Zur Evolution der Libellen – fossile Funde aus Nordrhein

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Zur Evolution der Libellen –
fossile Funde aus Nordrhein-Westfalen
Die Libellen und ihre nächsten Verwandten
(Odonatoptera) zählen zu den stammesgeschichtlich ältesten Insekten und, gemeinsam
mit den Eintagsfliegen (Ephemeroptera), zu
den heute ursprünglichsten flugfähigen Kerbtieren. Ihre Stammesgeschichte beginnt vor
mehr als 300 Millionen Jahren im Erdzeitalter
des Karbon. Vertreter der zu den Protodonata
zählenden Familie Meganeuridae stellen die
größten bekannten Insekten dar, die es je auf
der Erde gegeben hat. Eine Art aus dem Perm
der USA, Meganeuropsis permiana (Carpenter,
1939), erreichte eine Flügelspannweite von
etwa 75 cm. Eine zweite Art aus dem Perm
Abb. 2: In diesem
ehemaligen Ziegelei-Steinbruch von Hagen-Vorhalle
(Nordrhein-Westfalen)
wurden die weltweit ältesten Libellen (Protodonata)
entdeckt (07.03.2009). FOTO: L. KOCH
Abb. 3: Namurotypus
sippeli BRAUCKMANN &
ZESSIN, 1989. Oberkarbon,
Namurium B, 319 Mio.
Jahre, Hagen-Vorhalle
(Nordrhein-Westfalen).
Bildbreite 17,5 cm;
Gesamt-Flügelspannweite
32 cm. Aufbewahrung:
LWL-Museum für Naturkunde, Münster. FOTO: L. KOCH
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Nordamerikas wie auch die berühmte Meganeura monyi (Brongniart, 1884) aus dem obersten Oberkarbon von Commentry (Frankreich),
die oft fälschlich als größte jemals existierende
Insektenart bezeichnet wurde, waren nur wenig kleiner.
Daneben nimmt sich der Fund, der 1985 in
einem Ziegeleisteinbruch bei Hagen-Vorhalle
im Zeitalter des Oberkarbon (Namur B, Abb. 2)
gemacht wurde, mit einer Flügelspannweite
von 32 cm noch recht bescheiden aus. Die
Fundstelle liegt mitten in Nordrhein-Westfalen, im südöstlichen Ruhrgebiet, wo man
früher in der Nähe Kohle aus Schichten des
flözführenden Oberkarbon ans Tageslicht
förderte. In diesem Steinbruch dagegen, in
dem flözleeres Oberkarbon ansteht, wurde
Tonschiefer zur Herstellung von Klinkern
abgebaut. Aus diesem Material konnten die
weltweit ältesten Reste von Protodonaten geborgen werden (Brauckmann & Koch 1994; Bechly
et al. 2001; Brauckmann & Schöllmann 2005). Die
Fundstelle wurde bereits 1984 als Paläontologisches Bodendenkmal unter Schutz gestellt
und erhielt 2006 die Auszeichnung „Nationaler
Geotop“. Die wissenschaftliche Auswertung
der dort gemachten Funde dauert zurzeit
noch an. Im Gegensatz zu den meisten paläozoischen Insektenfunden, bei denen es sich
größtenteils nur um isolierte Flügel handelte,
lieferte diese Fundstelle vollständig erhaltene
Tiere in einem Zustand, wie dies bisher aus
diesem Zeitabschnitt nicht bekannt war. Dies
Abb. 4: Rekonstruktion
von Namurotypus sippeli.
Männliches Tier beim
Absetzen einer Spermatophore.
Aus BECHLY et al. 2001;
den Bau der Beine und der Hinterleibsanhänge
des Männchens. Es gibt Anzeichen dafür, dass
bei diesen ältesten urtümlichen Formen die
Paarung noch über das Absetzen eines Samenpakets (Spermatophore) erfolgte (Bechly et al.
2001, Abb.4).
Eine wesentliche Erkenntnis ergibt sich
zudem durch die bei den Vorhaller Funden
überlieferte Flügelstellung. Diese war in älteren Rekonstruktionszeichnungen (z. B. bei der
bekannten Meganeura monyi) stets mit einer
für Libellen untypischen Art der Überlappung
dargestellt worden und fand in dieser Weise
macht die Fundstelle zu einer Lokalität von
international bedeutendem Rang.
Die 1985 von Wolfgang Sippel (Ennepetal)
entdeckte Urlibelle stellt eine neue Art dar: Sie
wurde von Brauckmann & Zessin (1989) als Namurotypus sippeli (Abb. 2) beschrieben und nach
dem Finder benannt. Inzwischen liegen weitere
Funde dieser Art vor, die eine gesicherte Rekonstruktion zulassen und völlig neue Erkenntnisse ergeben. Von früheren Vorstellungen
abweichend, zeigt die Vorhaller Libelle lange
Antennen sowie recht kleine Mundwerkzeuge
und einen von heutigen Libellen abweichen-
a
ZEICHNUNG: E. GRÖNING
b
Abb. 5a-b: Erasipteroides
valentini (BRAUCKMANN
in BRAUCKMANN, KOCH &
KEMPER, 1985). Oberkarbon, Namurium B, 319 Mio.
Jahre, Hagen-Vorhalle
(Nordrhein-Westfalen).
a: Foto vor der Präparation, Gesamtflügelspannweite ca. 14 cm.
Aufbewahrung: LWL-Museum für Naturkunde,
Münster. FOTO: L. KOCH
b: Zustand nach der
Präparation. Sichtbar
werden die beweglichen
Prothorakal-Flügelchen
und der Ovipositor am
Ende der isoliert eingebetteten Abdominalsegmente. Aus BECHLY et al. 2001
Zur Evolution der Libellen – fossile Funde aus Nordrhein-Westfalen
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Abb. 6: Sauerstoff-Konzentrationskurve der
letzten 1000 Mio. Jahre;
Kam = Kambrium, OKa =
Oberkarbon, P/Tr = Perm/
Trias-Grenze, J = Jura,
Kr = Kreide, Kr/T = Kreide/
Tertiär-Grenze; gestrichelte
Linie: heutiger Sauerstoffgehalt von 21 %. Nach ­DUDLEY 2000, verändert
Eingang auch in moderne Lehrbücher der
Paläontologie (Brauckmann & Koch 1994). Die
Vorhaller Funde aber zeigen nun eindeutig,
dass sie sich nicht überlappen, sondern, wie bei
heutigen Libellen, frei gegeneinander bewegt
werden konnten. Bei der Vorhaller Libellenart
Erasipteroides valentini (Abb. 5a-b) konnte auch
erstmals ein drittes Paar kleiner beweglicher
Flügelchen, sog. Prothorakal-Flügel, nachgewiesen werden. Diese hatten möglicherweise
eine stabilisierende Wirkung für die meist
flatternden oder segelnden großen Exemplare.
Diese zusätzlichen Flügelpaare wurden aber
auch bei einigen anderen aus Vorhalle nachgewiesenen Insektengruppen gefunden. Insgesamt veranschaulichen die Vorhaller Funde
Abb. 7: Paleotramea cellulosa (HAGEN, 1863), Familie Libellulidae, Ober-Oligozän,
24 Mio. Jahre, Rott am Siebengebirge (Nordrhein-Westfalen). Flügellänge: ca. 5,7 cm.
Aufbewahrung: Universität Bonn GPIBo Ro-2032. FOTO: T. WAPPLER
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den Beginn des langen Prozesses der Anpassung und Optimierung, den die Libellen in
über 300 Millionen Jahren durchlaufen haben.
Dass im Oberkarbon derart große Libellen
leben konnten, mag darauf beruhen, dass in
diesem Zeitabschnitt der Sauerstoffgehalt
der Atmosphäre merklich höher war als heute
(Abb. 6). Denn das Tracheensystem begrenzt
als Atemorgan der Insekten die Größe dieser
Tiere. Die Versorgung des Insektenkörpers mit
Sauerstoff über die röhrenartigen Tracheen
erfolgt im Wesentlichen über Diffusion, die
nur über kurze Strecken möglich ist. Die hohe
Sauerstoffkonzentration der Luft könnte diesen Nachteil ausgeglichen haben, sodass der
schlanke Libellenkörper mit seiner kräftigen
Flugmuskulatur hinreichend mit Sauerstoff versorgt wurde. Neuere Untersuchungen ergaben
jedoch, dass Insekten nicht nur durch passive
Diffusion mittels ihrer Tracheen atmen, sondern
auch durch aktives Pumpen ein Vorgang in den
Tracheen erzeugt wird, der dem in den Lungen
der Wirbeltiere ähnlich ist. Dadurch beträgt
die Volumenänderung ca. 50 % (Westneat et al.
2003). Insofern scheint die Tracheenatmung
nicht zwingend ein limitierender Faktor für die
Körpergröße eines Insekts zu sein.
Am Ende des Perm (vor 252 Mio. Jahren)
kam es aufgrund von Naturkatastrophen mit
einem Meteoriteneinschlag in Australien und
starkem Vulkanismus in Sibirien zu einem Klimawandel, der 75 % aller Landtiere und 90 %
aller Meerestiere auslöschte (Zessin 2008). Die
Sauerstoffkonzentration der Luft fiel von 35 %
im Oberkarbon auf nunmehr 15 % und setzte
dem Riesenwachstum der Libellen ein Ende.
Die Riesenlibellen des Permokarbons starben
somit aus. Dies wird von zahlreichen Autoren
auf die Veränderungen in der Erdatmosphäre
zurückgeführt (Dudley 2000; Zessin 2008).
Jedoch gelangten andere, bis über zwei
Meter große Arthropoden des Paläozoikums
wie Seeskorpione (Eurypteriden) und „Tausendfüßer“ (Arthropleuriden) schon vor dem
extremen Anstieg der Sauerstoffkonzentration
in der Atemluft zu gigantischem Größenwachstum und verschwanden bereits vor
dem großen Aussterbe-Ereignis an der PermTrias-Grenze wieder. Zudem kam auch eine
Großinsekten-Ordnung noch in der Trias-Zeit
vor. Daher vertreten andere Bearbeiter die Ansicht, der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre sei
weder ein begünstigender, noch ein tödlicher
Faktor für diese Riesentiere gewesen (Schneider
& Werneburg 2010). So sind andere Gründe wie
Klimaveränderungen, Nahrungsmangel und
Konkurrenzdruck auch durch neu auftretende
Lebewesen möglicherweise in ihrer Summe
von größerer Bedeutung für das Aussterben.
Die großwüchsigen Libellenarten lebten wie
die heutigen Libellen räuberisch, waren aber
aufgrund ihrer Schwerfälligkeit wenig bewegliche und somit schlechte Jäger. Sie litten
zusätzlich unter dem durch die klimatischen
Veränderungen abnehmenden Nahrungsangebot. Auch wurden sie darüber hinaus
durch neu auftretende fleischfressende und
flugfähige Wirbeltiere (Flugsaurier) selbst zur
Beute. Möglich ist sicher auch, dass ihre Larven
zunehmend von sich ausbreitenden, im Wasser
lebenden Wirbeltieren (fischgestaltige Lebewesen, Amphibien) erbeutet wurden.
Es gab aber im Oberkarbon und im Perm
ebenfalls kleinwüchsige Libellenarten, die insgesamt sogar wahrscheinlich in der Überzahl
waren. Zwei kleinere Arten sind auch von der
überregional bedeutenden Fossilienfundstelle
Hagen-Vorhalle bekannt. Im Gegensatz zu
den Riesenlibellen konnten diese kleinwüchsigen Arten dem Massensterben an der PermTrias-Grenze entgehen. Durch eine generelle
„Miniaturisierung“ der Arten sowie durch Entwicklung von Nodus und Pterostigma wurde
eine Optimierung der Flugfähigkeit erreicht
und führte zu den Strukturen heutiger Libellen. Erste Kleinlibellen (Protozygoptera) mit
einer stark gestielten Flügelbasis waren auch in
der Krautzone manövrierfähig, konnten ersten
Flugsauriern entkommen und wurden damit
zu Stammarten der Libellen des Erdmittelalters. Zahlreiche Funde von Groß- und Kleinlibellen aus der Jurazeit vor 150 Mio. Jahren
belegen dies. Aus dem Tertiär der Vulkaneifel
(vor 40-50 Mio. Jahren) ist das Eckfelder Maar
als Fundort für recht moderne Kleinlibellen zu
erwähnen (Wappler 2003). Aus der Tertiärzeit
(Eozän) gibt es den ersten Nachweis einer auch
heute noch vorkommenden Libellengattung.
Die entsprechende Art wurde von Bechly (2000)
als Ischnura velteni beschrieben.
In der Tertiärzeit waren die Libellen den
rezenten Arten im Körperbau bereits sehr
ähnlich. Aus diesem Zeitalter verdient die Fossillagerstätte Rott am Siebengebirge in Nordrhein-Westfalen besondere Beachtung. Die von
dieser Fundstelle aus dem Ober-Oligozän (Tertiär) nachgewiesene Insektenfauna ist bereits
seit dem 19. Jahrhundert bekannt und in zahlreichen Publikationen beschrieben worden.
An dem reichhaltigen von dort vorhandenen
Fossilmaterial, das die Tier- und Pflanzenwelt
in und an einem subtropischen See vor 24 Mio.
Jahren dokumentiert, wird auch heute weiter
geforscht. Zwar sind Libellen-Imagines hier
weniger häufig, doch kommen massenhaft
Libellula-Larven vor (Abb. 8). Nachgewiesene
Spurenfossilien in Form von Eilogen an fossil
erhaltenen Blättern konnten aufgrund ihrer
Struktur und Anordnung u. a. den Teichjungfern
(Lestidae) und Schlanklibellen (Coenagrionidae) zugeordnet werden (Lutz 1989; Hellmund &
Hellmund 1991; Petrulevičius et al. 2011).
Lutz Koch & Ralf Joest
Abb. 8: Larve einer
Segellibelle (Libellulidae),
Ober-Oligozän, 24 Mio.
Jahre, Rott am Siebengebirge (Nordrhein-Westfalen). Länge 2,3 cm.
Aufbewahrung: Los
Angeles County Museum
(Carlifornia, USA). FOTO: G. OLESCHINSKI
Zur Evolution der Libellen – fossile Funde aus Nordrhein-Westfalen
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