erinnerung an ihn selbst. Zuerst äußert sich die Erzählerin als Erwachsene und
nachträglich
wird
ihre
Kindheit
dargestellt.
Weitere
Analepsen
bilden
Familiengeschichten, die die Vergangenheit der Verwandten von Alina betreffen. Als
Beispiel wird hier die Jugend des Vaters angeführt: „Manchmal erzählt mir Vater von
seiner Jugend. Geschichten, die Irma und Willi bereits auswendig kannten. Seine Mutter
sagte, werde Schneider, Sohn. Essen, trinken und sich anziehen müssen die Leute
immer, egal ob Krieg ist oder Frieden. Mein Vater wurde Schneider.“ (Hummel, S. 22)
Alina flechtet in ihre Erzählung die vom Vater gehörte Geschichte ein und erzählt von
Ereignissen, die sich noch vor ihrer Geburt abspielten. Analepsen sind auch jedes Mal
143
Vgl., ebd. S. 32.
55
zu sehen, wenn der Großvater ein neues Fragment seiner Lebensgeschichte anführt.
Dies ist am folgenden Zitat sichtbar: „Wenn ich mich heute frage, warum ich jenes Jahr
überlebt habe, fällt mir als erstes Mutter ein. Abends jagte sie uns aus dem Haus: Geht!
Bevor sie kommen! Sie kamen in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang […].“ (Hummel, S. 83) Die Analepse führt in diesem Beispiel in der
Chronologie um ein paar Jahrzehnte vom Moment des Gesprächs in der erzählten
Geschichte zurück.
Im Roman ist auch Anachronie in Form der Prolepse zu finden, in der „ein noch in der
Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt (wird)“
144
Folgendes Zitat betrifft
Sergejs Leben [ Schwager von Alina – D.K.S] und enthält zum Teil Prolepse und zum
Teil Analepse:
„Der Schwiegersohn kam nicht zur Marine. Er sollte auf keinem Schiff
kochen und viele Jahre kein Meer zu sehen bekommen. Als kleiner Junge
hatte er am Strand von Odessa geplanscht, bis ihm eine Qualle die Hand
verbrannte. Seither liebte er Schiffe, große mächtige Schiffe,
Flugzeugsträger, Erdöltanker, Eisbrecher, von allen hatte er
ausgeschnittene Bilder in ein Album geklebt, das er sich immer wieder
anschaute. Später nicht mehr, da war er ein verheirateter Mann, und er
kam nicht auf einem Schiff, sondern in einem Flugzeug nach
Afghanistan.“ (Hummel, S. 112)
In der Gegenwart ist Sergej Koch in der Armee und hofft zur Marine zu kommen. Aus
diesem Textfragment erfährt man sowohl von seiner Kindheit, die sich längst vor der
Zeit des Erzählens abspielte, als auch davon, wie sich seine Geschichte in einigen
Monaten entwickelt und bei welcher Gelegenheit seine Hoffnung begraben wird
[Prolepse – D.K.S].
Dauer:
Ein weiteres Kriterium bei der Analyse des Verhältnisses zwischen der erzählten Zeit
und der Erzählzeit bildet die zeitliche Dauer des Dargestellten. Hier ist die
Erzählgeschwindigkeit von Relevanz. Sie kann in einem literarischen Text in fünf
Formen erscheinen, wobei in Hummels Roman nur drei zu beachten sind: Szene,
Raffung und Ellipse.145 Szene bedeutet ein zeitdeckendes Erzählen, in dem die
144
145
Ebd. S. 33.
Vgl., ebd. S. 40.
56
Erzählzeit mit der erzählten Zeit übereinstimmt. Ein Beispiel dafür stellen folgende
Passagen aus dem Roman dar:
„»Das kannst du nicht machen!«
» Warum nicht? Erlaubt es mir das Fräulein Schwesterherz nicht?«
»Vater erlaubt es dir nicht.«
»Doch. Er wird es erlauben. In dem Kaff, in das ihr zieht, gibt es keine
Universität. Soll seine Tochter etwa Näherin werden wie er selbst?«
Irma meinte es ernst.“ ( Hummel, S. 35)
Derartige szenisch dargestellte Dialoge kommen in Hummels Roman stellenweise vor.
Meistens sind sie kürzer und zusätzlich mit Einschüben der Erzählerin versehen. Im
Fall der Raffung wird die Erzähltempo beschleunigt, indem man in einem Satz einen
größeren Zeitraum zusammenfasst. Dies wird am Beispiel aus dem Roman präsentiert:
„Viele Jahre habe ich von Alois Metzger nichts gehört. Unsere Wege kreuzten sich
innerhalb der Zone nicht mehr. Erst Jahrzehnte später machte er mich ausfindig per
Post“ (S. 209) Eine Extremform des zeitraffenden Erzählens stellt die Ellipse dar. Sie
ist typisch für Zeitsprünge, in denen die ausgesparte Zeit nicht näher genannt wird und
dabei keine Bedeutung für die erzählte Geschichte hat. Das folgende Zitat zeigt, dass
die ausgelassenen Momente keinen Einfluss auf die fortgesetzte Erzählung ausüben:
„»Sie haben gesagt, daß sie von mir keine Ausreiseanträge mehr annehmen«, sagte
Vater in die Stille hinein. Er verließ den Tisch, ohne das Rührei gekostet zu haben.
Später sah ich ihn im Bett sitzen, auf dem Schoß das aufgeschlagene »Lexikon des
Therapeuten«.“ (Hummel, S. 29)
Frequenz:
Das dritte und letzte Kriterium bei der Zeitanalyse ist die Frequenz der Darstellung von
Ereignissen. Hier unterscheidet man drei Typen von Wiederholungsbeziehungen in der
Erzählung. Der erste Typ ist singulativ und erscheint in Form „ einmal erzählen, was
sich einmal ereignet hat“146 In Hummels Roman haben die meisten Geschehnisse nur
einmal stattgefunden und wurden sie auch einmal geschildert. Der zweite Typ ist
repetetiv und bezeichnet eine wiederholte Erzählung eines einmaligen Geschehens. Im
Roman trifft es auf den Tod Stalins 1953 zu , von dem einmal der Vater erzählt: „[...]
Dann sind die Menschen weinend auf die Straße gegangen, überall, im ganzen Land,
146
Ebd. S. 46.
57
auch in den Gefängnissen und Arbeitslagern. Das ganze Volk hat getrauert“ (Hummel ,
S. 47) und ein anders Mal der Großvater auf ganz unterschiedliche Art und Weise:
„Aus den Lautsprechern drang eine tränenerstickte Stimme zu uns. […] Der Vater aller
Völker und Nationen, Genosse Stalin, war tot. […] Nach der Durchsage blieb es im
Hof still, aber in den Baracken brach Jubelgeschrei aus. Männer […] fielen sich um
den Hals und weinten vor Freunde“ (Hummel, S. 210) Der dritte Typ ist iterativ und
„folgt der Formel »einmal erzählen, was sich wiederholt ereignet hat«.“147 In der Form
der internativen Erzählung wird von Alinas Besuchen bei dem Großvater erzählt, die
sich seit einigen Jahren regelmäßig, am gleichen Wochentag wiederholen: „Jahr für
Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus. In meiner Erinnerung gibt es
keinen Sonntag, an dem nicht Großvater am Ende meines Weges die Tür geöffnet
hätte.“ (Hummel, S. 7) Die internative Erzählung wird meist in Form der Raffung
dargestellt, was hier auch der Fall ist.
147
Ebd.
58
4.3.5 Zu Modi der Gedächtnisrhetorik im Roman
In folgenden Punkt werden literarische Verfahren mit konkreten Beispielen behandelt,
die im Rahmen der Rhetorik des Gedächtnisses zur Bildung der Modi verwendet
werden.
Interdiskursivität:
Als Erstes wird die von Erll angeführte Inderdiskursivität analysiert, die sich auf die
Dialogizität bzw. auf die Heteroglossie zurückführen lässt. 148 Beide Termini, die der
russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin einführte, deuten im Bezug auf
Romane auf die Redevielfalt hin, die u. a. aufgrund des Zusammentreffens von zwei
Kulturen entsteht. Im Roman „Die Fische von Berlin“ sind Beispiele der
Interdiskursivität zu finden, die sich in Form von Alltags- sowie für eine spezifische
Gruppe charakteristischer Sprache manifestieren.
Obwohl der Roman in deutscher Sprache geschrieben wurde, fällt da oftmals das Wort
Wnutschka. Die russische Bezeichnung der Enkelin [внучка – D.K.S.] wird im Roman
mit Lautschrift „Wnutschka“ beschrieben, um den deutschen Lesern die Aussprache des
Wortes vertraut zu machen. Dies weist auf die russische Sprache, deren sich die
erzählten Figuren bedienen sollten, von denen beide Erzähler ( Alina und Großvater –
D.K.S] zugunsten des Romans auf Deutsch berichten. Wnutschka wird jedoch nur von
dem Großvater gegenüber Alina ausgesprochen, was von einer besonderen Beziehung:
Enkelin – Großvater zeugen kann. Dies ist an folgenden Textpassagen sichtbar:
„Großvater sprach mich selten beim Namen an. Er nannte mich
Wnutschka, Enkelin, obwohl ich nicht die einzige war, nur seine
jüngste.“ (Hummel, S. 10)
„»Nun, sag es mir eins, Wnutschka: Was ist die Strafe meiner strengen
Fragestellerin, wenn ich mich weigere zu antworten?« Ein kleines
Lächeln zeigte sich in seinen Mundwinkeln.“ (Hummel, S. 52)
Die Figuren des Romans handeln auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und sind
stets von russischsprachigen Menschen umgeben. Familie Schmidt befindet sich oft in
148
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005.
S. 171.
59
Situationen, in denen sie mit der Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber
ihren Wurzeln und vor allem deutschen Namen konfrontiert ist:
„»Wie heißt du denn, Mädchen?«
»Alina.«
Der Nachbar kratzte sich am Kopf, als krame er in seinem Gedächtnis nach
diesem Namen.
»Aliona, sag deinen Eltern, sie sollen sich besser um den Garten kümmern. [..]“
(Hummel S. 70)
„In Mutters Paß stand Hilda als Vorname über der Zeile, in die als
Nationalität Nemka, Deutsche, eingetragen war. Aber die Leute sagten
Galina, Galja, Galjuscha zu ihr, weil Hilda zu fremdländisch klang. Der
graustoppelige Nachbar hatte sie gefragt, ob das nicht ein Hundename
sei.“ ( Hummel, S. 71)
Die auf russische Art und Weise ausgesprochenen Namen und die Nationalität Nemka
als Deutsche dienen im Roman zur gesellschaftlichen Verortung der Figuren und zeigen
sprachliche Besonderheiten, die in der Umgebung der Figuren üblich sind. Im Roman
sind außerdem umgangssprachliche Ausdrücke zu finden, die nur einer bestimmten
Gemeinschaft zuzuschreiben sind. Dazu gehören „Gänge“ die nur für eine eingeweihte
Gruppe von Personen einleuchtend sein können:
„Seine Besuche beim Amt nannte Vater »Gänge«. Wir wußten sofort,
wenn er von einem »Gang« zurückgekommen war. Seine Stimme
zitterte , die Haut war blaß, das Gesicht fahl, er bekam kein Bissen
herunter.“ (Hummel, S.25)
Gänge waren regelmäßige Besuche des Vaters bei der örtlichen Behörde, bei der er seit
Jahren Ausreiseanträge einrechte. Das waren jedoch vergebliche Versuche, die immer
auf Ablehnung stießen. Gleichzeitig bezeichnete Familie Schmidt die KGB- Beamten
als „die Bande“, die Alina auf ihre kindliche und zugleich humorvolle Art und Weise
folgendermaßen beschreibt:
„Wenn wir unter uns waren, nannte er [ der Vater – D.K.S.] sie die
Bande. Mit der Zeit entstand in meinem Kopf ein Bild von der Bande.
Natürlich sprach ich zu niemandem davon, aber meine Bande bestand
aus schnauzbärtigen Männern in schwarzen Ledermänteln. Sie rauchten
wie Fabrikschlote und bliesen meinem armen Vater […] den Rauch ins
Gesicht. Sie sagten zu ihm […] (du) wirst hier nie rauskommen.“
(Hummel, S. 25f.)
60
Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnung der
Schwarze Rabe. Die Entstehungsgeschichte des Wortes, das zur Benennung des
Arrestantenwagens in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion diente,
bleibt für einen Außenstehenden verborgen.
„Wenn ich mich heute frage, warum ich jenes Jahr überlebt habe, fällt mir
als erstes Mutter ein. Abends jagte sie uns aus dem Haus: Geht! Bevor sie
kommen! Sie kamen in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang, in einem Schwarzen Raben, der nicht schwarz war.“
(Hummel, S. 83)
„Wenn der Schwarze Rabe mit dem Volksfeind wieder davonfuhr,
zeichnete sich im Türrahmen die Schatten von dessen Frau und Kindern
ab.“ (Hummel, S. 85)
Interdiskursivität gehört zu literarischen Darstellungsverfahren, die entweder zu einem
erfahrungshaftigen oder monumentalen Modus beitragen können. Aufgrund der oben
angeführten Beispiele lässt sich feststellen, dass im Roman „Die Fische von Berlin“ der
erfahrungshaftige Modus vorherrscht. Mithilfe der verwendeten Wörter wurde die
Sprache des Alltags inszeniert, die von regionalen und gruppenspezifischen
Bedingungen beeinflusst ist.
Intermedialität:
Ein weiteres Verfahren, der im untersuchten Roman relevant ist, stellt die
Intermedialität dar, die die Wirkung der Medien in Literatur aufweist. Die Art der
Medien in einem literarischen Text zeitigt bestimmte Modi des kollektiven
Gedächtnisses. Zu den Medien des Gedächtnisses gehören u. a. Fotos, die Aleida
Assmann folgenderweise charakterisiert:
„Die Photographie […] gilt als sicherstes Indiz einer Vergangenheit, die
nicht mehr existiert, als fortexistierender Abdruck eines vergangenen
Augenblicks. Von diesem Vergangenheitsmoment bewahrt die Photografie
eine Spur des Realen, mit dem die Gegenwart durch Kontiguität, durch
Berührung verbunden ist“149
In Hummels Roman spielen Fotos eine besondere Rolle. Für die Hauptfigur ist ein Foto
[neben dem Taschenmesser – D.K.S] Auslöser kindlicher Neugier und Beweggrund für
Nachforschung der Jugendzeit ihres Großvaters. Alina bemerkt, dass im Zimmer von
149
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.
München: Beck 1999. S. 221.
61
Großeltern nur ein Foto hängt, dass vor zwanzig Jahren aufgenommen wurde. Ihr wird
dann klar, dass es keine Fotos aus der Jugend des Großvaters gibt, außer einem, das
verstaubt über dem Fernseher liegt. Das folgende Zitat stellt eine genaue Beschreibung
dieses Fotos dar:
„Es war nichts besonderes auf dem Bild zu sehen. Fünf Männer, die
barfuß in hochgekrempelten Hosen auf einer Waldlichtung saßen, jeder
eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand. Einer davon war Großvater. Ich
erkannte ihn kaum, so jung sah er aus. […] Jemand hatte in blau
verlaufener Tinte auf die Rückseite geschrieben: Igarka, 1956.“
(Hummel, S. 16f)
Während Alina das Dachboden des neu bewohnten Hauses durchsucht, stoßt sie auf ein
Fotoalbum der Vorbesitzer. Zu ihrer Überraschung sieht sie das gleiche Foto, das sie
aus dem Haus der Großeltern kennt:
„Es war ein Fotoalbum mit Schwarz-weiß-Fotografien, die erste war mit
1912 datiert.[…] Ich sah mir die Bilder fremder Menschen an […]. Und
plötzlich stutzte ich, da war ein Foto, das kannte ich. Fünf Männer, die
barfuß auf einer Waldlichtung saßen […] Statt einer Jahreszahl hatte
jemand einen Namen unter das Foto geschrieben: Alois Metzger.“
(Hummel, S .75f)
Die Fotos, die Alina findet, sprechen von der Vergangenheit, die bisher Alina
verschwiegen wurde. Erst durch neugierige Fragen gelangt sie zu den Antworten, die
sie von ihrem Großvater sukzessive bekommt. Aus den Gesprächen mit dem Großvater
erfährt sie Näheres über seine Lebensgeschichte und Einzelheiten aus dem
Familienleben. Sie vernimmt schließlich, dass sie einen dritten Großvater hat, was sie
selbstverständlich aus der Fassung bringt. Alles, was sie hört und alle Geschehnisse, an
die das Foto erinnert, betreffen private Sphäre der Familie und ihr alltägliches Ringen
mit Widrigkeiten des Schicksals. Da die privaten Fotos mit dem Alltag der
Familienmitglieder verbunden sind und in diesem Fall als Medium des kommunikatives
Gedächtnisses dienen, etablieren sie im Roman den erfahrungshaftigen Modus.
Neben Fotos sind im Roman auch andere Medien zu verzeichnen. Dazu gehören
Denkmäler, die als Medien des kulturellen Gedächtnisses zu einem monumentalen
Modus beitragen. Hierbei soll unterstrichen werden, dass der Denkmal-Begriff keinen
spezifischen Bautypus kennzeichnet sondern mit Funktion des Erinnerns ausgestattet
62
ist.150 Im Roman tritt das Denkmal in Form eines Triumphbogens auf, den der
Großvater Alina als Sehenswürdigkeit auf einem Ausflug zeigt:
„»Laß uns einen Ausflug machen, Ich zeige dir eine Sehenswürdigkeit«
sagte er. […] »Schau, da ist es.«
Mitten auf dem Acker stand ein Triumphbogen.
»Was ist das?«
»Das Katharinentor. Erbaut zu Ehren der Zarin. Vor zweihundert Jahren
soll sie hier durchgelaufen sein.«“ (Hummel, S. 129f.)
Dieses Denkmal ruft bei dem Großvater die lokale Geschichte in Erinnerung und
zugleich ein historisch bedeutsames Geschehen. Das Katharinentor ist Relikt aus der
Zeit der Herrschaft von Zarin Katharina II. Es ist ein Denkmal, das die Ansiedlung,
Wohlhabenheit und Privilegien der Deutschen im 18. Jahrhundert auf dem russischen
Gebiet semantisiert. Das Denkmal erinnert den Großvater auch an eine Legende:
„»Weißt du, da fällt mir eine hübsche Legende ein. Oder nennen wir es
lieber Märchen. Katharina soll einst in weiser Voraussicht ein
Goldrubelkonto in der Schweiz angelegt haben. Über die Summe gibt es
die wildesten Gerüchte. Wieviel dürfte in zweihundert Jahren mit Zins und
Zinsezsins daraus geworden sein? Das Geld sollte ihren Deutschen die
Rückreise in die Heimat ermöglichen, wenn sie eines Tages nicht mehr in
Russland bleiben konnten oder wollten.[…]«“ (Hummel, S. 130f)
Sowohl der Triumphbogen als auch die Legende, die mündlich überliefert wird,
verweisen auf den Fernhorizont kultureller Kommunikation. Sie übermitteln Botschaft,
die von den deutschen Russen bewahrt und erinnert sein will. Obwohl sie eine entfernte
Vergangenheit betreffen, beeinflussen sie ihre Weltanschauung und lassen sie, sich als
eine Gemeinschaft ihrer Identität vergewissern, was am Beispiel des Großvater zu
sehen ist: „»[…] ich glaube, es gibt so etwas wie eine Band zwischen uns und der
Zarin, das bis heute überdauert hat. Ohne sie würden wir nicht hier stehen.,«“
(Hummel, S. 130)
150
Vgl., Erll, Astrid, Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität – Kulturspezifität. Berlin, New York: de Gruyter 2004. S. 241.
63
Raum- und Zeitdarstellung:
Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus schließen sich nicht aus. Im Roman
„Die Fische von Berlin“ greifen sie ineinander, was man an Raum- und
Zeitdarstellung zeigen kann. Der oben erwähnte Triumphbogen gehört zu
kulturellen Gedächtnisräumen. Zur Zeit des Ausfluges, den Großvater mit Alina
unternimmt, befindet er sich mitten auf einem Acker, zu dem ein Feldweg mit
Pfützen führt. Die Inschrift am Torbogen ist längst verwittert. Vor Alinas Augen
erscheint ein Bauwerk, das sie wie folgt kommentiert: „Es war ein seltsamer
Anblick: ein Triumphbogen, der in Schlamm und Dreck versank. Ein paar Jahre
noch, und das Denkmal zum Ruhme der Zarin würde genauso windschief
aussehen wie das Dorf in seinem Rücken.“(Hummel, S. 130)
Das Katharinentor als Sehenswürdigkeit, vernachlässigt und den Naturgewalten
ausgesetzt, verliert sein Erinnerungspotential unter russischer Bevölkerung. Akte
des Vergessens sind an seiner äußeren Erscheinung sichtbar. Nur der Großvater
ist sich seiner symbolischen Bedeutung bewusst. Er macht seiner Enkelin darauf
aufmerksam, indem er den Triumphbogen am Ort zeigt, wo Zarin vor
zweihundert Jahren durchgefahren sein soll. Das Denkmal, seine räumliche
Umgebung, das Acker und ein altes, abgelegenes Dorf im Hintergrund sind
einerseits als Raum vergangener Lebenswelt zu verstehen, andererseits als
Gedächtnisraum verortet im Fernhorizont der Kultur.
64
4.4
Erinnerungsgestaltung in der Drei-Generationen-Familie
„Das ist längst vergangen. Was vergangen ist soll man nicht wieder aufrühren.“
(Hummel, S. 71). Mit diesen Worten antwortet der Großvater auf neugierige Fragen
seiner Enkelin, die von seiner Jugend etwas erfahren möchte. Alina ist die Einzige in
der Familie, die nach der Vergangenheit fragt und allem Anschein davon hören will.
Trotz der ausweichende Antworten, die sie anfänglich bekommt, lässt sich ihre Neugier
nicht zähmen. Sie fragt so lange, bis sie schließlich Antworten bekommt.
Das Schweigen in der Familie Schmidt hat Hintergründe. Es gibt „unzugängliche
Erinnerungen, die unter Verschluss gehalten werden, und deren Torwächter
Verdrängung oder Trauma heißen. Diese Erinnerungen sind zu schmerzhaft oder zu
beschämend, um ohne äußere Hilfe an die Oberfläche des Bewußtseins zurückgeholt
werden zu können.“ 151 Traumatische Erfahrungen der Großeltern, sowie das Geheimnis
der drei Großväter halten die Familie vom Erinnern ab. Der Großvater, zum ersten Mal
nach seiner Vergangenheit gefragt, antwortet mit einer Frage: „»Nun, sag mir eins,
Wnutschka: Was ist die Strafe meiner strengen Fragestellerin, wenn ich mich weigere
zu antworten?«.“ (Hummel, S. 52) Trotzdem erzählt er seiner Enkelin Stück für Stück
seine Lebensgeschichte. Bevor der Großvater all seinen Mut zusammennimmt und die
Enkelin in das größte Familien - Geheimnis einweiht, vergehen Monate. Erst am Ende
seiner Geschichte erfährt sie warum der Großvater so lange geschwiegen hat:
„»Wie es weiter ging, fragst du, Wnutschka? Ich höre deine Frage nicht,
ich sehe sie in deinen Augen. Bei meiner Entlassung habe ich wie viele
andere eine Schweigeverpflichtung vorgelegt bekommen. Ich unterschrieb
sie, wie so viele andere Papiere zuvor, danach war es vergessen, es hatte
keine Bedeutung. Und dennoch, drei Jahrzehnte lang habe ich mich daran
gehalten, weil niemand Fragen gestellt hat. Niemand wollte etwas wissen.
Ich war zurück, nach dem Wie und Warum fragten weder Frau noch
Tochter, der ich an meines Bruders Statt ein guter Vater sein wollte. Und
schließlich: es gab immer andere Dinge zu tun.«“ (Hummel, S. 214f)
151
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), H. 2,
S.184.
65
Alina hilft dem Großvater die schwere Last der Erinnerung loszuwerden. Dank Alinas
fragen wurden die bisher verdrängten Erinnerungen des Großvaters nach dreißig Jahren
wach. Was Großvater endlich nach dreißig Jahren aussprach, will die Großmutter um
jeden Preis verbergen:
„Was hast du dauernd mit Großvater zu tuscheln?« fragte Großmutter mit
ihrer Erzieherischen Stimme.
»Wir tuscheln nicht. Er erzählt mir von seiner Jugend.«
»Von seiner Jugend gibt’s nichts zu erzählen.« […]
»Er weiß noch alles ganz genau. Nur daran, was es am Vortag zu Mittag
gegeben hat, kann er sich oft nicht erinnern. Aber das ist ja auch nicht so
wichtig,«
»Es ist vieles nicht mehr wichtig.«“ (Hummel, S. 90)
Während die Großmutter die Erinnerungen verdrängt, indem sie Vergangenes für
unwichtig hält, sind für den Vater die vergangenen Ereignisse nicht erwähnenswert.
Nach dem Jahr 1956 von Alina gefragt, antwortet er : „1956 war kein besonders
bemerkenswertes Jahr. Aber das ist doch alles nicht mehr wichtig.[…] Siehst du, du
verstehst es nicht. Manchmal fällt es ihm [dem Großvater – D.K.S] schwer zu
begreifen, dass die Vergangenheit unwiderruflich vorbei ist. Das ist bei den Alten wie
eine Krankheit, gegen die es kein Mittel gibt. Nur Schweigen. Aber, leider, es heilt
nicht.“(Hummel, S. 47). Sein scheinbares Desinteresse an Vergangenheit lässt sich
durch Sorgen des Alltags erklären, KGB – Verhöre und Ausreisepläne. Erst nach
seiner Jugend gefragt, beginnt er zu erzählen:
„Er schien ein wenig versöhnt, jetzt, da es um seine eigene Jugend ging.
»Hm, im Februar 1953 wurde ich achtzehn, hatte gerade meinen
Berufsabschluß gemacht, als Schneider. Das weiß ich noch ganz genau,
weil ein paar Wochen später, Anfang März, Stalin starb. Drei Tage lang
hat man seinen Tod verheimlicht, aus Angst, was denn mit dem Land ohne
ihn, den Übervater, werden soll. Dann sind die Menschen weinend auf die
Straße gegangen, überall, im ganzen Land, auch in den Gefängnissen und
Arbeitslagern. Das ganze Volk hat getrauert. So ein Jahr vergißt man
nicht.«“ (Hummel, S. 47)
Der Vater erzählt vom Jahr 1953, das sich ihm wegen des achtzehnten Geburtstags und
des Berufabschlusses eingeprägt hat. Da individuelle Erinnerungen grundsätzlich
perspektivisch sind und auf subjektiv verarbeiteten Erfahrungen beruhen, unterscheidet
66
sich seine Version bezüglich des Jahres 1953 von der Version des Großvaters, der
damals in Sibirien seine Strafe absaß:
”Der Frühling 1953 kam. […] Aus den Lautsprechern drang eine
tränenerstickte Stimme zu uns. Was sie sagte, war ungeheuerlich: Der
Vater aller Völker und Nationen, Genosse Stalin, war tot. Er, der
unsterbliche, gottgleiche Pharao, das Sonnengestirn, um das unser Staat
kreiste, hat nur um ein Jahr die Fertigstellung des Museums seiner
Unsterblichkeit überlebt. Hilflos soll er die letzten Tage in seinem Bett
gelegen haben, und keiner der treuen Hausgenossen hatte sich getraut,
einen Arzt zu holen, denn die Leibärzte des Kremls, die besten Ärzte des
Landes – waren das nicht allesamt Verbrecher, Judenpack, das ihm nach
dem Leben trachtete? So blieb er vom Schlaganfall gelähmt, und stumm
gesellte sich der größte Feind seines Volkes zu jenen, die er millionenfach
vorausgeschickt hatte. Nach der Durchsage blieb es im Hof still, aber in
den Baracken brach Jubelgeschrei aus. Männer, die nie zuvor ein Wort
miteinander gesprochen hatten, fielen sich um den Hals und weinten vor
Freude.“ (Hummel, S. 210)
Ein und dasselbe Ereignis wurde unterschiedlich dargestellt. Dies lässt sich dadurch
erklären, dass geschichtliche Ereignisse von unterschiedlichen Alterskohorten anders
erfahren werden.152 Der Vater erlebt das Jahr 1953 als achtzehnjähriger Mann, der ins
Erwachsenenleben eintritt. Der Großvater hat dagegen die schönsten Jahre hinter sich,
sitzt im Arbeitslager in Sibirien und ihm ist nichts anderes übrig geblieben als „warten,
daß die Zeit vergeht.“153 Daher macht es einen großen Unterschied in welchem Alter
man ein Ereignis erlebt.154 Die Fähigkeit zu erinnern hängt von zahlreichen Faktoren ab,
die auf den Menschen wirken und damit auch entscheiden, was ihnen im Gedächtnis
bleibt. Nicht nur Persönlichkeit und Wertstellung sondern auch der ständige Umgang
mit anderen Menschen sind hier von Belang. Da „das individuelle Gedächtnis […] vom
weiteren Horizont
des
Generationengedächtnisses
bestimmt“155
ist, sind
die
Erinnerungen der Figuren nicht völlig privat.
In der Familie Schmidt finden keine familiären Veranstaltungen statt, die zum Erinnern
veranlassen würden. Außerdem ist nur Alina an das Vergangene interessiert ist. Die
Basis des Familiengedächtnisses wird durch die erinnernden Gespräche gebildet, die
152
Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen
Inszenierung. München: C.H. Beck 2007. S. 34.
153
Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005/2006 S. 51.
154
Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. S. 34
155
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13 (2002), S. 183–
190, hier S. 185.
67
Alina mit einzelnen Familienmitgliedern durchführt. Sie erfährt von Ereignissen in der
Familie, die sich noch vor ihrer Geburt abgespielt haben. Dadurch übernimmt sie
Erinnerungselemente von älteren Generationen, die sie später weiteren Generationen
vermitteln kann.
4.4
Vergangenheitsbewältigung und Identität im Gedächtnisroman
Die Gattungstypologische Differenzierung der fictions of memory zwischen dem
Gedächtnisroman und dem Erinnerungsroman erlaubt zu entscheiden, ob in einem
literarischen Text die Darstellung des Gedächtnisses oder die Inszenierung von
Erinnerungen im Vordergrund steht. Das bereits im Punkt 4.3.3 untersuchte Verhältnis
zwischen den Erzählebenen zeigt, dass im Roman „Die Fische von Berlin“ die
intradiegetische Ebene dominiert. Der Akzent liegt demzufolge auf den zeitlich
zurückliegenden Ereignissen. Das Moment der Erinnerungsabruf wird dagegen sehr
kurz auf der extradiegetischen Ebene präsentiert, die minimal ausgestaltet ist. Zum
Anlass des Rückblicks wird der Tod des Großvaters von Alina und die damit
verbundene Reflexion: „Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, das zwischen dem,
was mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochen geblieben ist. An manchen
Tagen ist diese Gefühl nur unterschwellig da, an anderen drängt es empor an die
Oberfläche. Es schein mir dann ganz nah, und doch weiß ich nicht, wie es sich greifen
ließe.“ (Hummel, S. 7)
Der Blick in die Vergangenheit liefert der erwachsenen Alina Antworten auf die Fragen
nach ihrer Identität und der Bindung zu ihrem Großvater. Auf der intradiegetischen
Ebene tritt Alina als Mädchen vor, das wegen der deutschen Abstammung unter
russischen Schulfreunden kein leichtes Leben hat. Ihr deutscher Name sowie ihr
Aussehen verursachen, dass sie oft unter Schulkameraden nicht akzeptiert und ständig
als Deutsche und nicht einfach als Mitschülerin oder Freundin wahrgenommen wird.
Das bereitet Alina Assimilationsprobleme: „Ich haßte Pausen, vor allem die Pausen am
ersten Schultag. In den Pausen standen alle in Grüppchen herum. Für welches
68
Grüppchen sollte ich mich entscheiden, welches Grüppchen war das richtige für mich,
ich musste zuhören, etwas sagen. Zuhören war einfacher, einfach war auch, daß, wer
nur zuhörte, nicht dazugehörte.“ (Hummel, S.114). Der Akzeptanzmangel unter
Altersgenossen verursacht, dass sie sich zurückhält und mit anderen Deutschen nicht
umgehen will. Dies ist an folgenden Textpassagen sichtbar: „Auf dem Gang, in der
Pause zwischen Mathe und Physik, riefen Jungen meinem Namensvetter im grünen
Pullover: »Faschist! Faschist!« hinterher. Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen
zwinkerten mir verschwörerisch zu. »Na, das gilt doch auch für dich? Gib’s endlich zu!
Dann sind wir schon zwei!« Aber ich schüttelte nur schweigend den Kopf und lief
weg.“ (Hummel, S. 127) Alina bleibt auch nicht verschont und wird mit dem
Schimpfnamen Faschistin von Nachbarkindern geplagt. Auf die Beschimpfung reagiert
jedoch keiner: „Lena und ihr Bruder spielten gerne Krieg, und ich mußte die Rolle der
Besiegten übernehmen.[…] Wenn ich mich weigerte, riefen sie»Faschistin, Faschistin!«
und ihr Großvater betrachtete seine spielenden Enkel mit wohlwollendem Lächeln.“
(Hummel, S. 49) Obwohl der Zweite Weltkrieg längst vorbei ist, wollen Kinder immer
noch das Krieg-Spiel spielen und die Rollenverteilung ist für sie selbstverständlich. Am
Beispiel der Krieg-Spiele, sowie der immer wieder auftretenden Kriegsveteranen, die
mit Tapferkeitsmedaillen einkaufen gehen, wird im Roman das sowjetische
Siegergedächtnis und das nationale Identitätsgefühl inszeniert. Alina dagegen, derer
Großvater kein Kriegveteran ist, sucht erst nach eigener Identität :
„Jahrelang lag ich abends im Bett und zweifelte daran, daß ich in der
richtigen Familie aufwuchs. Meine Eltern und Geschwister waren stattlich
und hatten dunkles Haar. Oft überlegte ich unter der Bettdecke, was ich
dafür geben würde, nicht mehr rothaarig und sommersprossig zu sein und
Schmidt zu heißen. Mit diesem Namen konnte ich nicht so tun, als wäre
ich jemand anderer.“ (Hummel, S.13f)
„Wenn Willi und ich uns abends Gute Nacht wünschten, stellte ich mir
vor, wir wären beide Findelkinder. Er war der einzige in der Familie, dem
ich ein wenig ähnlich sah. Mutter und Vater haben und adoptiert und uns
den Namen Schmidt gegeben. Jahr für Jahr verging, ohne daß jemand
kam, um uns abzuholen“ (Hummel, S. 37)
Alina hört zwar oft von dem Vaterland, daraus resultiert jedoch lange Zeit nichts. Für
sie ist Deitschland ein fernes Land, das sie in ihrem Schulatlas nicht finden kann. Sie
kennt die Sprache ihrer Vorfahren nicht, weil es keinen Deutschunterricht in der Schule
69
gibt. Deutschkenntnisse könnten in ihrem Fall als Stärkung der eigenen Identität dienen,
statt dessen schämt sie sich, dass sie diese Sprache nicht beherrscht. Verwirrend
erscheint für Alina die Einstellung ihrer Schwester Irma, die von dem Vaterland nicht
hören will. Während der Vater seit zwanzig Jahren versucht nach Deutschland
auszureisen, will Irma in der Sowjetunion bleiben:
„(…) ich kann es nicht mehr hören, dieses Gerede von Heimat und
Vaterland! Von der Sprache, die unsere Kinder nicht mehr lernen werden.
Was soll ich mit einer Sprache, die meine Urgroßmutter irgendwann
irgendwo gesprochen hat? Ich lebe jetzt und hier und hier spricht man
anders. Ich denke nicht daran, alles aufzugeben, nur weil unser Vater
glaubt, anderswo wäre er willkommener. Dabei ist sonneklar, dass wir
dieses Vaterland – oder besser Vorväterland – nie zu Gesicht bekommen
werden. […]Ich will meine Leben leben. Ihr könnt ohne mich in die Berge
oder sonst wohin fliegen“ (Hummel, S. 34)
Irma gehört der Enkel-Generation, die sich inzwischen an das Leben in der Sowjetunion
anpasste und sich damit wohl fühlt. Während sich Irma bereits mit den sowjetischen
Bürgern identifiziert, ist Alina nicht sicher wo sie hingehört.
Eine identitätsstiftende Funktion haben für Alina Gespräche, die sie mit dem Großvater
führt. „Erinnerungsgeschichten, die in Familien erzählt werden, stellen nicht nur
individuelle Vergangenheitsbilder dar, sondern zugleich Modelle für die allgemeine
Haltung der Wir-Gruppe.“156 Der Großvater ist der Einzige in der Familie, der Alina die
Geschichte der Vorfahren vor Augen führt: „ […] ich glaube, es gibt so etwas wie ein
Band zwischen uns und der Zarin, das bis heute überdauert hat. Ohne sie würden wir
nicht hier stehen.“ (Hummel, S 130) Die hier von dem Großvater verwendete Wir-Form
weist nicht nur auf ihn und Alina, sondern bezieht sich auch auf alle Deutsche, die
Katharina die Große nach Russland eingeladen hat. Dank dem Großvater, der die
Geschichte der Vorfahren sowie der Familie erzählt, wird die Grundlage gelegt, auf der
Alina ihre Identität ausbilden kann. Anhand der Erzählung über Deutsche in Russland,
Vaters Bemühungen nach Deutschland auszufahren, sowie der Gespräche über das
paradiesische Vaterland, wird das kollektive Identität der deutschen Minderheit in
Russland inszeniert.
156
Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H.
Beck 2008 S.170.
70
Der Großvater erzählt viel und spricht in seinen Erinnerungen nicht nur von sich selbst.
Als homodiegetischer Erzähler bedient sich er oft der communal voice. Durch WirForm spricht er für diejenigen, die mit ihm seine Erfahrungen teilten, ob im Gefängnis,
in Sibirien oder im Arbeitslager bei Stalino. Dies ist an folgenden Beispielen sichtbar:
„Irgendwo in der Nähe von Stalino flogen die Deutschen Luftangriffe. Wir
fragten uns, wie lange würde es dauern, bis sie unsere Zelte oder die
Rollbahn trafen?“ (Hummel, S. 145)
„Als die Panzer abgezogen und die Leichen beseitigt worden waren und
der Staub sich gelegt hatte, sahen wir, dass alles beim alten geblieben war.
Die Freiheit kam nicht. Nicht für uns. Was wollten wir überhaupt noch mit
ihr nach zehn, fünfzehn Jahren Gefangenschaft? Wartete draußen jemand
auf uns nach so langer Zeit?“ (Hummel, S. 212)
Indem
die
persönlichen
Generationengedächtnisses
gruppenspezifisch
Erinnerungen
werden,
inszenierten
wird
des
Großvaters
er
zum
Vergangenheit.“157
Da
zum
Teil
des
„Sprachohr
einer
als
er
von
traumatischen
Erfahrungen erzählt, vom Tod und Leiden Tausender von Menschen, die verhaftet,
gefoltert und hingerichtet wurden, wird ihm die Stimme der vergessenen Opfer des
stalinistischen Terrors verliehen. Durch seine Erzählung wird das in der Sowjetunion
Vergessene und das Verdrängte revitalisiert und damit das Opfergedächtnis inszeniert.
Anhand der oben genannten Beispiel lässt sich feststellen, dass der Roman „Die Fische
von Berlin“ in der Gattungstypologie der fictions of memory als Gedächtnisroman
einzuordnen ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Roman nicht der
Erinnerungsakt und Vergangenheitsdeutung fokussiert werden, sondern die Darstellung
von Gedächtnis.
157
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur In Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004. S. 351.
71
5.
Gespräch mit Eleonora Hummel
Kaniewska: Man spricht ständig von Familie Schmidt als von Russlanddeutschen.
Fühlen
Sie
sich
als
Deutsche,
Russlanddeutsche,
oder
bleiben
Sie
Kasachin?
Hummel: „Russlanddeutsche“ ist ein umgangssprachlicher Begriff, der in den Medien
neben „Deutsch-Russen“ oder (seltener) „Wolgadeutsche“ fälschlich benutzt wird.
Zuletzt habe ich auch öfter gehört: „Deutsch-Kasachen“ (wobei ich mich frage, was das
sein soll?). Ich persönlich lehne diese Bezeichnungen ab, da ich sie nicht für
integrationsfördernd halte. Ich benutze den Begriff „Russlanddeutsche“ nur als
Zugeständnis daran, dass er sich eingebürgert hat und für sich spricht, so dass schnell
klar ist, wer gemeint ist. Korrekt wäre aber: Deutsche aus Russland/Kasachstan etc.
Wenn man in der Sowjetunion aufgewachsen ist, lernt man solche „Feinheiten“ zu
unterscheiden. Nur in Deutschland erlebe ich, dass z.B. in Kasachstan geborene
Menschen pauschal als „Kasachen“ bezeichnet werden. Das trifft natürlich nicht zu. In
Kasachstan leben neben Kasachen, Russen und Deutschen viele andere Nationalitäten.
Es kommt ja auch niemand auf die Idee, sämtliche Amerikaner als „Indianer“ zu
bezeichnen. Kasachen sind die Urbevölkerung Kasachstans. Die aus anderen Gebieten
nach Kasachstan deportierten Deutschen als „Kasachen“ zu bezeichnen, ist völlig
absurd. Sie können höchstens die kasachische Staatsangehörigkeit besitzen. Bezeichnet
man Russlanddeutsche als Kasachen könnten sie zu Recht etwas verständnislos
reagieren. Insofern: selbstverständlich fühle ich mich als Deutsche. Ich bin nie etwas
anderes gewesen. Mein Geburtsort spielt für mich keine entscheidende Rolle.
Kaniewska: Erinnern Sie sich gut an die in Kasachstan verbrachten Jahre? Gedenken
Sie sie positiv? Vermissen Sie diese Jahre oder erinnern Sie sich an unangenehme
Situationen, die mit dem deutschen Nachnamen oder "arischem" Aussehen verbunden
waren?
Hummel: Ich hatte in der Privatsphäre der Familie eine behütete Kindheit. Jedoch ist
das totalitäre System, in dem wir lebten, natürlich nicht völlig außen vor geblieben.
Spätestens mit Schuleintritt begann für mich eine Art Doppelleben: was darf man nur zu
Hause sagen, was soll man in der Schule sagen. Wie muss ich mich verhalten, um keine
„politischen Belehrungsgespräche“ zu provozieren. Mir war frühzeitig klar: ich darf
72
nicht darüber reden, welche Radiosender bei uns zu Hause gehört und welche Themen
von den Erwachsenen besprochen werden. Ich erinnere mich an eine Atmosphäre
geistiger Enge, die von allgegenwärtiger staatlicher Propaganda forciert wurde.
Die unangenehmen Situationen waren oft politischem Zwang geschuldet: Teilnahme an
Demonstrationen, verpflichtende außerschulische Aktivitäten (Erntehilfe, „zivile“
Verteidigung ab Klasse 5, Altmetall- und Altpapiersammlungen). Hinzu kamen
Hänseleien wegen meines „ausländisch“ klingenden Namens, der meine Herkunft sofort
verriet, wo ich auch hinkam, und das Schimpfwort „Faschistin“, mit dem mich
Gleichaltrige bedachten (sie hatten es oft genug von Erwachsenen gehört, denn ich
möchte bezweifeln, dass Siebenjährige sich über den Begriff „Faschist“ im Klaren
sind). Ich möchte diese negativen Erfahrungen nicht überbewerten, aber natürlich haben
diese Dinge mich mit geprägt. Zu vermissen gibt es für mich allerdings nichts.
Kaniewska: Was hat Sie eigentlich bewegt, diesen Roman zu schreiben?
(Erinnerungen
an
Kindheit,
das
Gefühl
des
Andersseins,
Sehnsucht;
die
Absicht, die Situation der Minderheiten zu zeigen; Wut, dass man Vieles
verschweigt?)
Hummel: Nichts von dem genannten. Die Motivation, diesen Roman zu schreiben, war
erstens mein Wunsch, als Schriftstellerin tätig zu sein und zweitens, eine spannende
Geschichte zu erzählen, die man so in Deutschland noch nicht oft gehört hat. Neben
einer spannenden Geschichte, die den Leser/die Leserin unterhalten und im Idealfall
zum Nachdenken bringen soll, war mir auch daran gelegen, einem Leser, der diese
Geschichte nicht kennt, einen gewissen Erkenntnisgewinn zu verschaffen. Wenn man
nach der Lektüre innehält, weil man vom Erzählten nicht unberührt geblieben ist, habe
ich als Autorin schon viel erreicht. Insofern: die Hauptmotivation zu schreiben ist mein
Wunsch, Geschichten zu erzählen, die Menschen berühren. Dabei habe ich nach dem
passenden Stoff lange suchen müssen; dass ich ihn letztendlich in meiner eigenen
Familiengeschichte gefunden habe, ist Zufall.
Kaniewska: Man schreibt, dass Ihr Roman keine Autobiographie ist. In dem
Interview
mit
Erinnerungen
Professor
gehen
Carsten
verloren“
Gansel
sagten
Sie
„Nicht
jedoch,
in
Worte
dass
es
gefasste
einige
persönliche Berührungspunkte gab. „Das Messer mit dem mein Großvater unter dem
73
Kopfkissen
schlief,
ging
mir
jahrelang
nicht
aus
dem
Kopf.“
Wer
hat
Ihnen von dem Messer erzählt?
Hummel: Es ist richtig, dass ein Roman „keine Autobiographie“ ist, es gar nicht sein
kann. Dass mein Roman autobiographische Züge trägt, kann aber wohl nicht
abgestritten werden – auch von mir nicht. Selbstverständlich gibt es persönliche
Berührungspunkte. Die gibt es aber in jedem Schreiben, selbst bei Sachbüchern; es ist
unvermeidlich, dass Erfahrungen und Meinungen des Verfassers mit einfließen, er
etwas von sich hineinschreibt. M.E. ist es jedoch unwichtig für die literarische
Bewertung des Geschriebenen. Es dient lediglich der Befriedigung der Neugier des
Lesers auf die Person des Autors, die ja auch legitim ist. Statt diese Neugier restlos zu
befriedigen bevorzuge ich jedoch, solche Dinge der Phantasie des Lesers zu überlassen.
Ich kann heute nicht mehr sagen, wer mir von dem Messer erzählt hat. Man hat in der
Familie darüber gesprochen. Ich habe es als Kind mitbekommen und das Gehörte hat
sich im Gedächtnis festgesetzt, bis es schließlich zur „Primärvision“ meines Romans
wurde: um dieses Bild herum habe ich den Rahmen (= Handlung) gestrickt.
Kaniewska: In dem Interview sprachen Sie von „drei Großvätern“ Stimmt in der
Wirklichkeit nur die Anzahl der Opas, oder vielleicht etwas mehr von ihrer Geschichte?
Hummel: Nun ja, es stimmt schon einiges mehr in meinem Roman, aber es ist kein
Sachbuch, es erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch und ich halte es für unnötig,
Punkt für Punkt aufzuzählen, was davon wahr ist und was ausgedacht. Es ist ein
literarisches Werk, in dem Fiktion naturgemäß einen großen Anteil hat. Das Fundament
jedoch ist real und exemplarisch für hunderttausende andere Schicksale.
Kaniewska:
Haben Sie das
Foto
„Igarka
1956“ völlig ausgedacht?
War
jemand vielleicht von Ihren Angehörigen in Igarka?
Hummel: Es gibt tatsächlich ein ähnliches Foto, das mich inspiriert hat. Es wurde 1957
in Omsk aufgenommen, dem Ort, in dem mein wahrer Großvater tatsächlich 11 von
seinen 25 aufgebrummten Jahren Lagerhaft abgesessen hat. Auf Igarka und Norilsk bin
ich gekommen, weil mein einziger verfügbarer Augenzeuge von diesen Orten aus
eigener Erfahrung berichten konnte. Meinen Großvater konnte ich nicht mehr befragen,
da er zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben war. Es war mir wichtig, nicht nur
auf „Buchwissen“ zurückzugreifen, sondern Informationen aus erster Hand zu erhalten.
Daher bin ich bei den genannten Orten von der Realität abgewichen. Das heißt also, ja,
74
ein Angehöriger von mir war in Igarka. Es handelt sich um einen Großonkel, der vor
wenigen Jahren im Alter von 95 gestorben ist. Seine Erinnerungen an die Zeit im
Norillag waren noch sehr klar und haben mir bei der Beschreibung des Lagers sehr
geholfen.
Kaniewska:
Erinnert
man
sich
in
Deutschland
oder
in
Russland
an
„Russlanddeutsche“? Gibt es Denkmäler, Feiertage oder Spuren, dass es in
der ehemaligen Sowjetunion Deutsche gab, die man als Volksfeinde betrachtet hat?
Hummel: Denkmäler wird es schon geben (zumindest in Deutschland ist mir eine
Plastik eines russlanddeutschen Künstlers bekannt), Feiertage sind mir nicht bekannt.
Eine enge Verbindung zwischen Russland und Deutschland gibt es ja schon seit
Jahrhunderten und selbstverständlich haben Deutsche in Russland Spuren hinterlassen.
Am Hofe Peter I. gab es zahlreiche deutsche Künstler, Gelehrte und Handwerker, die
für einen regen Austausch sorgten. Als Katharina II. deutsche Kolonisten ins Land
holte, haben diese ganze Landstriche urbar gemacht, Dörfer, Kirchen, Schulen gebaut,
Landwirtschaft, Viehzucht und Handwerk betrieben. Wie viel davon noch im
Bewusstsein der heutigen Bevölkerung ist, lässt sich für mich schwer sagen. Es ist für
mich schwer vorstellbar, dass der Anteil der Deutschen heute überhaupt ein Thema in
Russland ist, geschweige denn Schulstoff. Auch in Deutschland werden die
Hintergründe viel zu wenig thematisiert. Die meisten Einheimischen wissen nicht und
wollen auch z. T. nicht verstehen, warum die Bundesrepublik Millionen deutscher
Aussiedler aus Russland wieder aufgenommen hat, nachdem deren Vorfahren vor
Jahrhunderten als „Wirtschaftsflüchtlinge“ „freiwillig“ ausgewandert waren. Aber jetzt,
da es ihnen in Russland nicht mehr gefiele und höchstens noch ein „deutscher
Schäferhund des Uropas“ (oft gehörter Spruch in Bezug auf Spätaussiedler) an ihre
Herkunft erinnere, kämen sie wieder in Massen hierher. So denken leider viele
„Einheimische“, wenn von Aussiedlern die Rede ist. Hier müsste die Politik anknüpfen
und bessere Aufklärung über die Geschichte der Deutschen aus Russland betreiben. Als
Teil deutscher Geschichte sollte die Aus- und Rückwanderung in allen Bundesländern
als Schulstoff vermittelt werden.
Kaniewska:
Ist
oder
war
die
Geschichte
Russlanddeutschen
politisch
instrumentalisiert? Spricht man in der Gegenwartpolitik in beiden Ländern davon oder
ist Schwamm drüber gelegt worden?
75
Hummel: Die aktuelle Integrationsstudie der Bundesregierung hat belegt, dass die
Russlanddeutschen die am besten integrierte Migrantengruppe ist. Das ist sehr
erfreulich und sollte m. E. noch stärker thematisiert werden. Ich hatte den Eindruck,
dass diese gute Nachricht recht schnell wieder vom Bildschirm der Medien
verschwunden ist. Fallen z.B. russlanddeutsche Jugendliche negativ auf, scheinen sie
mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Wie die aktuelle Lage in Russland ist, kann ich nicht beurteilen. In Kasachstan soll die
Regierung „Rückkehrerprogramme“ verabschiedet haben, um Russlanddeutsche, die in
der Bundesrepublik beruflich keinen Fuß fassen konnten oder aus anderen Gründen
unzufrieden sind, wieder zurück zu locken. Wie erfolgreich diese Programme sind, kann
ich nicht sagen. Man spricht von mehreren hundert Familien, die dem Ruf der
kasachischen Regierung gefolgt sein sollen.
Ich gehe davon aus, dass man in den ehemaligen Siedlungsgebieten (Ukraine, Russland,
Kasachstan) die Geschichte der Russlanddeutschen noch weniger thematisiert als in der
Bundesrepublik. Ein Grund mag darin liegen, dass nur noch wenige Betroffene
(Russlanddeutsche) dort verblieben sind. Ein anderer Grund mag sein, dass diese
Geschichte zu bedrückend für die Beteiligten ist, um sich mit ihr auseinander zu setzen
und man dazu neigt, Gras darüber wachsen zu lassen.
Kaniewska: Kennen Sie die Geschichten über Lager, Stalin, KGB noch aus der
Zeit der Kindheit, oder haben Sie es erst in Deutschland erfahren oder
selbst nachgeforscht?
Hummel: Ich bin mit diesen Geschichten im Hintergrund aufgewachsen, habe mich
aber erst bewusst dafür interessiert, als mein Großvater (der einzige von den dreien, den
ich kennenlernen durfte) verstorben war und mir klar wurde, dass ich ihn nie mehr
würde etwas persönlich fragen können. Damals war ich 19 und lebte bereits jahrelang in
Deutschland, seitdem ist mein Interesse erwacht. Inzwischen habe ich mich eingehend
mit dem Thema befasst. Es ist noch längst nicht alles dazu gesagt.
Kaniewska: Ich bedanke mich bei Ihnen dafür, dass Sie für unser Gespräch Zeit
gefunden haben. Und natürlich herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung „Die
Venus im Fenster“ ! Leser, die das Leben von Alina berührt hat, werden bestimmt froh,
die Fortsetzung ihrer Geschichte verfolgen zu können.
[Dieses Gespräch wurde am 7. April 2009 durchgeführt – D.K.S]
76
6
Schlussbetrachtungen
Der Roman „Die Fische von Berlin“ von Eleonora Hummel ist nicht nur eine Erzählung
über Familie Schmidt. Der mit traditionellen literaturgeschichtlichen Ansätzen
untersuchte Bezug auf die außertextuelle Wirklichkeit verweist bereits darauf, dass der
Roman weitaus mehr als Familiengeschichte zu bieten hat. Hinter dem Familienleben
verbergen sich Geschichtsbilder, die einen neuen Zugang zur Geschichte der Deutschen
eröffnen.
In
der
Darstellungsverfahren
Analyse
als
wurde
Medium
der
des
Roman
anhand
Gedächtnisses
der
präsentiert
literarischen
und
als
Gedächtnisroman in die Gedächtnisgattung fictions of memory eingeordnet. Wie in der
Analyse bereits gezeigt wurde, sind im Roman verschiedene Gedächtnisformen
inszeniert worden. In der Figurenanalyse wurden zwei Hauptfiguren präsentiert, deren
persönliche Erinnerungen im Roman im Fokus stehen. Ihre Lebensgeschichten und
Umgebung sowie Beziehungen zu anderen Menschen wurden zu Faktoren, die das
individuelle Gedächtnis der Figuren beeinflussten. Am Beispiel der Interaktion der
einzelnen Familienmitglieder und der daraus resultierenden unterschiedlichen
Vergangenheitsversionen wurde das Generationengedächtnis problematisiert und dabei
veranschaulicht, wie der Generationenwechsel der Zeitzeugen die Wahrnehmung der
geschichtlichen Ereignisse beeinflusst. In der Analyse wurde auch das Phänomen der
Erinnerungsverdrängung in der Familie Schmidt thematisiert, das sich aufgrund der
traumatischen Erfahrungen einzelner Familienmitglieder manifestierte. Darüber hinaus
wurden im Roman zwei Basis-Register des kollektiven Gedächtnisses, das
kommunikative und das kulturelle Gedächtnis anhand der Interdiskursivität und der
Intermedialität dargestellt. In diesem Zusammenhang wurde Wirkung der Medien auf
individuelle und kollektive Kommemoration gezeigt. In der Analyse wurde auch
Siegergedächtnis problematisiert und am Beispiel der generationsübergreifenden
Erfahrungen das Opfergedächtnis diskutiert.
Die Analyse von „Die Fische von Berlin“ ließ feststellen, dass der Roman ein Medium
des kollektiven Gedächtnisses ist. Der Roman erfüllt eine Erinnerungsfunktion, indem
er die nicht aktualisierten Elemente der Erinnerungskultur einschließt. Eleonora
Hummel kommentiert diese Problematik folgendermaßen: „Es gibt auch heute keinen
würdigen Umgang mit Opfern des Stalinismus. Die Archive sind für die Öffentlichkeit
77
wieder geschlossen. Als hätte es diese kurze >> Tauwetterperiode<< in den 90ern nie
gegeben. Als wäre man damals über die Dinge, die ans Licht kamen, dermaßen
erschrocken gewesen, dass man den Deckel über der Kiste mit Erinnerungen schnell
wieder zugeklappt hat.“158 Im Roman wird die unwürdige Behandlung der Menschen in
der Zeit des Stalinismus problematisiert sowie Zwangslage der Nachkriegsgeneration
der Deutschen, die aus der Sowjetunion nicht auswandern durften. Da Eleonora
Hummel nicht der Schriftsteller–Elite angehört, deren Werke kanonisiert werden,
besteht kaum eine Chance, dass der Roman etwas auf der politischen Szene bewirkt.
Das Kollektivgedächtnis refigurierende Wirkung lässt sich jedoch dadurch bemerken,
dass der Roman Widerhall in der Öffentlichkeit fand. Der Autorin für ihr Romandebüt
verliehener Albert-von-Chamisso-Förderpreis sowie zahlreiche Pressestimmen, die die
Problematik des Romans erkannten, zeugen davon, dass der Roman in breiten
gesellschaftlichen Kreisen rezipiert wurde. Die Autorin stieß auch auf einen indirekten
Verweis seitens eines Journalisten, den sie dergestalt beschreibt: „Ein russischer
Journalist empfahl mir, mich in Zukunft anderen Themen zuzuwenden, denn » wozu die
traurigen Geschichten aufwärmen, über die schon alles gesagt ist?«.“159
„Ich weiß auch heute nicht, was einfacher ist, zu schweigen oder zu reden….“
160
Die
Worte des Großvaters problematisieren die aktuelle Frage: Soll man die Vergangenheit
aufrühren oder lieber der Vergessenheit anheim fallen lassen? Die zeitgenössischen
Europäer versuchen sich mit der problematischen Vergangenheit auseinander zu setzen.
Während manche für Genugtuung plädieren, sprechen sich andere für kollektive
Amnestie aus. Das Vergessen würde jedoch die Ignoranz gegenüber den Opfern
bedeuten, und das Schweigen würde als Akzeptanz der verbrecherischen Taten gelten.
Der Streit verschiedener Erinnerungsgemeinschaften um die Erinnerungshoheit sowie
daraus resultierende Verdrängung und Ersetzung der Erinnerungen verursachen, dass
Vieles unausgesprochen bleibt und vergessen wird. Literatur ist dann der beste Weg,
dem drohenden Vergessenen entgegenzuwirken.
158
Gansel, Carsten , Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren - ein
Gespräch. In: Carsten Gansel (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften<
des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007 S. 291.
159
Gansel, Carsten , Eleonora Hummel: Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren - ein
Gespräch . S. 291.
160
Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen: Steidl Verlag 2005/2006. S. 83.
78
7
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