Vortrag am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE), Bonn 8. Januar 2004 (bisher unveröffentlicht) ©Thomas Sören Hoffmann Naturphilosophie heute. Eine Skizze in fundamentalphilosophischer und ethischer Absicht1 1. Das Dilemma moderner Naturphilosophie Naturphilosophie gehört seit den Anfängen des europäischen Denkens zu den Grunddisziplinen der Philosophie, ja sie hat, so wenigstens nach einer allgemein approbierten Doxographie, einmal deren anfänglichen und zentralen Kernbestand ausgemacht. Gleichwohl befindet sich Naturphilosophie heute in einem Dilemma: sie gilt auf der einen Seite, insbesondere mit Verweis auf die von der Philosophie längst und auch aus nachvollziehbaren Gründen emanzipierten Einzelwissenschaften von der Natur, als obsolet; die Aufgabe, die man ihr im Extremfall allenfalls beläßt, besteht darin, Metareflexion des Tuns der Einzelwissenschaften der Naturwissenschaften zu sein. Nach einer These Hans Reichenbachs, die zweifelsohne eine allgemeinere Bedeutung als die, nur eine persönliche Meinung zu sein, beanspruchen kann, ist Naturphilosophie immer nur „ein Nebenprodukt wissenschaftlicher Untersuchungen“2, oder sie hat, wie Moritz Schlick es ausgedrückt hat, mit „Wahrheitsfindung“ nichts zu tun, sondern allenfalls mit „Sinndeutung“ auf der Basis naturwissenschaftlich vermittelter Wahrheit3. Auf der anderen Seite werden der Naturphilosophie gerade in neuerer Zeit, so etwa im Rahmen der Ökologiediskussion oder verantwortungsethischer Fragestellungen, oft sehr weitgespannte Erwartungen entgegengebracht. Ich nenne etwa die Erwartung, Naturphilosophie könne einer „natürlichen“, nicht schon manipulierten Natur eher gerecht werden als dies in einzelwissenschaftlicher Einstellung der Fall sei, sie könne alternative Weisen des Naturverhältnisses und des Naturumgangs aufzeigen, die jenseits des Willens zur Naturbeherrschung und -ausbeutung lägen, ja sie könne geradezu ursprüngliche „Rechtsansprüche“ der Natur ins Spiel bringen, die zumindest alle Gutwilligen von der Notwendigkeit eines „Friedensschlusses“ mit der Natur unmittelbar überzeugen müßten4. In einer gewissen Pointierung wird man in diesem Dilemma noch immer auch den Nachklang jener frühneuzeitlichen Kontroverse erblicken können, in der sich mit den Cartesianern auf der einen, den Paracelsisten und Naturmystikern auf der anderen Seite Autoren gegenüber standen, die dort (wie etwa Robert Boyle) die vollständige Preisgabe des Naturbegriffs forderten und hier Natur als eigenständiges Subjekt und Agens, ja als „dea natura“ verehrten. Der genannte Streit ist hat gegen Ende des 17. Jahrhunderts unter anderen auch Deutschland 1 Der Vortrag hatte die Aufgabe, den Teilnehmern einer Seminarveranstaltung am IWE zur Natur- und Moralphilosophie meine Studie Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Natur, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 nicht zuletzt in ethischer Absicht vorzustellen. Die Arbeit ist zuerst 5. Juli 2003 in der Neuen Zürcher Zeitung sowie dann am 11. September 2003 von Michael Pawlik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besprochen worden; die letztgenannte Besprechung ist über das FAZ-Archiv abrufbar. 2 H. Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, in: Gesammelte Werke Bd. 1, Braunschweig 1977ff., 223. 3 M. Schlick, Grundzüge der Naturphilosophie, Wien 1948, 2. 4 Ich verweise summarisch nur auf das freilich in sich differenzierte Spektrum von Autoren wie G. Böhme, K. M. Meyer-Abich oder R. Spaemann. erreicht und führte hier zu einer Kontroverse, in die sich seinerzeit Leibniz mit der kleinen Schrift De ipsa natura von 1698 einzugreifen genötigt sah5 – eine Schrift, die einen mittleren Weg zu halten versucht zwischen mechanizistischem Reduktionismus auf der einen Seite und ebenso überschwenglicher wie begriffloser Naturseligkeit auf der anderen. Die Lösung, die Leibniz seinerzeit vorgeschlagen hat, besagt in Kürze, daß es zwar gewiß keinen Anlaß gibt, bei der Thematisierung des Äußeren der Sinne zu Remythisierungen zu greifen, daß aber zugleich der Mechanizismus der Cartesianer nicht etwa unmittelbar physisch, sondern metaphysisch fundiert ist und damit jedenfalls über Sinn und Status des Naturbegriffs nicht ohne Offenlegung der eigenen metaphysischen Grundannahmen gestritten werden kann. Uns muß an dieser Stelle nicht die spezifische Metaphysik der vis insita, der Finalursächlichkeit und der Optimität interessieren, die Leibniz als Hintergrundannahme seiner eigenen Thematisierung von Natur ins Spiel bringt. Von Interesse ist für uns statt dessen der Hinweis, daß um Natur als solche nach Leibniz jedenfalls nur im Rahmen eines philosophischen Gesamtentwurfs (was bei Leibniz heißt: aus einer bestimmten metaphysischen Perspektive heraus) gestritten werden kann. Damit ist durchaus so etwas wie ein Erstgeburtsrecht der Philosophie auf ein bestimmendes Reden über Natur festgehalten, auch wenn damit weder ein Monopol gemeint sein muß noch der Beliebigkeit das Wort geredet ist. Die erste Aufgabe einer heute verantworteten und dabei dem eingangs erwähnten Dilemma standhaltenden Naturphilosophie scheint mir noch immer zu sein, das genuine Recht einer bestimmenden, nicht nur nach-denkenden philosophischen Rede über Natur in Anspruch zu nehmen, dies aber in systematisch über den Gesamthorizont der Philosophie reflektierter Weise und ohne Leugnung des relativen Eigenrechts anderer Weisen der Naturthematisierung zu tun. Eine heute zu vertretende „philosophische Physiologie“6 muß in diesem Sinne den irreduziblen und eigenständigen Sinn philosophischer Thematisierung von Natur aufweisen, ohne dabei kurzschlüssig den relativen Sinn naturwissenschaftlicher Objektivation von Natur zu leugnen oder sie überfordernden aktuellen Erwartungen nachzugeben. 2. Pluralität der Naturbegriffe „Natur“ ist gerade deshalb zunächst ein Thema der Philosophie, weil „Natur“ latent immer auch ein Totalitätsbegriff ist oder doch nur in einer Reflexion über die Totalität eingeholt werden kann, der eigentliche Ort von Totalitätsreflexion aber die Philosophie ist. Wissenschaftstheoretiker haben nicht ohne Grund gelegentlich darauf hingewiesen, daß der Naturwissenschaftler, jedenfalls insoweit er als Naturwissenschaftler Einzelwissenschaftler ist, keinen Naturbegriff benötigt: einen Begriff nämlich, der für seinen konkreten Diskurs vielmehr viel zu abstrakt, um nicht zu sagen überhaupt nichtssagend ist 7. Es sind denn auch in der Regel nur erst die ihr engeres Fachgebiet verlassenden Forscher, die über „die Natur“, jetzt im Sinne eines von der Einzelwissenschaft als solcher eigentlich nicht zu 5 G.W.F. Leibniz, De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque, in: Philosophische Schriften, ed. C.I. Gerhardt, Berlin 1875-1890, 504-516. Zu Einzelheiten der im Hintergrund stehenden Kontroverse vgl. M. de Gaudemar, Nature individuelle, nature essentielle et lois naturelles, in: dies. (ed.), La notion de nature chez Leibniz, Stuttagrt 1995, 141-157. 6 „Physiologie“ ist hier im alten, z.B. bei Aristoteles ganz selbstverständlichen Sinne (Lehre von der Natur überhaupt) zu verstehen. „Physiologen“ sind für den Stagiriten grundsätzlich Denker, der Prinzip und Ausgangspunkt die physis ist. 7 Vgl. z.B. P. Janich, Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt/Main 1996, 214. Der Inhalt der Naturwissenschaften besteht in konkreten Objektivationsleistungen, nicht in den eher globalen Verstehensleistungen des Horizontwissens, der reflexiven Sinnklärung (z.B. auch von Objektivation als Sinnleistung selbst) oder auch des Wissens um praktische Tatsachen und Normen. „Natur“ transzendiert in philosophischem Sinne den Horizont von Objektivation, auch wenn sie niemals selbst als geschlossener Horizont darstellbar ist. 2 verantwortenden Singulars her, Rechenschaft geben, und man muß in diesen Zusammenhängen dann allerdings sehr genau zusehen, welche Aussage hier jeweils mit welcher woher genommenen Autorität verantwortet wird. Philosophisch jedenfalls erscheint die Reflexion auf „Natur“ als bestimmten, umgreifenden Sinnhorizont einer bestimmten Ansprache von etwas als etwas zumindest insofern als unproblematisch, als es von der Vorsokratik an „philosophische Physiologie“ gegeben hat; problematisch geworden ist sie nur erst mit dem Ablöseanspruch der Naturwissenschaften als alleine „exakter“ Wissenschaften vom Äußeren der Sinne und damit auch der „Natur“. Für die Philosophie indes stellt sich das Problem des Totalitätsbegriffs bzw. der Einheit der Natur auch in der Form, daß es in der Tat die unterschiedlichsten nicht etwa nur Naturbegriffe, sondern auch Naturverhältnisse des Menschen gibt, die nicht ohne weiteres aufeinander reduzierbar sind und dies vielleicht auch gar nicht unbedingt sein müssen 8. Das Problem der Pluralität der Naturbegriffe wird von der „naturalistischen“ Schule innerhalb der neueren Naturphilosophie dabei gelegentlich darauf reduziert, daß es eine Spannung zwischen einem „lebensweltlichen“ und einem eigentlich wissenschaftlich vermittelten Naturverständnis gebe – womit die Sache das Ansehen gewinnt, als ob es sich nur um den Gegensatz zwischen „natürlichem“ und wissenschaftlich-aufgeklärtem Bewußtsein handle, der idealiter in eine umfassende und restlose wissenschaftliche Aufklärung zu münden hätte. Auch abgesehen von den hier entstehenden Problemen (etwa dem Problem, daß die Naturwissenschaften als terminus ad quem alles Naturverhältnisses zuletzt ihre eigene Möglichkeit naturwissenschaftlich zu erklären hätten), stellt sich das Problem der Pluralität der Naturbegriffe naturphilosophisch gesehen grundsätzlicher als nur auf die Weise der Spannung zwischen (noch) naivem und wissenschaftlich aufgeklärtem Naturverhältnis. Es ist ja keineswegs wirklich so, daß Natur außerhalb des sehr bestimmten Sinnhorizontes naturwissenschaftlicher Theoriebildung nur naiv und vorrational thematisch werden könnte, daß also etwa das Naturverhältnis, das sich ästhetisch artikuliert oder an der unüberspringbaren Leiblichkeit des Selbstverhältnisses zu Bewußtsein kommt nur eine Defizienzform des einzelwissenschaftlichen Naturverhältnisses wäre; viel eher wird man im Gegenteil darauf hinweisen können, daß umgekehrt auch einzelwissenschaftliche Stellungen zur Natur mehr oder weniger deutlich auf vorausliegende Naturästhetiken verweisen oder einer bestimmten Weise der Wahrnehmung von Leiblichkeit affin sein können; das eine ist beispielsweise deutlich bei der Neuentdeckung des Anspruchs der Natur in der italienischen Renaissance der Fall – ich denke hier etwa an den „primus modernorum hominum“, an Bernardino Telesio9 –, das andere eindeutig im Cartesianismus, der die Freiräume für eine rigoros objektivistische Rekonstruktion von Natur gerade auch um den Preis der Distanzierung des Leibseins als integralem Moment des menschlichen Selbstverhältnisses gewinnt. Naturphilosophie jedenfalls wird nicht der Meinung sein, daß Naturästhetik durch Naturwissenschaft oder auch umgekehrt zu überwinden sei, und sie wird ebenso wenig Naturrechtsgedanken durch die Hermeneutik der zu verschiedenen Zeiten entworfenen Naturbilder erklären oder eine transzendentalphilosophisch ansetzende Naturerkenntnislehre durch eine Phänomenologie der Natur erklären wollen. Wenn man hier den Reduktionismus vermeiden, gleichwohl aber nicht in Äquivokationen verfallen will, gibt es vielmehr zu einer Naturphilosophie, die Möglichkeiten der Kompatibilität der genannten Naturverhältnisse in einem umfassenden Sinn von „Natur“ aufzeigt, keine wirkliche Alternative. Die 8 Vgl. L. Honnefelder, Natur-Verhältnisse. Natur als Gegenstand der Wissenschaften. Eine Einführung, in: ders. (ed.), Natur als Gegenstand der Wissenschaften, Freiburg/München 1992. 9 Bei dem „filosofo buono“ ist der Zusammenhang zwischen eigenem Naturerleben und dem Anspruch auf neue Grundlegung der Naturphilosophie auch biographisch greifbar. Zur Einführung zu dem „ersten der Modernen“ (die Titulatur stammt von Fr. Bacon, De principiis atque originibus ecundum fabulas cupidinis et coeli, in: The Works, London 1858ff., Bd. 3, 114) vgl. hier nur C. Leijenhorst, Bernardino Telesio, in: P.R. Blum (ed.), Philosophen der Renaissance, Darmstadt 1999, 137-149. 3 unterschiedlichen Sinnhorizonte, in denen Natur begegnet, erfahren oder auch konstituiert wird, können einen gemeinsamen Fluchtpunkt zuletzt nur in der Philosophie als der universellsten Form von Sinnkritik finden. Das heißt freilich nicht, daß einfachhin jede Rede von Natur und jede Weise, sich auf sie zu beziehen, gleichen Wert haben müßte und hier nicht auch Niveauunterschiede festzumachen wären. Es heißt aber sehr wohl, daß konkrete Naturverhältnisse, darunter auch solche, auf die wir uns womöglich „vorprädikativ“ oder auch lebenspraktisch schon verstehen, nicht einfach beiseite gesetzt werden dürfen, wenn es um das Gesamtverständnis von „Natur“ geht. „Natur“ ist, wie erwähnt, latent immer Totalitätsbegriff und verlangt auch deshalb eine nach Möglichkeit „integrative“, nicht eine reduktionistische Auslegung. Eben deshalb aber bedarf es auch einer „philosophischen Physiologie“, in der sich vielleicht sogar zeigen läßt, daß „Natur“ nicht etwa nur ebenso bedauerlicher- wie unvermeidlicherweise, sondern wesentlich an ihr selbst Raum der Pluralität, oder, um es sogleich formelhaft im Sinne einer Hauptthese auszudrücken: Sinnpräsenz unter dem Exponenten der Vielheit, der Alterität ist. 3. Natur und Welt Einer der nicht unwesentlichen Aspekte von Pluralität, denen hier Rechnung zu tragen ist, betrifft dabei bereits die Vielfalt der im Laufe der Geschichte der Philosophie selbst aufgetretenen Naturbegriffe und Naturbilder. Es ist auch systematisch nicht ohne Belang, sich in philosophiehistorischer Hinsicht entsprechend auch über die Mannigfaltigkeit historisch aufgetretener Naturkonzepte Rechenschaft zu geben, jedenfalls insoweit sie in der Tradition maßgeblich oder doch weiterführend waren. Eine nähere Analyse „philosophischer Physiologien“ kann dabei zeigen, daß es ein teils explizites, teils eher untergründiges Wissen um die Differenz, ja Inkommensurabilität von Welt und Natur immer gegeben hat, woraus dann zu folgen hätte, daß auch eine heute verantwortete Naturphilosophie im Sinne eines ursprünglich bestimmenden Redens über Natur bei dieser Differenz anzusetzen hätte10. Heidegger hat an recht prominenter Stelle, im § 21 von Sein und Zeit, gegen die abendländische Philosophie den Vorwurf erhoben, in ihr sei, eigentlich schon seit Parmenides, besonders aber seit Descartes das „Phänomen der Welt“ durch „Natur“ verdrängt worden11. Man wird das Recht dieses Vorwurfs in mehrfacher Hinsicht bezweifeln und eher ganz im Gegenteil sagen dürfen: gerade seit Parmenides, insbesondere dann aber durch die sokratischen Schulen ist das Bewußtsein dafür erwacht, daß der metaphysische Ort des Menschen eben nicht die Natur, sondern gerade die Welt ist: Welt dabei verstanden als der logisch geklärte Raum rationaler Selbstpräsenz in Erkenntnisakten und Handlungen, die ein eigentliches Beisichselbstsein des Vernunftwesens Mensch ermöglichen und erhalten, wogegen Natur – so eben gerade schon bei Parmenides – als Scheinwelt des Sowohl-als auch, als Zwitterreich zwischen Sein und Nichts abfällt. Der hier entstehende Hiat, der etwas mit dem bewußten Heraustreten des Menschen aus seiner Unmittelbarkeit zu tun hat und diese Unmittelbarkeit vielmehr in den Modus einer Vergangenheit setzt, erscheint bei Empedokles geradezu existentiell als schmerzhaftes Auseinandertreten von Welt- und Selbstverhältnis reflektiert. In der platonischen Tradition wird es dann um eine analogische Einholung des Metaxy oder des Bildraumes der Natur gehen, die an sich in der Logik „teleologisch“ auf die Alterität ausgreifenden Guten bereits enthalten ist; in dieser Linie, deren wichtigste nachantike Repräsentanten etwa Scotus Eriugena, Grosseteste, Cusanus oder mit bestimmten Abstrichen 10 Eine solche Analyse wird im ersten Hauptteil der Philosophischen Physiologie durchgeführt; wiewohl in vielerlei Hinsicht anders gelagert, wäre aber zum Thema beispielsweise auch G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, Stuttgart 1989, bes. 393ff. heranzuziehen. 11 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 197212, § 21, 100. 4 auch Schelling heißen, ist Natur generell der Widerschein des Absoluten im Bild, in der Sichtbarkeit der Zweitheit – denn das Eine als solches ist unsichtbar –, damit aber auch in der Alterität und Wandelbarkeit, die es zuletzt immer zu transzendieren gilt. Es können aus dieser Tradition eine ganze Reihe systematisch bedeutsamer Aspekte festgehalten werden, von denen ich hier nur zwei herausgreifen möchte: zum einen den Gedanken, daß eine jede Naturinstanz, so partikulär sie zunächst auftreten mag, immer das Symbol und die symbolische Präsenz einer Integralität ist, in der sie zuletzt wurzelt; Schelling wird später von der „Autonomie der Natur“12 sprechen und damit meinen, daß es wesentlich zum Naturgegenstand gehört, nicht erst in der Gegenstandsbeziehung, vielleicht auch überhaupt nicht in einer solchen, zu sein, sondern sie sofort zu übersteigen. Im Sinne einer „Ontologie“ des Natürlichen (sofern davon die Rede sein kann) kann daraus die naturphilosophische These entwickelt werden, daß alles Natürliche immer „synekdochisch“ für ein Ganzes steht, welches als solches jedenfalls nicht in demselben Sinne gegeben ist wie das Natürliche selbst und das sich dennoch als abwesend-anwesende Totalität meldet. – Der andere gerade der Reluzenztradition zu entnehmende Gedanke, der gleichfalls für eine philosophische Physiologie von grundlegender Bedeutung ist, der Aspekt, daß das Natürliche als solches niemals nur ein von uns Erschlossenes als erschlossen Gesetztes und in den Symbolismus unserer Sprache Übersetztes, sondern ein sich selbst Manifestierendes, ein Scheinendes und Aufleuchtendes ist. In den Naturvorlesungen, die Merleau-Ponty 1956-1960 am Collège de France gehalten hat, heißt es einmal, die Natur sei „Selbsthervorbringung eines Sinns“, der nicht erst vom Denken „gesetzt“ sei und der insofern auf ein „Inneres“ verweise13. Auch wenn man mit der Rede vom „Inneren“ der Natur vielleicht etwas zurückhaltender sein sollte, als Merleau-Ponty es an dieser Stelle ist, ist der Gedanke des Selbstpräsentativen als Merkmal alles Natürlichen von größter Bedeutung. Diese Selbstpräsentativität, die zum Beispiel für die Grundlegung einer Naturästhetik durchaus unverzichtbar ist, ist indes von grundsätzlich anderer Art als es zum Beispiel die des Artefakts oder des Kunstwerks und erst recht als es die Intelligibilität des sprachlichen Ausdrucks und des Gedankens ist. Naturphilosophie ist dann das philosophische Geschäft, das den Raum oder die Dimension des sich auf die Weise des Natürlichen Manifestierenden auszumessen unternimmt. Diesen Raum, diese Dimension zu betreten, entspricht „Kompetenzen“, die durchaus andere als solche der objektivierenden Feststellung oder der endlich-distinkten Begriffsbildung sind. Daß wir über diese Kompetenzen verfügen, ist in jeder Landschaft, die anspricht, jeder Blüte, die künstlerisch ausgelegt wird und in jedem menschlichen Leib, der unmittelbar als ethischer Appell verstanden ist, klar und „an sich“ auch immer klar gewesen. Was Naturphilosophie heute zu leisten hat, ist unter anderem eine Neuevaluierung dieser Kompetenzen und damit auch eine verantwortliche Relativierung des objektivistisch-einheitswissenschaftlichen Impulses. Diese Neuevaluierung ist dann auch die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Naturinstanzen (wie der menschliche Leib, die Freiheit einer Bewegung, die relative Integrität einer Landschaft) auch in ihrer ethischen Bedeutung oder Verweisung neu gewürdigt, ja gesehen werden. Das Natürliche ist im Unterschied zum Artifiziellen immer Fragment einer Totalität, eines umgreifenden Kontextes, den es doch auch als ganzen zur Geltung bringt. Man muß sich von hier aus gewiß nicht zur Naturschwärmerei verleiten lassen, sondern kann durchaus kritisch Distanz halten, wenn man eine Kultur des Naturverhältnisses als gerade für den Menschen als endliches Wesen unabdingbar, weil ihn selbst „heilend“ oder integrierend ansieht, ja darüber hinaus im gemeinsamen Verhältnis zur lichten und freien Natur auch eine Entlastung des notwendig gespannten Verhältnisses zwischen bloßen „Kulturen“ erblickt. Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß auch der Begriff der Menschenwürde auf ein 12 F.W.J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen, in: Werke, ed. M. Schröter, München 19622ff., Bd. 2, 17. 13 M. Merleau-Ponty, Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956-1960, München 2000, 19f. 5 „naturales“ Universale, nämlich die gemeinsame Natürlichkeit aller Menschen als dennoch zur Freiheit bestimmter Wesen zurückverweist und an ihr auf immer auch „vorbegriffliche“ Weise die Entlastung von allen schon „kulturell“ modifizierten Begriffen des Menschen zu finden sucht. Nur kurz sei an dieser Stelle vermerkt, daß bei Aristoteles das Naturproblem methodologisch in dem Sinne reflektiert wird, daß den (unter anderem platonischen) Bestrebungen zu einer Einheitswissenschaft eine klare Absage erteilt und Naturphilosophie als von der Metaphysik unabhängige in gewissen Grenzen unabhängige „zweite Philosophie“ auf eigene Füße gestellt wird14. Aristoteles gehört zu den Autoren, die heute gerne als Ahnherren eines Begriffs der „natürlichen Natur“, eines qualitativen und nicht technischpraktisch fundierten Naturverständnisses in Anspruch genommen werden, so daß dem Überwinder der normativen Geltung der aristotelischen Naturphilosophie in Europa, Galilei, heute mit Berufung auf Aristoteles manchmal nachgerade zum zweiten Male der Prozeß gemacht werden zu sollen scheint. Vor Kurzschlüssen dieser Art ist sicher zu warnen, wie auch darauf hinzuweisen ist, daß gerade für die Schulen der „neuen Naturphilosophie“ des 16. Jhds. (von Telesio an) Aristoteles als gerade zu sehr auf eine metaphysische Sinngrammatik festgelegt erschien; bei Telesio äußert sich das beispielsweise in der Kritik am SubstanzAkzidenzschema, das Aristoteles nun allerdings auch in der Naturphilosophie anwendet und das hier nach Telesio dazu führt, die eigentlichen Naturprinzipien (bei ihm calor, frigus und materia), die nicht sinnvoll als Substanzen angesprochen werden können, ebenso zu verkennen, wie es das Denken eines Einheitsraumes und einer Einheitszeit (beide hat Telesio als erster ins Spiel gebracht) ausschließt15. Dennoch ist der aristotelische Ansatz für eine „philosophische Physiologie“ noch immer von größter Bedeutung, und dies nicht nur, weil er negativ in der Tat dem formwissenschaftlichen Reduktionismus, den man bei Galilei nicht ohne Grund angelegt sehen kann, Widerstand leistet. Aristoteles scheint mir vielmehr für die positive naturphilosophische Bestimmung des Natürlichen noch immer von größter Bedeutung zu sein. Es scheint möglich, im Ausgang von Aristoteles einerseits die notwendige Prinzipienvielfalt alles Naturdenkens überhaupt, ebenso auch die Polydimensionalität des Naturgegenstands (bei Aristoteles selbst exemplarisch in der Ursachenlehre ausgedrückt) festzuhalten, was gerade auch für den oben schon angesprochenen Versuch, sich der Pluralität von Naturbegriffen zu stellen, nicht ohne Belang ist. Aristoteles hat Physis als einen Strukturbegriff erörtert, der ohne interne Entgegensetzungen nicht zu denken ist. Er hat in diesem Rahmen die sinnliche Substanz als real-ekstatische „Extension“, als Bewegt-Sein verstanden und damit zugleich als wichtigsten Aspekt seiner Naturlehre die Denkmöglichkeit einer relativen intensionalen Selbstheit des Natürlichen eröffnet. Gerade dieser Aspekt, in der Natur ein wenn auch immer fragmentarisiertes, sich nicht letzterfüllendes Selbstsein auszumachen und festzuhalten, macht Aristoteles auch über die erwähnte Abdankung seiner Physik als normativer Naturwissenschaft hinaus interessant und für eine philosophische Neuverständigung über Natur bedeutsam. Es bedeutet nicht das logische Recht der in der Neuzeit vorherrschenden Rationalitätstypen zu bestreiten, wenn man dann hinweist, daß ihr Prinzip wesentlich der Versuch einer Reduktion von Natur auf Welt ist. Während Bruno, in dessen Einheitsmetaphysik es in bestimmtem Sinne ebenfalls um eine Gleichung von absolut Einem, Welt und Natur geht Natur zuletzt doch nur als unendliche Vielheit, als Dispersion des Absoluten, wenn man so will, festhalten kann, tritt mit Descartes das Programm einer methodisch geregelten 14 Zum aristotelischen Begriff der Naturerkenntnis auch in methodologischer Hinsicht vgl. noch immer W. Kullmann, Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur aristotelischen Theorie der Naturwissenschaft, Berlin/New York 1974, sowie vor allem A. Mansion, Introduction à la physique aristotélicienne, Louvain-laNeuve 19873. 15 Vgl. dazu besonders das erste Buch von B. Telesio, De rerum natura iuxta propria principia, ed. L. De Franco, Cosenza 1965. 6 Rekonstruktion von Natur in den „espaces imaginaires“ unseres Denkens seinen Siegeszug an. Der darin liegendes identifikatorische Wille ist zwar zweifelsohne auch in der Neuzeit niemals ein einfach ungebrochener geblieben. Aber er hat in jedem Fall dazu geführt, daß zugleich mit der Verdrängung von Physiologie durch Kosmologie auch die Rolle der Philosophie sich verschob: was den Philosophen weithin nur noch als ihre Aufgabe einleuchtete, war die Beantwortung der Frage Kants „Wie ist Naturwissenschaft möglich?“ bei gleichzeitiger Ausblendung der anderen, von Kant damit in direkten Zusammenhang gestellten Frage: „Wie ist Natur selbst möglich?“16 Das Postulat, das sich für eine philosophische Physiologie aus dieser Begriffsgeschichte ergibt, lautet, daß zunächst eine Sprache für die Dimension des Natürlichen wiederzugewinnen ist, wie denn das Problem der Natur nicht so sehr das Problem bestimmter, identischer Entitäten, über die eine identifizierende Verständigung ohne weiteres möglich wäre, als vielmehr das Problem einer anders als beispielsweise nach dem Identitätsprinzip strukturierten Dimension oder Manifestationsweise von Gegenständlichkeit ist 3. Natur und Selbstheit: antike und idealistische Zugänge Es ist durchaus möglich, reelle Möglichkeiten philosophisch bestimmender Rede über die „Dimension Natur“ wie auch konkrete Strukturgesetze und -merkmale dieser Sphäre auch über ein historisches Interesse hinaus an den „Physiologen“ der Tradition zu entwickeln: exemplarisch, wenn auch in äußerster Kürze, mag dies an Aristoteles, Schelling und Hegel aufgezeigt sein17. Die Physikvorlesung des Aristoteles, aus der die bereits angeführten ersten Aspekte zur Strukturlogik und relativen „Selbstbeziehung“ des Natürlichen bei Aristoteles stammen, ist ohne Zweifel ein Buch, das im Blick auf die Logik eines natürlichen „Werdenszu-sich-selbst“, eines, wenn auch immer gebrochenen Selbstseins, neu zu würdigen ist. Es ist die quantifizierende Naturbetrachtung, die alle Aspekte qualitativer Selbstseins konstitutiv aus der Theorie des Natürlichen ausschied; mit ihr einher freilich ging die Transformation des Natürlichen zum „Ding“, zur faktischen Entität, mit der eine manifest-begegnende Natur definitiv aus dem Blick tritt. Von Schelling her, insbesondere aus der bislang wenig beachteten Naturphilosophie des Systems der gesamten Philosophie von 180418, können dazu ergänzend Aspekte eines Begriffs „freier“ oder „autonomer“ Natur geltend gemacht werden, durch die das Problem einer in ihrer Wurzel selbstbestimmten Natur (jetzt im neuzeitlichen Rahmen) zugespitzt werden kann. Obwohl Schelling als Wissenstheoretiker und „Identitätsphilosoph“, letztlich also durchaus vom Welt- statt vom Naturstandpunkt aus oder meta-physisch ansetzt, ergibt sich bei näherem Zusehen bei ihm eine hermeneutische „Aufweichung“ des Naturdenkens, das keineswegs konsequent als konstruierendes, sondern immer auch als nach-denkendes Denken auftritt. Trotz der strukturell parmenideischen These Schellings über die Gleichläufigkeit von Denken und Natur erscheint die letztere bei ihm im Binnenraum absoluter Identität dennoch als spezifisch abgeschwächte Präsenz des absoluten Erkennens: sie existiert zwar selbst als ein Erkennen, das nicht etwa im Subjekt, sondern in der Idee zentriert ist und das deshalb auch nicht „empirisch“ eingeholt werden kann, aber sie ist dennoch nur als Nichttransparenz des Erkennens für sich denkbar – was im Rahmen eines Denkens, das die Apriorisierung der Natur so weit zu treiben versucht hat wie kein anderes, ein bemerkenswertes Resultat ist. Aber auch: Natur ist, weil ursprünglich frei, jetzt 16 Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können § 36, Akad.-Ausgabe Bd. IV, 318ff. Die Frage „Wie ist Natur selbst möglich?“ stellt nach Kant den „höchste(n) Punkt“ dar, „den transscendentale Philosophie nur immer berühren mag“ (a. a. O. 318). 17 Diese Autoren bilden den Gegenstand des zweiten Hauptteils der Philosophischen Physiologie. 18 Eine Ausnahme bildet hier B. Rang, Identität und Indifferenz. Eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie, Frankfurt/Main 2000. 7 „Partnerin“ des Freiheitswesens Mensch, nicht vereinahmendes, nicht zwingendes, sondern auch der menschlichen Sprache noch wesentlich erschlossenes Anderes, das „Aussehen“ der Idee, in die ein „Einsehen“ zu haben für uns eben nicht bedrohlich, sondern noch einmal befreiend ist. Bei Hegel schließlich, auf den hier ebenfalls nur sehr kurz eingegangen sei, werden zunächst die systematisch bislang gleichfalls wenig ausgewerteten Jenenser Ansätze zur Naturphilosophie herangezogen. Hegels Begriff der Natur hat sich im Laufe der Zeit stärker verschoben, als man vielfach annimmt; er hat sich von der Vorstellung unmittelbarer interner Logizität des Natürlichen über den Begriff des Natur als eines „anderen Geistes“ zu dem dann kanonisch-hegelschen Konzept von der Natur als dem „Anderen der Idee“ entwickelt. Der Leitbegriff des Naturdenkens schon beim Jenenser Hegel ist dabei der der Differenz, und zwar der einer sich zu einem relativen Selbst aufbauenden Differenz, die einerseits Momente sozusagen „objektiver Subjektivität“ (und damit auch der Affinität zum subjektiven Erkennen) enthält, sich aber andererseits vom eigentlichen Logos gerade abstößt und konstitutiv dadurch bestimmt ist, auf bestimmte Weise eben nicht das Begriffliche und Geistige zu sein. Der Begriff holt die Natur, wie zuletzt an der enzyklopädischen Naturphilosophie gezeigt wird, nur in „typologischen“ Gestaltungen, nicht in ihrer ganzen empirischen Realität ein; eine identitätslogische Gleichung der Natur gibt es nach Hegel prinzipiell nicht. Die eigentliche „Einholung“ der Natur geschieht so denn auch nicht durch eine direkte Anwendung oder Übertragung der logischen Kategorien auf ihren Raum, der vielmehr in seiner Eigendimensionalität anerkannt ist. Sie geschieht vielmehr auf der einen Seite im Verfolg des Prozesses der „Verselbstung“ der Natur, d.h. der sukzessiven Höherbestimmung im Sinne einer Selbstaneignung des Natürlichen – Hegel erweist sich auch in naturphilosophischer Hinsicht in bestimmtem Betracht als Aristoteliker, jedenfalls auch bei ihm die Gestaltungen der Natur, wie man sagen, bewegte Oikeiosen, Prozesse, wenn auch immer unabgeschlossene Prozesse zu einem äußeren Selbst sind. Auf der anderen Seite geschieht sie durch ein Zusammenfassen, eine Syllepsis mannigfacher äußerer Bestimmtheit in gestuften Bestimmungen, die nur indirekt noch die Konstruktion eines homogeneisierten, identitätsphilosophisch „geglichenen“ Naturbildes erlauben. Mit Hegel werden dabei eine ganz Reihe spezifisch naturphilosophischer, d.h. nicht unmittelbar naturwissenschaftliche Fragen beantwortbar: beispielsweise die Frage, was es heißt, daß jeder Naturgegenstand per definitionem anschaulich, also nach Raum und Zeit bestimmt ist, oder aber auch die Frage, in welchem übergreifenden Zusammenhang abstrakter (mathematischer) Raumbegriff, konkrete (physische) Körperräumlichkeit und selbstbestimmter (organologischer) Lebensraum allenfalls stehen und gedacht werden können. Als Pointe des Hegelschen Naturdenkens kann man vielleicht gerade die Aufforderung sehen, semantische Kontinuitätslinien wie die am Bespiel des Raumes genannte im Gesamtfeld der Natur (und übrigens auch der Naturwissenschaften) zu verfolgen und an ihnen die Spuren einer dem intelligiblen Selbst eben nicht nur objizierten, sondern antwortenden Natur aufzuzeigen. Natur behält in diesem Sinne zwar jederzeit eine relative Freiheit gegen den subjektiven Begriff oder ihre Rekonstruktion, ja sie ist das sich dieser Rekonstruktion immer auch Entziehende und insofern ein „anarchisches“ Differenzprinzip. Sie ist aber ebenso kraft ihrer Selbstheitsmomente äußere Mitte des Begriffs, will sagen zwar dem endlichen Geist nicht in jeder Hinsicht „durchsichtige“, dennoch aber sein äußeres Seinkönnen vermittelnde Sphäre. Eine eigentlich metaphysische Lehre von einer prästabilierten Harmonie gibt dies zwar nicht her, so wenig Hegels Begriff von der Natur als eines möglichen Ortes des freien Wohnens des Menschen unmittelbar auf einen Formimpuls durch die Idee des Guten oder auf einen teleologischen Gottesbeweis führt. An sie angeschlossen werden kann aber der Versuch, Natur im Sinne einer Synätie, einer Mitursache (griech. synaitia) in der Realisierung eines 8 freien und selbstbewußten Lebens zu denken. Die abschließenden Passagen, die darum auch „Synätiologie“ überschrieben sind, versuchen, sich dieser Aufgabe zu stellen19. 4. Synätiologie Dieser letzte Teil unserer Überlegungen ist (noch einmal, aber auch in mancher Hinsicht das Thema neu angehend) der spezifischen und irreduziblen Präsenz von Natur als Natur innerhalb der Welt des Menschen auch unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Thematisierung gewidmet. Von Weisen der Naturbegegnung, die von vornherein nur bedingt theoretische oder „objektive“ Bedeutung haben, ist oben bereits die Rede gewesen, und sie werden in aller Regel doch am Ende auch nicht wirklich bestritten. Strittiger ist schon der Satz, daß Natur sich vor allem theoretischen Begriff in menschlicher Praxis erschließt und daß dies nicht zuletzt in der Leiblichkeit des Subjekts ist. Damit ist nicht nur an die Erkenntnis des späten Kant (im Opus postumum)erinnert, daß es eine Physik ohne eine „Öffnung“ auf den Leib des Physikers oder die theoretische Einholung von dessen Ort nicht geben kann. Natur erschließt sich vielmehr auch jenseits und „vor“ aller Physik als eine durchlässige „Mitte“ menschlicher logischer und praktischer Selbsterhaltung, indem sie im Ansatz seinem Selbstsein korrespondierendes Selbst, indem sie Symbol eines Reiches der Freiheit ist. Das gilt beispielsweise für die Grundsatzlogik konkreter zwischenmenschlicher Beziehungen, in denen die physische Sphäre des einen zum „Würdeappell“ für den anderen wird, wie man im Anschluß an Fichte sagen kann; es gilt aber auch im Ausgriff auf die unter endlichen Bedingungen immer unabgeschlossene Totalität der menschlichen Welt überhaupt. Es gibt zum Beispiel gute Gründe dafür, das Naturrecht mit Fichte zwar nicht als Rechtsbegriff überhaupt, der ein Vernunftbegriff ist, aber als Begriff von den Erstinstanzen des Rechtsbedürfnisses an den menschlichen Leib als wenn auch immer fragmentarische Instanz der Persontotalität zu knüpfen. Was sich in der Dimension des Natürlichen als Leib eines Menschen darstellt, ist das Symbol einer Bestimmung zur Freiheit, das nur um den Preis der Gefährdung der Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Freiheitlichkeit angetastet werden kann und eben darin kein Ding, sondern eine Reflexions- und Handlungsgrenze ist. Das „Naturrecht“, dessen Begriff nachkantisch nicht mehr ohne weiteres zu halten ist20, rekurriert doch immer auf eine „ästhetische Deutlichkeit“ von natürlichen Zeichen als Rechtszeichen, die nicht ohne Vergehen gegen die Idee des Rechts (die keine Naturtatsache, sondern freiheitsgezeugt ist) übergangen werden kann; auf diese Dimension des Naturrechts vermag sich das Vernunftrecht dann durchaus einzulassen, so sehr es sich nämlich um ein Vernunftrecht für Wesen handelt, die ihre Vermittlung oder Vermitteltheit (synätiologisch) immer auch schon vorfinden und vorfinden können müssen. Der Inhalt des Naturrechts ist allgemein das Recht als solches, d. h. der Schluß der Rechtsidee, die durch die Mitte eines „symbolischen“ Mediums schließt. Die Symbolizität der Mittelinstanz unterscheidet nun freilich das Naturrecht vom positiven Recht, dessen Schluß ein wesentlich diskursiver ist. Während also das positive Recht immer ein bewußt vermitteltes und als solches auch gewußt ist, eignet dem Naturrecht ein Moment nichtreflexiver Geltung, wie sie Fichte z. B. in Beziehung auf die Heiligkeit der menschlichen Gestalt beschrieben hat. Das Naturrecht wird entsprechend primär in seiner Verletzung bewußt. Die Verletzung des Naturrechts ist das Übergehen eines „Symbols“ des Rechten (der schließenden Idee), das vielmehr als Gegenstand oder bloße äußere Existenz (d. h. als nichtschließend) behandelt wird. Sie ist das Übersehen einer Gestalt, das Überhören einer Stimme, das Ignorieren einer Geste oder das Ausführlich handelt von einer „philosophischen Synätiologie“ der Schlußteil der Philosophischen Physiologie. Vgl. dazu Th.S. Hoffmann, Kant und das Naturrechtsdenken. Systematische Aspekte der Neubegründung und Realisierung der Rechtsidee in der kritischen Philosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), 449-467. 19 20 9 Überschreiten einer kenntlichen Grenze, sofern diese an eine Gemeinschaftlichkeit und gemeinschaftliche Wurzel der Freiheit appellieren. Andere Themen, die von einer „Synätiologie der Natur“ aufgegriffen werden können, betreffen etwa die sogenannte natürliche Theologie oder auch die Lehre von Naturschönen. Das Bewußtsein dieser synätiologischen Dimension von Natur reflektiert zuletzt die Brücke zwischen Welt und Natur, zwischen dem eigentlichen „regnum hominis“ und der Naturdimension als solcher, der sich die Naturphilosophie zuwendet. Dies hebt nicht auf, daß der eigentliche Ursprung von Freiheit, Recht, Schönheit oder auch Erkenntnis die Vernunft oder das geistige Verhältnis und eben nicht die Natur ist. Umgekehrt gilt aber, daß Vernunft oder Geist sich auf Natur grundsätzlich „einlassen“ oder zu ihr „entlassen“ (Hegel) können, um so unter Bedingungen der Endlichkeit eine spezifische Ansichtigkeit ihrer selbst zu gewinnen. Eine „philosophische Physiologie“ als Versuch zu einer heute fundamentalphilosophisch verantworteten Naturphilosophie plädiert mit Überlegungen wie den hier nur kurz genannten insgesamt für einen verantwortlichen Wiedergewinn eines „Dimensionsbegriffs“ von Natur innerhalb der Philosophie, durch die es der Philosophie möglich wird, im Medium des Natürlichen Sinnresiduen offenzuhalten, die nicht unmittelbar in den logischen Begriff transformiert werden können, aber dennoch im Sinne der „Mitpräsenz“ von Natur innerhalb der Welt des Menschen das Dasein des endlichen Vernunftwesens erst zu konkreter Gestalt integrieren. Es könnte sein, daß für ein auch in ethischer Hinsicht menschliches Wohnen auf dieser Erde die Dimension Natur dem Bewußtsein erst wieder zu erobern ist. 10