Universität Bielefeld Fakultät für Gesundheitswissenschaften AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger Die Einführung von Preisverhandlungen für patentgeschützte Arzneimittel – das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) der konservativ-liberalen Koalition Tagung „Rapide Politikwechsel“ Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft Institut für Sozialwissenschaften Humboldt-Universität Berlin, 16.-17.5.2013 Problemgegenstand und Fragen ● binnen weniger Monate im Jahr 2010: Einführung von Preisverhandlungen für patentgeschützte Arzneimittel ● Beseitigung des Preisfestsetzungsmonopols der Arzneimittelhersteller ● schwere Verletzung von Herstellerinteressen ● Worin liegen die Gründe für diesen rapiden Politikwechsel? ● Warum vollzogen ausgerechnet mit CDU/CSU und FDP die den Interessen der Arzneimittelindustrie besonders nahestehenden Parteien diesen Wechsel vollzogen? 2 Themen 1. Preisregulierung und Ausgabenentwicklung im Arzneimittelsektor 2. Handlungskontext 3. Regelungsinhalte 4. Einflussfaktoren auf den Politikwechsel 5. Fazit 3 1. Preisregulierung und Ausgabenentwicklung im Arzneimittelsektor 4 Kostendämpfungspolitik und Ausgabenentwicklung ● Kostendämpfung als übergreifendes Politikziel seit Mitte der 1970er Jahre (zumeist kurzfristige Wirkungen) ● Anstieg der Beitragssätze politisch unerwünscht ● Erhöhung der Lohnkosten (Arbeitgeberbeitrag) ● Risiken für die Wählerzustimmung ● seit Ende der 1990er Jahre deutlich überproportionaler Anstieg der Arzneimittelausgaben ● 2011: 29,0 Mrd. € (17,2 % d. GKV-Leistungsausgaben) ● Arzneimittelausgaben als Gegenstand zahlreicher Reformgesetze (insbesondere unter Ulla Schmidt) 5 Arzneimittelpreisregulierung: Generika ● Nachahmerpräparate (nach Ablauf des Patentschutzes) ● GRG 1988: Einführung von Festbeträgen (für bestimmte Wirkstoffgruppen) ● Festsetzung durch Krankenkassen ● Festbetrag: Höchsterstattungsbetrag der Krankenkassen ● keine Preisfestsetzung, aber Orientierungsfunktion für Preise ● denn: bei höherem Preis müssten die Patienten die Differenz zum Festbetrag selbst tragen ● Folge: deutliche Preissenkung 6 Arzneimittelpreisregulierung: Patentgeschützte Arzneimittel ● Patentschutz von 20 Jahren (ab Patentanmeldung) ● EU: Garantie von 15 Jahren nach Markteinführung ● Preisfestsetzung durch die Arzneimittelhersteller (bis Ende 2010) ● mit dieser Regelung stand Deutschland international nahezu allein da 7 Arzneimittelpreisregulierung: Folgen des dualen Preisbildungssystems ● Häufung der Anmeldungen von Patenten (insbesondere von Scheininnovationen mit fehlendem oder geringem Zusatznutzen) ● Anhebung der Preise für patentgeschützte Arzneimittel ● Anstieg des Umsatzanteils des Patentmarktes von 11 % (1993) auf 48 % (2011) (trotz deutlich sinkenden Anteils an der Verordnungsmenge) ● Deutschland: hohe Arzneimittelpreise im internationalen Vergleich ● Anstieg der Arzneimittelausgaben als Folge der hohen Preise für patentgeschützte Arzneimittel 8 2. Handlungskontext und politischer Prozess 9 Handlungskontext (1/2) ● schlechter Start und schlechte Umfragewerte der Koalitionsparteien (bes. der FDP) ● Empörung über die Absenkung der Mehrwertsteuer für Hotelbetriebe (Vorwurf: Klientelpolitik) ● Umstellung der GKV-Finanzierung auf einkommensunabhängige Pauschalen (Vorwurf: Systemwechsel, Abkehr vom Solidarprinzip) ● kein Hinweis auf Änderung des Modus der Arzneimittelpreisregulierung 10 Handlungskontext (2/2) ● Ankündigung von acht Krankenkassen: Erhebung eines Zusatzbeitrags von 8 €/Monat ● Richtungsänderung der Diskussion: Was unternimmt die Bundesregierung gegen den Ausgabenanstieg? ● Thematisierung der Arzneimittelpreise ● Druck über die Medien, Oppositionsparteien, Sozial-/ Verbraucherverbände, Gewerkschaften ● außerdem: Landtagswahl in NRW am 9.5.2010 (Gefahr für schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit) ● erheblicher Handlungsdruck für die Regierungsparteien 11 Politischer Prozess ● Vermeidung von Schuldzuweisungen für Erhebung von Zusatzbeiträgen durch Kassen ● Vermeidung des Vorwurfs sozialer Kälte und der Bedienung von Partialinteressen (Leistungsanbieter) ● anfangs: Koalitionsparteien als Getriebene ● zügige Verständigung auf ein Handlungskonzept (11.3.2010) ● Gesetzentwurf (06.07.2010) ● Inkrafttreten des AMNOG am 01.01.2011 ● Koalitionsparteien als Herren des Verfahrens ● nur geringe Veränderungen am ursprünglichen Konzept 12 3. Regelungsinhalte 13 Regelungsinhalte (1/2) ● grundlegende Änderungen an der Preisbildung für patentgeschützte Arzneimittel ● Bewertung des Nutzens eines neuen Wirkstoffes durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ● frühe Nutzenbewertung innerhalb von drei Monaten nach Markteinführung ● wenn kein Zusatznutzen vorliegt, wird der Preis für das Medikament nach dem Festbetragsverfahren durch die Krankenkassen festgelegt 14 Regelungsinhalte (2/2) ● bei festgestelltem Zusatznutzen: Aufnahme von Preisverhandlungen durch Arzneimittelhersteller und Krankenkassen ● bei Nicht-Einigung innerhalb eines Jahres: Preisfestsetzung durch eine unabhängige Schiedsstelle ● im ersten Jahr nach Markteinführung: Preisfestsetzung durch den Arzneimittelhersteller ● Ausweitung der Nutzenbewertung auch auf bereits auf dem Markt befindliche Arzneimittel 15 4. Erklärungsfaktoren für den Politikwechsel 16 Handlungsdruck Erwartungen ● wirksame Kostendämpfung ● Beteiligung auch von Leistungsanbietern an Einsparungen Regierungsparteien ● Vermeidung von Schuldzuweisungen für Erhebung von Zusatzbeiträgen durch Kassen ● Vermeidung des Vorwurfs sozialer Kälte und der Bedienung von Partialinteressen (Leistungsanbieter) 17 Reform ohne Opposition ● Regelungen gingen weit über die von SPD und Grünen durchgesetzten Steuerungsinstrumente hinaus ● Übernahme von Oppositionspositionen schaltete parlamentarische Opposition aus ● außerdem: keine Gefahr einer Verbindung von parlamentarischer Opposition und mächtigen außerparlamentarischen Akteuren ● Kritik der Oppositionsparteien v.a. der symbolischen Wahrnehmung der Oppositionsrolle geschuldet 18 Pharma-Industrie: Akteur ohne Wählereinfluss ● Unternehmen und Verbände repräsentieren keine Wählergruppe ● keinen Einfluss (als Multiplikatoren) auf Wählerverhalten ● wesentlicher Unterschied zu anderen Klientelgruppen ● insbes. Ärzteschaft ● PKV und privat Krankenversicherte 19 Pharma-Industrie: Akteur ohne Bündnispartner ● Unfähigkeit, eine Abwehrkoalition zu schmieden ● Kassen/PKV profitieren von Kostensenkungen ● andere Leistungsanbieter sind Konkurrenten um knappe Mittel ● geringe Komplexität des Handlungsprogramms (Beschränkung auf Preisregulierung = 1-Punkt-Reform) erschwert zusätzlich die Bildung von Abwehrkoalitionen ● Bündnis von parlamentarischer Opposition und Pharma-Industrie ausgeschlossen 20 Pharma-Industrie: Akteur mit begrenztem Drohpotential ● Abwanderungsdrohung (Standortverlagerung) wenig glaubhaft: ● an anderen in Frage kommenden Standorten sind zumeist noch restriktiver (internationaler Trend der Kostendämpfung im Arzneimittelsektor) ● Regelungen in Deutschland noch vergleichsweise komfortabel ● hoher Internationalisierungsgrad macht Standortwahl sekundär ● alternative Partner unter den politischen Parteien sind nicht in Sicht 21 Nutzen für die Regierungskoalition ● Darstellung der Politik als sozial ausgewogen ● geringe politische Kosten (bei einmal gegebener Akzeptanz, dass die Verletzung von Klientelinteressen unvermeidbar ist) ● Belastung der Beziehungen zur Pharma-Industrie als kleineres Übel 22 5. Fazit 23 1. Um was handelt es sich? ● für das Feld der Arzneimittelpolitik handelt es sich um einen rapiden Politikwechsel ● Reichweite der Veränderungen ● Geschwindigkeit ● aber auch: abhängig von Perspektive ● Zeithorizont ● Definition des Politikfeldes 24 2. Wie kam das Problem auf die Tagesordnung? ● Pressekonferenz von acht Krankenkassen als Auslöser ● Medien, Oppositionsparteien, Sozialverbände Gewerkschaften ● nicht Protest von unten, aber: antizipierte Folgen des Nicht-Handelns ● die Rute künftiger Umfragen stand im Fenster 25 3. Worin lagen die Ursachen? (1/2) ● ● ● ● Erklärung: Konkreter Handlungskontext Ausgabenanstieg und Fehlsteuerungen Pressekonferenz als (interner) Schock Ziel: Vermeiden von Schuldzuweisungen ● kein Wandel von core beliefs ● generell: eher loser Zusammenhang von core beliefs und policies in der Gesundheitspolitik ● Parteienparadox in der Gesundheitspolitik 26 3. Worin lagen die Ursachen? (2/2) ● Zwang zur Problemlösung (dabei Ziel: geringe politische Kosten) 27 4. Wer sind die zentralen Akteure? Wie kommt Wechsel zustande? ● Zusammenspiel von Regierungskoalitionen/ Ministerialbürokratie/Parteien unklar ● Eindruck: Einvernehmen in der Regierungskoalition ● jedenfalls: Wechsel kam von oben ● Gestaltungswille der politischen Entscheidungsträger ● Ausschaltung der Opposition durch Übernahme der Oppositionspositionen ● 1-Punkt-Reform erschwert Bildung von Abwehrkoalitionen ● politische Isolierung der Pharma-Industrie 28 5. Welche Folgen hatte die Entscheidung? ● ● ● ● Einsparungen (1,1 Mrd. € im Jahr 2011) höhere Einsparungen erwartet positive Zwischenbilanz der Krankenkassen Belastung der Beziehungen von Regierungsparteien und Pharma-Industrie (wohl ohne dauerhafte Folgen) ● die Geschäftsführerin des VfA wurde entlassen und ● durch Birgit Fischer ersetzt (SPD, ehem. NRWGesundheitsministerin und Vorstandsvorsitzende der Barmer Ersatzkasse) 29 Universität Bielefeld Fakultät für Gesundheitswissenschaften AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!