pdf Datei 1.937 kB - c

Werbung
Info: erstellt März 2003 * mit Microsoft Word 2000 * 27.637 Wörter * Dauer 3,5 min / Seite * Seiten: 1 bis 115
VortragsDatum / Zeit
___________
___________
__________
Das Reichtagsgebäude
Historisches und Aktuelles
Referat von Carsten Mathes
Historisches
•
Geschichte des Reichstagsgebäudes
•
Die Geschichte des Parlamentarismus
•
Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes
Aktuelles
•
Eröffnung des Reichtagsgebäudes
•
Ein Gang durch das Reichtagsgebäude
•
Der Bundestag im Reichtags
•
Der Umbau des Reichtagsgebäudes
•
Bauen für die Demokratie
•
Biodiesel für das Reichtagsgebäudes
•
Auftrag, Planung und Kosten
•
Energieversorgungsanlage
•
Das Reichstagsgebäude „Symbol deutscher Geschichte“
•
Die parlamentarischen Geschäftsführer zum RTG
C:\Dokumente und Einstellungen\Carsten Mathes\Eigene Dateien\Eigene Privat\04 Präsentationen\Bundestag\Das Reichtagsgebäude-1.doc
1
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
2
•
Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben
•
Das Reichtagsgebäude und seine historischen Orte
•
Respekt vor den Spuren der Geschichte (Interview mit Norman Forster)
•
Kunst für das Reichstagsgebäude
•
Kunstkonzept beschlossen
•
Ein Besuch lohnt sich
•
Die fette Henne wird 45
•
Freiheit und Einheit
•
Bundestag würdigt Erbe der Paulskirche
•
Persönliche Notizen
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Geschichte des Reichstagsgebäudes
von Andreas Kaernbach
Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zugleich eine Geschichte des
deutschen Parlamentarismus. Unter Bismarcks Ägide vollzog sich der Wandel vom
Deutschen Bund, einem Staatsverband von zuletzt 34 nahezu souveränen Staaten,
zum föderalen Nationalstaat. Wenn auch einzelne der Bundesstaaten sich noch der
Parlamentarisierung ganz oder teilweise versagten, durch das Dreiklassenwahlrecht in
Preußen zum Beispiel oder durch die altständische Verfassung in den beiden
Großherzogtümern Mecklenburg, so erlaubte nun doch der Nationalstaat erstmals
allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlen in ganz Deutschland, Wahlen zum
Reichstag. Die neu errungene politische Macht der Bürger verlangte nach
angemessener architektonischer Repräsentation. Doch bevor der Neubau eines
Reichstagsgebäudes zustande kam, musste sich das Parlament aufgrund verschiedener Hindernisse, die sich bei der Suche nach einem geeigneten Grundstück
ergaben, zunächst mit provisorischen Unterbringungen zufrieden geben.
Der erste neugewählte gesamtdeutsche Reichstag trat zu seiner ersten Sitzung Ende
März 1871 in einem Gebäude in der Leipziger Strasse 75 zusammen. Dieses hatte
zuvor u.a. dem preußischen Abgeordnetenhaus als Tagungsort gedient. Der schlechte
bauliche Zustand des Gebäudes führte bereits im folgenden Monat zu einer Debatte
im Reichstag über den Neubau eines Parlamentsgebäudes. Es ist bezeichnend für das
Selbstbewusstsein der Abgeordneten, dass sie den Vorschlag der Regierung, lediglich
auf dem Grundstück des Kanzleramtes ein kleineres Parlamentsgebäude zu errichten,
ablehnten. Sie forderten ein frei stehendes Gebäude, da es sich doch, wie die
Deutsche Bauzeitung später formulierte, "um den bedeutendsten und dem Range
nach ersten Monumentalbau des deutschen Volkes" handele.
Eine Reichstagsbaukommission wurde eingesetzt, der Reichstag bezog als neues
Provisorium das Gebäude der Königlichen Porzellanmanufaktur zu Berlin in der
Leipziger Strasse 4 und entschied sich bei der Wahl eines Baugrundstückes für das
künftige Parlamentsgebäude für die Ostseite des damaligen Königsplatzes. Noch im
Jahre 1872 wurde ein erster Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Über 100
Entwürfe, darunter solche aus England, Amerika und Frankreich, erreichten die
Reichstagsjury. Sie vergab einen ersten Preis, doch der Entwurf des Preisträgers
musste zu den Akten gelegt werden, da es nicht gelang, den Besitzer des
vorgesehenen Baugrundstückes, den Grafen Raczynski, zur Aufgabe seines dort
3
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
gebauten Palastes zu bewegen. Erst im Jahre 1882 konnte nach einer Einigung mit
den Erben des Grafen Raczynski die Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung
durchgesetzt werden.
Albrecht Kurz (1858 - 1928)
Das Reichstagsgebäude.
Ohne Jahr
Chromolithographie
So wurde im Jahre 1882 der zweite Wettbewerb für das Reichstagsgebäude
ausgeschrieben. Unter nahezu 200 eingereichten Entwürfen erhielt derjenige von Paul
Wallot (1841-1912) den ersten Preis. Der aus Oppenheim stammende Architekt hatte
seine Lehrzeit in Berlin u.a. im Büro von Martin Gropius verbracht und war später
nach Frankfurt am Main übergesiedelt. Das Wallot und nicht ein Berliner Architekt
den ersten Preis erhalten hatte, führte zunächst zu einigen Intrigen und
Pressequerelen.
Auch blieb es Wallot nicht erspart, seinen preisgekrönten Entwurf mehrfach
überarbeiten zu müssen. Erst am 9. Juni 1884 konnte schließlich in einer prunkvollen
Feier - Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Fürst Bismarck nahmen an ihr teil - der
Grundstein gelegt werden. In der Folgezeit musste Wallot energisch darum kämpfen,
die Kuppel - entsprechend seinem ursprünglichen Entwurf - zentral über dem
Sitzungssaal anzubringen. Wallot betrachtete die Kuppel sowohl aus Gründen der
Lichtwirkung im Gebäude als auch für die ästhetische Gesamtwirkung des Gebäudes,
die Verteilung der Baumassen also, als unerlässlich. Was seiner Konzeption einen
besonderen Rang verlieh, war die Tatsache, dass in der damaligen Zeit ein solcher
Kuppelbau eine technische Meisterleistung darstellte, gleichsam ein Symbol
zukunftsweisender Ingenieurbaukunst. Nicht weniger energisch musste sich Wallot
gegen die Versuche Kaiser Wilhelms II., eigenwillig, aber doch dilettantisch
mitzuentwerfen, zur Wehr setzen. Freilich trug ihm diese aufrechte Haltung
4
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
kaiserliche Ungnade ein. Diese äußerte sich in wiederholt, auch öffentlich
vorgetragener unsachlicher Kritik an der Architektur des Reichstagsgebäudes und
führte zu des Kaisers Weigerung, Wallot - trotz eines einstimmigen Jury-Urteils - die
Goldmedaille der großen Berliner Kunstausstellung zu verleihen.
Am 5. Dezember 1894 endlich konnte die Schlusssteinlegung gefeiert werden. Am
gleichen Tag fand die Reichstagseröffnung im Berliner Schloß statt. Kennzeichnend
für die bestehende Dominanz des Militärischen über das Zivile war der - freilich von
der Presse kritisierte - Umstand, dass der Reichstagspräsident von Levetzow an der
Zeremonie in der Uniform eines Landwehrmajors teilnahm. Die gleiche Atmosphäre
erhellt aus dem Schicksal der Giebel-Inschrift. Bei der Schlusssteinlegung fehlte sie
noch, da der Wortlaut, "Dem Deutschen Volke", dem Kaiser aus offensichtlicher
Distanz zum Parlamentarismus unwillkommen war. Er hätte dem Schriftzug "Der
Deutschen Einigkeit" den Vorzug gegeben. Erst im Jahre 1916, mitten im Ersten
Weltkrieg, wurde sie - entworfen von dem Jugendstilkünstler Peter Behrens - mit der
Zustimmung des Kaisers angebracht, der in politisch schwieriger Lage dem
Parlament Entgegenkommen bezeigen wollte.
Zwei Jahre später stand das Reichstagsgebäude im Mittelpunkt der revolutionären
Ereignisse in Berlin. Nach der Abdankung des Kaisers rief der Sozialdemokrat
Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Gebäudes die
Republik aus, und im Plenarsaal tagten die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte.
Infolge der Unruhen in Berlin wurde die im Januar 1919 gewählte verfassunggebende
Nationalversammlung nicht nach Berlin in das Reichstagsgebäude, sondern in das
Staatstheater nach Weimar einberufen und dort Anfang Februar 1919 eröffnet. Erst in
der zweiten Hälfe des Jahres 1919 kehrten die Parlamentarier in das Reichstagsgebäude zurück.
Wie der Beginn so war auch das Ende der Weimarer Republik eng mit dem Schicksal
des Reichstagsgebäudes verknüpft. Ein vermutlich von dem holländischen Kommunisten van der Lubbe gelegter Brand zerstörte den Plenarsaal des Reichstagsgebäudes
in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933. Der Brand bot den Nationalsozialisten den willkommenen Vorwand, in einer offenkundig schon vorbereiteten
Aktion mitten im Wahlkampf führende kommunistische Abgeordnete zu verhaften,
die sozialdemokratische Presse vorübergehend zu verbieten und wichtige
Grundrechte außer Kraft zu setzen.
5
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Wenigstens blieb dem Reichstagsgebäude durch den Brand erspart, zum Ort der
Verabschiedung des "Ermächtigungsgesetzes" zu werden. Mit der Annahme dieses
Gesetzes am 23.März 1933 entmachteten sich die verbliebenen Parlamentarier selbst.
Lediglich die Sozialdemokraten stimmten gegen das Gesetz. Die Abstimmung fand in
der dem Reichstagsgebäude gegenüberliegenden Krolloper statt.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude nicht mehr für
parlamentarische Zwecke genutzt. In der Endphase der Kämpfe um Berlin tobte ein
besonders erbittertes Gefecht um das Reichstagsgebäude, da seiner Eroberung von
der sowjetischen Führung offenkundig große symbolische Bedeutung beigemessen
wurde. Weltweit bekannt wurde das - inszenierte - Foto der Flaggenhissung durch
Soldaten der Roten Armee auf dem Hauptgesims der Ostfassade des Reichstagsgebäudes.
Nach dem Kriege bildete die Ruine des Gebäudes den Hintergrund für die gewaltige
Demonstration der Berliner am 9. September 1948 während der Blockade Westberlins, als Oberbürgermeister Ernst Reuter seinen berühmten Appell:
"Ihr Völker der Welt ..... Schaut auf diese Stadt" an die freie Welt richtete.
Fotografie der Reichstagsruine
aus dem Jahr 1945
Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden dann erste Enttrümmerungsarbeiten in der
Ruine durchgeführt. Infolge einer fragwürdigen Entscheidung wurde die beschädigte
Kuppel gesprengt, später wurde ein Teil der Fassade unter Entfernung des
historischen Stucks wiederhergestellt. Erst im Jahre 1955 beschloss der Deutsche
Bundestag definitiv den Wiederaufbau, allerdings zunächst ohne Festlegung einer
späteren Nutzung. Nach Ausschreibung eines beschränkten Wettbewerbs erhielt
schließlich Paul Baumgarten im Jahre 1961 den Auftrag zum Ausbau des
Reichstagsgebäudes. Dieser wurde bis zum Jahre 1973 vollendet. Bereits im Jahre
1971 war vom Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude die Ausstellung "Fragen
6
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
an die deutsche Geschichte" eröffnet worden. Bundestagssitzungen durften seit dem
Viermächte-Abkommen von 1971 ohnehin nicht in Berlin abgehalten werden,
lediglich Fraktions- und Ausschusssitzungen fanden daher in den neu eingerichteten
Sitzungssälen statt. Gleichwohl war im Zentrum des Hauses ein vollständiger
Plenarsaal hergerichtet worden, der jederzeit den Abgeordneten eines wiedervereinigten Deutschlands hätte Platz bieten können.
Seine Stunde kam am 4. Oktober 1990: Das erste gesamtdeutsche Parlament trat zu
seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zusammen. Doch das Gebäude sollte
noch stärker in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rücken, und zwar durch
den Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991, Parlament und Regierung nach Berlin
zu verlegen, sowie durch den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen
Bundestages, das Reichstagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu erheben.
Nach einem 1992 ausgelobten internatonalen Architektenwettbewerb wurde Sir
Norman Foster mit den Umbauarbeiten beauftragt. Mit der Verhüllung des Gebäudes
durch Christo vor Beginn der Umbauarbeiten stand das Reichstagsgebäude im Jahre
1995 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.
Auch die Wiedererrichtung einer - wenngleich gegenüber Wallots Werk modifizierten - Kuppel ist inzwischen realisiert. Der Deutsche Bundestag eröffnet im April
1999 das umgebaute Reichstagsgebäude mit einer feierlichen Sitzung. Am 23. Mai
1999 wählt die Bundesversammlung den neuen Bundespräsidenten an gleicher Stelle.
Im September 1999 verlegt der Deutsche Bundestag seinen Sitz endgültig nach
Berlin. Von diesem Zeitpunkt an finden die Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude statt.
7
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Geschichte des Parlamentarismus
Die parlamentarische Arbeit im Reichstagsgebäude
von Hermann Schäfer
Blick in den historischen Plenarsaal im alten
Reichtagsgebäude.
Ein Zwischenfall wie vor 105 Jahren wird sich bei der feierlichen Eröffnung des
Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude gewiss nicht
wiederholen: Als sich am Donnerstag, dem 6. Dezember 1894, die Parlamentarier
erstmals im neuen Plenarsaal versammelten, waren einige wenige Sozialdemokraten,
darunter ihr Senior, der damals schon fast 70-jährige Wilhelm Liebknecht, beim
dreifachen "Kaiser-Hoch" entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit im Plenarsaal
anwesend; während sich jedoch alle anderen Abgeordneten von ihren bequemen
neuen Ledersesseln erhoben, blieben sie sitzen. Der Reichstagspräsident soll damals
außer sich geraten sein und mit seinem Rücktritt gedroht haben, während
Reichskanzler Fürst von Hohenlohe die Einleitung eines Verfahrens gegen
Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung beantragte. Der Reichstag verweigerte
jedoch die Aufhebung von dessen Immunität, und die Wogen glätteten sich
schließlich mit einer Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages, die es dem
Reichstagspräsidenten von nun an gestattete, Abgeordnete "im Falle gröblicher
Verletzung" von einer Sitzung auszuschließen. Mit der Politik des "Burgfriedens" im
Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Anerkennung der Sozialdemokraten
durch Wilhelm II. – für ihn bis dahin "vaterlandslose Gesellen" – wurde das "KaiserHoch" ab der Sitzung am 4. August 1914 in ein "Hoch auf Kaiser, Volk und
Vaterland" abgeändert, das auch die Sozialdemokraten von da an stehend
mitanhörten.
8
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Plenarsaal im Reichtagsgebäude heute.
Die insgesamt 397 Abgeordneten des 1871 gegründeten Deutschen Reiches tagten
zunächst 23 Jahre in der Leipziger Straße 75 bzw. 4; am 3. März erstmals für
dreijährige, ab 1888 fünfjährige Perioden gewählt, versammelten sie sich ab dem 21.
März 1871 im Abgeordnetenhaus, der Zweiten Preußischen Kammer des Landtages,
und ab dem 16. Oktober 1871 in der eigens umgebauten Königlichen Porzellanmanufaktur. Obwohl die dortigen Raumverhältnisse beengt waren, dauerte es elf
Jahre, bis in einem Wettbewerb 1882 die Entscheidung für einen Parlamentsneubau
nach einem Entwurf des Oppenheimer Architekten Paul Wallot fiel, zu dem am 9.
Juni 1884 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von
Bismarck der Grundstein gelegt wurde. Weder Wilhelm I. noch sein Enkel
respektierten die Volksvertretung, nur zu gern sahen sie deren Gebäude außerhalb der
Stadtgrenzen, und Wilhelm II. machte keinen Hehl daraus, dass er das Gebäude
persönlich für den "Gipfel der Geschmacklosigkeit" hielt.
Die Meinung der Abgeordneten war differenzierter, der Sozialdemokrat August
Bebel – übrigens seinerzeit "Rekordhalter" für Ordnungsrufe und Ermahnungen des
Reichstagspräsidenten – soll das Gebäude zum Beispiel für schön gehalten haben.
Die Bedingungen für die parlamentarische Arbeit wurden jedenfalls in vieler Hinsicht
besser im Vergleich zu dem alten Provisorium: Plenarsaal, Ausschussräume,
Sitzungszimmer, Wandelhallen, Bibliothek, Lesezimmer etc. waren großzügiger;
freilich waren alle Wege weiter und auch das neue Restaurant in seiner
Bewirtungsqualität und Belüftung umstritten. Die 1912 zwischen Ober- und
Dachgeschoss eingebauten 100 Arbeitszimmer für Abgeordnete reichten jedoch in
keiner Weise; in den zwanziger Jahren teilten sich darin manchmal bis zu sechs
Parlamentarier zwei Schreibtische. Allerdings wurde diese Raumnot erst offenbar, als
9
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
die Mitglieder des Reichstages etwa ab 1907 häufiger zu den Sitzungswochen nach
Berlin kamen. Das Recht auf Zusammenkunft, Vertagung und Auflösung lag nach
Artikel 12 der Reichsverfassung von 1871 beim Kaiser, und tatsächlich tagte der
Reichstag anfangs nur zweimal jährlich jeweils etwa sechs Wochen von März bis
Juni und Oktober bis Dezember.
Feierstunde zum dritten Jahrestag der
Unterzeichnung der Verfassung des Deutschen
Reiches durch Reichspräsident Ebert am 11.
August 1922.
Wäre es nach Bismarck und dem Kaiser gegangen, wäre die Abgeordnetentätigkeit
ganz ehrenamtlich geblieben. Zunächst erhielten die Reichstagsabgeordneten nur ein
allgemeines Freifahrtsrecht für die Eisenbahn und erst ab 1906 eine
Diätenentschädigung in Höhe einer Jahrespauschale, die bezogen auf eine
sechsmonatige Session etwa dem Besoldungsniveau eines Regierungsrates oder
Professors entsprach. In der Weimarer Republik erhielten die Abgeordneten dann das
ganze Jahr hindurch 25 Prozent des Grundgehaltes eines Ministers sowie zusätzlich
ein 30stel der Monats-Pauschale pro Tag, wenn sie außerhalb der Sitzungsperioden in
Berlin sein mussten.
Die Zahl der Sitzungstage pro Session hatte sich bis zur Jahrhundertwende gegenüber
den Jahren nach 1871 etwa verdoppelt (94 statt 181 Tage) und erhöhte sich mit
Einführung der Diäten erneut. Wurden früher die laufenden Parlamentsgeschäfte von
10
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
etwa 60 bis 80 Mitgliedern des Reichstages erledigt und waren die Abgeordneten, je
weiter sie von Berlin entfernt wohnten, umso weniger in der Lage an Sitzungen
teilzunehmen, wurde der Reichstag nunmehr zunehmend zu einer Vertretung des
ganzen Deutschland. In der Regel tagten die Abgeordneten in Sitzungswochen von
Montag bis Samstagnachmittag, Ausschüsse und Fraktionen vormittags ab 10.00 Uhr,
das Plenum ab mittags 13.00 oder 14.00 Uhr (außer montags und samstags).
Blick in das Restaurant des Reichstagsgebäudes
um 1928.
Seine "Mappe" mit Tagesordnung und allen Vorlagen, Anfragen und Berichten sowie
sonstigen Materialien erhielt jeder Abgeordnete frühmorgens zugestellt; es war meist
mehr, als er gründlich durcharbeiten konnte. Im Kaiserreich zeichnete sich denn auch
bereits in Ansätzen die Praxis der Politikberatung ab, insbesondere durch Juristen,
Nationalökonomen, Historiker etc.
Die Redezeit für einzelne Abgeordnete im Plenum wurde erst Ende Dezember 1922
auf höchstens eine Stunde beschränkt, zugleich wurden bei wichtigen Debatten
Gesamtredezeiten für die Fraktionen eingeführt. Den Rekord mit der längsten Rede
im Reichstag hält der SPD-Abgeordnete Antrick mit seiner Achtstundenrede am 13.
November 1902, die von 16.30 Uhr bis 0.30 Uhr dauerte. Bismarck belastete die
parlamentarische Atmosphäre im Kaiserreich ab 1871 durch seinen "Kulturkampf"
gegen den Katholizismus und ab 1878 durch die Sozialistengesetze. Trotz der allseits
anerkannten Würde des Hohen Hauses gab es auch mancherlei Zwischenfälle, heftige
Beifalls- und Missfallensäußerungen unter den Abgeordneten ebenso wie von der
Tribüne, im März 1908 sogar einen mehrtägigen Journalistenstreik wegen einer
"Saubengel"-Beleidigung durch einen Abgeordneten.
11
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Besuch in Berlin: Bundeskanzler Ludwig
Erhard am 30. April 1964 im Reichstagsgebäude in Begleitung des Regierenden
Bürgermeisters Willy Brandt.
Abgestimmt wurde normalerweise durch Aufstehen von den Sitzen, noch genauer mit
weißen "Ja"-, roten "Nein"- oder blauen "Enthaltungs"-Karten und im Ernstfall durch
den "Hammelsprung". Zweifellos war Reden und Zuhören anstrengender als heute,
da die Akustik des Plenarsaals schlechter war als im vorherigen Provisorium, sodass
Abgeordnete immer wieder das Rednerpult stehend umringten, um besser verstehen
zu können. Journalisten und Zuhörer auf den Tribünen hatten noch größere
Schwierigkeiten, wenn die Abgeordneten nicht wirklich laut und in Richtung der
links und gegenüber dem Präsidium liegenden Pressetribüne sprachen. Erst Anfang
1929 wurde der Plenarsaal mit Mikrofonen, Verstärkern und Großlautsprechern
ausgestattet.
Rundfunkübertragungen gab es mit Ausnahme einzelner Feierstunden oder besonders
wichtiger Reden bis 1933 nicht. Die erste live und in voller Länge übertragene Rede
war die von Reichskanzler Heinrich Brüning am 25. Februar 1932, ab der immerhin
aufgezeichnet wurde. Der Ältestenrat des Reichstages verweigerte grundsätzlich
seine Zustimmung zu Rundfunkübertragungen und vergab somit vielleicht eine
Chance, die Arbeit des Parlaments einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und
damit möglicherweise die Akzeptanz der Demokratie zu erhöhen. Hitler nutzte die
Möglichkeiten des Rundfunks nach der "Machtergreifung" schamlos, obwohl die
"Volksvertretung" da bereits zum Akklamationsinstrument der Diktatur verkommen
war, dem so genannten "teuersten Gesangverein" der Kroll-Oper, in der nach dem
Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 getagt wurde.
12
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Konstituierende Sitzung des ersten
gesamtdeutschen Parlaments am 4. Oktober 1990
im Reichstagsgebäude.
Der Reichstag des Kaiserreiches litt unter einem Mangel an parlamentarischen
Rechten, vor allem zur Kontrolle der vom Kaiser eingesetzten Regierung. Die
Weimarer Republik war geprägt von Parteienvielfalt und ideologischem
Gegeneinander und belastet durch wirtschaftliche Probleme und das Fehlen breiter
demokratischer Gesinnung. Die letzte Plenarsitzung des alten, im Januar 1912
gewählten und infolge des Weltkrieges mit Überdauer amtierenden Reichstags fand
am 24. Oktober 1918 statt, dem Monat, in dem der Kaiser – im Angesicht der
militärischen Niederlage – ein Regierungssystem mit parlamentarischer Kontrolle
zugestand. Fast ein Jahr sollte vergehen – vom Balkon des Reichstags aus hatte
Philipp Scheidemann am 9. November die Republik ausgerufen -, bis sich am 30.
September 1919 die frei gewählten Vertreter des inzwischen souverän gewordenen
Volkes wieder an ihrer traditionellen Stätte im Wallot-Bau zu Berlin versammelten.
Infolge der Novemberrevolution, in der Arbeiter- und Soldatenräte die Macht
übernommen hatten und auch im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes ihre
Versammlungen abhielten, war die Situation in Berlin bedrohlich. Die am 19. Januar
1919 gewählten 423 Mitglieder der Nationalversammlung – unter ihnen erstmals 37
Frauen – tagten ab dem 6. Februar 1919 im Nationaltheater zu Weimar. Die Situation
in Berlin blieb hier auch nach Rückkehr der Parlamentarier unruhig: Nachdem am 13.
Januar 1920 eine Demonstration vor dem Reichstag 42 Tote gefordert hatte, wurde
am 20. Mai 1920 ein erstes Bannmeilengesetz verabschiedet.
Bis zum Regierungsantritt Heinrich Brünings im März 1930 sah das Parlament, das
inzwischen fast 600 Mitglieder hatte, 14 verschiedene Kabinette, die durchschnittlich
jeweils nur acht Monate amtierten. Kein einziger Reichstag der Weimarer Republik
erlebte das Ende seiner vierjährigen Wahlperiode. Die Arbeit des Plenums wurde
noch schwieriger, als die Wahlen im September 1930 den Nationalsozialisten vor
13
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise einen großen Zuwachs an Mandaten
brachten. Eine der größten Störungen inszenierten die Parteigänger Hitlers bereits am
13. Oktober 1930 anlässlich der ersten Sitzung des neu gewählten Reichstages, als
die NSDAP-Fraktion geschlossen in Uniform in den Plenarsaal marschierte. Mit
Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krise wurden die
Nationalsozialisten 1932 stärkste Fraktion. Bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe
zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gefährdeten die parlamentarische
Arbeit und schwappten als Saalschlachten in den Reichstag hinein. Als der Reichstag
am 9. Dezember 1932 auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, ahnte niemand, dass dies
die letzte Sitzung im Wallot-Bau sein würde, bis Willy Brandt am 20. Dezember
1990 als Alterspräsident die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach den
gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 eröffnen sollte.
Am 19. April 1999 kommt der Deutsche
Bundestag zu seiner ersten Sitzung im
umgebauten Reichstagsgebäude zusammen.
In diesen 58 Jahren wurde das Reichstagsgebäude erst nach seinem Umbau, ab dem
11. November 1963, dem Tag der Schlüsselübergabe an den Bundestagspräsidenten,
wieder für parlamentarische Gremien genutzt, an diesem Tag beispielsweise für eine
Sitzung des Ältestenrates und in den folgenden Jahren während der "Berlin-Wochen"
des Bundestages für Ausschusssitzungen, Fraktionsberatungen und Pressekonferenzen. Zwar traten die Bundesversammlungen zur Wahl des Bundespräsidenten 1954, 1959, 1964 und 1969 in Berlin zusammen – jedoch nicht im
Reichstagsgebäude – und seit 1958 regelmäßig begleitet von Protesten der Moskauer
und Ost-Berliner Regierungen wegen angeblicher Verletzung des Berlin-Status der
geteilten Stadt. Eine Plenarsitzung des Bundestages fand überhaupt nur einmal statt:
Den Teilnehmern ist diese Sitzung am 7. April 1965 – in der Kongresshalle –
unvergesslich, weil sie vom ohrenbetäubenden Lärm sowjetischer Tiefflieger gestört
wurde. Die Sitzung im Anschluss an den ersten Tag der Deutschen Einheit (3.
14
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Oktober 1990) am 4. Oktober 1990 war eine Sitzung der Mitglieder des Deutschen
Bundestages, ergänzt um 144 Abgeordnete der aufgelösten Volkskammer aus den
neuen Bundesländern.
Das Reichstagsgebäude hat in seiner wechselvollen 105-jährigen Geschichte Jahre
der schwierigen Parlamentsarbeit im kaiserlichen Obrigkeitsstaat erlebt, ebenso wie
die Parlamentarisierung der Reichsregierung und der Demokratie der Weimarer Jahre
voller Unruhen; es beherbergte jedoch nie die Diktatur des "Dritten Reiches". Der
Deutsche Bundestag bringt durch seinen Einzug in das Reichstagsgebäude die
positive Tradition der in Bonn begründeten parlamentarischen Demokratie mit.
15
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes
Am 9. Juni 1884 legt Kaiser Wilhelm I. den
Grundstein für das Reichstagsgebäude. Der
repräsentative Bauentwurf stammt von dem
Frankfurter Architekten Paul Wallot. Mit
dem Bau soll dem deutschen Reichstag, der
bislang nur provisorisch untergebracht war,
endlich ein eigenes Haus geschaffen werden.
Nach einer Bauzeit von 10 Jahren findet am
5. Dezember 1894 die Schlußsteinlegung
durch Kaiser Wilhelm II. statt. Das monumentale und repräsentative Parlamentsgebäude offenbart rasch einen gravierenden
Mangel: Es fehlen Arbeitsräume für die
einzelnen Abgeordneten.
Am 9. November 1918, nach dem Zusammenbruch des
Kaiserreiches, ruft Philipp Scheidemann von einer
Balkonbrüstung des Reichstagsgebäudes die Republik
aus.
16
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Am 30. Januar 1933 wird Hitler zum
Reichskanzler ernannt. Der Reichtagsbrand
am Abend des 27. Februar 1933 bedeutet das
Ende der parlamentarischen Demo-kratie in
Deutschland. Mit dem Ermächtigungsgesetz
wird der Weg zur Einparteienherrschaft
geebnet.
Die nationalsozialistische Herrschaft
führt Deutschland und Europa in die
Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.
Als die Sow-jetflagge auf einem der
Ecktürme des Reichstagsgebäudes gehißt
wird, ist die Schlacht um Berlin zu Ende
und die Niederlage des Deutschen
Reiches besiegelt.
Aus Protest gegen die Blockade und
gegen die Spaltung Berlins durch die
Sowjetunion kam es am 9. September
1948 zur berühmten Demonstration von
350.000 Menschen vor dem
Reichstagsgebäude. Mit seinem Appell
an die "Völker der Welt", den Blick auf
Berlin zu richten, macht Ernst Reuter
den Bewohnern der Stadt Mut.
17
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Durch den Bau der Mauer am 13. August
1961 wurde Berlin geteilt. Die Grenze
verlief über Jahrzehnte unmittelbar entlang
des Reichstagsgebäudes.
Mit dem Zusammenbruch der SEDFührung als Folge anhaltender
Massendemonstrationen wurde das
Ende der DDR eingeleitet.
"Mauerspechte", wie an der
Grenzmauer in der Ebert-straße
hinter dem Reichtagsgebäude
entnehmen Stücke der Mauer, die
am 9. November 1989 endgültig zu
Fall gekommen war.
Am 4. Oktober 1990, einen Tag
nach der Vereinigung, findet die
erste Sitzung des gesamtdeutschen
Bundestages im Reichstagsgebäude
statt.
Bundestagspräsidentin Rita
Süssmuth hält die
Eröffnungsansprache.
18
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Am 25. Februar 1994 entschied
sich der Bundestag für das Projekt
der Künstler Christo und JeanneClaude, das Reichstagsgebäude zu
verhüllen. Vom 23. Juni bis zum 6.
Juli 1995 präsentierte sich der
Reichstag dem Betrachter in matt
schimmender "Verpackung".
Am 19. April 1999 wurde das nach
den Plänen von Sir Norman Foster
umgebaute Reichstagsgebäude
vom Deutschen Bundestag
übernommen. Die gläserne
Kuppel, Wahrzeichen des
Gebäudes, ist auch für Besucher
begehbar.
19
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Eröffnung des Reichstagsgebäudes in Berlin
Thierse: Berlin wird für Freiheit und Demokratie stehen
(hib) "Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands; das umgebaute
Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deutschen Bundestages." Mit diesen Worten
umriß Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Bedeutung der ersten Sitzung des
Bundestages nach dem Umbau des Parlamentsgebäudes in der Hauptstadt. Berlin
werde für Freiheit und Demokratie, für eine europäische Politik stehen. "Wir wollen
keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten,
geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", betonte der Präsident.
Auch nach diesem Umzug werde die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaatliche
und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über Jahrzehnte hinweg bewährt habe.
Er forderte zu einer "kritischen Innenansicht unserer eigenen Geschichte" auf, die
nichts mit selbstgefälliger Rückschau oder gar Geschichtsrevisionismus zu tun habe,
sondern mit einer "kritischen Selbstvergewisserung, welches historische Erbe wir
gerade in diesem so umstrittenen Gebäude antreten".
Das Gebäude habe bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf parlamentarische
Demokratie als in Richtung auf einen restaurativen Absolutismus gezielt. Aber weil
es dem Reichstag damals nicht gelungen sei, erweiterte Parlamentsrechte
durchzusetzen, sei es geradezu folgerichtig gewesen, daß der Sozialdemokrat Philipp
Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstags die Republik
ausrief. Das Reich habe eine demokratische Verfassung erhalten, der Reichstag sei
Ort der parlamentarischen Auseinandersetzung geworden. Thierse bezeichnete es als
eines der "hartnäckigsten und dümmsten Vorurteile", daß das Reichstagsgebäude als
Symbol für den "nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und seine
Kriegspolitik" stehe. Hitler habe in dem Gebäude nie als Parlamentarier gesprochen.
Nach dem Krieg und erst recht nach dem Bau der Mauer habe das Reichstagsgebäude
"wie ein Mahnmal" fast Wand an Wand mit dieser "gewaltsamen innerdeutschen
Grenze" gestanden. Es sei für ihn ein Symbol für das ungelöste Problem der
deutschen Teilung gewesen, sagte Thierse.
Der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin symbolisiert für den Präsidenten
etwas "erfreulich Zivilisatorisches" in der deutschen Geschichte. Dieser neue
Moment verweise auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst wirklich die
deutsche politische Kultur hätten prägen können. An diesen Traditionen, nämlich
dem Antifaschismus und einem unaufgeregten, bescheidenen Verhältnis zur Nation,
20
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
dem Streben nach sozialem Ausgleich, der guten Nachbarschaft und dem
Interessenausgleich mit den anderen Völkern und Staaten, der europäischen
Zusammenarbeit und Integration sowie der Fortentwicklung der Europäischen Union,
müsse man festhalten, so Thierse. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter die
deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielten, würden an diesem Ort ad absurdum
geführt: "Dieser Ort ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr, er läßt keinen
Schlußstrich zu!" Totalitäre Ideologen und Demagogen dürften in Deutschland nie
wieder eine Chance bekommen. In diesem Zusammenhang dankte der Bundestagspräsident dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1983 gesagt habe, es
bleibe als Mahnung festzuhalten, daß die Republik jeden Tag neu erworben werden
müsse, "weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht von selbst versteht".
Thierse dankte dem Architekten, Sir Norman Foster, der mit dem Neubau von
Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischen Ursprungsarchitektur eine
gelungene Synthese geschaffen habe, seiner Vorgängerin Rita Süssmuth, dem
Vorsitzenden der Baukommission des Bundestages, Dietmar Kansy, sowie allen, die
zum Gelingen des Projektes beigetragen hätten. Der Architekt verdeutlichte in seiner
Ansprache, er habe bei der Ausschreibung des Wettbewerbs zunächst Zweifel gehabt,
ob er als Ausländer für ein so bedeutsames Gebäude die Verantwortung übertragen
bekommen würde. Im nachhinein könne er feststellen, daß der Prozeß von Anfang bis
Ende von Tatkraft, Fairneß und Offenheit aller Beteiligten geprägt gewesen sei.
Foster erinnerte zudem an die Verhüllung des Reichstagsgebäudes im Sommer 1995.
Damals sei man "Zeuge einer Transformation" geworden. Heute seien "ähnliche
Gefühle wieder in der Luft".
Kansy zitierte den früheren französischen Präsidenten Francois Mitterrand mit den
Worten "Ein Volk ist so groß wie seine Architektur". Die Verantwortlichen, so
Kansy, hätten sich darum bemüht, nicht luxuriös oder pompös, sondern würdig und
angemessen für ein Verfassungsorgan zu bauen. Der Bundestag habe nicht nur ein
Quartier gesucht in dieser Stadt, sondern mitgestalten wollen als deutsches
Parlament. Dies sei gelungen, ohne den Kostenrahmen zu überschreiten.
21
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Ein Gang durch das Reichstagsgebäude
Von der Westlobby aus linker Hand liegt
u.a. das Abgeordnetenrestaurant, rechter
Hand die Wandelhalle Südwest. Sie ragt
hoch über zwei Geschosse hinweg auf.
Wie eine Galerie zieht sich ein
aluminiumunterlegter gläserner Steg auf
halber Höhe durch die Halle, der zur
Besucherebene gehört.
Links von der Wandelhalle Südwest
schließt der Lichthof Süd an, rechts die
große Abgeordnetenlobby, die mit bequemen Sitzmöbeln ausgestattet ist. Unübersehbar grau
gefärbt sind die Lüftungsaggregate, die zwischen den Fenstern fast drei Meter hoch aufragen. An
der Nordseite des Raumes hängt großflächig eine Fotokunstarbeit der Düsseldorfer Künstlerin
Katharina Sieverding zur Erinnerung an die ermordeten, verfolgten und verfemten Mitglieder
des Deutschen Reichstags. Zusammen mit den in Dokumentationsbüchern exakt recherchierten
Lebensschicksalen dieser Abgeordneten bildet der Ort eine Stätte des Gedenkens und der
Besinnung.Auch die Wandelhalle selbst ist künstlerisch ausgestaltet. Von der Decke hängen 24
Acryltafeln, auf denen der jüngst verstorbene Künstler Carlfriedrich Claus seinen
"Experimentalraum Aurora" als Denklandschaft ausgeformt hat.
Von der Wandelhalle aus gesehen links liegt der
Südflur, der parallel zur Scheidemannstraße die
Wandelhallen West und Ost verbindet. Links
erneut der Lichthof, in dessen Mitte der
Düsseldorfer Bildhauer Ulrich Rückriem zwei
Bodenreliefs aus geschnittenen Granitplatten
geschaffen hat, die mit der Fassade des
Lichthofes harmonieren. Rechts ist der
Treppenaufgang des Südportals, dessen
Seitenwände mit großformatigen
Leinwandbildern des sächsischen Malers Georg
Baselitz ausgestattet sind. Die Motive beziehen
sich auf die Holzschnitte "Die Frau am Abgrund"
sowie "Schlafender Knabe" von Caspar David
Friedrich.
22
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Anschließend folgt der Andachtsraum mit den
von Bildhauer Günther Uecker geschaffenen
Gebotstafeln, die zusammen mit dem Altarstein
ein Kreuz bilden und dem Raum mit seinem
seitlich einfallenden Licht die sakrale
Atmosphäre geben.
Osthalle
Es folgt der eigentliche Besucherbereich des
Plenarsaals mit den sechs einzelnen Tribünen,
23
Über das Treppenhaus in Südost kann man die
eine Etage höher gelegene Besucherebene
erreichen. Über eine Galerie mit Blick in die
Wandelhalle gelangt man zu einem Steg, der
vom Architekten neu in die Halle eingefügt
wurde. An den Wänden sind die alten
Sandsteinverkleidungen aus der Wallot-Zeit zu
erkennen, die zum Teil mit kyrillischen
Schriftzeichen beschrieben sind. Diese stammen
aus den Tagen der Eroberung des Hauses durch
die Rote Armee zum Ende des Zweiten
Weltkrieges und wurden als Geschichtszeugnis
konserviert.
Auf der Besucherebene sind alle Türen, die zu
Büros und Vortragssälen führen, grün, auf der
Plenarsaalebene sind sie blau. Dieses
Farbkonzept, das sich auch auf den Beschlägen
der Durchgangstüren wiederfindet, dient der
Orientierung im Hause.
Wenn man von der Tribüne weiter nach unten
blickt, so ist die Sitzanordnung zu erkennen,
nach der sich die Abgeordneten dem Präsidenten
und Sitzungsvorstand, der Bundesregierung und
dem Bundesrat gegenübersehen. Links vom
Präsidenten bzw. der Präsidentin befinden sich
die Plätze für den Bundeskanzler und die
Bundesregierung, auf der rechten Seite die Plätze
des Bundesrates, der Vertretung der Länder. Die
beiden Stühle jeweils in der ersten Reihe, die
dem Präsidiumspodest am nächsten stehen, sind
dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten
vorbehalten. An die Regierungs- und Bundes-
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
die sich von dieser Ebene aus fast in die Mitte
des Plenarsaals hineinsenken und jeweils 73
Gästen Platz bieten. Hier hat man den besten
Blick auf den Plenarsaal und seiner Architektur.
Er ist lichtdurchflutet, und beim Blick nach
oben wird der Ring der zwölf Sichtbetonstützen
deutlich, der den Plenarsaal umgibt und die
Kuppel trägt. Die gläserne Deckenkonstruktion
ermöglicht aus dem Saal und von den Tribünen
eine Durchsicht auf das dritte Obergeschoß und
weiter in die Konstruktion der Kuppel.
In der anderen Vitrine befindet sich ein
Gastgeschenk des spanischen Königspaares
Juan Carlos und seiner Gemahlin Sofia, die am
16. Juli 1997 die Baustelle des Deutschen
Bundestages besichtigte und, im Hinblick auf
das zusammenwachsende Europa, dem
deutschen Parlament in zwei Schatullen die
Urkunden der spanischen Verfassung von 1812
und 1978 übergeben haben.
24
ratsplätze schließen sich die Abgeordnetenplätze
an. Links von der Bundesregierung sitzt die
F.D.P., darauf folgt die CDU/CSU, dann
Bündnis 90/Die Grünen, während die
Abgeordneten der SPD fast die ganze rechte
Hälfte einnehmen, bevor der Kreis mit den
Plätzen für die Parlamentarier der PDS an die
Bank des Bundesrates anschließt. Die rund 800
Sessel sind lila-blau bezogen, das vom Architekten kreierte "Reichstagsblue" liefert einen
schönen Kontrast zum Grau der Aufbauten.
An der östlichen Stirnseite des Plenarsaals steht
die Bundesflagge. An diesem Platz vereidigt der
Präsident des Deutschen Bundestages den
Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung nach deren Ernennung durch den
Bundespräsidenten. Darüber erhebt sich das als
Kunstwerk ausgeformte Symbol für den
Deutschen Bundestag, der Bundestagsadler, der
gelegentlich etwas spöttisch als "Fette Henne"
bezeichnet wird. Das aus Aluminiumblechen
mehrschichtig gefertigte Wappentier ist 8,50
Meter breit, 6,80 Meter hoch und wiegt 2,5
Tonnen. Die Wand hinter dem Adler nimmt
vieles der Technik auf, die sich außerdem im
ganzen Saal hinter weiteren Verkleidungen
verbirgt. 298 Einzellautsprecher sorgen für den
guten und jederzeit verständlichen Ton, über 200
Mikrofone kann gesprochen werden.
Im westlichen Besucherbereich stehen zwei Vitrinen, in denen wichtige Exponate zur Geschichte der parlamentarischen Demokratie ausgestellt
sind. Es handelt sich zum einen um die Originalausfertigung des Grundgesetzes vom 23. Mai
1949, der Geburtsstunde der Bundesrepublik
Deutschland.
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Im zweiten Obergeschoß befindet sich der Präsidialbereich, der
Besprechungsräume und der Sitzungsraum
desder
Ältestenrates.
Die Türen West
sind hier
burgunderrot,
und
über eine
beiden Treppenhäuser
erreicht
werden kann.
sowohl von der Mitte der West- wieHier,
der Ostseite
sind
eindrucksvolle
Durchblicke
zumund
auf dieser
Etage
liegen die Büros
für denmöglich,
Präsidenten
einen nach unten in den Plenarsaal und
dieengsten
Wandelhallen,
zum anderen
nach oben infür
dieden
Kuppel.
seine
Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter,
Direktor beim Deutschen Bundestag, der die Verwaltung leitet,
für die Abteilungsleiter sowie für die Leiter des Protokolls und
des Pressezentrums. Hinzu kommen einige Protokollsäle,
Besprechungsräume und der Sitzungsraum des Ältestenrates.
Die Türen sind hier burgunderrot, und sowohl von der Mitte der
West- wie der Ostseite sind eindrucksvolle Durchblicke
möglich, zum einen nach unten in den Plenarsaal und die
Wandelhallen, zum anderen nach oben in die Kuppel.
Der Blick fällt dann auf die
Bronzeplastik "Architektonische
Skulptur" von Otto Freundlich. Dieser
Künstler wurde von den
Nationalsozialisten als Vertreter der
sogenannten "entarteten" Kunst verfolgt
und im Konzentrationslager LublinMaidanek 1943 ermordet. Der Deutsche
Bundestag ehrt ihn mit dieser Leihgabe.
25
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Bundestag im Reichstagsgebäude
von Carl-Christian Kaiser
Das Reichstagsgebäude macht es kurz. Ein paar Schritte nur sind nötig, die große
Freitreppe hinauf, dann durch die mächtigen Säulen des Portals – und schon ist von
der hohen Empfangshalle aus durch Glaswände auch das Herzstück des Deutschen
Bundestages in seinem neuen Berliner Gebäude zu sehen: der Plenarsaal.
In keinem anderen Plenargebäude des Parlaments, allenfalls mit Ausnahme des
vorübergehenden Quartiers im Bonner "Wasserwerk", ist dieser Weg so kurz und der
erste Blick auf das Plenum so rasch möglich gewesen. Der allererste Plenarsaal in
Bonn verbarg sich hinter seinen Eingangstüren. Ähnlich im "Wasserwerk". Und der
Blick auf den dritten und letzten Bonner Sitzungssaal öffnete sich trotz der gläsernen
Durchsichtigkeit des ganzen neuen Parlamentstrakts erst, nachdem die weitläufige
Lobby durchschritten war.
Anders also im historischen Berliner Reichstag. Mehr noch als in allen
vorhergehenden Gebäuden beherrscht der Plenarsaal den so gründlich umgestalteten
mächtigen Bau, nicht zuletzt durch seine bis zum Fuß der schon berühmten
Glaskuppel hinaufreichende Höhe. Fast alle Stockwerke sind um ihn herum
gruppiert; aus vielen Blickwinkeln kann er eingesehen werden.
26
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Über die große Freitreppe und durch die
mächtigen Säulen des Portals hindurch gelangt
der Besucher in die Empfangshalle des
Reichstagsgebäudes.
Um so deutlicher wird, dass sich hier das Zentrum der parlamentarischen Demokratie
befindet. Wie in einem Brennglas bündeln sich ja im Plenum des Bundestages
entscheidende Merkmale der parlamentarischen Ordnung und Arbeit. Das gilt für den
Wettstreit der Meinungen vor aller Augen und Ohren ebenso wie für die öffentliche
Beschlussfassung, für das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition nicht
minder wie für die Auseinandersetzung nach bestimmten Spielregeln. Das Plenum ist
die für alle parlamentarischen Aufgaben ausschlaggebende Instanz. Wird die
Souveränität des Bundestages als höchstes demokratisches Organ nur von den
Verfassungsbestimmungen begrenzt, ist er keinerlei Aufsicht oder Weisungen
unterworfen, sondern regelt er seine Angelegenheiten selbst, so drückt sich dies in
erster Linie in seinem Plenum aus. Über seine Zusammenkünfte, die Art und Weise
seiner Beratungen und die Erledigung seiner Aufgaben befindet er aus eigenem
Recht.
Die Beratung und Beschlussfassung über die Gesetzentwürfe in einem genau
festgelegten Verfahren ist das Wichtigste und das tägliche Brot. Alle
Gesetzesvorlagen gehen an den Bundestag. Nicht weniger herausragend ist die
Bestellung des Regierungschefs. Die Wahl des Bundeskanzlers – und ebenso dessen
Sturz durch die Wahl eines Nachfolgers – ist allein Sache des Parlaments.
Schließlich, als dritte Hauptaufgabe, die Kontrolle der Regierung: Dafür verfügt der
Bundestag über ein breit gefächertes Instrumentarium, das von Anfragen in
verschiedener Form, zu denen die Regierung Rede und Antwort stehen muss, bis zu
Untersuchungsausschüssen reicht. Vor allem aber: Ohne Zustimmung des Parlaments
kann auch das alljährliche Haushaltsgesetz, das in Zahlen gefasste
Regierungsprogramm mit allen Einnahmen und Ausgaben des Staates, nicht
27
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
verwirklicht werden. Das Recht, über den Staatsetat zu entscheiden, ist das wichtigste
Kontrollinstrument des Bundestages, und stets sind die Haushaltsdebatten, in denen
es immer auch um die Grundzüge der Regierungspolitik geht, einer der Höhepunkte
des Parlamentsjahres.
Das Ostfoyer des Reichstagsgebäudes - Zugang
für Parlamentarier, Minister, Staatsgäste.
Aber mit den Rollen als Gesetzgeber, Wahlorgan für den Kanzler, Regierungskontrolleur und mit anderen Aufgaben hat es keineswegs sein Bewenden. Vielmehr
soll im Bundestag jenseits aller Einzelthemen, Fachfragen, Detailprobleme und
Tagesarbeit immer wieder auch zur Sprache kommen, was die Wähler allgemein
bewegt, die Nation beschäftigt oder sogar die ganze Welt in Atem hält. Nicht selten
werden die Debatten darüber zu großen Stunden, in denen das Parlament alle
Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann wird am deutlichsten, was seine vornehmste
Rolle ausmacht: das "Forum der Nation" zu sein, auf dem sich die Menschen mit
ihren Problemen und Wünschen, Sorgen und Fragen wiederfinden.
Um so sinnfälliger, dass im Reichstagsgebäude der Plenarsaal noch mehr als an allen
früheren Beratungsorten des Bundestages den zentralen Platz einnimmt und sofort ins
Auge fällt. Die ganze erste Etage des Reichstags, die Plenarebene, ist den
Abgeordneten, ihren Mitarbeitern und dem Parlamentspersonal vorbehalten. Zur
besseren Orientierung ist sie, wie alle anderen Stockwerke, mit einer bestimmten
Farbe gekennzeichnet: Blau an allen Türen und anderen markanten Punkten.
Gegenüber dem hellen Grau und Silber, dem Sandstein, Stahl und vielem Glas und
den wuchtigen, quaderhaften Formen, die das alte Gebäude weiter prägen, heben sich
die Farben wirkungsvoll ab.
28
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude.
29
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Ist das große Westportal hauptsächlich für die Besucher des Bundestages bestimmt,
so dient das Ostportal an der gegenüberliegenden Seite des Reichstagsgebäudes, wo
es auch genügend Vorfahrtsmöglichkeiten gibt, vor allem den Abgeordneten. Sie
erreichen von dort aus die über dem Erdgeschoss mit seinen technischen
Installationen liegende Plenarebene und den Plenarsaal. Wie ein Kranz umgeben ihn
Räume und Einrichtungen, die für die Arbeit zumal an Debattentagen nötig oder
nützlich sind: Wandelhallen für die oft wichtigen Gespräche am Rande, eine
Präsenzbibliothek zum Nachschlagen von Daten und Fakten während der Debatten,
Ruhe- und Aufenthaltsräume, auch für die Mitglieder der Regierung, ein Lobby- und
Clubraum, ein größeres Restaurant sowie eine Cafeteria und ein kleines Bistro.
Ebenso gibt es einen Andachtsraum, in dem sich Abgeordnete zu den morgendlichen
Gottesdiensten versammeln können; nur durch einen schmalen seitlichen Spalt
einfallendes Licht verleiht ihm eine besondere Atmosphäre.
In den Wandelhallen, die um den Plenarsaal
herum angeordnet sind, treffen sich die
Parlamentarier für wichtige Gespräche am Rande
von Plenarsitzungen.
Einen ganz eigenen Akzent geben dem Raum auch die an die Wände gelehnten
Gebots- und Nageltafeln von Günther Uecker – eines der vielen Kunstwerke, die im
ganzen Haus zu finden sind. Auf allen Ebenen gibt es, von renommierten in- und
ausländischen Künstlern, Gemälde, Bilder, Plastiken, Installationen und andere
Arbeiten in zahlreichen Ausdrucksformen. Die meisten sind eigens für den Bundestag
geschaffen worden. Andere sind aus dem Besitz der Künstler angekauft worden oder
als Leihgaben zu sehen.
30
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Besonders ins Auge fallen in der Eingangshalle am großen Westportal das hohe
Rechteck aus den leicht verfremdeten Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold von Gerhard
Richter und gegenüber die Leuchtkästen mit politischen und geschichtlichen Motiven
von Sigmar Polke, die sich durch eine spezielle Technik ständig zu verschieben
scheinen. Die Maler Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Bernhard Heisig, Anselm
Kiefer, Markus Lüpertz, Wolfgang Mattheuer, Emil Schumacher und viele andere
sind ebenso vertreten wie Joseph Beuys mit einer Installation oder Ulrich Rückriem
mit zwei Bodenreliefs. Von Katharina Sieverding stammt eine große Fotoarbeit, die
zusammen mit Dokumentationsbüchern an die vielen von den Nazis ermordeten und
verfolgten Mitglieder des alten Deutschen Reichstags erinnert. Die Beispiele aus der
gegenwärtigen deutschen und internationalen Kunstszene tragen noch viele andere
Namen.
Öffentlichkeit gehört zu den Lebensprinzipien einer parlamentarischen Demokratie.
Ohne dieses Prinzip wäre das Parlament als "Forum der Nation" nicht denkbar.
Deshalb bestimmt das Grundgesetz: "Der Bundestag verhandelt öffentlich." Zwar
kann der Ausschluss der Öffentlichkeit von einem Zehntel der Abgeordneten oder
von der Bundesregierung beantragt werden. Aber zu einem entsprechenden Beschluss
ist die Zweidrittelmehrheit nötig. Die hohe Hürde zeigt, wie sehr Verhandlungen
hinter verschlossenen Türen als absolute Ausnahme verstanden werden. Tatsächlich
ist bisher noch nie verlangt worden, dass das Plenum im Geheimen beraten solle.
Seit alle wichtigen Debatten von Fernsehen und Rundfunk direkt übertragen werden,
hat das Prinzip der Öffentlichkeit noch ein viel größeres Gewicht als in früheren
Jahren. Aber die Öffentlichkeit, das sind vor allem auch und in unmittelbarem Sinne
die Besucher der Parlamentssitzungen. Für sie ist, mit der Kennfarbe Grün, im
Reichstagsgebäude gleich die nächste Etage über der Plenarebene für die
Abgeordneten bestimmt. Auch hier geht es direkt in den Plenarsaal, nämlich auf
sechs Tribünen für Besucher, Gäste und die Presse. Über den Abgeordnetensitzen
sind sie so weit in den Plenarsaal hineingezogen, dass alles wie zum Anfassen
erscheint: Demokratie direkt, wie auf Tuchfühlung. Fast sieht es so aus, als säßen
auch die Zuschauer mitten im Plenum.
31
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Clubraum.
Auch in Berlin fällt der Blick zuerst auf den an der gläsernen Stirnwand des
Plenarsaals angebrachten großen Bundestagsadler. Links und rechts neben dem Adler
zeigen auf Lichtstreifen rote Ziffern den gerade behandelten Tagesordnungspunkt
und die Uhrzeit an, während ein grünes "F" signalisiert, dass die Sitzung vom
Fernsehen direkt übertragen oder aufgenommen wird. Von den Besuchern aus
gesehen steht unterhalb des Adlers links die Bundesflagge und rechts die
Europafahne. Zu seinen Füßen befinden sich die etwas herausgehobenen Plätze des
Sitzungspräsidenten und der beiden Schriftführer aus den Bundestagsfraktionen
sowie der Parlamentsbeamten, die den Präsidenten bzw. die Präsidentin bei der
Leitung der Sitzung unterstützen. Vor diesen Plätzen steht das Rednerpult, und davor
haben die Stenographen, die jedes Wort festhalten, ihre schmale Bank.
Blick in die Abgeordneten-Lobby auf der Plenarebene.
Wiederum von den Besuchertribünen aus gesehen, sind links vom
Sitzungspräsidenten die Plätze für den Bundeskanzler, die Minister sowie ihre
Mitarbeiter und rechts die Plätze des Bundesrates, der Vertretung der Länder,
32
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
angeordnet. Die beiden Stühle, die dem Präsidentenpodest am nächsten stehen, sind
dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten vorbehalten.
Gegenüber der flachen, nach innen gekrümmten Ellipse, die das Präsidentenpodest,
die Regierungs- und die Bundesratsbank bilden, erstreckt sich in Form eines
Dreiviertelkreises das weite Rund der Sitze für die insgesamt 669 Abgeordneten.
Abermals von den Besuchern aus gesehen, beginnen die Sitze links mit den Plätzen
für die Parlamentarier der F.D.P. Darauf folgt die CDU/CSU, dann das Bündnis
90/Die Grünen. Den größten Teil der rechten Hälfte nehmen die Abgeordneten der
SPD ein, bevor der Dreiviertelkreis mit den Sitzen der PDS abschließt.
Das Bistro.
So also der Ort, an dem debattiert und entschieden wird, das Zentrum des
Bundestages und der parlamentarischen Demokratie. Auf der Besucherebene, zu der
auch in der Größe variable Vortragssäle sowie Arbeitsräume für die Presse gehören,
ist man ihm am nächsten. Hier geht es um Rede und Gegenrede, Argument und
Gegenargument, um die Darstellung von Problemen und die Debatte über ihre
Lösung, um die Begründung der verschiedenen Standpunkte und die Rechtfertigung
von Entscheidungen, um Streit und Wettbewerb zwischen den einzelnen Fraktionen
und zumal zwischen dem Regierungslager und der Opposition. Einerseits dient dies
alles der öffentlich wirksamen Kritik und Kontrolle, andererseits der öffentlichen
Erläuterung und Durchsetzung der Regierungspolitik – und damit insgesamt der
Information sowie der Urteils- und Willensbildung der Bürger.
33
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Cafeteria.
Auch in der "Laufbahn" der Abgeordneten spielt das Plenum eine bedeutende Rolle.
Von der Häufigkeit, mit der ein Abgeordneter am Rednerpult steht, lässt sich zwar
nicht ohne weiteres auf größeren Fleiß als bei anderen Parlamentsmitgliedern
schließen, wohl aber auf den Rang und den Einfluss in seiner Fraktion und das
Gewicht, das ihm dort für die Repräsentation nach außen zugemessen wird. Dabei
handelt es sich sowohl um Abgeordnete, die an der Spitze der Fraktion stehen, als
auch um Parlamentarier, die auf bestimmten Gebieten besonders sachverständig sind.
Und nicht wenige Abgeordnete haben durch eine große Rede im Plenum mit einem
Schlag viel Reputation innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen erworben.
Über dem Besuchergeschoss liegt, Kennfarbe Burgunderrot, die Präsidialebene –
Arbeits- und Repräsentationsbereich in einem. Der Bundestagspräsident ist der
höchste Repräsentant des Parlaments, und zusammen mit seinen gegenwärtig fünf
Stellvertretern aus allen Bundestagsfraktionen bildet er das Präsidium als oberstes
Gremium des Parlaments. Sein hoher Rang wird schon dadurch hervorgehoben, dass
er nach dem Staatsoberhaupt, dem Bundespräsidenten, in der protokollarischen
Reihenfolge den zweiten Platz einnimmt, noch vor dem Bundeskanzler oder den
Präsidenten anderer Verfassungsorgane.
34
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Plenarsaal, das Zentrum der Parlamentarischen Demokratie, ist von unterschiedlichen
Seiten einsehbar.
Diese Reihenfolge steht für den Vorrang der gesetzgebenden vor der ausführenden
Gewalt, der Legislative vor der Exekutive, des Bundestages vor der Regierung, und
sie drückt sich auch in anderen Einzelheiten aus. So ist der Parlamentspräsident der
Adressat aller Gesetzentwürfe und anderer Vorlagen der Bundesregierung und des
Bundesrates und natürlich auch aller Eingaben aus den Reihen des Bundestages
selbst. Er besitzt auch das Hausrecht und die Polizeigewalt im Bundestag und trifft
gemeinsam mit seinen Stellvertretern die wesentlichen Personalentscheidungen bei
der Verwaltung des Parlaments.
Der Bundestagspräsident ist der höchste
Repräsentant des Parlaments. Er eröffnet, leitet
und schließt die Zusammenkünfte des Plenums.
Am deutlichsten freilich wird seine Stellung und die seiner Stellvertreter während der
Bundestagssitzungen. Der Präsident eröffnet, leitet und schließt die Zusammenkünfte
des Plenums. Weil die Sitzungsleitung nach einem vorher vereinbarten Rhythmus,
35
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
meistens nach zwei Stunden, zu wechseln pflegt, fällt diese Aufgabe auch seinen
Stellvertreterinnen bzw. Stellvertretern zu. Der Vorsitz ist, bei aller häufigen Routine,
kein leichtes Geschäft. Immer steht er unter dem Gebot, die Beratungen gerecht und
unparteiisch zu leiten. Eine Vorstellung davon gibt jener Paragraph in der
Geschäftsordnung des Bundestages, in dem es heißt: "Der Präsident bestimmt die
Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und
zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen
Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen leiten;
insbesondere soll nach der Rede eines Mitglieds oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen."
Als beherrschender Grundsatz gilt, dass bei den Debatten zwischen den
verschiedenen politischen Gruppierungen, besonders wenn sie miteinander
rivalisieren, Chancengleichheit bestehen soll. In der Praxis bezieht sich dies vor allem
auf das Verhältnis zwischen der Regierung bzw. den Mehrheitsfraktionen und der
Opposition. Die öffentliche Kritik und Kontrolle ist in erster Linie Aufgabe der
Opposition. Den Mehrheitsfraktionen kommt vor allem die Aufgabe zu, die
Regierungspolitik mit ihrer Majorität im Bundestag durchzusetzen und zu
verteidigen. Sie üben ihre Kontrolle eher informell und intern aus.
Von der Kuppel kann man direkt in den
Plenarsaal hinunterschauen.
Aber kritische Diskussionen über die Regierungspolitik und im Einzelnen
abweichende Meinungen gibt es durchaus auch bei ihnen. Als Folge muss die
Regierung von vornherein auch darauf achten, für ihre Vorlagen in den eigenen
parlamentarischen Reihen Zustimmung und Mehrheiten zu finden. Sie kann nicht
gegen das Parlament regieren. Ihre Bundestagsmehrheit ist kein bloßer
"Erfüllungsgehilfe". Erst recht nicht sind es die Oppositionsfraktionen. So übt im
Endeffekt auch das Parlament als Ganzes seine Kontrollaufgaben aus.
36
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Sitzungspräsident soll auch die Ordnung im Hause wahren. Dazu gehört, dass er,
wenn nötig, Auseinandersetzungen und Verhaltensweisen als unparlamentarisch
zurückweisen und notfalls Abgeordnete zur Ordnung rufen kann. Nach dreimaligem
Ordnungsruf während einer Rede muss er ihm das Wort entziehen. Bei gröblichen
Verletzungen der Ordnung kann er Parlamentarier des Saales verweisen, im äußersten
Fall für längere Zeit. Wird die Debatte durch Unruhe gestört, kann sie der Präsident
bzw. die Präsidentin auf unbestimmte Zeit unterbrechen oder die Sitzung aufheben.
Die Sitzverteilung im 14. Deutschen
Bundestag (669 Abgeordnete).
Bei der Regelung der Parlamentsangelegenheiten steht dem Bundestagspräsidium der
Ältestenrat zur Seite. Dort führt der Präsident in einem Kreis den Vorsitz, dem außer
ihm und seinen Stellvertretern 23 nach den Stärkeverhältnissen der Fraktionen
bestimmte Abgeordnete angehören. Dabei handelt es sich freilich nicht um die
ältesten Mitglieder des Hauses, weder nach der Dauer der Zugehörigkeit zum
Bundestag noch nach Lebensjahren. Aber erfahrene Parlamentarier sind sie durch die
Bank. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, den Arbeitsplan des Bundestages und
die Tagesordnung für die Plenarsitzungen aufzustellen. Wann welches Thema in
welchem Umfang behandelt werden soll, ist nicht ohne Bedeutung. Hin und wieder
sind die Meinungsverschiedenheiten so groß, dass in dem sonst auf Kooperation,
Kompromiss, Kollegialität und einstimmige Beschlüsse angelegten Ältestenrat
dennoch keine Einigung zustande kommt und das Plenum selbst als letzte Instanz
entscheiden muss.
Eine andere Aufgabe des Ältestenrats besteht darin, Streitfragen zu erörtern und
möglichst zu schlichten, die mit der Würde und den Rechten des Hauses oder mit der
Auslegung von Geschäftsordnungsbestimmungen zu tun haben. Alles in allem ist er,
37
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
ohne dass er dem Bundestagsplenum als letzte Instanz etwas völlig vorwegnehmen
könnte, eine Art Lenkungsinstrument, das der Vollversammlung des Parlaments viele
zeitraubende formelle Entscheidungen erspart, und ein wichtiges Verbindungsglied
sowohl zwischen den Fraktionen als auch zwischen ihnen und dem Präsidium.
Im Plenarsaal findet der Wettstreit der Meinungen vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit statt.
Vertritt der Bundestagspräsident nach außen das ganze Parlament und regelt er nach
innen zusammen mit seinen Stellvertretern und dem Ältestenrat die Bundestagsangelegenheiten, so spiegelt sich dies auch auf der Präsidialebene des
Parlamentsgebäudes wider. Repräsentations- und Arbeitsräume mischen sich. Der
Repräsentation dienen sowohl ein großer und ein kleiner Empfangssaal als auch ein
Speisesaal mit eigener Küche. Der andere Teil der Etage besteht hingegen außer den
Räumen des Präsidenten, zu denen auch ein kleiner Ruheraum und ein Bad gehören,
aus einem Sitzungssaal des Ältestenrats, aus Besprechungszimmern sowie den Büros
der engsten Mitarbeiter des Präsidenten und der Verwaltungsspitze des Parlaments.
Plätze im Plenum: Hier sitzen die Bundestagsabgeordneten während der Plenarsitzungen.
Im Übrigen: Kein Zufall wohl, dass der Präsident aus seinem Arbeitszimmer auf das
in einiger Entfernung gegenüberliegende neue Kanzleramt blicken kann. Zwar stehen
im Bundestag – anders als zu den Anfängen des Parlamentarismus im Kaiserreich, als
38
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
das Parlament insgesamt als Widerpart der Regierung begriffen wurde – das
Regierungslager auf der einen und die Opposition auf der anderen Seite. Aber die
grundsätzliche Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist davon nicht
berührt. So wirkt in Berlin das geographische Gegenüber von Parlament und
Präsidialbüro hier und Kanzleramt dort auch wie ein Symbol.
Präsidium und Ältestenrat regeln zusammen die
Geschäfte des Bundestages.
Auch die Abgeordneten und weitere Gremien im Plenargebäude unterzubringen,
wäre unmöglich. Sie werden ihre Büros und Beratungsräume in unmittelbar
benachbarten neuen Bauten haben. Bis diese Bauten fertig sind, wird ohnehin noch
viel Improvisation nötig sein, auch im Reichstag. Wohl aber haben dort die
Fraktionen ihren festen Platz, auf der vierten Ebene mit der Kennfarbe Grau. Ihre
Versammlungssäle, Vorstandszimmer und Vorräume gruppieren sich um eine
ausgedehnte Presselobby, die auch für ganz große Empfänge und anderes genutzt
werden kann. Teil der Fraktionsräume sind auch die vier Ecktürme des Reichstags,
die eine besondere Beratungsatmosphäre schaffen.
Blick von der Fraktionsebene auf die Kuppel.
39
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Dass die Fraktionen im Reichstagsgebäude angesiedelt sind, macht viel Sinn. Als
Zusammenschlüsse aller Abgeordneten einer Partei – oder verwandter Parteien – sind
sie im parlamentarischen Getriebe wichtige, oft ausschlaggebende Schaltstellen.
Nicht nur, dass sie zum Beispiel über die Einbringung von Gesetzentwürfen oder die
jeweilige politische Marschroute für die Plenardebatten entscheiden. Vielmehr sind
sie oft auch so etwas wie "Parlamente im Parlament". Auch innerhalb der einzelnen
Parteien gibt es ja unterschiedliche Richtungen und Meinungen. Zwar stimmen die
Mitglieder einer Fraktion in der politischen Grundhaltung überein, jedoch keineswegs
von vornherein auch in allen Einzelfragen.
Sitzung des Ältestenrates.
Deshalb kommt es, wie im Plenum zwischen den Parteien, auch innerhalb der
Fraktionen immer wieder zu lebhaften und manchmal sehr kontroversen
Auseinandersetzungen, bevor die verschiedenen Standpunkte geklärt und möglichst
auf einen Nenner gebracht sind. Zumindest im Stadium der Diskussion und
Willensbildung sind die Fraktionen keine geschlossenen Heerhaufen. Auch lassen
sich gelegentlich Minderheiten von der Generallinie nicht überzeugen. Und wie im
Plenum können ebenso die Debatten in den Fraktionen zur großen Stunde einzelner
Abgeordneter werden. Schon manche Parlamentskarriere hat auch auf diese Weise
begonnen.
40
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
In Fraktionssitzungen werden oft die
entscheidenden Weichen gestellt.
Die Fraktionsebene ist der letzte Arbeitsbereich im Reichstagsgebäude. Von unten bis
oben, vom Erdgeschoss mit seinen Funktionsräumen, technischen Einrichtungen und
Diensten, auch mit den Arzträumen, über die Plenarebene, dann den Besucherbereich
und darauf der Präsidialebene bis zu der Etage für die Fraktionen ist alles
zweckmäßig aufgeteilt, auch mit möglichst kurzen und direkten Wegen – und immer
auf das Zentrum angelegt: auf den Plenarsaal in der Mitte des Gebäudes. Der neue
Sitz des Bundestages ist ein klar gegliedertes Arbeitsgehäuse.
Über dem Fraktionsbereich als oberstem Stockwerk liegt dann schon die
Dachterrasse samt einem Restaurant für die Besucher – und jene Glaskuppel, die
sofort zum Wahrzeichen des Bundestages im umgestalteten Reichstagsgebäude, wenn
nicht überhaupt zum Symbol der Hauptstadt Berlin geworden ist. Tags glänzt sie,
nachts leuchtet sie über der Stadt.
Das in der Kuppel befindliche Lichtumlenkelement mit seinen 360 Spiegeln versorgt den
Plenarsaal mit Tageslicht.
In ihrer technischen Funktion bringt die Kuppel, zumal durch das trichterförmige
Lichtumlenkelement in der Mitte mit seinen 360 Spiegeln, zusätzliches Tageslicht in
den Plenarsaal. Umgekehrt transportiert der bis ins Plenum reichende Trichter die
41
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Abluft des Saales nach oben ins Freie. Die Kuppel ist nicht geschlossen, sondern am
unteren und oberen Rand offen, ein leichtes und luftiges Rund, wie eine schwebende
Raumhülle. Vor allem aber bietet sie jene einzigartige Attraktion, die alle anzieht: Sie
kann begangen werden. Die beiden an ihrer Innenseite in Spiralen sanft ansteigenden
oder abfallenden Rampen führen zu einer Aussichtsplattform hinauf und wieder
hinunter, von der aus, wie auch von der Dachterrasse, der Blick über ganz Berlin
geht, ein großes Panorama.
Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im
Giebel des Hauptportals steht: "Dem Deutschen
Volke".
Das Gefühl der Beschwingtheit und Weite, das die Kuppel vermittelt, ist schon oft
beschrieben worden, ebenso wie die Möglichkeit, dem Parlament buchstäblich aufs
Dach zu steigen. Ihre lichte Konstruktion und ihre Zugänglichkeit für jedermann
nehmen ihr jeden herrschaftlichen Charakter, wie er sonst Kuppelbauten
kennzeichnet. Ob nun direkt durch die weit in den Plenarsaal hineinreichenden
Tribünen oder indirekt durch die gläserne Haube über dem Plenum – wohl kein
anderes Parlament öffnet sich Besuchern so sehr wie der Deutsche Bundestag im
historischen Reichstagsgebäude. Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im Giebel
des Hauptportals steht: "Dem Deutschen Volke".
42
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Umbau des Reichstagsgebäudes - Ansprüche
Altes erhalten - Modernes gestalten
Am 16. Juni 1994 stellte Sir Norman Foster seinen überarbeiteten Entwurf des
Reichstagsprojektes vor, der darauf basiert:
dem Wesen des Parlaments gerecht zu werden, die Geschichte des Reichstagsgebäudes zu respektieren und ein zukunftweisendes Energiekonzept zu realisieren.
Das ehemalige Reichstagsgebäudes wurde zu einem modernen Arbeitsparlament
umgestaltet, das allen Anforderungen an neuester Kommunikations-, Büro- und
Arbeitsplatztechnik entspricht. Gleichzeitig wurden unter Wahrung der ursprünglichen Bausubstanz Gebäudestrukturen von Paul Wallot freigelegt und damit auf die
Innenausbauten der sechziger Jahre in Absprache mit dem Denkmalschutz verzichtet.
Ein Wahrzeichen für das "Herz der Republik"
Das Gebäude hat wieder eine Glaskuppel erhalten, jedoch nicht in der ursprünglichen, historischen Form, sondern in der Architektur des ausgehenden 20.
Jahrhunderts.
Die neue Glaskuppel des Reichstages (Modell)
Die Kuppel erfüllt drei Funktionen:
Eine Besucherplattform lädt zu einem Rundblick über Berlin ein, zugleich sorgt ein
licht- und lüftungstechnisches Kegelelement in der Glas- und Stahlkonstruktion der
Kuppel für natürliche Belichtung und Belüftung. Schließlich hat die von innen
beleuchtete transparente Kuppel der Bundeshauptstadt Berlin zu einem neuen
Wahrzeichen verholfen. Die modern gestaltete Kuppel setzt ein sichtbares Zeichen,
dass das Reichstagsgebäude sich zum Sitz des Deutschen Bundestages entwickelt hat
- und damit zum Herzen der Republik.
43
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
"Bauen für die Demokratie"
Exklusiv-Interview mit Sir Norman Foster,
dem Architekten des Reichstagsumbaus
Beim Umbau des Reichstagsgebäudes für den Deutschen Bundestag
wird von einem Energiekonzept mit ökologischer Signalwirkung gesprochen. Welche
Bereiche dieses innovativen Konzeptes sind für Sie die wichtigsten?
Die Idee, den neuen Bundestag als Beispiel für ein nachhaltiges Energiekonzept zu
gestalten, war einer der Vorschläge aus unseren vier Wettbewerbsbeiträgen. Unsere
ökologische Variante verbindet mehrere Komponenten zu einem Energiesparsystem "
sie gehören alle zusammen. Zunächst schlagen wir vor, auf keinerlei fossile
Brennstoffe wie Öl oder Kohle zurückzugreifen. Abgesehen davon, daß wir früher
oder später das Ende unserer schnell schwindenden Vorräte erleben werden, bedroht
uns das gefährliche Begleitprodukt ihrer Umwandlung in Energie mit der zunehmenden Emission von Treibhausgasen und einer globalen Erwärmung. Die erste
strategische Entscheidung war daher, eine stets erneuerbare Energiequelle einzusetzen, d.h. ein landwirtschaftliches Produkt, wie zum Beispiel Raps- oder Sonnenblumenöl. Dabei ist zu bedenken, daß das Wachstum solcher Pflanzen Sauerstoff
erzeugt und Kohlendioxid, eines der umweltschädlichsten Gase, verbraucht. In der
Vergangenheit verursachte der Reichstag im Jahr einen Ausstoß von etwa 7.000
Tonnen CO2 " das neue Konzept mit Rapsöl ist so viel sauberer, daß es eine Reduktion um 94% auf nur 440 Tonnen CO2 pro Jahr erzielt. In unserem System wird das
Öl zur Elektrizitätserzeugung in einem Gemeinschaftsgenerator verbrannt. Dieses
ökologische Kraftwerk versorgt nicht nur den Reichstag, sondern auch eine größere
Zahl von Gebäuden der Gegend mit Strom. Die Abwärme dieses Prozesses wird in
Kühlung umgewandelt, so daß Kühlwasser im Gebäude als Teil der Klimatisierung
zirkuliert. Dazu kommen natürliche Beleuchtung und Belüftung als weitere Posten
der Energieeinsparung. In den Sommermonaten wird die gesamte überschüssige
Wärme unterirdisch in 330 m Tiefe als Heißwasser gespeichert, das im nächsten
Winter als Wärmequelle genutzt werden kann. Die außergewöhnliche Dachkonstruktion des neuen Bundestages ist ein deutliches Zeichen des neuen Energiekonzepts. Der spiegelbesetzte Kegel transportiert Licht weit in die Tiefe des
Gebäudes. In Windtunneln ist die Aerodynamik erforscht worden, die jetzt wie ein
44
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
natürlicher Schornstein funktioniert und Luft aus dem Gebäude als Teil des natürlichen Belüftungssystems abzieht.
Wird es aus Ihrer Sicht schon bald eine Architektur geben, die aufgrund der
ökologischen Erfordernisse gänzlich anders sein wird?
Ja, ohne jeden Zweifel. Nebenbei hatte die wirklich volkstümliche Architektur in den
alten Zeiten ihre Wurzeln immer auch in einer Reaktion auf die Umwelt über
Gebäudeformen, Baustoffe und die Technologie.
Ihr Büro ist weltweit tätig und erfolgreich. In diesem Jahr wird u. a. Ihr neuer
Flughafen von Hongkong fertiggestellt. Haben Sie sich schon einmal mit dem
Einfügen neuer Architektur in einen bedeutenden Altbau wie das Reichstagsgebäude
befassen können?
Ja, schon mehrmals. Sehen Sie sich nur unseren Umbau der historischen Royal
Academy im Londoner Picadilly an. Wir haben ihn vor einigen Jahren durchgeführt.
In jüngerer Vergangenheit haben wir damit begonnen, im Herzen des British
Museum in London, das ja aus dem 19. Jahrhundert stammt, einen neuen Hof zu
errichten, den New Great Court. Wir haben auch die Ausschreibung zur
Umkonstruktion des Treasury Building am Parliament Square aus der Zeit der
Jahrhundertwende gewonnen. Dazu kommt noch der neue Flügel der Joslyn Gallery
in Omaha, Nebraska, wo wir einen Anbau zu einem Gebäude geschaffen haben, das
im Original "Egyptian Prairie Style" errichtet wurde " einer Art Jugendstil aus den
zwanziger Jahren.
Welche sind Ihre wichtigsten Prämissen beim Planen?
Hatte der Begriff "Bauen für die Demokratie" Einfluß auf Ihren Entwurf für den
Deutschen Bundestag?
Ja. Der Ausdruck der neuen Demokratie eines wiedervereinten Deutschland war
besonders wichtig. Auch die im Stoff, im Material des Gebäudes enthaltene
Geschichte bloßzulegen, war wichtig. Einen weiteren Aspekt stellt die Schaffung von
bedeutenden öffentlichen Räumen dar, und hinter den Kulissen war der Arbeitsablauf
des Bundestages zu berücksichtigen.
1992, beim Wettbewerb für den Umbau des Reichstagsgebäudes, hatten Sie mit einer
anderen Entwurfsidee Erfolg. Wie sehen Sie heute Ihr damals vorgeschlagenes
riesiges Dach?
Für die erste Etappe des Wettbewerbs, in der ja ein immenser Raumbedarf bestand,
wesentlich mehr an Quadratmetern als das vorhandene Gebäude bieten konnte, war
45
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
das absolut geeignet. Im zweiten Stadium, als der Raum dramatisch auf einen
Bruchteil des ursprünglichen Bedarfs reduziert wurde, war es verständlicherweise
nicht mehr angemessen. Also zurück ans Zeichenbrett! Aber übersehen Sie nicht, daß
alle Vorbedingungen, der Ausdruck der Demokratie, die Transparenz, der öffentliche
Raum, Geschichte und Ökologie, die im gegenwärtigen Schema enthalten sind, aus
dem ursprünglichen Wettbewerbsbeitrag der ersten Ausschreibung herrühren.
Die Kuppel des Reichstagsgebäudes ist schon sehr gut erlebbar. Übertrifft sie noch
Ihre Erwartungen?
Ja. Obwohl sie doch im Aussehen den Darstellungen unglaublich nahe kommt, die
wir in Fotomontagen und Modellen entwickelt hatten.
Welcher Bereich des Entwurfs für den Deutschen Bundestag hat Ihnen und Ihren
Mitarbeitern die größte Freude bereitet?
Der radikale Ausdruck einer neuen Demokratie in all ihren unterschiedlichen
Aspekten.
Biodiesel für den Reichstag
Wenn im April 1999 der Deutsche Bundestag mit einer Feierstunde den Plenarsaal
einweiht, wird Pflanzenöl dafür verantwortlich sein, daß es auch empfindlichen
Naturen nicht zu kalt wird. Sollte es die Sonne mit dem neuen Staatsoberhaupt
dagegen zu gut meinen, wird Erdkälte aus 60 Metern Tiefe ein gutes Klima im neuen
Bundestag schaffen. Fast könnte man den Prachtbau des Frankfurter Architekten Paul
Wallot nach dem in einigen Monaten abgeschlossenen Umbau durch Sir Norman
Foster das repräsentativste Öko-Haus der Bundesrepublik Deutschland nennen.
Intelligent, ressourcenschonend und einzigartig ist das Energie- und Heizkonzept des
künftigen Parlamentssitzes in Berlin. Und faszinierend dazu. Dem britischen StarArchitekten Sir Norman Foster ist in seinem Konzept für die Umgestaltung des
Reichstagsgebäudes das Kunststück gelungen, die Anforderungen an eine moderne
und zugleich den historischen Charakter des Gebäudes respektierende Architektur mit
hohen ökologischen Zielsetzungen zu verschmelzen. Wichtigste Vorgabe innerhalb
des Projektes: Energie erst gar nicht verbrauchen. An zweiter Stelle folgt der
effiziente Energieeinsatz. Für Claudia Lemhoefer, Sprecherin der für die Bauleitung
zuständigen Bundesbaugesellschaft Berlin, ist das Energiekonzept für die
46
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Bundesbauten im Spreebogen "energetisch zukunftsweisend, umweltpolitisch
verantwortungsvoll und ökologisch vorbildlich".
Lemhoefer: "In der Einsparung liegt die effektivste Strategie, um den Einsatz fossiler
Energien und damit die CO2-Emissionen zu reduzieren.“
Integriertes Konzept
Ein Ziel, das durch ein integriertes Konzept des Ingenieur-Büros Kuehn Bauer
Partner (München/Berlin) und der Geothermie Neubrandenburg GmbH und durch die
innovativen Lösungen des Planungsstabes derart überzeugend erreicht wurde, daß es
als beispielhaft gelten kann. Die Kombination von Solartechnik und mechanischen
Belüftungssystemen, einen hohen Anteil natürlichen Lichtes, der Nutzung des
Bodens als natürlichem Kälte- und Wärmespeicher, der Kraft-Wärme-Kopplung,
effizienter Blockheizkrafttechnik und des Rückgriffs auf nachwachsende
Energiequellen machen es möglich, den jährlichen CO2-Ausstoß des Reichstagsgebäudes von rund 7.000 auf 1.000 Tonnen zu reduzieren " ohne Einbußen an
Komfort und Ästhetik. Im Gegenteil.
Funktionen der Kuppel
Die 23 Meter hohe und 40 Meter breite Glaskuppel des Reichstagsgebäudes ist nicht
nur prägendes architektonisches und ästhetisches Element des neuen Bundestages.
Norman Foster hat die begehbare und öffentlich zugängliche Kuppel auch in das
einzigartige Energiekonzept integriert und sie darin zu einem wichtigen Element
gemacht. Zunächst ist das Schaufenster des Parlaments, von dem sich zugleich ein
überwältigender Blick auf das Berliner Stadtbild bietet, die wesentliche Lichtquelle
des Bundestages. Tageslicht fällt nicht einfach wie bei einem Fenster in den zehn
Meter unter der Kuppel liegenden Plenarsaal, der mit 1.200 Quadratmetern etwa
doppelt so groß ist wie der von Wallot gebaute und 1894 eingeweihte Plenarsaal des
Reichstages. An dem trichterförmigen, sich nach oben öffnenden Konus, der in der
Kuppel hängt, sind 30 Spiegelreihen mit jeweils zwölf Spiegeln befestigt, um
diffuses, nicht blendendes Tageslicht in den Plenarsaal umzuleiten. Bei besonders
starkem Sonnenschein kann ein Teil der insgesamt 360 Spiegel mit einer jeweiligen
Fläche von 4,20 mal 0,60 Meter durch einen mitfahrenden, computergesteuerten
Sonnenschutz abgedeckt werden. Damit wird gleichzeitig eine zu große Aufheizung
47
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
verhindert und die für die Kühlung notwendige Energiemenge vermindert.
Um den Schattenspender richtig zu positionieren, kann sich der steuernde Computer
auf 24 Meßstellen stützen, die auch den Einstrahlwinkel des Sonnenlichts
berücksichtigen. Dieses Lichtsystem trägt dazu bei, den Energieverbrauch für die
elektrische Beleuchtung des Bundestages zu reduzieren. Zusätzlich energiesparend
wirken Dimmer, um auch bei Tag nur so viel Licht wie nötig zu nutzen.
Natürliche Be- und Entlüftung
Zugleich dient die Kuppel aber auch der natürlichen und damit energiesparenden
Entlüftung des Bauwerks. Eine Idee, bei der Kuehn Bauer und Partner auf die
Vorarbeiten des Ingenieurs David Grove zurückgreifen konnten, der schon vor über
100 Jahren den thermischen Auftrieb für die Entlüftung des Reichstages ausgenutzt
hatte. Um das thermische Verhalten des Gebäudes zu untersuchen, hatte Grove
Langzeit-Heizversuche im Reichstag unternommen. Wie damals wird auch in
Zukunft das Parlamentsgebäude belüftet, wobei die Kuppel als höchster Platz des
Gebäudes, in dem sich die Luft sammeln kann, wieder die zentrale Rolle spielt.
Lemhoefer: "Die verbrauchte Luft wird über eine Abluftdüse nach oben geleitet und
entweicht durch eine zehn Meter breite zentrale Öffnung.î Diese liegt unscheinbar
wie ein Großteil der Haustechnik innerhalb des Konus, so daß die Entlüftung die
Besucher der Kuppel nicht stört oder belästigt. Doch selbst die Entlüftung dient noch
der Energieeinsparung. Im Konus versteckt ist eine Wärmerückgewinnungsanlage,
die der Abluft noch nutzbare Energie entzieht und für die Beheizung des Gebäudes
wieder nutzbar macht. Für die Versorgung des Gebäudes mit Frischluft hat Foster die
bereits von Wallot eingebauten Belüftungsschächte im gesamten Haus wieder
freigelegt. Gleichzeitig sind die neuen Fenster des Reichstagsgebäudes grundsätzlich
zur direkten Belüftung zu öffnen, trotz der Sicherheitsauflagen.
Lemhoefer: "Die Konstruktion der Fenster gleicht einer Doppelfassade: Hinter den
äußeren Fenstern liegt ein durchlüfteter Zwischenraum mit Sonnenschutz. Die
inneren Fenster lassen sich öffnen, so daß sich jeder Raum mit Frischluft versorgen
läßt.î Sensoren messen Luftqualität und Raumtemperatur und steuern die
Lüftungsklappen und die unterstützende mechanische Lüftung. Bei
Luftverschlechterung und bei extremen Temperaturen im Sommer und Winter wird
die Fensterlüftung durch mechanische Lüftung, ergänzt durch Wärmerückgewinnung,
48
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
ersetzt.
Bio-Blockheizkraftwerke
Nahezu einzigartig in der Bundesrepublik ist das Herzstück des beispielhaften
Energiekonzepts. Zwei ausschließlich mit Biodiesel (verestertes Pflanzenöl, PME)
betriebene Blockheizkraftwerke im Reichstagsgebäude und im benachbarten
Alsenblock liefern nicht nur Strom und Wärme für das Plenargebäude und die
naheliegenden Parlamentsneubauten Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (Wissenschaftlicher Dienst, Bundestagsbibliothek), Paul-Löbe-Haus (1.200 Räume für Abgeordnete und Sitzungssäle) und Jakob-Kaiser-Haus (2.000 Räume für Abgeordnete,
Fraktionen und Bundestagsverwaltung). Durch das Vorkommen von Solewasser
unter dem Reichstagsgebäude kann die überschüssige Abwärme, die während der
Verbrennung entsteht, gespeichert und später genutzt werden. Von der eingesetzten
Energie geht deshalb nur wenig verloren.
Wärme- und Kältespeicher
Ein Teil der Abwärme der Motoren wird im Sommer durch Absorptionskältemaschinen genutzt und zur Kühlung der Gebäude eingesetzt. Der übrige Teil wird durch
Solewasser aufgenommen und gespeichert. Dazu wird das salzhaltige Wasser aus
einem Erdreservoir in etwa 300 Meter Tiefe unter dem Gebäude hochgepumpt, in den
Blockheizkraftwerken aufgewärmt und über einen zweiten Brunnen wieder in die
Erde geleitet. Dort kann das 70 Grad heiße Wasser bis zum Winter lagern und dann
zur Beheizung der Bundestagsbauten dienen. Ein zweites Wasservorkommen in 60
Meter Tiefe dient als Kältespeicher. Hier wird die Kühle des Winters aufgefangen
und für den Sommer gespeichert, um die Gebäude vor allem bei extremen
Temperaturen kühl und frisch zu halten.
Hervorragende CO2-Bilanz
Daß die CO2-Bilanz der Bundesbauten im Spreebogen so hervorragend ausfällt, liegt
neben der intelligenten Konzeption auch daran, daß die beiden Blockheizkraftwerke
ausschließlich Pflanzenöl verbrennen. Während bei der Verbrennung von Gas und
Erdöl Kohlendioxid freigesetzt wird, das vor Tausenden von Jahren gebunden wurde,
binden die nachwachsenden Rohstoffe das in die Atmosphäre freigesetzte CO2.
Lemhoefer: "Deshalb belastet die Verbrennung von Pflanzenöl, im Gegensatz zu
49
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Erdöl oder Erdgas, die Umwelt nicht mit zusätzlichem CO2.î Dabei nutzt der
Bundestag vor allem Pflanzenöl aus nachwachsenden Rohstoffen. Die Verbrennung
in Blockheizkraftwerken ist zudem durch direkte Ausnutzung der Abwärme erheblich
effizienter als im Großkraftwerk. Die Bilanz der Blockheizkraftwerke und der über
300 Quadratmeter großen Solarstromanlage auf dem Dach des Reichstagsgebäudes
ist entsprechend außergewöhnlich. 82 Prozent des Strombedarfs im Reichstag und
den benachbarten Parlaments- bauten können durch die überschaubaren Anlagen
gedeckt werden. Nur in Spitzenzeiten muß Strom zusätzlich aus dem Netz bezogen
werden. Die Abwärme der Blockheizkraftwerke deckt durch Kraft-Wärme-Kopplung
zugleich 90 Prozent des Wärme- und Kältebedarfs. Der Anteil regenerativer
Energiequellen für die Strom-, Wärme- und Kälteerzeugung liegt bei über 80 Prozent.
Werte, die im wesentlichen auch für das Bundeskanzleramt mit seinem BiodieselKraftwerk und seiner Anbindung an die Langzeitwärme-Speicher gelten. Die
Solespeicher im Märkischen Sand unter dem Reichstagsgebäude sind so groß, daß
auch noch die Regierungszentrale an das Energiesystem angeschlossen werden kann.
Doch welcher Staatschef, der zu Gesprächen ins Kanzleramt kommt, wird wohl
ahnen, daß die gemütliche Wärme aus natürlichem Pflanzenöl stammt?
Auftrag und Kosten
(Stand: 29.07.1998)
Planung und Auftrag
Der Beschluss, dass das Reichstagsgebäude Sitz des Deutschen Bundestages werden
sollte, war vorwiegend eine politische Entscheidung. Vorausgegangen war auf die
Einladung der damaligen Bundestagspräsidentin eine Diskussionsrunde mit mehr als
300 Historikern, Architekten, Politikern und Publizisten aus dem In- und Ausland. In
der Fachwelt herrschte weitgehend Übereinstimmung, dass unter Würdigung seiner
historischen wie auch künftigen Bedeutung als "Herz der Republik" eine
Einfachsanierung des Gebäudes nicht vertretbar sei. Eine solche "Pinselsanierung"
hätte schon 200 Millionen DM gekostet. Empfohlen und durchgeführt wurde ein
"Realisierungswettbewerb", zu dem 80 namhafte Architekten Entwürfe einreichten.
Drei Wettbewerbsteilnehmer kamen in die engere Wahl. Der Auftrag zum Umbau
ging schließlich an den britischen Architekten Sir Norman Foster.
50
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Kosten
Sir Norman Foster erhielt für Planung und Ausführung die strikte Auflage, dass die
gesamten Kosten für das Bauvorhaben, einschließlich Kuppelbau, aller Nebenkosten
und Honorare 600 Millionen DM nicht übersteigen dürften. Im Frühjahr 1999 wurde
das fertiggestellte Gebäude dem Deutschen Bundestag übergeben. In diesen vier
Jahren sollten die Umbaukosten also jährlich zwei DM für jede Bürgerin und jeden
Bürger betragen. Für das gesamte Projekt galten selbstverständlich die Richtlinien für
die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung von Bundesverwaltungen, auf deren Einhaltung der Bundesrechnungshof im
Auftrag des Deutschen Bundestages achtet.
Die Kuppel
Im Stadtbild unverkennbar: Die neue Kuppel des künftigen Parlamentssitzes
Nach dem Entwurf von Sir Norman Foster und in Kooperation mit Fachingenieuren
hat der moderne Dachaufbau des Parlamentssitzes seine endgültige Gestalt angenommen. Die rund 23 m hohe und 40 m breite Kuppel aus Stahl und Glas dient der
natürlichen Belichtung und Belüftung und ist begehbar. Die Arbeitsgemeinschaft
Reichstagskuppel, bestehend aus den Unternehmen Waagner-Biró AG, Wien,
Waagner-Biró GmbH, München, Götz GmbH - München/Wien/Dillingen - hatte sich
erfolgreich bei der europaweiten Ausschreibung durchgesetzt und die Kuppel bis auf
wenige Restarbeiten fertiggestellt.
Unter den vielen Möglichkeiten, dem Reichstagsgebäude wieder einen signifikanten
Dachaufbau zu geben, hatte sich der Ältestenrat des Deutschen Bundestages im
Frühjahr 1995 für die moderne Version einer Kuppel entschieden. Sie ist von der
51
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Dachterrasse aus über eine Rampe öffentlich zugänglich und versorgt und den
Plenarsaal mit modernster Belichtungs- und Beleuchtungstechnik.
Besucher haben seit der Aufnahme der parlamentarischen Arbeit im Reichstagsgebäude im Jahre 1999 Gelegenheit, den Parlamentssitz über das Westportal zu
betreten. Von hier aus bringen sie zwei Fahrstühle zur Dachterrasse, von der aus sie
das 24 m hoch gelegene Restaurant erreichen. Wer einen noch attraktiveren
Rundblick über Berlin auf 40 m Höhe genießen will, der gelangt zu Fuß über eine
Rampe zur 200 qm großen Aussichtsplattform im oberen Teil der Kuppel.
Die Kuppel - ein komplexes Gebilde aus Stahl, Glas und Technik
1997 diente ein Montagegerüst zum innenseitigen Einbau der beiden gegenläufigen
Rampen. Die in der Werkstatt vorgefertigten Rampenelemente wurden auf dem Dach
des Reichstagsgebäudes zusammengeschweißt und eingebaut. Danach folgten die
Stahlrippen und die Aussteifung durch 17 Horizontalträger. Nachdem die Aussichtsplattform mit der Rampe und der Hauptkonstruktion verbunden war, konnte die
Konstruktion freigesetzt und das Hilfsgerüst demontiert werden.
High-tech in der Kuppel sorgt für natürliche Belichtung und Belüftung des
Plenarsaals
Im Kuppelinneren befindet sich ein trichterförmiges Lichtumlenkelement (Konus)
mit Spiegeln, das diffuses Tageslicht in den zehn Meter tiefer gelegenen Plenarsaal
führt. Die Lichtumlenkung erfolgt über 30 Spiegelreihen mit jeweils 12 Spiegeln, so
dass insgesamt 360 Einzelspiegel (4,20 x 0,60 m) das Sonnenlicht reflektieren.
Zur Vermeidung direkter Sonneneinstrahlung können die jeweils der Sonne
zugewandten Spiegel bei Bedarf durch ein mitfahrendes Sonnenschutzelement
abgeschattet werden. Das Element besteht aus einem umlaufenden Stahlrahmen
sowie Aluminiumlamellen. Die computergestützte Steuerung für die Ausrichtung des
Sonnenschutzelements ist so konzipiert, dass die jeweiligen Einstrahlwinkel
entsprechend der unterschiedlichen Jahreszeiten berücksichtigt werden. 24
Messstellen überprüfen die Positionierung des Verschattungselements in Abhängigkeit zum Sonnenstand.
Zusätzlich sorgt das Lichtumlenkelement durch Ausnutzung des thermischen
Auftriebs für die Abluftführung aus dem Plenarsaal. Die verbrauchte Luft wird über
52
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
eine Abluftdüse nach oben geleitet und entweicht durch eine 10 m breite zentrale
Öffnung am Kuppelscheitel. Sämtliche funktionalen und technischen Einrichtungen
sind in den Konus integriert, so dass die gesamte Haustechnik, z. B. für die
Entlüftung und Entrauchung des Plenarsaals, für den Besucher nicht wahrnehmbar
ist.
Die Rampe
Das Verbindungselement zwischen Dachterrasse und Aussichtsplattform stellen zwei
spiralförmige gegenläufige Rampen dar, die auf je 230 m Länge die Kuppel
erschließen. Sie beginnen um 180 Grad voneinander versetzt und werden bei einer
konstanten Steigung von 8 Grad an der Innenseite der Kuppel hochgezogen. Die
Kombination von sich ständig ändernder Krümmung, unregelmäßigem
Rampenquerschnitt und Verformungen durch Eigengewicht stellt an die Konstruktion
höchste Ansprüche.
Die Stahlkonstruktion
Die Kuppel besteht aus 24 Hauptstahlrippen, die auf einem unteren Ringträger
aufgelagert sind und oben durch einen weiteren gefasst werden. Die Stahlrippen
haben einen Dreiecksquerschnitt, der im unteren Bereich konstant ist und sich bis
zum oberen Ringträger verjüngt. Die Horizontalaussteifung wird durch insgesamt 17
Stahlringe gebildet, die im gleichmäßigen Abstand an der Außenseite der
Hauptstahlrippe aufgesetzt werden. Die Horizontalprofile sind wesentlicher
Bestandteil der Fassade und dienen der Auflagerung der Verglasung sowie der
Aussichtsplattform.
Die Hauptfassade
Die Verglasung der Kuppel (ca. 3000 qm) besteht aus 17 übereinander liegenden
Reihen von Glasscheiben (24 mm) mit jeweils 24 Scheiben (5,10 x 1,70 m). Die
einzelnen Reihen sind schuppenartig übereinander angeordnet. Die sich daraus
ergebenen Zwischenräume sind ebenfalls verglast. Zur besseren Durchlüftung der
Kuppel bleiben die unteren vier Reihen unverglast.
Eckdaten der Bauteile
53
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Kuppelhöhe: 23,5 m ab Dachterrasse, Gesamthöhe ab Straßenniveau: 47 m
(bei Architekt Wallot: 75 m einschließlich Laterne)
Kuppeldurchmesser: 40 m
Höhe Dachterrasse (Kuppelfußpunkt): 24 m über Gelände
Höhe Aussichtsplattform: 40,7 m (bei Architekt Wallot: 59 m)
Höhe Scheitel: 47 m
Stahlkonstruktion: 800 t
Verglasung: 3000 qm
An der Realisierung Beteiligte
Architekt: Sir Norman Foster and Partners, Berlin/London
Statik: Leonhardt, Andrä und Partner, Berlin/Stuttgart
Fachplanung: Planungsgemeinschaft Technik GbR, Berlin
Ausführung: ARGE Reichstagskuppel - Waagner-Biró AG - Waagner-Biró GmbH,
Wien/München, Götz GmbH, Dillingen
Die Kuppel in neuem Licht (aus: Blickpunkt Bundestag - Forum der Demokratie
2/98; Juli 1998)
54
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Energieversorgungsanlage
Wissenschaftliche Begleitung der Betriebsphase der mit Rapsölmethylester (RME)
befeuerten Energieversorgungsanlage des Deutschen Bundestages in Berlin
Im neuen Deutschen Bundestag im ehemaligen Reichstagsgebäude in Berlin (Abb. 1)
- im April offiziell dem Parlament übergeben - wurde ein sehr innovatives und
umweltfreundliches Energieversorgungskonzept realisiert. Wärme, Kälte und Strom
wird hier auf der Basis von mit Biodiesel (RME) befeuerten Motor-HeizkraftwerkAnlagen (MHKW) bereitgestellt. Außerdem sind - für einen möglichst
energieeffizienten Betrieb - im oberflächennahen Erdreich angelegte Wärme- und
Kältespeicher in das System integriert.
Das Reichstagsgebäude in Berlin
Bundesbaugesellschaft Berlin
mbH)
Das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) hat in
Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Luftreinhaltung der Universität Stuttgart
(ALS) - vertreten durch das Institut für Verfahrenstechnik und Dampfkesselwesen
(IVD) und das Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde (IKP) - und dem
Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren in Stuttgart sowie mit
finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten (BML) die Aufgabe übernommen, die ersten Betriebsjahre dieses
Energieversorgungssystems wissenschaftlich zu begleiten und bezüglich technischer,
ökologischer und ökonomischer Kriterien auszuwerten.
55
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Energieversorgungsanlage des Deutschen Bundestages in Berlin
Das Berliner Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestages und der
Bundesregierung sowie weitere, derzeit im Bau befindliche Parlamentsbauten im
Spreebogen werden zukünftig im Energieverbund - dem sogenannten TechnikVerbund Parlamentsbauten - mit Strom, Wärme und Kälte versorgt.
Herzstück des Technik-Verbundes Parlamentsbauten sind zwei Motor-HeizkraftwerkAnlagen (MHKW), die mit Rapsölmethylester (RME, Biodiesel) befeuert und in
Verbindung mit einem Wärme- und einem Kälte-Erdspeicher betrieben werden
sollen. Insgesamt werden Deckungsgrade der MHKW-Anlage am
Gesamtenergiebedarf von mehr als 80 % angestrebt. Die MHKW-Anlage wird im
Endausbau eine elektrische Gesamtleistung von 3 200 kW aufweisen und an zwei
Standorten (Reichstagsgebäude und Paul-Löbe-Haus) mit jeweils vier Modulen
gleicher Leistung installiert werden. Die für den Reichstag vorgesehenen MHKWModule wurden bereits im Herbst 1998 installiert. Sie bestehen im wesentlichen aus
stationären Dieselmotoren, die für den Betrieb mit RME zugelassen wurden. Die
Abgasreinigung wird durch Rußfilter und SCR-Katalysatoren mit nachgeschalteten
Oxidations-Kata-lysatoren realisiert.
Die MHKW-Module werden stromgeführt betrieben. Der nicht durch die MHKWAnlage deckbare Strombedarf wird durch das Netz der BEWAG gedeckt, das zugleich als Ausfallreserve dient.
Da die Wärmeerzeugung prozeßbedingt fest an die Stromproduktion gekoppelt ist,
kann - bezüglich der Deckung des aktuellen Wärmebedarfs - ein Wärmeüberschuß
bzw. ein -defizit vorliegen. Zur Zwischenspeicherung überschüssig anfallender
Wärme ist deshalb ein Aquifer-(d. h. Grundwasser-)Speicher in ca. 300 m Tiefe vorhanden, in den die Wärme bei einer Temperatur von maximal 70 °C zwischengespeichert und - im Bedarfsfalle - mit Temperaturen zwischen 65 und 20 °C zurück
gewonnen werden kann. Läßt die Temperatur der eingespeicherten Wärme eine
direkte Nutzung für Heizungszwecke nicht zu, wird sie mit Hilfe von drei auf
Wärmepumpenbetrieb umschaltbaren Absorptionskältemaschinen (d. h. unter Einsatz
von Wärme) auf ein höheres, für Heizungszwecke nutzbares Temperaturniveau
gebracht. Zusätzlich ist die Anlage mit Spitzenheizkesseln für einen RME-/Heizöloder Erdgasbetrieb ausgestattet, die ein ggf. immer noch gegebenes Wärmedefizit
abdecken können und als Ausfallreserve (back-up-System) dienen.
56
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Grundlastkältebedarf kann zum einen mit Absorptionskältemaschinen gedeckt
werden; im Reichstagsgebäude wurde hierzu bereits eine derartige Anlage mit einer
Kälteleistung von 850 kW installiert. Zum anderen wird zukünftig eine weitere
Kälteerzeugungsanlage zum Einsatz kommen, die auf der Basis direkter
Verdunstungskühlung (Direct Evaporating Cooling, DEC) arbeitet und für deren
Betrieb ebenfalls Wärme benötigt wird. Zur Deckung des Spitzenkältebedarfs werden
zusätzlich Kompressionskältemaschinen installiert. Um den Betrieb dieser
Erzeugungsaggregate zudem vom Kältebedarf zu entkoppeln und damit einen
möglichst energieeffizienten Betrieb zu ermöglichen, wird Kälte bei Temperaturen
zwischen 5 und 10 °C in einer grundwasserführenden bodennahen Erdschicht in etwa
30 bis 60 Metern Tiefe während des Winters gespeichert, die dann im Sommer für die
Gebäudekühlung in der Grundlast verwendet werden kann.
Hintergrund und Ziele der wissenschaftlichen Begleitung
Die Energieversorgungsanlage im neuen Deutschen Bundestag weist damit eine
Vielzahl innovativer Aspekte auf; dies gilt insbesondere hinsichtlich der Tatsache,
daß erstmals RME in einer Anlage dieser Leistungsklasse und Komplexität eingesetzt
werden soll. Deshalb ist es sinnvoll, den Anlagenbetrieb hinsichtlich
betriebstechnischer, ökologischer und ökonomischer Kriterien wissenschaftlich zu
begleiten und die Erfahrungen, die insbesondere mit dem Betrieb der RME-befeuerten Anlagen gemacht werden, zu dokumentieren und auszuwerten. Deshalb
werden vom IER und der ALS innerhalb eines 2-jährigen Monitoringzeitraums im
wesentlichen folgende Aspekte untersucht (Abb. 2):
Die betriebstechnischen Auswirkungen des RME-Einsatzes werden durch die Erfassung, Analyse, Klassifizierung und Bewertung des Betriebsverhaltens und der
technischen Zuverlässigkeit der Anlage und ihrer Komponenten analysiert; u. a.
werden Verschleißmessungen an einem Motor der MHKW-Anlage im
Reichstagsgebäude durchgeführt.
Die Umwelteffekte von RME- im Vergleich zum Dieseleinsatz werden anhand einer
Vielzahl unterschiedlicher Abgaskomponenten, die vor Ort im Rahmen mehrere
Meßkampagnen gemessen werden, teilweise unter Berücksichtigung der vor- und ggf.
nachgelagerten Ketten erhoben. Zusätz-lich werden die Auswirkungen des RMEEinsatzes auf die Energiebilanz der Anlage und ihrer Komponenten (Energieflüsse,
57
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Nutzungsgrade, Verlustquellen) durch die Erfassung, Bilanzierung und vergleichende
Bewertung der energetischen Daten der Anlage und ihrer Komponenten erfaßt.
Die ökonomischen Vor- und Nachteile des Einsatzes von RME im Vergleich zu
fossilen Brennstoffen in MHKW-Anlagen einerseits und im Vergleich zu einer
alternativen Bereitstellung von Wärme bzw. Kälte und elektrischer Energie
andererseits werden durch die Erfassung, Aufbereitung und Bewertung der Kosten
der Anlage im allgemeinen und des RME-Einsatzes im speziellen analysiert. Damit
ist es möglich, wissenschaftlich fundierte Aussagen zu den Möglichkeiten und
Grenzen des Einsatzes von RME für derartige stationäre Anlagen zur Wärme- und
Kälte- sowie Strombereitstellung zu erarbeiten. Auch können die gewonnenen
Erkenntnisse den Betriebsergebnissen alternativer Brennstoffe und konkurrierender
Anlagen gegenübergestellt und Schlußfolgerungen und Empfehlungen für die
Konzeption sowie für Bau und Betrieb ähnlicher stationärer Anlagen abgeleitet
werden.
Interessierte Anfragen und Anregungen richten Sie bitte an:
Dipl.-Ing. Andreas Heinz, Tel.: 0711/78061-76, e-mail: [email protected]
Das Reichstagsgebäude: Symbol deutscher Geschichte
von Wolfgang Kaiser
Wie kaum ein anderes deutsches Bauwerk spiegelt das Reichstagsgebäude die
wechselvolle Geschichte Deutschlands seit der Gründung des Kaiserreichs wider.
Auch wenn das Haus nur für die kurze Zeit der Weimarer Republik eine
Volksvertretung beherbergte, so ist doch das Bauwerk für viele das Symbol deutscher
Parlamentsgeschichte schlechthin.
58
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
9. Juni 1884: Grundsteinlegung für das
Reichstagsgebäude.
Seit der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1871 gab es ein Parlament für alle
Deutschen, den Reichstag, dessen Abgeordnete aus allgemeinen (wahlberechtigt
waren bis 1919 allerdings nur Männer), gleichen, geheimen und direkten Wahlen
nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgingen. Der Name Reichstag leitete sich ab von
der gleichnamigen Versammlung der Reichsstände des alten Reiches, die bis 1806 in
Regensburg getagt hatte.
Das Parlament des Kaiserreichs versammelte sich zuerst in einem schon vorhandenen
Gebäude, dann ab Oktober 1871 in einem als Provisorium errichteten Haus in der
Leipziger Straße. Niemand sah allerdings voraus, dass dieser Behelfsbau 23 Jahre
lang Parlamentssitz bleiben sollte. Noch im Frühjahr 1871 rief das Parlament eine
Reichstagsbaukommission ins Leben, die einen Bauplatz für einen repräsentativen
Neubau suchen sollte. Der in Aussicht genommene Ort an der Ostseite des
Königsplatzes (des heutigen Platzes der Republik) war jedoch noch mit dem Palais
des Grafen Raczynski bebaut, das aufgrund einer komplizierten rechtlichen Situation
zunächst nicht erworben werden konnte. Nicht zuletzt deshalb scheiterte ein erster
Architektenwettbewerb im Jahre 1872. Zehn Jahre später, als dieser Bauplatz dann
doch zur Verfügung stand, endete ein erneuter Wettbewerb mit der Vergabe des
ersten Preises an den Architekten Paul Wallot (1841-1912) aus Oppenheim.
59
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Das Reichstagsgebäude nach dem
Umbau.
Bei der feierlichen Grundsteinlegung am 9. Juni 1884, einem regnerischen Montag,
spielten die Vertreter des Parlaments eine untergeordnete Rolle. Der
Reichstagspräsident von Levetzow – in der Uniform eines Landwehrmajors der
Reserve – und die Vizepräsidenten waren zwar anwesend, durften aber die üblichen
drei Hammerschläge erst nach dem Kaiser und den Mitgliedern der kaiserlichen
Familie, nach Bismarck, nach den Generalfeldmarschällen und anderen wichtigeren
Personen ausführen. In die Vorbereitung des festlichen Aktes waren die Vertreter des
Parlaments ohnehin nicht einbezogen worden.
Als nach zehnjähriger Bauzeit am 5. Dezember 1894 der Schlussstein für das Haus
gelegt wurde, schwang zwar ein neuer Kaiser, Wilhelm II., den Hammer, am
höfischen und vor allem militärischen Charakter des Zeremoniells hatte sich aber
nichts geändert. Am Tag danach trat das Parlament zum ersten Mal in seinem neuen
Hause zusammen.
Den Mittelpunkt des neuen Baus bildete der reich geschmückte Plenarsaal für 397
Abgeordnete, dessen Wände aus akustischen Gründen ganz mit Holz getäfelt waren.
Die Intarsienarbeiten über der "Nein-Tür" und der "Ja-Tür" des Sitzungssaals zeigten
Rübezahl und den seine Widder zählenden einäugigen Riesen Polyphem aus der
griechischen Sage. Nach dieser Darstellung erhielt das parlamentarische Verfahren,
bei unklaren Abstimmungsergebnissen die Abgeordneten beim Durchschreiten der
Türen zu zählen , seinen Namen "Hammelsprung".
60
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Nach einer Bauzeit von zehn Jahren findet
am 5. Dezember 1894 die Schlusssteinlegung durch Kaiser Wilhelm II. statt. Die
Siegessäule stand damals noch vor dem
Reichstag.
Über dem Plenarsaal erhob sich die aus Metall und Glas gearbeitete große Kuppel,
deren höchster Punkt 75 Meter hoch aufragte. Durch die Glasdecke und die
Seitenfenster dieser Kuppel erhielt der Plenarsaal natürliches Licht.
Auch wenn das Parlament des Kaiserreiches nicht in der Lage war, die Regierung
wirksam zu kontrollieren, so bildeten sich doch im Laufe der Jahre Strukturen einer
Parlamentskultur heraus, auf denen die Weimarer Republik aufbauen konnte. Das
Reichstagsgebäude war Schauplatz des Ringens um die Parlamentarisierung des
Reiches und erlebte die wachsende Bedeutung der Fraktionen. In den Jahren des
Ersten Weltkrieges waren die "Friedensresolution" des Reichstags vom Juli 1917 und
die Verfassungsänderung vom Oktober 1918, wonach der Reichskanzler das
Vertrauen des Parlaments benötigte, markante Stationen dieser schrittweisen
Parlamentarisierung. Während des Krieges erst gab Kaiser Wilhelm II. seinen
Widerstand gegen die von Anfang an geplante Inschrift "Dem Deutschen Volke" auf,
sodass sie Ende 1916 angebracht werden konnte.
Am Ausgang des verlorenen Weltkrieges stand das Reichstagsgebäude dann erneut
im Mittelpunkt des politischen Geschehens: Vor einer unübersehbaren Menge
streikender Arbeiter rief am 9. November 1918 der sozialdemokratische
Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann, auf einem Balkon an der Westfront des
Hauses stehend, die Republik aus und besiegelte damit das Ende der Monarchie.
Seine Worte sind nur aus seinen Erinnerungen überliefert: "Das Alte und Morsche,
die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche
Republik!"
61
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Das erste Parlament der Republik, die verfassungsgebende Nationalversammlung,
trat nicht im Reichstagsgebäude, sondern in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik,
zusammen. Nach der Verabschiedung der Verfassung, im Herbst 1919, kehrte das
Parlament, in dem seit Januar auch weibliche Abgeordnete saßen, wieder nach Berlin
ins Reichstagsgebäude zurück.
November 1918: Während der ersten Tage
der Revolution tagt der Sicherheitsausschuss
des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates im
Lesesaal des Reichstags.
In der Arbeit des Parlaments der Weimarer Republik spiegelten sich die
Aufbruchstimmung, die neue Rolle der Parteien und Bewegungen, sehr bald aber
auch die außenpolitischen Folgen der Niederlage und die schwierigen politischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Jahre wider.
Durch das neue Verhältniswahlrecht war die Zahl der Volksvertreter nicht mehr auf
397 festgeschrieben, sondern hing direkt von der Wahlbeteiligung ab, sodass sich am
Ende der Weimarer Republik über 600 Abgeordnete im Plenarsaal drängten. Doch
auch schon im Kaiserreich hatte sich das gesamte Gebäude als zu klein erwiesen; vor
allem bot es zu wenig Büros und Arbeitszimmer für den wachsenden Bedarf der
Abgeordneten und Fraktionen. In einer zeitgenössischen Publikation über den
Reichstag findet sich eine beredte Klage eines fiktiven Abgeordneten über die
Zustände im Haus: "Was nützten ihm die herrlichen Malereien an den Wänden, die
feingeschnitzten Holzpaneele, die einzig schöne Aussicht auf den Königsplatz (...),
wenn er keinen leeren Stuhl fand und keinen freien Arbeitstisch zum ruhigen Lesen
und Schreiben?"
1927 und 1929 wurden zwei Wettbewerbe für Erweiterungsbauten auf einem
nördlich gelegenen Grundstück ausgeschrieben. Obwohl sich bedeutende Architekten
62
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
daran beteiligten, kamen keine befriedigenden Ergebnisse zustande. Die sich
verschärfende Finanznot gegen Ende der Weimarer Republik verhinderte schließlich
jegliche Baumaßnahme.
Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933
bedeutete das Ende der parlamentarischen
Demokratie in Deutschland.
Das Ende der Nutzung des Reichstagsgebäudes war gleichzeitig auch das Ende der
parlamentarischen Demokratie. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, vier
Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, wurde der Plenarsaal durch
Brandstiftung zerstört. Die Frage nach der Täterschaft mag zwar bis heute strittig sein
– fest steht jedoch, dass die Nationalsozialisten die einzigen Nutznießer des Brandes
waren. Sie beschuldigten Kommunisten und Sozialdemokraten der Urheberschaft und
nahmen den Brand als Anlass, in derselben Nacht mit massivem Terror gegen die
Opposition vorzugehen. Am Tag nach dem Brand unterschrieb Reichspräsident
Hindenburg die so genannte Reichstagsbrandverordnung "zum Schutz von Volk und
Staat". Paragraph 1 dieser Verordnung setzte die Grundrechte "bis auf weiteres"
außer Kraft, Paragraph 5 führte die Todesstrafe für das politische Delikt "Hochverrat"
ein.
Der Reichstag kam nie wieder im Reichstagsgebäude zusammen, sondern traf sich
von nun an in der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Platzes. Dort nahm der neue
Reichstag gegen die Stimmen der SPD am 23. März 1933 das so genannte
Ermächtigungsgesetz an, offiziell "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und
Reich" genannt. Damit entmachtete das Parlament sich selbst und gab Hitler
diktatorische Vollmachten. Innerhalb weniger Monate wurde auf der Basis dieses
Gesetzes das gesamte politische System der Republik "gleichgeschaltet", im Juli
1933 waren alle Parteien außer der NSDAP verboten.Von nun an saßen in der Kroll63
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Oper nur noch nationalsozialistische "Abgeordnete", deren Hauptaufgabe es war, für
große Hitlerreden eine pompöse Kulisse zu bilden, wie etwa am 1. September 1939,
als Hitler den Beginn des Krieges verkündete.
Die Kuppel des Reichstagsgebäudes wurde zwar nach dem Brand wieder instand
gesetzt, sodass das Haus äußerlich unversehrt wirkte, aber der Plenarsaal wurde, da
nicht mehr benötigt, nicht wiederhergestellt. Das Gebäude selbst diente der
Verwaltung und wurde unter anderem auch für Propaganda-Ausstellungen benutzt.
Das Reichstagsgebäude im Mai 1945: nur
noch eine Ruine.
1937 wurde Albert Speer als "Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin"
mit dem Umbau Berlins nach den Wünschen und Plänen Adolf Hitlers beauftragt. Im
Rahmen riesiger Baumaßnahmen, mit denen aus Berlin die "Welthauptstadt
Germania" werden sollte, war im Spreebogen eine gigantische Kuppelhalle geplant,
neben der das Reichstagsgebäude verschwindend klein gewirkt hätte. Auch für die
Umgestaltung des Hauses wurden bereits erste Pläne ausgearbeitet. Die Vorbereitung
des Krieges setzte dann allerdings andere Prioritäten. Im Krieg selbst waren in den
Kellern des Reichstagsgebäudes Teile der gynäkologischen Abteilung der Charité
untergebracht, sodass einige Berliner das Licht der Welt im Untergeschoss des
Reichstagsgebäudes erblickten.
In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges lag das Reichstagsgebäude im Zentrum
der Kampfhandlungen. Das Haus besaß für die Sowjets eine besondere Bedeutung, da
sie es – zu Unrecht – als Symbol der Naziherrschaft betrachteten. Am 2. Mai 1945
eroberten sowjetische Truppen nach heftigen Kämpfen das Haus, das dabei schwer
beschädigt wurde. Das millionenfach verbreitete Foto der sowjetischen Soldaten, die
auf dem Dach die rote Fahne hissten, symbolisierte für die Sowjets die Vollendung
ihres Sieges über Nazi-Deutschland.
64
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
In den Jahren nach dem Krieg stand das Haus als Ruine in einer von Trümmern und
der zunehmenden Spaltung Berlins geprägten Stadtlandschaft. Die Grünflächen um
das Haus wurden bepflanzt und dienten der Versorgung der hungernden
Bevölkerung. Die Ruine bildete die Kulisse für eine Reihe von großen politischen
Demonstrationen, deren wohl bedeutendste sich am 9. September 1948 gegen die
Blockade Berlins richtete. Ernst Reuters Rede "Völker der Welt! Schaut auf diese
Stadt!" wurde in ihrer Emotionalität zum Sinnbild des Behauptungswillens der von
den Versorgungswegen abgeschnittenen Bevölkerung.
Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die Ruine enttrümmert, die Reste der Kuppel
wurden aus Sicherheitsgründen entfernt. Die Diskussion um das weitere Schicksal
des Baus – Abriss oder Wiederaufbau – war eng verknüpft mit der Frage nach der
zukünftigen Funktion des Hauses in einem geteilten Land.
1955 beschloss der Bundestag, das Gebäude wiederherstellen zu lassen, auch wenn
die Art der Nutzung des Gebäudes noch nicht feststand. Nach einem zulassungsbeschränkten Architektenwettbewerb arbeitete Paul Baumgarten (1900-1984) die
Pläne für den Wiederaufbau des Hauses aus. Die Fassade wurde, dem Geschmack
dieser Jahre entsprechend, von allem "überflüssigen" Schmuck und Stuck befreit. Auf
die Kuppel verzichtete man und kürzte die vier Ecktürme um ein Geschoss. Im
Inneren ließ Baumgarten die noch vorhandene Originalsubstanz zum großen Teil mit
Platten verkleiden, schuf mehr Platz durch neue Zwischengeschosse und vergrößerte
den Plenarsaal, dessen Rundumverglasung Transparenz vermitteln sollte.
Während der Bauarbeiten schnitt die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 das
Reichstagsgebäude endgültig von seiner alten Umgebung ab und ließ seine Randlage
deutlich werden. Wie überall, so stand auch zwischen dem Haus und dem
Brandenburger Tor die Mauer nicht direkt auf der Grenzlinie, sondern knapp
dahinter. Die exakte Grenze, die den alten Verwaltungsgrenzen entsprach, verlief
mitten durch die Säulen, die am Ostflügel dem Gebäude vorgebaut waren.
65
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Durch den Bau der Mauer am 13. August
1961 wurde Berlin geteilt. Die Grenze
verlief über Jahrzehnte unmittelbar entlang
des Reichstagsgebäudes.
Als das Haus zu Beginn der siebziger Jahre fertig gestellt war, hatte die
Entspannungspolitik zwar viele Erleichterungen für die geteilte Stadt gebracht,
zugleich aber die Präsenz des Bundes genauer geregelt: Plenarsitzungen des
Bundestages in Berlin waren seit dem Viermächteabkommen nicht mehr möglich. Es
fanden aber regelmäßig Sitzungen einzelner Fraktionen und Ausschüsse im Hause
statt. Zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung zog in den Westflügel die
später erweiterte Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" ein, die bis zu
ihrer Schließung im Herbst 1994 von mehr als zwölf Millionen Besuchern aus dem
In- und Ausland aufgesucht wurde.
Als Ende 1989 die Mauer geöffnet und Anfang 1990 auch hinter dem
Reichstagsgebäude abgerissen wurde, rückte das frühere Parlamentsgebäude nicht
nur geografisch wieder ins Zentrum, sondern gewann auch erneut eine gewichtige
politische Funktion. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 fand auf dem Platz der
Republik der Festakt zur deutschen Einheit statt; am 3. Oktober tagte ein erstes
gesamtdeutsches Parlament aus Bundestag und Volkskammer im Plenarsaal.
Am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Bald
wurde klar, dass das Reichstagsgebäude Mittelpunkt eines neu entstehenden
Parlaments- und Regierungsviertels werden sollte.
66
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der Platz der Republik in der Nacht vom 2.
zum 3. Oktober 1990: Tausende erleben den
Festakt zur deutschen Einheit.
Nach einem Realisierungswettbewerb entschied sich der Ältestenrat des Bundestags
für den überarbeiteten Entwurf des britischen Architekten Lord Norman Foster.
Bevor der Rück- und Umbau des Gebäudes begann, gab der Bundestag grünes Licht
für die seit vielen Jahren von Christo und Jeanne-Claude geplante Verhüllung des
Reichstags. Die friedliche, entspannte Atmosphäre dieser Aktion im Sommer 1995
zog Millionen von Besuchern in ihren Bann und brachte dem Haus internationale
Beachtung. Zugleich wurde deutlich, dass ein neues Kapitel der Geschichte des
Reichstags beginnen konnte.
Seit April 1999 hat nun der Deutsche Bundestag das Gebäude bezogen, dessen innere
und äußere Gestalt sich grundlegend geändert hat. Nach wie vor bildet der Plenarsaal
das Zentrum des Hauses: fast doppelt so groß wie der wallotsche Sitzungssaal, von
Licht durchflutet und von der großartigen Kuppel bekrönt. So umstritten sie einmal
war, so sehr ist sie inzwischen zum Wahrzeichen des Hauses und zum
Anziehungspunkt für Besucher geworden.
Fosters Umbau hat nicht nur ein modernes Parlamentsgebäude geschaffen, sondern
zugleich durch die Integration der noch vorhandenen Bausubstanz dem
Reichstagsgebäude einen Teil seiner historischen Identität zurückgegeben.
67
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Parlamentarischen Geschäftsführer zum Reichstagsgebäude
"Unschlagbare Atmosphäre"
Gut ein Jahr ist das Reichstagsgebäude jetzt Tagungsort des Bundestages. "Wir
wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst
unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", gab
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Eröffnung des Reichstagsgebäudes
am 19. April 1999 als Richtung vor. Haben sich die Erwartungen erfüllt? Wie arbeitet
es sich im neuen Hohen Haus an der Spree? Und: Beeinflusst der historische Ort die
Politik? Bevor der Bundestag in die Sommerpause ging, sprach Blickpunkt
Bundestag darüber mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der fünf
Bundestagsfraktionen, die als Manager ihrer Fraktionen entscheidend die
Parlamentsarbeit bestimmen und erleben.
Luftaufnahme der Baustelle Parlamentsviertel:
Wenn alles fertig ist, haben die Abgeordneten
ihre Büros direkt neben dem Reichstagsgebäude.
Ob ursprünglich Umzugsgegner oder Berlin-Befürworter – nach einem Jahr äußern
sich alle Geschäftsführer begeistert, zumindest positiv über das Reichstagsgebäude.
Natürlich gibt es nach wie vor Kritik an Kinderkrankheiten und Unzulänglichkeiten
im vom britischen Stararchitekten Lord Norman Foster umgebauten Reichstag – aber
auf das Gebäude selbst mit seiner längst zum Symbol für Offenheit und Transparenz
gewordenen Kuppel lassen die Parlamentarischen Geschäftsführer kaum etwas
kommen. Nahezu gleichlautend schwärmen sie vom neuen Standort, der ein Ort
deutscher Geschichte ist, aus der es "keinen Austritt gibt". Und zeigen sich überzeugt,
68
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
dass sie als Sprachrohr und Interessenvertreter ihrer Fraktionen auch für die
überwältigende Mehrheit der 669 Bundestagsabgeordneten sprechen.
"Es macht Spaß, im Reichstagsgebäude zu arbeiten", freut sich Jörg van Essen,
Parlamentarischer Geschäftsführer der F.D.P.-Fraktion. Und ist geradezu stolz, wenn
er von seinem Sitz im Halbrund des Plenarsaales den Kopf nach oben wendet und die
zahlreichen Touristen in der Spirale der Glaskuppel sieht. "Es tut dem Parlament gut,
wenn ihm die Bürger im wahrsten Sinne aufs Dach steigen und den Abgeordneten
von oben auf die Finger gucken", meint er und spricht von einer exzellenten
architektonischen Gestaltung, über die er auch von Kollegen "viel Begeisterung"
höre. Nur eines stört van Essen: Der Blick aus dem Reichstagsgebäude auf den
"Klotz Bundeskanzleramt", das sich "gigantisch und protzig in bewussten Gegensatz
zum Parlament" setze.
Von einer "unschlagbaren Atmosphäre" im Plenarsaal spricht auch Wilhelm Schmidt,
Parlamentarischer Geschäftsführer der größten Regierungsfraktion SPD, auch wenn
er durchaus wehmutsvoll an den "schönen Blick aus dem Bonner Plenarsaal in den
Park hinein" zurückdenkt und auch sonst an dem Gesamtkomplex noch einiges zu
kritisieren hat. Ein "gelungenes Werk, in dem ich mich äußerst wohl fühle und
meiner Arbeit hervorragend nachgehen kann", lobt der Parlamentarische
Geschäftsführer des CSU-Landesgruppe Peter Ramsauer. Und sein CDU-Kollege
Hans-Peter Repnik schwärmt von den "dichten Kontakten", die sich täglich zwischen
Kuppel-Besuchern und Abgeordneten ergeben. Dass das Reichstagsgebäude mitten
im Zentrum Berlins stehe und zu einer "internationalen Attraktion" geworden sei,
unterscheide sich wohltuend von der "ausgelagerten Campus-Atmosphäre in Bonn".
Ähnlich urteilt die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen,
Katrin Göring-Eckardt. Sie hebt die zentrale Lage des Reichstagsgebäudes hervor,
die ihn zu einer "Stätte der Kommunikation" mache. Etwas Wasser in den Wein
schüttet Roland Claus, Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS. "Hervorragend
als Plenum geeignet, eingeschränkt tauglich als Arbeitsstätte der Fraktionen", lautet
sein Urteil über das Haus.
So sehr die Geschäftsführer vom Reichstagsgebäude allgemein angetan sind, so
kritisch werden sie, wenn es um konkrete Detailfragen geht. Zwar sind die meisten
der ursprünglich aufgelisteten 6.000 Anfangsmängel beseitigt, doch Ärgerlichkeiten
gibt es nach wie vor. Vieles im Hohen Haus sei nicht "Abgeordnetenfreundlich",
lautet die Klage. SPD-Geschäftsführer Wilhelm Schmidt spricht für seine Kollegen
69
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
mit, wenn er sagt: "Der Architekt hat sich zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie
Abgeordnete in der Praxis arbeiten. Es gibt kaum Arbeitsgelegenheiten im ganzen
Hause; es kann sich niemand mal kurz zurückziehen und telefonieren, faxen oder
schreiben. Wenn ein Kollege irgendetwas zwischendurch erledigen muss – was ja
sehr häufig vorkommt – muss er in sein Büro hinüberwechseln, was bei den langen
Wegen in Berlin unsinnig arbeitsaufwendig ist."
Fehlende Telefone, von denen man ungestört reden kann, flimmernde
Wandverkleidungen, die die Augen tränen lassen, nicht funktionierende Jalousien in
den Fraktionsbüros, Fahrstühle, die immer mal wieder stecken bleiben, eine
Klimaanlage, die nicht richtig läuft und eine Mikrofonanlage, mit der viele Redner
nicht zurecht kommen und die bei einem "Hammelsprung" auf der Rückseite des
Plenarsaales nicht zu hören ist – das sind weitere Klagepunkte der Parlamentarischen
Geschäftsführer. Keine leichtfertigen Meckereien, wie sie betonen, sondern Mängel,
die bei einem Bau dieser Wichtigkeit und dieser Umbaukosten (rund 600 Millionen
Mark) nicht hätten passieren dürfen. Wilhelm Schmidt: "Sicherlich gibt es überall
Anlaufschwierigkeiten, aber bei einem Prestige-Komplex wie diesem Haus mit
seinem hohen und teuren technischen Standard sind sie ein bisschen zu viel." Dem
stimmt Jörg van Essen zu. Er findet es noch immer "unmöglich", dass seine F.D.P.Fraktion schon nach kurzer Zeit ihren Fraktionssaal in einem der Türme des
Reichstagsgebäudes wieder aufgeben musste, weil er wegen schlechter Akustik für
die praktische Arbeit schlicht nicht zu gebrauchen war. Genauso erging es der PDS.
Ihr Geschäftsführer Claus: "Dass Fraktionsräume absolut unpraktikabel sind, hätte
nicht passieren dürfen."
Viele Mängel, das räumen die Parlamentarischen Geschäftsführer ein, werden ihre
Ärgerlichkeiten verlieren, wenn im nächsten Jahr die weiteren Parlamentsbauten in
unmittelbarer Nähe bezogen sein werden. Vor allem die räumlichen Engpässe, die es
jetzt noch gibt, sollen dann der Vergangenheit angehören. Sind erst einmal die
Abgeordneten in Steinwurf-Nähe zum Plenarbereich, hoffen die Geschäftsführer auch
auf eine noch dichtere Kommunikation untereinander. Hans-Peter Repnik: "Jetzt ist
das Gebäude ja noch ein Solitär. Aber wenn der Gesamtkomplex in Betrieb ist, wird
es hier sicherlich viel Leben geben."
Auch bei Abgeordneten geht die Liebe (zum Reichstagsgebäude) durch den Magen.
Gab es am Anfang heftige Klagen über die kulinarische Qualität im Hohen Haus, die
sich kurzzeitig sogar zu einem Buletten-Krieg ausweiteten, ist inzwischen
70
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Entspannung angesagt. "Das Essen im Restaurant und in der Cafeteria ist
zufriedenstellend", lautet das Urteil der Parlamentarischen Geschäftsführer, die
allerdings gestehen, aus Zeitmangel selbst nur selten den Weg an die
parlamentarischen Futterstellen zu finden. Einen bleibenden Mangel hat Roland
Claus (PDS) erspürt: Nirgends gebe es die (Ost-)Zigaretten "F 6".
Und wie steht es mit der Kunst, die im ersten Jahr so viel Staub aufgewirbelt hat?
Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, nur der Erdtrog von Hans Haacke sorgt
noch für Aufregung. Viele Abgeordnete weigern sich, Erde aus ihren Wahlkreisen
mitzubringen, um im Trog Vielfalt sprießen zu lassen. Von ihrer Arbeit aber lassen
sich die Parlamentarier nicht mehr ablenken. "Die Erregung war künstlich und
vordergründig", sagt Wilhelm Schmidt. Sein F.D.P.-Kollege van Essen verteidigt das
Kunstkonzept im Reichstagsgebäude: "Ich finde die Entscheidung der
Kunstkommission, alle bedeutenden lebenden deutschen Künstler an der
Ausgestaltung teil haben zu lassen, hervorragend. Wo andere Parlamente alte Kunst
zeigen, erweisen wir uns als außerordentlich lebendige Volksvertretung."
Bleibt die Frage nach der Geschichte. Drückt die historische Last, die noch immer im
Gemäuer des Reichstagsgebäudes spürbar und etwa über die kyrillischen Graffiti an
einigen Wänden sichtbar ist? Den meisten Geschäftsführern ist stets präsent, dass
"das Reichstagsgebäude ein historisches Gebäude ist, das ein anderes Erleben zur
Folge hat" (van Essen). Aber nicht als störend, sondern eher verpflichtend wird dies
gesehen. Katrin Göring-Eckardt: "Die eigene Geschichte wird bewusster". In der
alltäglichen Arbeit überwiegen indes die jahrzehntelangen Erfahrungen rheinischer
Gelassenheit. Ganz im Sinne der Eröffnungsrede von Thierse: Keine neue Ära, keine
andere Republik.
Sönke Petersen
71
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben
von Kathrin Gerlof
Besucher des Reichtagsgebäudes beim Abstieg
aus der Kuppel.
Tag für Tags steigen rund 8.000 Menschen dem Reichstag aufs Dach, um sich von
oben die Welt zu beschauen – ein wahres Volksvergnügen ist das, und genau so war
es gewollt.
"Sie sollten wirklich im Sommer nach Heidelberg kommen, junge Frau, was meinen
Sie, wie schön es dann dort ist. Also ich gehe bei jedem Berlin-Besuch auch in den
Reichstag, das gehört einfach dazu. Und die Kuppel selbstverständlich auch. Aber
man müsste ein Förderband bauen für unsereinen. Ich bin 76. Das schaff ich nicht
mehr, da hoch. Mich fotografieren? Da nehmen Sie mal lieber meinen Mann. KarlHeinz! Komm doch mal her, die junge Frau hier will ein Foto, sie schreibt einen Text
über die Kuppel.
72
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
1951: Tümmerbeseitigung vor dem
Reichstag.
Oh ich bin gern in Berlin. Wir besuchen hier politische Seminare über die Geschichte
Deutschlands. Mein Mann – da kommt er ja – ist ein ganz treuer Staatsbeamter
gewesen. Und sein Freund da auch. Und jetzt sind wir im Bund der
Ruhestandsbeamten. Karl-Heinz, gib mir die Jacke, ohne Jacke siehst du besser aus
für das Foto.
Ja, diese Kuppel gefällt mir wirklich gut, junge Frau. Das können Sie schreiben. Nur
eben ein Förderband fehlt. So, da stehen die beiden nun. Ach, ein Polaroid
bekommen wir auch? Sehen Sie, das macht doch was her, Karl-Heinz und sein
Freund Manfred – einer von der Justiz und einer von der Polizei. So, junge Frau, jetzt
gehen wir noch in den Dom. Was wir hier gern für Musik hören würden? Ach wissen
Sie, Operette vielleicht. Die Fledermaus? Nein, die nun doch nicht. Die Inschrift am
Portal? Ja natürlich kennt man die. Ist ja schon vom weiten zu sehen. Und vergessen
Sie nicht: Heidelberg im Sommer lohnt sich." (Manfred Schroth und Karl-Heinz
Kühne)
Im Jahre 1894 – 23 Jahre waren seit dem Beschluss, in Berlin ein Haus für das
Parlament zu bauen, vergangen – fand die Schlusssteinlegung statt. Das Architrav
über dem Westportal allerdings hatte noch keine Inschrift. Und das, obwohl sich
Kaiser, Parlament und Reichstagsarchitekt Paul Wallot einig waren, dass da "etwas"
hin musste. Wilhelm II. hätte gern "Der Deutschen Einigkeit" dort stehen gehabt und
wäre damit ein halbes Jahrhundert später und dann für viele Jahrzehnte auf der Höhe
der Zeit gewesen. Die Reichstagsausschmückungskommission hingegen favorisierte
"Dem Deutschen Reiche" und der Architekt selbst bestand auf "Dem Deutschen
Volke". Aber das war des Kaisers Sache nicht. Bis zum Jahre 1915, da ihm sein
Unterstaatssekretär Wahnschaffe zur Kenntnis geben ließ, er, der Kaiser, verlöre mit
73
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes und es schiene
begrüßenswert, etwas gegen diesen Treueverlust zu unternehmen. Wahnschaffes
Rezept: Die Inschrift am Reichstag anbringen. Der Kaiser ließ ausrichten, einem
Beschluss des Parlamentes in diese Richtung würde er sich nicht mehr widersetzen
unter einer Bedingung: Die sechzig Zentimeter großen Lettern sollten aus zwei in den
Freiheitskriegen von 1813 erbeuteten Kanonen gegossen werden. Und so hatte seine
Exzellenz vorerst denn doch das letzte Wort.
Manfred Schroth und Karl-Heinz Kühne.
Er konnte damals nicht wissen und hätte es sicher nicht gut geheißen, dass eines
Tages der Eingang über das Westportal ins Hohe Haus jener sein würde, durch den
Tag für Tag das Volk kommt, um sich hoch oben in der neuen Kuppel des Lord
Norman Foster zu verlustieren. Er konnte nicht ahnen und hätte es nicht begrüßt, dass
sich in nur einem Jahr drei Millionen Menschen anschauen, wo ihr Parlament
arbeitet. Dass sie ihm mal kurz aufs Dach steigen, um von oben in alle vier
Himmelsrichtungen zu blicken und auf ganz unspektakuläre, aber sehr definitorische
Weise in die Realität umzusetzen, was die Inschrift im Architrav über dem
Westportal verheißt: Dem Deutschen Volke.
Sogar in den Wochen der Sommerpause werden es nicht weniger Menschen, die rein
wollen in die Kuppel. Auch nicht an einem etwas grauen Julitag, da der Wind heftig
in die Kleider fährt, wenn man den Fahrstuhl verlässt, der einen rauf bringt ins
gläserne Halbrund. Auch nicht, wenn der Himmel und hin und wieder ein Regenguss
verhindern, dass der Aufstieg über die Doppelhelix, die sich an der Innenwand der
Kuppel entlangschlängelt, zum perfekten Vergnügen wird. Weit kann man schauen,
auch ohne Blau am Horizont, aber bei Sonne stellt sich dann eben noch dieses
74
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
erhabene Gefühl zu allen angenehmen Verwirrungen ein, die einen befallen, wenn
man das architektonische Wunder des britischen Meisters beläuft und erobert. An so
einem grauen Julitag, an dem der Siebenschläfer Schuld haben mag, kommen und
gehen sie, wie an allen anderen Tagen des Jahres. Weihnachten mag Ruhe sein. Das
wird man sehen.
Janessa Schwab (rechts) und Freundin.
"Wir sind das erste Mal in Berlin und kommen aus München. Welche Worte mir als
erstes hier oben einfallen? Offen, extravagant, innovativ, modern. Ich finde es gut,
dass hier alles offen ist. Die Leute wollen sehen, wo die Abgeordneten arbeiten. Das
mag vielleicht ein wenig komisch klingen, aber man hat so mehr Kontakt zu den
Parteien. Wir machen im nächsten Jahr Abitur. Berlin ist ja wirklich ziemlich groß.
Also im Gegensatz zu München – riesig. Einfach riesig. Hier Musik zu hören ist
eigentlich keine schlechte Idee. Klassisch kommt sicher gut. Oder Soul. Ja, vielleicht
sogar Soul." (Janessa Schwab)
Nachdem der Kaiser widerstrebend aber doch sein Plazet gegeben hatte, sollte alles
schnell gehen. Den Auftrag für den Guss der siebzehn Buchstaben erhielt die
Bronzegießerei Loevy. Aus einem Spandauer Depot wurde ihr die Geschützbronze
noch im Herbst des Jahres 1916 geliefert. Gleichzeitig tobte ein erbitterter Krieg
zwischen den Gelehrten, für welche Schrift man sich nun entscheiden möge.
Anhänger der Fraktura kämpften gegen Verfechter der Antiqua. Vergebliche
Liebesmüh, denn längst war der Auftrag für die Schrift an den Architekten Peter
Behrens, einen der Wegbereiter der Moderne in Deutschland, vergeben worden.
Behrens bediente sich der Schrift, die er für den Katalog des Deutschen Hauses auf
der Weltausstellung des Jahres 1904 in St. Louis entwickelt hatte, formte sie aus und
75
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
lieferte die Vorlagen an die Brüder Albert und Siegfried Loevy, die zu arbeiten
begannen. 25 Jahre später wird deren Bronzegießerei "arisiert" sein, 28 Jahre später
der Sohn des Albert Loevy mit dem 49. Osttransport nach Auschwitz gebracht.
Das Schicksal der Brüder Albert und Siegfried ist unbekannt.
Wer heute die Doppelhelix hinauf- und wieder hinabgestiegen ist, verweilt meist
noch einige Zeit in der Kuppel, um Bilder anzuschauen, die im Kreis um den
verspiegelten Kegel in der Mitte des Raumes angeordnet sind. Man wirft einen Blick
ins Dachrestaurant oder schaut an diesem Julitag zu, wie das Restaurant "Käfer"
kleine Imbissstände aufbaut, an denen, so war zu hören, SlowFood, zelebriert werden
soll. Vielleicht gar keine schlechte Idee, denn Zeit ist da oben – unter Glas und über
Stein – ganz anders bemessen. Langsam schieben sich Frauen, Männer, Kinder an der
runden Bildergalerie entlang, die historische Momentaufnahmen auf einen Zeitstrahl
montiert, viele Kostbarkeiten dabei, so die Fotos von Erich Salomon, der einst, bevor
auch er in Auschwitz umkam, die bis dato starre Protokollfotografie revolutionierte,
indem er das Protokoll strich und den Menschen ins Blickfeld rückte.
"Vielleicht kommt er ja", sagt ein Zehnjähriger zu einem kleinen Mädchen, das auf
Knien unter die Doppelhelix kriecht, um einen Blick nach draußen zu werfen. "Wer
denn?", fragt sie. "Na der mit den dunklen Haaren, der Schröder." "Ach, den
Kanzlerchef meinst Du", sagt das Mädchen und lächelt. "Der hat doch jetzt Urlaub."
Joana und Ursula Schümer.
"Ein Foto", sagt die Frau zu ihrer Tochter. "Das ist doch witzig, lass uns das machen.
Wir geraten immer in solche Situationen. Ich komme gerade aus Spanien und
besuche meine Tochter und mein Enkelkind hier. Oh ja, diese Inschrift über dem
Portal, die kennt doch jeder. Wenn ich hier ein Konzert hören könnte? Also, das
76
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
können Sie jetzt auffassen, wie Sie wollen, aber ich würde da gern Wagner hören."
"Zucchero", sagt die Tochter. "Das ist doch ein guter Kontrast – Wagner und
Zucchero." (Joana und Ursula Schümer)
In den Vorweihnachtstagen des Jahres 1916 wurde die Aufschrift ohne große
öffentliche Resonanz am Architrav des Westportals angebracht. Nur die "Spandauer
Zeitung" nahm in einer Bildzeile von dem Ereignis Notiz, aber von nun an blieben
die Worte, wo sie waren, überstanden den Reichstagsbrand und auch den Beschuss
durch sowjetische Artillerie im Jahre 1945. Zwei Buchstaben fielen diesen Stunden,
da erbittert um jeden Quadratzentimeter des Gebäudes gekämpft wurde, zum Opfer.
"DEM .EUTSCHEN .OLKE" war im Mai 1945 an der Reichstagsruine zu lesen und
vorerst stand Dringenderes an, als ein bronzenes D und ein bronzenes V.
Wer die Kuppel betritt, wirft zuallererst einen Blick nach oben, schätzt den Weg ab
und die eigenen Kräfte ein. Die praktischen Frauen tragen festes Schuhwerk und sind
gerüstet für den Aufstieg, den sich kaum jemand entgehen lassen will. Manche
Männer testen das Licht erst mit, dann ohne Sonnenbrille, nehmen ihren Frauen die
Handtaschen ab, die sie sich umhängen, machen noch schnell ein Beweisfoto, für das
sie Frau und Kinder so postieren, dass der Effekt garantiert ist, später die Familie vor
den Spiegeln und in den Spiegeln auf dem Bild zu haben.
David Schwalm.
"Ich finde die Kuppel schön, aber die früher war schöner. Ich mag einfach Glas nicht
so. Deshalb. Aber drinnen ist es wirklich schön. Ich bin in der siebten Klasse.
Besonders viel wusste ich nicht über die Geschichte. Jetzt weiß ich mehr, nachdem
ich mir das angeschaut habe hier. Musik – da würde ich wahrscheinlich Rock hören
wollen. Klingt bestimmt gut hier." (David Schwalm)
77
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
1951 fanden sich vor dem Reichstag Trümmermänner ein. Es gibt ein Foto, wo
zwanzig von ihnen unter dem Schriftzug "DEM .EUTSCHEN .OLKE" stehen und
zuversichtlich in die Kamera schauen. Die Polizei schickte sie an jenem Tag allesamt
wieder nach Hause. Arbeiten am Gemäuer war noch zu gefährlich – Einsturzgefahr
allenorten. Aber schönes Wetter war.
An diesem Julitag im Jahre 2000 geschieht es doch hin und wieder, dass die Sonne
kommt. Dann schauen für einen Moment alle zum Himmel. "Hey, die Sonne", sagen
die Optimisten. "Aber da hinten ist der Himmel schwarz", monieren die Pessimisten.
Dann wenden sie sich wieder den Bildern zu, die im Kreis angeordnet sind. "Erwin",
ruft ein älterer Mann, "jetzt biste am Ende, lauf nicht noch mal um die Fotos, wir
wollten doch auf den Gendarmenmarkt."
"Wir sind aus Gütersloh. Meine Frau war ja schon öfter hier im Reichstag. Ich bin
das erste Mal da. Also schön ist die Kuppel, aber das schreiben Sie mal nicht, das ist
ein zu triviales Wort. Lichtdurchflutet passt besser. Die Kuppel macht den Blick frei.
Sie ist imposant, wirklich. Findest Du nicht auch?"
Uta und Jens Kemper.
"Doch, imposant ist schon das richtige Wort. Ich bin mit meinem Mann durch das
Westportal gekommen. Wissen Sie, wenn man vom Westen her kommt, finde ich,
denkt man immer zuerst an Einheit. Vom Brandenburger Tor aus wird man mehr an
die Zeit der Trennung erinnert. Die Inschrift? Nun, hier werden die Entscheidungen
getroffen, die dem Volk dienen sollen. So ist das sicher gemeint. Wenn ich hier
Musik hören könnte – das sollte dann die ,Ode an die Freude' sein. Ein schöner
Gedanke. Das mit der Musik." (Uta und Jens Kemper)
78
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
So seltsam es scheinen mag, niemand weiß heute mehr genau, wann die Inschrift über
dem Westportal wieder vervollständigt wurde. Es muss zwischen 1957 und 1959
geschehen sein, kurz bevor der Bau der Mauer den Reichstag endgültig und für lange
an den Rand der Stadt verdammte und von der Mitte Berlins separierte. Geschichte
das alles. Heute gehen die Menschen mit großer Selbstverständlichkeit ins Hohe
Haus, unter der Inschrift hindurch, rauf in die Kuppel, die den Blick frei macht und
Lust darauf, zu schauen und zu hören, wie es mal war.
"Juhu", trillert eine Frau und blickt nach oben, wo ihre Freundin steht und winkt.
"Bring was mit, wenn Du wieder runter kommst."
Das Reichstagsgebäude und seine historischen Orte
Jahresringe der Geschichte
Kurz nach der Eroberung auf dem Dach des
Reichstages: Sowjetische Soldaten halten die
Rote Fahne (Luftaufnahme).
Das Reichstagsgebäude, ein Ort, an dem Politik gemacht wird, über die später in
Geschichtsbüchern nachgelesen werden kann, ist auch ein Ort, an dem die
Jahresringe der Geschichte ablesbar sind. Der Verlauf der deutschen Geschichte,
außerhalb der Plenardebatten des Parlaments, schlug sich an diesem Handlungsort in
besonderer Weise nieder, ist ablesbar geblieben und kann nachvollzogen werden.
Erinnert sei zunächst an die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann. Der
Verlauf des 1. Weltkrieges mit seinen Materialschlachten, die hohe Zahl der
Menschenopfer, die katastrophale Ernährungssituation ließen in breiten Kreisen der
deutschen Bevölkerung das Vertrauen in die kaiserliche Regierung schwinden, sie
verlor die Unterstützung und damit die Legitimität ihres Handelns. Die Situation
79
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
spitzte sich im November 1918 zu. Aus einer Revolte der Matrosen in Kiel
entwickelte sich die Revolution, die ihren wesentlichen Schauplatz in Berlin hatte.
9. November 1918: Philipp Scheidemann,
Vorsitzender der sozialdemokratischen
Reichstagsfraktion, ruft die Republik aus.
Der Westbalkon
Die Massen bewegten sich am 9. November 1918 in Berlin zwischen dem Schloss,
dem Sitz des Kaisers, der Wilhelmstraße, dem Sitz der Reichsregierung und dem
Reichstag hin und her. Eine Entscheidung reifte heran und musste getroffen werden.
Die Macht lag auf der Straße. Die Mehrheit wollte unter den Bedingungen des
Kaiserreiches nicht mehr leben, und von den Regierenden ging keine Lösung der
Probleme mehr aus; sie waren handlungsunfähig geworden. In der Luft lagen zwei
Lösungsmöglichkeiten, einerseits eine ungezügelte Übernahme der Macht durch
einen Militärputsch und anderseits ein Aufstand durch die äußerste Linke nach
sowjetrussischem Vorbild. Zwischen den Extremen war zu wählen.
Philipp Scheidemann, einer der beiden Vorsitzenden der SPD und Mitglied des Rates
der Volksbeauftragten, wagte am Nachmittag des 9. November 1918 den entscheidenden Schritt. Er sprach spontan zu der vor dem Reichstagsgebäude versammelten Menge vom Westbalkon (zweites Fenster nördlich des Portikus) und rief die
Republik aus.
Seine Rede ist in verschiedenen Versionen, die inhaltlich gleichlautend sind, überliefert. Er selbst hat sie 1930 in seinen Memoiren nach der Erinnerung veröffentlicht.
Er sagte u.a.: "Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre.
Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der
unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not
und Elend werden noch viele Jahre lang auf uns lasten... Seid einig, treu und
80
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
pflichtbewusst! Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es
lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!"
Es war ein gewagter Schritt, der nicht sofort die Zustimmung der politisch
Handelnden fand, aber der Weg zur parlamentarischen Demokratie war damit gelegt.
Die politische Führung in Deutschland hatte sich auf die Parteien verlagert, die
kaiserliche Macht war gebrochen und der Weg der Extreme verworfen.
Als Handlungsort der Geschichte wurde das Gebäude durch den Brand am 27.
Februar 1933 in aller Welt bekannt. Das Bild des brennenden Reichstags ging um die
Welt. Die an die Macht gekommene Regierung Hitler nutzte mit der "Verordnung
zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar diesen Brand und beseitigte die
Grundlage des Rechtsstaates. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933
wurde die parlamentarische Staatsform beseitigt und die Diktatur der Nazis
ausgeformt.
Teil des alten Rohrleitungsganges, der bei den
Umbauarbeiten gefunden wurde.
Der unterirdische Gang
Die Spuren des Brandes wurden erst in den 60er Jahren beseitigt. Bei den
Umbaumaßnahmen in den 90er Jahren wurde der Rohrleitungsgang, der einst unter
der Straße hinter dem Reichstag zum Palais des Reichstagspräsidenten (heute Sitz der
Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft) führte, gefunden. Er wurde als
archäologischer Fund gesichert. Der Legende nach sollen SA-Angehörige durch
diesen Gang in das Reichstagsgebäude eingedrungen sein, um das Haus in Brand zu
setzen. Bewiesen werden konnte es nicht. Ein Teil des Heizungsgangs ist bei den
Bauarbeiten herausgesägt worden und wurde in der Fußgänger-Unterführung im
Berliner Parlamentsviertel, auf dem Weg vom Reichstagsgebäude zum Jakob-KaiserHaus, aufgestellt. Er soll an diesen Brand erinnern und zugleich an Marinus van der
81
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Lubbe, der als Brandstifter vom Reichsgericht in Leipzig durch ein nachträglich
erlassenes Gesetz zum Tode verurteilt wurde.
Spuren der Geschichte: kyrillische Schriftzeichen
im Reichstagsgebäude.
Die Graffiti der sowjetischen Soldaten
Der Reichstag als international bekanntes Bauwerk stand in der Zeit der NSHerrschaft weitestgehend ungenutzt. Das markante Gebäude stellte in der
Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ein geographisches Ziel, einen Endpunkt des
Krieges dar und wurde deshalb vor allem von der sowjetischen Propaganda genutzt.
Zunächst zeigten die Plakate und Bilder das Brandenburger Tor als
Ziel, dann aber in der Schlussphase des Krieges das Reichstagsgebäude. Es war zwar
in der NS-Zeit bedeutungslos geworden, hatte aber einen hohen Symbolwert und war
durch seine Größe und seine Lage hervorgehoben. Die Schlacht um Berlin begann am
21. April 1945, der Kampf um den Reichstag am 30. April 1945. Erst am 2. Mai 1945
wurde das Gebäude endgültig erobert. In den Tagen danach wollte sich jeder, der
dazu Gelegenheit fand, gerade in diesem Gebäude verewigen, seinen Namenszug
oder eine Botschaft hinterlassen als Ausdruck des Sieges. Auch dies eine Spur der
Geschichte, die zum Teil erhalten werden konnte.
82
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der sowjetische Marschall Shukow schrieb in seinen Erinnerungen: "... Jeder Schritt,
Boden, jeder Stein zeugten besser als alle Worte davon, dass es im Vorgelände der
Reichskanzlei und des Reichstages wie in den Gebäuden selbst einen Kampf auf
Leben und Tod gegeben hatte. Den Mauern des riesigen Gebäudes hatte die mittlere
Artillerie nichts anhaben können, sodass schwere Kaliber hatten aufgefahren werden
müssen. Dabei konnte der Gegner von der Kuppel und den anderen massiven
Aufbauten aus das ganze Vorfeld bestreichen."
Schlichte Kreuze erinnern an die Menschen, die
an der Berliner Grenze beim Fluchtversuch aus
der DDR getötet wurden (Aufnahme von 1986).
Die Rote Fahne auf dem Reichstag
So wurde das Gebäude Zeichen für den Beginn und das Ende der NS-Herrschaft,
ohne in dieser Zeit selbst eine große Rolle gespielt zu haben. Wichtig wurde das
Hissen der Roten Fahne. Der sachliche Hintergrund war folgender: In den Kämpfen
um die Stadt hatten die sowjetischen Soldaten ein relativ wirkungsvolles Zeichen für
die Markierung der von ihnen eroberten Ziele angewandt. Jedes Ziel hatte eine
bestimmte Nummer, war es erreicht, hatte eine Rote Fahne dies zu signalisieren, um
in der unübersichtlichen, zerstörten Stadt Orientierung darüber zu erhalten, welchen
Teil der Stadt man bereits erobert hatte.
So war es auch beim Reichstag, allerdings hier mit der besonderen Betonung des
geographischen Endpunktes. Mehrere Gruppen trugen eine derartige Fahne, um
sicher zu stellen, dass eine das Gebäude auch wirklich erreichte.
Nach der Eroberung des Gebäudes wurde die Rote Fahne auf dem östlichen
Hauptgesims des Gebäudes angebracht, von zwei sowietischen Soldaten gehalten und
aus der Luft fotografiert. Dieses Foto ging um die Welt, zeigte es doch das Ende des
Krieges in Europa an. Die Fahne auf dem Reichstag war mehr Symbol als
tatsächliches Geschehen. Tatsächlich wurde schließlich eine Rote Fahne auf dem
Südostturm des Reichstages angebracht. Die Wochenschau-Aufnahmen, die in vielen
83
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Dokumentarfilmen gezeigt werden, sind in den folgenden Tagen nachgestellt worden.
Sie sind aber wegen ihres Zeitgeistes von hohem Wert.
Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus bleibt ein Teil
der Mauer als mahnendes Zeichen erhalten.
Die Mauer
Das Gebäude des Reichstages lag nach dem Ende des Krieges an der Grenze
zwischen Ost und West in der Stadt, am Scheidepunkt der Welt. Es stellte durch die
Lage an dieser markanten Stelle der Stadt wiederum ein Symbol dar; ein Symbol der
Spaltung Deutschlands, der Zerrissenheit der politischen Verhältnisse und der
anhaltenden Perspektivlosigkeit; ein Zustand, der nur langsam verändert werden
konnte. Der Wiederaufbau der Ruine in den fünfziger und sechziger Jahren zeigte die
langsame Veränderung der Situation.
Mehr und mehr, zuerst unmerklich, aber dann 1948 und vor allem nach dem 13.
August 1961 immer deutlicher, stand der Bau aufgrund seines Standorts unmittelbar
an der Grenze im Mittelpunkt aller Auseinandersetzungen. Die Grenze zwischen den
beiden Berliner Verwaltungsbezirken Mitte und Tiergarten war Teil des sensibelsten
Ortes der Welt geworden. Zwei hochgerüstete Militärblöcke standen sich
misstrauisch beobachtend gegenüber. Jede Bewegung wurde kontrolliert, jeder Fehler
des Einen konnte Fehlreaktionen des Anderen auslösen, und das hätte Krieg bedeutet.
Hinter dem Reichstagsgebäude stand die Mauer, und als diese Grenze im November
1989 fiel, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch an dieser Stelle dieses
hässliche Bauwerk verschwand.
An mehreren Stellen wird konkret an die Mauer erinnert. Auf ihrer Westseite war aus
privater Initiative ein Gedenkhain entstanden, der an die jungen Menschen erinnern
soll, die an der Grenze in Berlin auf dem Weg in die Freiheit ihr Leben verloren
hatten. Schlichte Kreuze halten ihre Namen für die Nachwelt fest. Zwischen
84
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude bis zur Spree ist der Mauerverlauf
außerdem mit einer Steinmarkierung auf der Straße und auf dem Ebertplatz
gekennzeichnet.
Ferner bleibt ein Stück der Mauer in den neuen Bundestagsbauten erhalten. Die Reihe
der Neubauten für Parlament und Regierung überquert als "Band des Bundes" die
Spree, die hier bis 1990 die Grenze bildete. Die Architektur symbolisiert so das
Zusammenwachsen der einst geteilten Stadt als Ausdruck der Überwindung der
Spaltung. Dabei wird im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das östlich der Spree im
Entstehen ist, auch die ehemalige Grenzanlage überbaut. An der Originalstelle wird
in diesem Neubau als mahnendes Zeichen ein Teil der "Hinterlandsicherungsmauer"
einbezogen und so eine weitere Spur der Geschichte bewahrt.
Das vom Bundestag genutzte Reichstagsgebäude zeigt sich den Abgeordneten und
den Besuchern als Symbol der deutschen Geschichte und des Parlamentarismus, aber
durch die ablesbaren Spuren auch als "Zeitzeuge" der Geschichte. Laurenz Demps
Respekt vor den Spuren der Geschichte
Blickpunkt Bundestag-Interview mit dem Londoner Architekten des
Reichstagsumbaus, Lord Norman Foster Das Gespräch führte Falk Jaeger.
Blickpunkt Bundestag: Lord Norman, was bedeutet es für einen
britischen Architekten, vom Deutschen Bundestag mit dem Bau
des Herzstücks des deutschen Parlamentarismus beauftragt zu
werden?
Lord Norman Foster: Es ist eine hohe Ehre, es ist ein
unglaubliches Privileg, eine außergewöhnliche Gelegenheit und
eine große Herausforderung.
Wäre so etwas auch in England möglich?
Nein, es wäre unmöglich. Obwohl ich glaube, dass sich in Großbritannien in letzter
Zeit einiges geändert hat. Es gab einmal eine Zeit, in der es undenkbar gewesen wäre,
dass ein Ausländer mit einer solchen nationalen Bauaufgabe betraut worden wäre. In
Deutschland und in anderen europäischen Ländern hat es diese Tradition gegeben,
dass Wettbewerbe für ausländische Architekten offen waren. Diese Haltung ist sehr
spät nach Großbritannien gekommen. Heute gibt es Beispiele wie die Schweizer
Architekten, die die Tate Gallery umbauen, es gibt spanische und deutsche
85
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Architekten, die bei uns erfolgreich sind, zum Beispiel Günter Behnisch, der einen
bedeutenden Wettbewerb in Bristol gewann. Großbritannien macht also in dieser
Beziehung einen interessanten Wandel durch.
Hat man das Beispiel Deutschland vor Augen, wo ja Architekten aus aller Herren
Länder ihre Visitenkarten abgeben?
Zwangsläufig hat man von Deutschland gelernt, denn diesen Weg zu verfolgen heißt,
den von Deutschland vorgezeichneten Weg gehen. Es ist jedenfalls sehr
ungewöhnlich, wenn nicht einmalig, einen solchen Parlamentswettbewerb
auszuschreiben, der allen deutschen Architekten offen steht, einschließlich 14
eingeladenen Teams aus dem Ausland, und diesen in zwei Stufen völlig
unvoreingenommen durchzuführen. Doch inzwischen ist man auch in Großbritannien
weiter, und Bauten für beide Kammern und für Regionalparlamente werden ebenfalls
international ausgeschrieben – hier hat das Vorbild Berlin Schule gemacht.
Darüber hinaus gibt es in Deutschland ein soziales ökologisches Gewissen jenseits
der Arbeit der grünen Parteien und man diskutiert alle Fragen der Umweltverträglichkeit von Architektur auf einem hohen Niveau.
Wie sind Sie mit dem enormen symbolischen Gehalt des historischen Reichstagsgebäudes umgegangen?
Wenn man dem Gebäude vollkommen unvoreingenommen gegenübertritt und ohne
Abstriche all seine historischen Schichten, all die Spuren der Vergangenheit freilegt,
wird man der Versuchung widerstehen, Geschichte zu erfinden, Capriccios oder
falsche Historismen hinzuzufügen. Viel eher wird man eine neue historische Schicht
aufbringen, diesen jüngsten Eingriff, der das neue, aus der Wiedervereinigung
erwachsene Parlament repräsentiert.
Dieser Umstand wurde übrigens auf höchst interessante Weise von Christo
hervorgehoben. Mit dem Auspacken begann auch der Abriss der Zutaten aus den
sechziger Jahren und der nachfolgende Neu-Ausbau. Und in diesem Stadium konnte
übrigens noch niemand ahnen, was hinter den Wandverkleidungen der sechziger
Jahre zum Vorschein kommen würde.
Was bedeutet es für Sie, ein historisches Gebäude umzubauen, welchen Wert messen
Sie der Baugeschichte, dem Denkmalschutz zu?
Der Respekt vor den Spuren der Geschichte, vor jeder Lebensphase eines Gebäudes,
entspricht der Wertschätzung der Stadt und der Integration eines Neubaus in eine
Stadt, die bereits aus verschiedenen Stilen, verschiedenen Baualtern, Spuren
86
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
verschiedener Epochen der Vergangenheit mit jeweils einer eigenen Identität geprägt
ist. In diesem Sinne ist der Reichstag wie eine Stadt im Kleinen. Deshalb sehe ich
keinen Unterschied zwischen dem Bauen in einem historischen Gebäude und der
Arbeit an einem neuen Gebäude in einer historischen Stadt. Die Elemente, die wir
hier sehen, die wir gestaltet haben, respektieren die Vergangenheit, aber sie sind
kompromisslos modern. Die Vorstellung, dass man beim Entwerfen in einem
historischen Gebäude historistische, postmoderne Formen beisteuern müsse, ist mir
fremd.
"Die Kuppel: Sie unterscheidet sich von
jeglichen anderen Gebäuden irgendwo auf der
Welt und gehört einfach zum Reichstag."
1961-1972 hat Paul Baumgarten schon einmal den Reichstag ausgebaut – in einer
Architektursprache, die von der Ihren nicht weit entfernt ist. Die Berliner Architekten
lieben ihren Baumgarten. Gab es denn keine Chance, wenigstens Teile seiner Arbeit
zu erhalten?
Über diese Angelegenheit wurde ein Werturteil nicht nur von einer isolierten Gruppe
gefällt. Wir haben sehr mühsame, ernsthafte Anstrengungen unternommen, Teile der
alten Ausstattung zu erhalten. Aber wenn man die Bedingungen betrachtet, unter
denen das hätte geschehen können, was hätte man tun müssen? Wenn man
beispielsweise beschlossen hätte, einen Raum oder einen Teilraum zu erhalten, hätte
man ihn komplett demontieren müssen, um den Asbest ausbauen zu können, der sich
hinter den Verkleidungen befand. Dann jedoch, wenn Sie einen Baumgarten der
sechziger Jahre nach Bauaufnahmen rekonstruieren, ist es dann noch ein Baumgarten
der sechziger Jahre?
Sie sind nicht gerade als ein Architekt bekannt, der kodierte Architektur im Sinne von
Historismus oder Postmoderne bauen würde. Haben Sie symbolische Bezüge bei
Ihrer Arbeit am Reichstag bewusst vermieden? Was ist zum Beispiel mit der Kuppel
und ihrer Bedeutung?
87
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Die Silhouette des Gebäudes kann etwas anderes gar nicht sein als ein Symbol des
Reichstags. Sie kann aber auch als dreidimensionales Objekt beschrieben werden, als
plastische Form, als Skulptur, man kann ihr schlechterdings nicht entrinnen. Sie
unterscheidet sich von jeglichen anderen Gebäuden irgendwo auf der Welt und gehört
einfach zum Reichstag.
Aber der symbolträchtige Bau steht auch für die Ökologie und für die Philosophie des
Gebäudes, für die Beziehung zwischen Volk und Volksvertretern, für die
Transparenz des Gebäudes zum Nutzen jener, die als Abgeordnete hierher kommen
und das Haus in Beziehung zur Stadt und zur weiteren Umgebung erleben können.
Der Symbolgehalt der Kuppel kann auch nicht getrennt werden von der
Entwurfsidee, dass in ihr Tageslicht tief in das Herz des Gebäudes hineingezogen
wird, dass sie den Blick von oben in den Plenarsaal ermöglicht, dass sie umgekehrt
wie ein Leuchtturm wirkt und Signale aussendet vom Prozess der Demokratie.
Ebenso wenig kann er getrennt werden vom natürlichen Belüftungssystem des
Gebäudes und dessen aerodynamischer Wirkungsweise. All diese Dinge verkörpert
die Architektur, Dinge, die wir quantifizieren können, und solche, die man nicht
quantifizieren kann.
Sie möchten nicht gerne als Technokrat oder High-Tech-Architekt bezeichnet
werden. Auf welche Weise haben Ihre Bauten auch eine poetische Dimension?
Ich habe über die poetische Dimension bereits gesprochen. Wie will man auch in
anderen Worten den Strom aus Sonnenlicht beschreiben, der sich in den Plenarsaal
ergießt? Wenn man einen Trichter aus 360 Spiegeln formt, gewinnt die Poesie bei der
Abwägung die Oberhand. Ich kann nur immer wieder betonen, dass Architektur aus
Dingen besteht, die man messen kann, und aus solchen, die sich nicht messen lassen,
die nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt, nach ästhetischen Kriterien beurteilt
werden. Ansonsten hätten wir nur eine gedeckte Box mit einer leeren Geste oben
drauf, die keine Beziehungen zu anderen Werten besitzt. Es geht also um die
humanen Werte der Architektur.
Im neuen Bundestag dominiert ganz eindeutig die wenig aufregende "Naturfarbe"
Grau in allen Tönungen von beige bis mattsilbern. Welche Bedeutung messen Sie der
Farbe bei?
Das Bauwerk ist in allen Belangen radikal – es lässt sich kaum etwas Radikaleres
denken als ein öffentliches Gebäude dieser Größenordnung, das durch vollständig
erneuerbare Energien versorgt wird, das ein solch ungezwungenes Verhältnis zur
88
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Öffentlichkeit hat, das an der Spitze der technischen Entwicklung steht und
gleichzeitig tief in der Geschichte verwurzelt ist. Doch wir mussten einräumen, dass
wir in Bezug auf die Farbe zu wenig radikal vorgegangen sind. Wir fragten uns
plötzlich, warum wir die Farben nicht mutiger eingesetzt haben. Wir sprachen über
historische Schichten in der Architektur. Warum konnten wir nicht dafür Farbe
einsetzen? Ich denke an die historische Schicht der Wandpaneele, hinter denen ja die
fortschrittliche Technik steckt, die Akustikdienste, die Sicherheitstechnik, hier wäre
doch die Gelegenheit für Farbe gewesen. Wir haben Farben eingesetzt, bei den Türen,
der Rest war grau und silber, es gab nicht den Knalleffekt eines schreienden Gelbs,
eines Giftgrüns oder eines kräftigen Rots. Wir waren also herausgefordert. Und wenn
Sie heute aufs Dach gehen und Sie sehen die Dachterrasse und Sie sehen das
Restaurant mit den roten Wänden – ich finde das fantastisch. Und ich sehe es und
sage: "Junge Junge, noch nie haben wir Farbe in dieser Weise eingesetzt." Farbe ist
eine neue Dimension, doch ich würde nicht weitergehen und intellektualisieren und
sagen, Gelb ist Symbol für dies, Rot ist symbolisch für jenes und hat die
unterschwellige Bedeutung einer Partei, oder eine andere Farbe ist die einer anderen
Partei, nein, so ist es nun doch nicht.
Lord Norman, wir danken für das Gespräch.
Kunst für das Reichstagsgebäude
von Andreas Kaernbach
89
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Ein 21 Meter hohes Rechteck aus
farbemaillierten Glasflächen in den
Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold hat
Gerhard Richter für die Eingangshalle des
Westportals geschaffen.
Seit das Reichstagsgebäude am 19. April 1999 als Plenargebäude des Deutschen
Bundestages seiner Bestimmung übergeben wurde, kann der Besucher des Deutschen
Bundestages nicht nur dessen von Lord Foster entworfene Architektur bewundern,
sondern auch eine Reihe von Kunstwerken, die in- und ausländische Künstler und
Künstlerinnen für das Parlamentsgebäude geschaffen haben. Für diese Kunst-amBau-Werke stand ein bestimmter Prozentsatz der Bausumme zur Verfügung. Bei der
Entwicklung des Kunstkonzeptes, das alle drei Parlamentsbauten,
Reichstagsgebäude, Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus sowie das JakobKaiser-Haus, übergreift, ließ sich der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages von
Kunstsachverständigen in Abstimmung mit den Architekten und der
Bundesbaugesellschaft Berlin mbH beraten.
Entsprechend diesem Kunstkonzept fanden für die Ausgestaltung des
Reichstagsgebäudes, das durch seinen besonderen historischen und politischen Rang
ausgezeichnet ist, Werke international anerkannter Künstlerpersönlichkeiten
Berücksichtigung, darunter, als Reverenz an den ehemaligen Vier-Mächte-Status von
Berlin, Werke von Künstlern aus den USA, Frankreich und Russland. Großbritannien
90
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
ist durch den Architekten Foster vertreten. Zu Entwürfen aufgefordert wurden
insbesondere Künstler, die bereit waren, sich mit diesem Ort und seiner Geschichte
produktiv auseinander zu setzen. Im Bereich des Jakob-Kaiser-Hauses und des PaulLöbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hingegen sind als Ergebnis der
Kunstwettbewerbe und der Vergabeverfahren überwiegend jüngere Künstlerinnen
und Künstler beauftragt worden.
In der Westeingangshalle des Reichstagsgebäudes wird der Besucher von Arbeiten
von Sigmar Polke und Gerhard Richter empfangen. Beide Künstler standen vor der
schwierigen Aufgabe, jeweils über 30 Meter hohe Wände auszugestalten. Gerhard
Richter hat ein Farbkunstwerk von 21 Meter Höhe und 3 Meter Breite in den Farben
Schwarz-Rot-Gold entworfen. Die Farben werden auf die Rückseite großer
Glastafeln aufgetragen und erinnern – nicht ohne Hintersinn – an die Farben der
deutschen Bundesflagge. Aber sowohl das hochrechteckige Format als auch die
spiegelnden Glasflächen machen deutlich, dass es sich nicht um die Abbildung einer
Flagge handelt, sondern um ein autonomes Farbkunstwerk. So ist es Gerhard Richter
gelungen, mit sparsamen künstlerischen Mitteln eine zurückhaltende und gerade
dadurch überzeugende künstlerische Gestaltung zu finden. Die großen homogenen
Farbfelder sind harmonisch auf die Ausmaße der Wandfläche abgestimmt und bieten
so in der riesigen Halle dem Auge des Betrachters einen optischen Ruhepunkt und
zugleich geistigen Raum für vielfältige Assoziationen und Reflexionen.
Christian Boltanski schuf für das Untergeschoss
am Osteingang 1999 das "Archiv der Deutschen
Abgeordneten": 5.000 Metallkästen, beschriftet
mit den Namen aller Reichs- und
Bundestagsabgeordneten, die zwischen 1919 und
1999 demokratisch gewählt wurden.
Sigmar Polke hingegen installiert an der gegenüberliegenden Wand der
Westeingangshalle Leuchtkästen mit heiter-ironischen Bildzitaten aus Politik und
Geschichte, so u.a. mit einer Darstellung des "Hammelsprungs" oder mit einer
verfremdeten Ansicht der Germania des Niederwalddenkmals. Seine Arbeit
91
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
verdichtet historisch-politische Aussagen auf mehreren Leuchtkästen an der großen
Wandfläche in zweifacher Hinsicht: Einmal nehmen die Leuchtfelder einen relativ
kleinen Raum ein. Zum Anderen wird in ihnen durch eine in der Wirkung der
Holographie vergleichbare Technik – die der Vorliebe Sigmar Polkes zum
Experimentieren mit ungewohnten Maltechniken entspricht – die optische Täuschung
hervorgerufen, dass sich die einzelnen Bildmotive bewegen und übereinander
verschieben, vergleichbar den historischen Erinnerungen, die sich bei Menschen im
Laufe eines Lebens oder im Laufe von Generationen gedanklich überlagern. Auf
diese Weise bezieht Polke auch formal eine Gegenposition zu der ruhigen, eher
statisch wirkenden Arbeit von Gerhard Richter.
Für die Südeingangshalle wiederum greift Georg Baselitz in großformatigen
Leinwandgemälden Motive des Malers der Romantik Caspar David Friedrich auf.
Auch in diesen Bildern hat er, wie er es seit Ende der sechziger Jahre zu tun pflegt,
seine Motive auf den Kopf gestellt, um die formale Gestaltung der Komposition in
den Vordergrund zu stellen. Als Vorlage haben ihm Holzschnitte nach Caspar David
Friedrichs Motiven "Die Frau am Abgrund", "Melancholie" und "Der schlafende
Knabe am Grabe" gedient, die er in einer leichten und transparenten Malweise seiner
künstlerischen Ausdrucksweise anverwandelt hat. Das jeweilige Motiv wiederholt
sich vielfach in einer bordürenartigen Einfassung der Mittelfigur. Diese wird
magentafarben hinterfangen und dadurch schwerpunktartig hervorgehoben. Die
gleichsam im Wesenlosen schwebenden Mittelfiguren ebenso wie die nur in Grauund Schwarztönen gehaltenen Rahmenfiguren erwecken im Betrachter eine
melancholische Gestimmtheit.
"Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys,
entstanden 1958/85, befindet sich vor dem
Abgeordnetenrestaurant.
92
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Carlfriedrich Claus, ein in der ehemaligen DDR in die innere Emigration gedrängter
Künstler, ist mit seinem "Aurora-Experimentalraum" vertreten. Der Künstler hatte
noch kurz vor seinem Tod die Installation seiner Arbeiten bestimmen können. Er
verstand sich selbst als überzeugten Kommunisten. Aber im Gegensatz zum
dogmatischen Schulmarxismus beharrte er so entschieden auf einem mystisch
verstandenen utopischen Charakter der Ideologie, dass er sich die Gegnerschaft des
SED-Regimes zuzog. Mit dem Aurora-Raum, der das Morgendämmern der Utopie
verkünden soll, will er seiner Sehnsucht "nach der Aufhebung des Entfremdetseins
von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen" Ausdruck verleihen.
Carlfriedrich Claus hat seine vom Mystizismus, von der Kabbala und von
marxistischer Philiosophie geprägten Gedankengänge auf Pergament oder Glastafeln
sowohl auf deren Front- als auch auf deren Rückfläche notiert. Diese Schriftzüge
verengen, überschneiden sich fortlaufend zu Schriftgestalten, eigenen ästhetischen
Gestaltungen also, denen sowohl Schrift- als auch Bildcharakter eigen ist. Auf
Bildtafeln übertragen, ragen diese symbolhaften Zeichen, erwachsen aus
träumerischem Grübeln und poetischem Philosophieren, in den Raum. So hat
Carlfriedrich Claus einen ganz eigenen und sich jeder kunsthistorischen Einordnung
entziehenden Weg zwischen Poesie, Philosophie, Mystik und Schriftkunst gefunden.
"1840" von Markus Lüpertz spielt auf William
Turners Rheinreise in jenem Jahr an. Es ist
bündig in die Stirnwand des
Abgeordnetenrestaurants eingelassen.
Die umfassendste künstlerische Gestaltung im Reichstagsgebäude hat der
Düsseldorfer Künstler Günther Uecker vorgenommen. Ihm war die schwierige
93
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Aufgabe gestellt, ein zeitgemäßes sakrales Interieur für den Andachtsraum zu
entwerfen. Wenige Künstler dürften für diese Aufgabe so prädestiniert sein wie
Günther Uecker, der sich schon in einer Reihe bedeutender Arbeiten mit Fragen der
Gefährdung, der Hoffnung und der Rettung des Menschen beschäftigt hat. Ihm ist es
gelungen, auf der Grundlage theologischer Überlieferungen mit sparsamen
bildnerischen und architektonischen Ausdrucksmitteln einen Raum zu gestalten, der
zu Meditation und innerer Einkehr anregt. Durch den Einbau einer zur Seite hin
offenen Zwischenwand vor den Fenstern führt Uecker das Licht indirekt in den
Raum, der auf diese Weise die mystische Aura einer frühmittelalterlichen Krypta
gewinnt. Er erhält seine Akzentuierung durch kraftvolle skulpturale Elemente, wie
den Altar aus sandgestrahltem Granit, durch eigens entworfene Stühle und Bänke
sowie durch sieben hohe Holzbildtafeln, die in leichter Schräge an die Wände gelehnt
sind. Auf diesen Tafeln hat Uecker mit Nägeln, Farbe, Sand und Steinen eine
bildnerische Gestaltung vorgenommen. Die Tafeln visualisieren die Wüsten im
Heiligen Land als dem Geburtsort jüdisch-christlicher Spiritualität. Tod und
Auferstehung werden zu eindrucksvollen suggestiven Bildern verdichtet.
Den Sitzungsraum für eines der wichtigsten parlamentarischen Gremien, den
Ältestenrat, hat der Stuttgarter Künstler Georg Karl Pfahler gestaltet. Farbige
Rechtecke scheinen, mit einer geschickten optischen Täuschung inszeniert, von den
Wänden herabzufallen, ja geradezu über die Holzpaneele des Architekten
hinwegzutanzen. Souverän reagiert der Künstler auf die vorgegebenen starkfarbigen
Holzpaneele und setzt ihnen ein durchdachtes eigenes Farbkonzept entgegen, das
vom Gegen- und Miteinanderspielen der Farben, ihrer Überlagerung und
Weiterentwicklung lebt und auf diese Weise eine eigene Farbräumlichkeit schafft.
Durch Pfahlers spezifisch süddeutschen Akzent ist das Reichstagsgebäude um einen
heiter-festlichen Raum reicher geworden.
94
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Der "Aurora-Experimentalraum" von
Carlfriedrich Claus soll das Morgendämmern der
Utopie verkünden.
Im Gegensatz zu der umfassenden Weltschau von Carlfriedrich Claus wendet sich die
amerikanische Künstlerin Jenny Holzer – in bewusster Beschränkung – der
Geschichte des Reichstagsgebäudes zu. Sie lässt in der Nordeingangshalle auf einer
Stele digitale Leuchtschriftbänder mit Reden von Reichstags- und
Bundestagsabgeordneten ablaufen. In der Kuppel schließlich informiert eine
Ausstellung über die Geschichte des Parlamentarismus, soweit sie sich im
Reichstagsgebäude abgespielt hat. In der Ausstellung werden bisher wenig bekannte
Fotos des berühmten Bildchronisten der Weimarer Republik, Erich Salomon, zu
sehen sein, die – nicht gestellt – einen Eindruck von der alltäglichen parlamentarischen Arbeit im Reichstag der zwanziger Jahre vermitteln.
Weitere Künstler, darunter Katharina Sieverding mit der Gedenkstätte für die
verfolgten Reichstagsabgeordneten, zeigen mit ihren Kunstwerken im
Reichstagsgebäude einen lebendigen Querschnitt durch die aktuelle deutsche und
internationale Kunstszene. Entsprechende Werke schufen u.a. Christian Boltanski,
Ulrich Rückriem, Bernhard Heisig, Grisha Bruskin, Markus Lüpertz, Anselm Kiefer,
Gotthard Graubner, Jürgen Böttcher-Strawalde, Lutz Dammbeck, Emil Schumacher,
Rupprecht Geiger und Hanne Darboven. Von weiteren Künstlern erfolgten Ankäufe.
Erst nach der Sommerpause wird das Kunstprojekt von Hans Haacke für den
nördlichen Innenhof realisiert werden. Über die Frage der Realisierung dieses
Projektes hatte es eine spannende und kontroverse Debatte im Plenum gegeben
(Bericht Blickpunkt 4/2000).
Ein solch umfassendes und durchdachtes Kunstkonzept, wie es nunmehr im
Reichstagsgebäude besichtigt werden kann, stellt ein beeindruckendes Bekenntnis des
Parlamentes zur Kunst dar. Beide Bereiche, die Kunst und die Politik, nehmen auf
diese Weise die Chance wahr zu einem geistig inspirierenden Dialog.
95
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Zum Üben für zukünftige Kanzler: "Kleines
Kanzleramt" der Berliner Künstlerin Christine
Gersch auf dem Dach der Bundestagskita.
In Sichtweite des Reichstagsgebäudes liegt die Kindertagesstätte des Deutschen
Bundestages. Sie wurde vom Wiener Architekten Gustav Peichl gestaltet und ruft –
unmittelbar an der Spree gelegen – Assoziationen an ein elegant-verspieltes Schiff
wach. Spielen können sollen auch die Kinder in diesem Gebäude, und so wurde von
der Berliner Künstlerin Christine Gersch zusammen mit dem Architekten ein
besonders kindertümliches Kunstprojekt entwickelt. Auf dem begrünten Dach, von
dem aus das künftige Kanzleramt zu sehen ist, können die Kleinen durch eine Art
Kasperletheater klettern, das wie das am Horizont sichtbare Kanzleramt gestaltet ist.
Sie brauchen nicht am Zaun des echten Kanzleramtes zu rütteln, sie können gleich
selber Kanzler spielen – und der Kanzler kann ihnen dabei vom Kanzleramt aus
amüsiert zusehen. Ferner erweisen sich auf dem Dach der Kindertagesstätte vier
farbenfrohe Skulpturen, die Kobolde darstellen, als wahre Schutzgötter. Sie
akzentuieren nicht nur ästhetisch den Dachgarten, sondern hindern zugleich die
Kinder, gefährliche Dachschrägen hinaufzuklettern. So hat die Künstlerin mit leichter
Hand Politik und Kunst, Kinderspiel und Lebensernst vereint.
Kunstkonzept Reichstagsgebäude beschlossen
Der Verwirklichung des alle drei Baukomplexe umfassenden Gesamtkonzeptes liegt
der Gedanke zugrunde, daß die Ausstattung dieser drei Baukomplexe des Deutschen
Bundestages in Berlin mit Kunstwerken sich nach der jeweiligen historischen oder
politischen Bedeutung der Bauten richten muß. Ein besonderes Augenmerk gilt der
Gestaltung des Reichstagsgebäudes, das aufgrund seiner wechselvollen und an
96
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Bezügen zum Schicksal der Deutschen so reichen Geschichte sowie durch den für die
parlamentarische Arbeit zentralen Plenarsaal den bedeutendsten Komplex darstellt.
Für dieses Bauwerk erhalten daher überwiegend deutsche Künstlerinnen und Künstler
von internationalem Ruf, nicht zuletzt aus den neuen Bundesländern, Gestaltungsaufträge, insbesondere solche, die sich bevorzugt mit Themen deutscher Politik und
Gesellschaft auseinandergesetzt oder diese sogar wesentlich mitbestimmt und geprägt
haben. Zugleich sind Künstlerinnen und Künstler aus den Ländern der ehemaligen
Vier Alliierten mit Aufträgen bedacht worden, weil die Anwesenheit dieser vier
Mächte in Berlin für die Geschicke der Stadt und des unmittelbar an der Mauer
liegenden Reichstagsgebäudes eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Die aktuellen standortbezogenen Kunstwerke werden ihre sinnvolle Ergänzung
finden durch vorhandene Kunstwerke aus der Kunstsammlung des Deutschen
Bundestages und eine Einheit "Geschichte parlamentarischer Arbeit im
Reichstagsgebäude in künstlerischen und zeitgenössischen Dokumenten".
Diesem Konzept folgend, sind bisher Gespräche mit folgenden Künstlerinnen und
Künstlern aufgenommen worden:
Georg Baselitz
Christian Boltanski
Grischa Bruskin
Hanne Darboven
Rupprecht Geiger
Anselm Kiefer
Gotthard Graubner
Hans Haacke
Bernhard Heisig
Jenny Holzer
Markus Lüpertz
Georg Karl Pfahler
Sigmar Polke
Gerhard Richter
Ulrich Rückriem
Emil Schumacher
Rosemarie Trockel
Günther Uecker
Das Kunstkonzept für das Reichstagsgebäude ist Bestandteil des Gesamtkonzepts der
Bauvorhaben des Deutschen Bundestags im Spreebogen. Für das Paul-Löbe- und das
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wählte der Kunstbeirat beschränkte Wettbewerbe bzw.
Kolloquien als Form der Vergabe. Hingegen liegt die Herausforderung, der sich die
Künstlerinnen und Künstler im Reichstagsgebäude stellen müssen, in der
Einbeziehung des bereits vorhandenen historischen Baubestandes, der
Einflußnahmen auf die Architektur Grenzen setzt. Daher bot es sich an,
Künstlerpersönlichkeiten direkt zu beauftragen, Werke für ausgewiesene Orte des
Parlamentssitzes zu konzipieren.
97
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Modell: Gestaltung des Andachtsraums im
Reichstagsgebäude von Günther Uecker
Auf Empfehlung der Sachverständigen wurde beschlossen, daß im Reichstagsgebäude vornehmlich deutsche Künstlerinnen und Künstler vertreten sein sollen, die
mit ihren Werken nachhaltig das zeitgenössische internationale Kunstgeschehen
geprägt haben. Zugleich sollen Kunstschaffende aus den Ländern der ehemaligen
Vier Alliierten an der künstlerischen Ausgestaltung des Parlamentssitzes mitwirken.
Architekt Sir Norman Foster repräsentiert dabei Großbritannien. Ebenso sind
Frankreich durch Christian Boltanski vertreten (historische Installation), die USA
durch Jenny Holzer (Stele mit digitaler Leuchtschrift) und die ehemalige Sowjetunion
durch Grischa Bruskin (Reihung allegorischer Bildtafeln).
Ankäufe
Darüber hinaus wird ein Teil der Kunst-am-Bau-Mittel für Ankäufe verwendet. So
sollen auf Wunsch des Kunstbeirats Arbeiten der folgenden Künstlern erworben
werden:
Gerhard Altenbourg
Jürgen Böttcher-Strawalde
Christo und Jeanne Claude
Carlfriedrich Claus
Lutz Dammbeck
Hermann Glöckner
Wolfgang Mattheuer
Walter Stöhrer
Von Gerhard Altenbourg , einem der bedeutendsten oppositionellen Künstlern in der
DDR, soll ein Landschaftschaftsaquarell aus dem Jahr 1953 angekauft werden.
Von Jürgen Böttcher-Strawalde , der in Dresden eine Gruppe oppositioneller Maler
um sich scharte, zu denen der Maler A.R. Penck gehörte, und der als Filmemacher
und Performer die traditionellen Abgrenzungen der Kunstgattungen überwand, sollen
drei Gouachen angekauft werden.
98
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Eine 1986 farbig angelegte Zeichnung von Christo und Jeanne Claude zur
spektakulären Verhüllung des Reichstagsgebäudes soll angekauft werden. Das
Projekt wurde in zwei Jahrzehnten von den Künstlern vorangetrieben und konnte
schließlich, nicht zuletzt durch das Engagement der damaligen Bundestagspräsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth, realisiert werden.
Carlfriedrich Claus , mit dem kurz vor seinem Tod Gespräche über einen Ankauf im
Reichstagsgebäude geführt wurden, wird mit einer Neu-Installation des "Experimentalraums Aurora" von 1993 vertreten sein. In seiner historisch-politischen
Auseinandersetzung beharrte Claus auf den Utopien des Kommunismus und galt als
Gegner der offiziellen DDR-Kultur.
Von Lutz Dammbeck , der als Maler, Filmemacher und Multimediaspezialist in der
DDR u.a. mit seinem Herakles-Projekt einen oppositionellen historisch-kritischen
Standpunkt einnahm, sollen Blätter aus den Herakles-Notizen angekauft werden.
Von Hermann Glöckner , dem wichtigsten konstruktivistisch-konkreten Künstler in
der DDR, der sein Konzept gegen den staatlich verordneten sozialistischen Realismus
durchgehalten hatte, wurden drei charakteristische Arbeiten der Jahre 1969, 1974 und
1980 angekauft.
Von Wolfgang Mattheuer , dem neben Bernhard Heisig führenden Vertreter der
Leipziger Schule in der Malerei der DDR, wurden zwei Gemälde angekauft: "Der
eine und die Andere" und "Panik II", beide aus dem Jahre 1989.
Von Walter Stöhrer , einem wichtigen deutschen Vertreter der gestisch expressiven
Malerei wurde eine in Mischtechnik übermalte Radierung von 1995 angekauft
Dauerleihgabe
Auch Joseph Beuys wird im Reichstagsgebäude vertreten sein. Als Dauerleihgabe
stellt das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) die Arbeit "Tisch mit Aggregat" zur
Verfügung. Diese Figuration, mit der sich Beuys zwischen 1958 und 1986 beschäftigt
hat, besteht aus einem aus Bronze gegossenen Tisch, einem Aggregat, zwei Kugeln
und einem Verbindungskabel. Zentrales Motiv ist der Fluß natürlicher und technisch
erzeugter Energie, also jenes Spannungsreservoir, aus dem das Leben sich speist und
die Zivilisation erst möglich wurde.
99
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Als weitere Dauerleihgabe wird eine architektonische Bronzeskulptur von Otto
Freundlich an repräsentativem Ort ausgestellt. Die Arbeit "Sculpture Architecturale"
datiert von 1934/35 und ist das fünfte Exemplar von sechs Abgüssen. Otto Freundlich
gehört zur "Pioniergeneration der Abstrakten". Die Abbildung seiner Skulptur "Der
neue Mensch" auf dem Plakat zur Ausstellung "Entartete Kunst" von 1937 sowie
seine Deportation und Ermordung im Konzentrationslager Lublin-Maidanek stehen
stellvertretend für die Leiden von Juden und Avangarde-Künstlern unter der
Herrschaft der Nationalsozialisten. Die Skulptur von Otto Freundlich im Deutschen
Bundestag setzt auch für viele andere verfolgte und bis heute ungenügend gewürdigte
Künstler ein Zeichen der Wiedergutmachung.
Aus dem Bestand des Deutschen Bundestags
Die aktuellen standortbezogenen Kunstwerke werden ihre Ergänzung finden durch
vorhandene Werke aus der Kunstsammlung des Deutschen Bundestags. Zudem wird
die historische Dimension des Gebäudes anhand der Ausstellung "Geschichte
parlamentarischer Arbeit im Reichstag in künstlerischen und zeitgenössischen
Dokumenten" im Kuppelinnenraum (Handlauf am Plenarsaaloberlicht) für die
Öffentlichkeit erläutert.
100
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Das Mahnmal zum Gedenken an die Reichstagsabgeordneten, die von den
Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, soll wieder im Reichstagsgebäude
aufgestellt werden. Die Künstlerin Katharina Sieverding hatte Anfang der 90er Jahre
für die heutige Abgeordnetenlobby im Plenarsaalbereich eine großformatige,
fünfteilige Fotoarbeit geschaffen, die sowohl Zerstörung als auch Wiedergeburt
thematisiert.
Zum Verfahren
Die Bundesbaugesellschaft Berlin mbH führt für den Deutschen Bundestag vier
große Baumaßnahmen im Bereich des Berliner Spreebogens durch: den Umbau des
Reichstagsgebäudes durch das Architekturbüro Sir Norman Foster & Partners, den
Neubau des Jakob-Kaiser-Hauses durch fünf Architektenteams - die Architekten Cie,
Busmann und Haberer, von Gerkan, Marg & Partner, Schweger & Partner und
Thomas van den Valentyn - sowie die Neubauten Paul-Löbe-/Marie-ElisabethLüders-Haus durch Auslobung des Architekten Stephan Braunfels. Die
Kunstwettbewerbe wurden von der Bundesbaugesellschaft Berlin ausgelobt, mit der
Durchführung hat die Gesellschaft das Büro für Kunst und Kultur (ivdt) beauftragt.
Über die Kunst-am Bau-Projekte für die Bundestagsneubauten hat der Kunstbeirat
unter dem Vorsitz der Bundestagspräsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth entschieden.
Dieses Gremium war in der 13. Wahlperiode entsprechend der Fraktionsstärke mit
folgenden Abgeordneten besetzt: für die CDU/CSU-Fraktion Renate Blank, Anke
Eymer, Volker Kauder und Wolfgang Börnsen, für die SPD-Fraktion Peter Conradi,
Thomas Krüger und Gisela Schröter, für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Franziska
Eichstädt-Bohlig sowie für die F.D.P.-Fraktion Ina Albowitz. Die Gruppe der PDS
hatte keinen Vertreter benannt.
Für das Reichstagsgebäude sind als Kunstsachverständige Frau Dr. Karin Stempel
aus Mühlheim a.d. Ruhr und Herr Prof. Götz Adriani aus Tübingen tätig. Ferner
stehen dem Kunstbeirat für das Pau-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus Herr Prof.
Dr. Armin Zweite aus Düsseldorf und Herr Dr. Klaus Werner aus Leipzig als
Kunstsachverständige zur Seite. Beraten wurde das Preisgericht für den
Kunstwettbewerb Paul-Löbe-/ Marie-Elisabeth-Lüders-Haus durch Claudia
Busching, Deutscher Künstlerbund Berlin und Hans-Wilhelm Sotropp, Vorsitzender
des Bundesvorstands BBK, Bonn. Frau Dr. Evelyn Weiss aus Köln und Herr Prof.
101
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Dr. Manfred Schneckenburger aus Münster arbeiten als Kunstsachverständige für das
Jakob-Kaiser-Haus.
Die unterschiedlichen Kunstkonzepte der drei Baumaßnahmen richten sich nach
deren jeweiliger historischer und parlamentarischer Bedeutung sowie
architektonischer Ausrichtung. Daher werden im Reichstagsgebäude, dem historischpolitisch bedeutsamen Parlamentssitz, deutsche Künstlerinnen und Künstler von
internationalem Ruf sowie Künstler aus den Ländern der ehemaligen Vier Alliierten
Gestaltungsaufträge erhalten. Für das Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und
das Jakob-Kaiser-Haus wurden beschränkte Wettbewerbe bzw. Vergabekolloquien
unter Einbeziehung auch jüngerer Künstlerinnen und Künstler durchgeführt.
Entsprechend den rechtlichen Vorgaben für Kunst-am-Bau-Projekte bei öffentlichen
Gebäuden stehen 8 Millionen DM für das Reichstagsgebäude zur Verfügung, 10
Millionen für das Jakob-Kaiser-Haus und weitere 10 Millionen für das Paul-Löbe-/
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.
Ein Besuch lohnt sich
Der Deutsche Bundestag für Bürgerinnen und Bürger
Die Dachterrasse und die Kuppel des Reichstagsgebäudes können über den
Westeingang (Freitreppe) ohne Anmeldung besucht werden. Öffnungszeiten täglich
von 8.00 bis 24.00 Uhr (letzter Einlass ist um 22.00 Uhr). Für Behinderte besteht ein
Zugang zur Dachterrasse und zu den Tribünen unterhalb der Freitreppe an der
Westseite des Gebäudes. Der Weg dahin ist ausgeschildert.
Zur Teilnahme an einer Plenarsitzung können sich Besuchergruppen (Mindestalter 15
Jahre) bei einem Mitglied des Deutschen Bundestages anmelden. Andere Gruppen
können sich frühestens drei Wochen vor dem gewünschten Termin beim
Besucherdienst schriftlich anmelden und erhalten Zugang, sofern noch Plätze
vorhanden sind. Einzelbesucher können teilnehmen soweit Plätze vorhanden sind.
An Informationsvorträgen auf der Tribüne des Plenarsaales können Besuchergruppen
und Einzelbesucher nach vorheriger schriftlicher oder telefonischer Anmeldung beim
Besucherdienst des Deutschen Bundestages teilnehmen, Beginn jeweils zur vollen
Stunde, Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 17.00 Uhr, am Samstag und Sonntag
zwischen 10.00 und 16.00 Uhr. Unangemeldete Besucher können teilnehmen, wenn
Plätze frei sind.
102
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Führungen durch den Plenarbereich, die Besucherebene, Dachterrasse und Kuppel
finden an sitzungsfreien Tagen um 10.30, 15.30 und 19.30 Uhr statt (max. 25 Pers.).
Anmeldung dringend erforderlich.
An Samstagen, Sonntagen und Feiertagen bietet der Besucherdienst Architektur- und
Kunstführungen durch das Reichstagsgebäude an, Beginn 11.30 Uhr (max. 25 Pers.).
Anmeldung dringend erforderlich.
Anmeldung: Deutscher Bundestag, Besucherdienst, Platz der Republik 1, 11011
Berlin, Telefon 030-227-32152
Informationsmaterial über die Arbeit des Deutschen Bundestages liegt im Bereich des
Westeingangs und auf der Ebene der Besuchertribünen aus und kann auch
fernmündlich beim Referat Öffentlichkeitsarbeit unter:
Telefon 030-22 72 74 53 oder per
Telefax 030-22 72 65 06 sowie über
Internet: www.bundestag.de angefordert werden.
Die "fette Henne" wird 45
Bonner Bundesadler auch Modell für Wappenvogel im Reichstag
Sein bekanntestes Werk haben die Menschen auf Fotos, im
Fernsehen und in der Zeitung schon so oft gesehen, daß sie
es gar nicht mehr als das Werk eines Künstlers
identifizieren. Hoch oben an der Stirnwand des Plenarsaals
des Deutschen Bundestages prangt der Bundestagsadler von Ludwig Gies. In seinem
Schatten haben sich berühmte Parlamentarier der Bundesrepublik Deutschland
spannende Rededuelle geliefert: Herbert Wehner und Konrad Adenauer, Willy
Brandt und Rainer Barzel, Helmut Schmidt und Helmut Kohl.
Aus Gips schuf Gies 1953 den Bundesadler, an den sich Generationen von
Abgeordneten und Fernsehzuschauern gewöhnt haben und der nicht nur im
Volksmund wegen seiner gedrungenen Form liebevoll-spöttisch "fette Henne"
genannt wird. Heute fällt es schwer, sich von dem gewohnten Bild zu lösen. Nach
Abriß des alten Plenarsaales schuf Günter Behnisch, Architekt des neuen
Bundestagsplenarsaals in Bonn, eine überarbeitete Version des Giesíschen Adlers, die
sich optisch nur unwesentlich vom Original unterscheidet.
103
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Ende Mai beschloß der Ältestenrat des Bundestages auf Empfehlung der Baukommission, daß das Bonner Symbol aus Gründen der Kontinuität und des Wiedererkennens auch den Plenarsaal im Berliner Reichstag " ab 1999 Heimat des Deutschen Bundestages " zieren soll. Der Architekt des Reichstagsumbaus Sir Norman
Foster erhielt den Auftrag, den alten Plenaradler etwas "straffer" zu gestalten. Die
Parlamentarier folgten damit einer Empfehlung des Architekten, der vorgeschlagen
hatte, am bisherigen Adler-Modell festzuhalten. Im Juni soll Foster dem Bundestag
einen Entwurf vorlegen. Erstmals muß dabei auch der Rücken des Wappenvogels
gestaltet werden, denn der Adler wird im Reichstag vor einer Glaswand der Ostseite
des Gebäudes schweben.
Daß der Bundesadler des alten Plenarsaales später seine bekannteste Arbeit werden
sollte, ahnte Gies sicher nicht. Denn eines seiner künstlerisch größten Werke schuf er
schon 1921. Es war das große, sich krümmende Holzkruzifix für den Lübecker Dom,
das die Nazis als entartet diffamierten und der 1944 in Berlin verbrannte. Gies zählt
mit seinen Plastiken, Plaketten und Bildern zu den wichtigsten Expressionisten in
Deutschland. Doch sein künstlerisches Schaffen galt den Nazis als "undeutsch".
Seine modernen Arbeiten mit großer Ausdruckskraft, die abstrahierten und den
Menschen auch im Leid zeigten, wurden im Dritten Reich der Lächerlichkeit
preisgegeben. Sie gehörten wie andere große Werke deutscher Kultur zu den
verspotteten Werken der Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" 1937. Im
gleichen Jahr verlor Gies sein Lehramt an der Berliner Akademie der Bildenden
Künste und wurde aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.
Zu Giesí wichtigen Plastiken und Bildern gehören neben dem Lübecker Kruzifix der
Silber- und Goldkranz in der Schinkelschen Wache Unter den Linden (1927), sein
Lamm aus Porzellan für die Berliner Porzellan-Manufaktur (1928), die
Rheinlandschaft mit Schleppkahn für den Duisburger Hauptbahnhof (1935), die
später übermalt wurde, sein eindrucksvoller, leidender Christuskopf in Lindenholz
(1936), der Adler in der alten Reichskanzlei, den Hitler als zu wenig nordischheraldisch entfernen ließ, der Adler in der ehemaligen Reichsbank von Berlin, seine
Geigerin von 1947, das Grabmal für Hans Böckler auf dem Kölner Melatenfriedhof
(1951), der Harfenspieler für das Kölner WDR-Funkhaus (1952), der Erlkönig (1952)
und das Engelfenster für die Kolumba-Kapelle in Köln (1954). Giesí künstlerische
Vielfalt zeigt sich auch in seinen Baukeramiken für das Düsseldorfer Phönixhaus und
die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, in den Stuckreliefs für das Haus der
104
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Metallgewerkschaft in Berlin, der geschnitzten Orgelwand für die Aula der Bonner
Universität und den sieben Meter hohen Genien im Atrium des Essener FolkwangMuseums.
In diesen Werken wird auch der thematische Dreiklang Giesí deutlich. Dem Sakralen
widmete sich Gies ebenso wie dem Alltag der arbeitenden Menschen und den
feierlich-anrührenden Motiven, die sich in seinen Medaillen und Kränzen
widerspiegeln. Eine seiner Medaillen, die Heine-Gedächtnis-Medaille der Stadt
Düsseldorf in Gold, sollte 1960 zu hohen politischen Ehren kommen. Sie wurde
keinem geringeren als Bundespräsident Theodor Heuss bei der Verleihung der
Ehrenbürgerrechte überreicht. Drei Jahre zuvor hatte übrigens Heuss selbst Ludwig
Gies mit einer hohen Auszeichnung bedacht: mit dem Großen Verdienstkreuz der
Bundesrepublik Deutschland.
Freiheit und Einheit
Das Erbe von 1848/49 in unserer parlamentarischen Demokratie von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth
Die auf Freiheit und Einheit gerichteten Bestrebungen von 1848/49
waren die entscheidende Weichenstellung auf Deutschlands Weg in
die Moderne. Sie waren Teil einer europäischen Bewegung. Das Parlament in der
Frankfurter Paulskirche trat am 18. Mai 1848 zusammen zu einem Zeitpunkt, als die
Freiheitsbewegungen in vielen Staaten Europas bereits vor dem Scheitern standen.
150 Jahre später erinnern sich der Bund, die Länder und die Kommunen der
damaligen Ereignisse auf vielen unterschiedlichen Veranstaltungen. Dadurch wird
wieder bewußt: Auch unsere Demokratie bedarf der historisch geleiteten geistigen
Orientierung und der inneren Verbundenheit mit der eigenen Freiheitstradition. Das
gilt um so mehr, als sich bislang eher das damalige Scheitern der Revolution im
kollektiven Bewußtsein verankert hatte, nicht aber der Freiheitskampf vieler
Menschen, ihre Aufbrüche, ihre Visionen, ihr politisches Engagement. Es war
deswegen wichtig, daß die Abgeordnetinnen und Abgeordneten des Deutschen
Bundestages in diesem Jahr zum erstenmal die Freiheitsbewegung von 1848/49 im
Parlament gewürdigt und ihre Auswirkungen für unsere Gegenwart diskutiert haben.
Inzwischen haben Hunderttausende bei uns in den letzten Monaten die
105
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Ausstellungen, Vorträge und Veranstaltungen zu den Ereignissen von 1848/49
besucht. Auch das macht deutlich, welche Bedeutung in unserer Umbruchszeit die
Suche nach politischer Orientierung erneut gewonnen hat, wie sehr die
Vergewisserung nach dem "woher" gesucht wird, um Fragen nach dem "wohin" zu
beantworten.
Historische Jubiläen sind nicht nur Anlässe der Erinnerung, sondern zugleich
Prüfsteine des eigenen Selbstverständnisses. Das gilt gerade im Hinblick auf
mangelnde Wertschätzung und aktive Verteidigung unserer Freiheit. Der Bezug auf
die Ereignisse von 1848/49 ruft wieder jene wichtige Freiheitstradition in unser
politisches Gedächtnis, die oft verschüttet war. Die deutsche Geschichte im 19. und
20. Jahrhundert ist ja weniger von politischen Kontinuitäten, sondern mehr durch
Brüche gekennzeichnet. Lange dominierende obrigkeitsstaatliche Mentalitäten sind
bis heute zu spüren. In Deutschland verfügen wir deshalb nur über eine schwach
ausgebildete Freiheitstradition im Bewußtsein der Bürger. 1848/49 stand bislang
nicht für politischen Umbruch, für den Beginn der parlamentarischen Demokratie in
Deutschland wie beispielsweise 1789 für die Franzosen oder später die
Freiheitskämpfe bei Polen und Ungarn. Aber auch wir verfügen über historische
Wurzeln einer Freiheitstradition, bei der es in unserer Hand liegt, ob wir sie
verkümmern lassen oder ob wir sie nutzen im Sinne einer die Bürger verbindenden
demokratischen Identität und der Sicherung freiheitlichen Bewußtseins. Dabei geht es
nicht um eine nachträgliche Harmonisierung der Geschichte. Gerade demokratische
Identität, die die Legitimität freiheitlicher Ordnungen sichern hilft, bedarf einer
Aneignung, die die Widersprüchlichkeit der historischen Entwicklungen bewußt
aufnimmt. Erst aus der prüfenden Urteilsbildung heraus erwächst die Bindung an die
eigene Freiheitstradition. Ohne diesen "Vernunftgebrauch" kann die freiheitliche
Demokratie auch nicht jene "Gewohnheiten des Herzens" ausbilden, die die zivilen
Haltungen in unserem freiheitlichen Gemeinwesen dauerhaft sichern helfen.
Die Erinnerung an Ursprung und Verlauf der deutschen Freiheitsbewegung mit ihren
Forderungen nach Menschenrechten, Verfassung und Parlament bietet die Chance
einer politischen Standortbestimmung, die über das politische Tagesgeschäft hinaus
die Grundlagen unseres Gemeinwesens bewußt macht. Wer Schaden von unserer
Demokratie abwenden und sie vor ihren Gegnern und Feinden, aber auch vor
Gleichgültigkeit und Distanz verteidigen will, der weiß, daß die Werte und Normen
einer freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie immer wieder neu der geistigen
106
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Verankerung bedürfen. Das geschieht nicht von selbst. Wenn unsere
parlamentarische Demokratie nicht Energien für die Ausbildung geistiger
Orientierung verwendet, dann leistet sie einer gedanklichen Auszehrung Vorschub,
die nicht nur in Krisenzeiten schwerwiegende Folgen haben kann. Denn bereits jetzt
muß es uns Sorgen machen, daß eine immer größer werdende Zahl von Menschen die
Leistungsfähigkeit der Demokratie, ja ihren Wert selbst bezweifelt. Je größer die
Probleme sind, desto höher werden die Erwartungen an die Lösung der
Arbeitslosigkeit, der Kriminalitätsbekämpfung, der inneren und sozialen Sicherheit.
Aber in welcher anderen Staatsform könnten die Probleme menschenwürdiger und
gewaltfreier gelöst werden als in der Demokratie.? In keiner! Eine parlamentarische
Demokratie ist jedoch keine Schönwetterdemokratie, ihre Prinzipien sind nicht
formbar nach Opportunitäten oder der jeweiligen Wirtschaftslage, sondern gelten
grundsätzlich. Nur dadurch verbürgen sie Freiheit auch in rauhen Zeiten, können sie
die Sorge für soziale Gerechtigkeit " der gerechten Verteilung von Chancen,
Belastungen und Entlastungen " als Pflicht der Stärkeren für die Schwächeren
bewahren. Deswegen erfordert es gerade heute besonderer Anstrengungen, die
geistigen Grundlagen unserer Demokratie deutlicher bewußt zu machen.
Das Zusammentreffen von demokratischem Aufbruch in allen Teilen der
Bevölkerung und das erste nationale Parlament in der Frankfurter Paulskirche
1848/49 " das war die Geburtsstunde unserer heutigen parlamentarischen
Demokratie. Es war der Kampf um "Freiheit und Einheit", der viele, viele Menschen
in Deutschland (und in ganz Europa) begeisterte. Allerdings mußte nach dem
Scheitern der Frankfurter Paulskirchenversammlung in den Jahrzehnten danach erst
mühsam Stück für Stück jener Weg freiheitlicher Demokratie in einem föderal
geeinten Deutschland freigelegt werden, den die "48er" damals gewiesen hatten. Die
monarchische Obrigkeit im 19. Jahrhundert verunglimpfte den Kampf um die Freiheit
und den Versuch der Überwindung deutscher Kleinstaaterei als "tolles Jahr", dem
man Ordnung und Sicherheit einerseits, einen sich militarisierenden Nationalismus
andererseits entgegensetzte. Die für uns heute so selbstverständlichen konstitutionellen Bindungen und politischen Teilhabemöglichkeiten waren Ergebnis
mühseliger Lernprozesse und langwieriger Machtkämpfe. Die Erlangung deutscher
Einheit und freiheitlicher Demokratie wurden lange Zeit für viele Deutsche zu zwei
unterschiedlichen Zielen " das Deutsche Reich wurde 1870/71 mit Eisen und Schwert
zusammengeschweißt, und die erste freie Demokratie fand erst später, nach dem 1.
107
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Weltkrieg, mit der Weimarer Republik ihre Gestalt. In der nationalsozialistischen
Diktatur wurden Freiheit und Einheit schnell wieder verspielt. Deutschland blieb,
nach dem 2. Weltkrieg, 40 Jahre geteilt und nur im Westen konnte sich eine
parlamentarische Demokratie entwickeln. Als die Menschen in der DDR 1989 auf die
Straße gingen und die SED-Diktatur in machtvollen, friedlichen Demonstrationen
stürzten, knüpften sie unbewußt wieder an die Forderungen von 1848/49 an. Es zeigte
sich, wie geschichtsmächtig die Ideen von Freiheit, Demokratie und Einheit auch 150
Jahre später waren. Heute leben wir in einer geeinten Republik, die sich zum
erstenmal unvoreingenommen der eigenen Freiheitstraditionen erinnern un versichern
kann. Der Deutsche Bundestag und die Bürgergesellschaft unseres Landes haben in
besonderer Weise im Geschehen von 1848/49 ihre Wurzeln. Beide ruhen auf den
großen Anstrengungen der Menschen damals um Bürgerrechte, Gewaltfreiheit,
Gewaltenteilung und Einheit sowie der friedlichen Revolution von 1989. Deswegen
kommt auch beiden die Aufgabe zu, immer wieder Anstöße zu geben für eine
Erinnerungskultur der Freiheit. Diese bewahrt den mutigen, oft bis zum Einsatz des
eigenen Lebens gehenden Kampf von Bürgerinnen und Bürgern für Menschenrechte
und parlamentarische Demokratie, macht sie jeder Generation neu zugänglich. So
kann sich " und das ist eine wichtige Zukunftsperspektive " eine für Ost- und
Westdeutsche gemeinsame demokratische Kultur entwickeln, die sich auch in den
jetzigen und künftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen als
tragfähig erweist. Denn nur mündige Bürger stehen in Krisenzeiten zu
Menschenwürde und Menschenrechten, entwickeln Mut zur Veränderung, engagieren
sich verantwortungsbewußt für das Gemeinwohl.
Revolutionäre Erhebungen sind nie einheitlich. Damals mischten sich in ihr das
Streben nach nationaler Eigenständigkeit, freiheitlicher Verfassung und Volksvertretung mit sozialen Fragen und Emanzipationsbestrebungen des vierten Standes und
der Frauen. Hungersnöte, wirtschaftliche Krisen und Forderungen nach Sicherung
von Lohn und Brot vor dem Hintergrund des beginnenden Industriezeitalters trugen
zum Ausbruch ebenso bei wie ein politisch erstarkendes Bürgertum, beeinflußt durch
die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Liberale Bürgerliche
oder Intellektuelle, Arbeiter oder Handwerker, Bauern oder auch Frauen " jede
Gruppe hatte aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Stellung unterschiedliche Motive und Ziele für die Teilnahme am
Geschehen.
108
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Aber es gab neben allen Ambivalenzen immer auch gemeinsame Ziele, an die das
heutige Nachdenken über Traditionslinien mit anknüpft. Denn die unterschiedlichen
Gruppen waren verbunden im Bewußtsein, sich für eine neue, freie und gerechte
politische Ordnung einzusetzen. Aber das galt nicht für alle, wenn man z. B. sieht,
daß beispielsweise im Paulskirchenparlament nur Männer saßen, weil Frauen
ausgegrenzt wurden. Dort war das liberale Bürgertum vertreten, während die
Arbeiter- und Handwerkerschichten ihre Diskussionen auf den öffentlichen Plätzen
führten und auf den Barrikaden zu finden waren.
Ziel der 1848er war die Begründung der Souveränität des Volkes, der (allerdings
unterschiedlich interpretierten) Bürgerschaft. Politische Teilhabe sollte nicht länger
auf die Fürsten beschränkt sein. Bei vielen, egal, ob sie Arbeiter, Bauern,
Handwerker, Professoren oder Staatsdiener waren, erwachte ein Interesse an den
politischen Angelegenheiten. Trotz aller wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Gegensätze war es eine erste, pluralistische Form praktisch gelebter
Demokratie, die sich damals in wichtigen Regionen Deutschlands bildete. Straßen
und Plätze wurden zu öffentlichen Versammlungsorten, viele neue Zeitungen " über
1.700 " dokumentierten das gewachsene politische Interesse und in den zahlreichen
politischen Vereinen (über 2.500) waren rund 15 % der männlichen Bevölkerung
organisiert, die so aktiv an der politischen Willensbildung teilnahmen. Aber auch
viele Frauen engagierten sich in Vereinen, bei Demonstrationen, bei sozialen
Diensten, verbreiteten die demokratischen Ideen und begannen trotz aller bestehenden Rechtlosigkeit und Abhängigkeiten, für ihre eigene Emanzipation zu
kämpfen.
Dieses politische Engagement damals dokumentiert eine Lebendigkeit in Sachen
Freiheit und Demokratie, von der ich mir wünsche, daß wir sie auch heute in breiten
Teilen der Bevölkerung hätten. Für die Gestaltung einer aktiven Gesellschaft mit
einer zivilen Bürgerkultur ist sie unverzichtbar. Ein solcher Aufbruchswille heute
inmitten von gewaltigen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen
würde auch in unserer parlamentarischen Demokratie notwendige Energien und eine
solche Kreativität freisetzen, die nicht auf Besitzstandswahrung setzt, sondern neue
Lösungen ausprobiert. 1848 ließen sich die Menschen von der Politik begeistern.
Diese Freude an politischer Teilnahme wünsche ich mir heute wieder. Sie könnte
mancher Unzufriedenheit mit der Politik, mit unserer Demokratie insgesamt,
entgegenwirken. Denn wie anders als durch aktive Beteiligung lernt man realistisch
109
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
die Möglichkeiten und Grenzen von Politik einschätzenß Wie anders aber auch kann
man Politik, die einem unzureichend scheint, ändern als durch demokratisches
Engagement, das darauf zielt, es besser zu machenß Die politischen
Gestaltungsaufgaben, die Rolle der Politik gegenüber dem Kapital, der Rechts-,
Wirtschafts- und Sozialordnung sind ja nicht geringer, sondern bedeutsamer und
zukunftsentscheidender geworden.
Die frei gewählte deutsche Nationalversammlung von 1848 war möglich geworden
aufgrund des Einsatzes vieler Menschen aus unterschiedlichen Schichten. Blutige
Kämpfe mit vielen Opfern " rund 200.000 Menschen " gingen dem Frankfurter Paulskirchenparlament voraus und folgten ihm. Die erste deutsche Nationalversammlung
setzte auf die Macht des Wortes, des Arguments, der Gewaltfreiheit. Der freiheitliche
Parlamentarismus wurde vom Adel bekämpft, später mit militärischer Gewalt
zerschlagen. Dennoch blieben und bleiben wichtige Leistungen. So nötigt die in den
Ausschüssen und in der Vollversammlung geleistete parlamentarische Arbeit auch
heute noch großen Respekt ab, weil die Abgeordneten ohne lange Vorerfahrung in
kürzester Zeit ein funktionierendes Rede- und Arbeitsparlament etablieren konnten.
Die oft leidenschaftlich geführten Debatten nahmen die großen Probleme der Zeit
auf, das Parlament war ein wirkliches Forum der Nation, in der das Wort etwas galt
und der Andersdenkende respektiert wurde. Geschaffen wurde eine Verfassung mit
einer Verankerung der Bürger- und Menschenrechte, die in vielen Teilen heute unser
Grundgesetz bestimmt. Allerdings fehlten die Frauen, es fehlte auch die heute in Art.
20 des Grundgesetzes verankerte Sozialstaatlichkeit.
Heute sehen wir neben der Größe aber auch die Grenzen der Nationalversammlung
deutlicher. Dazu gehören sicher die Einseitigkeiten bei der Wahl (wahlberechtigt
waren nur Männer und Besitzende), Defizite in der sozialen Zusammensetzung,
manche nationalistische Ausrichtung, die Wankelmütigkeit bei den Entscheidungsfindungen, und nicht zuletzt, daß die Mehrheit der Abgeordneten den Ausgleich mit
der Obrigkeit in einem monarchischen Konstitutionalismus suchte anstatt in der
vollen republikanischen Volkssouveränität. Daß Bürgerbewegung und Parlament bei
aller Unterschiedlichkeit der Formen politischen Engagements zusammengehörten,
war zudem ein von vielen nicht begriffener Zusammenhang. Dies führte dazu, daß
das eine gegen das andere ausgespielt werden konnte.
Mancher wirkt auch heute daran mit, diesen Fehler unter den Rahmenbedingungen
der Bundesrepublik zu wiederholen. Deswegen gilt es deutlich zu sagen: Unsere
110
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
repräsentative Demokratie mit ihren parlamentarischen Einrichtungen und die aktive
Beteiligung von Bürgern in den unterschiedlichen Formen direkter Demokratie
stehen sich nicht diametral gegenüber. Mißtrauen in das "Volk" ist genauso wenig
angebracht wie Mißtrauen gegenüber dem Parlament. Vielmehr ergänzen sich beide
Seiten in den vielfältigen Bahnen politischer Willensbildung, in Kritik und
Gegenkritik, in den verschiedenen Wegen der Prüfung alternativer Lösungen.
Entscheidend ist der gemeinsame Wille zum gemeinwohlorientierten Engagement.
Dazu ist es notwendig, daß sich weder der Deutsche Bundestag in seiner Arbeit vom
Volk entfernt noch sich die Bürger des Einsatzes für die Einrichtungen der
Demokratie enthalten. Der Preis wäre sonst, wie damals, die Gefahr des Scheiterns.
Der Fehlschlag der Revolution 1848/49 bedeutete nicht das Ende der demokratischen
Ideen; diese blieben bis in unsere Gegenwart hinein lebendig. Das gilt auch für
wichtige Arbeitsergebnisse des Paulskirchenparlaments, wenn diese auch noch von
den Grundsätzen heutiger ziviler, gesamtbürgerschaftlicher Demokratien entfernt
waren. Drei Bereiche sind hier zu nennnen:
1. Der Verfassungsentwurf, der als Einigungswerk für das ganze Deutschland
gedacht war, wurde in der späteren Verfassungsarbeit immer wieder zu Rate gezogen,
in der Reichsgründung, den Beratungen zur Weimarer Verfassung und auch im
Parlamentarischen Rat.
2. Auf den Katalog der unveräußerlichen individuellen und politischen Grundrechte,
erstmalig in der Verfassung verankert, haben sich die beratenden Gremien zur
Weimarer Verfassung ebenso gestützt wie der Parlamentarische Rat. Bis in konkrete
Formulierungen hinein haben die damals formulierten Grundrechte Eingang in unser
Grundgesetz gefunden. Dazu gehören (neben der Abschaffung von Adels- und
Standesprivilegien) vor allem die Unverletzlichkeit der Person, Glaubens- und
Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit mitsamt der Abschaffung der
Zensur, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie eine bürgerlich-öffentliche
Gerichtsbarkeit. Allerdings hat das Grundgesetz aufgrund der bitteren Erfahrungen
mit der brutalen, menschenverachtenden Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur
im Art. 1 den Geltungsbereich der Grundrechte nicht nur auf Deutsche bezogen,
sondern auf alle Menschen ausgedehnt.
3. Auch die Geschäftsordnung der Paulskirchenversammlung, die die Regeln des
parlamentarischen Umgangs miteinander festlegte, hat nicht nur unsere verfahrensmäßigen Regularien im Deutschen Bundestag beeinflußt, sondern auch unsere Debat111
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
tenkultur, die den Andersdenkenden als Gegner, niemals als Feind behandelt: in Rede
und Gegenrede, im Zuhörenkönnen und Ernstnehmen des Redenden, im Setzen auf
argumentative Auseinandersetzung, in der Achtung vor dem Wort des anderen, im
Respekt vor anderen Erfahrungen, im friedlichen Austragen von Konflikten aufgrund
unterschiedlicher Sichtweisen und parteipolitischer Einschätzungen unter Wahrung
der Gemeinsamkeiten aller Demokraten.
Die Macht und die Durchsetzungskraft des Wortes, auf die wir gerade heute setzen,
bedarf aber " auch das gehört zu den wichtigen, gegenwärtig oft übersehenen Erfahrungen von 1848/49 " der Garantien des Rechtsstaates und parlamentarisch kontrollierter Staatsgewalt. Damals waren die Parlamentarier in der Paulskirche ohne Stützung durch von allen Staaten anerkannte exekutive und militärische Macht, sie
konnten nur auf ihre Überzeugungen und die Kraft des Wortes setzen. Die
Gegenrevolution, die den Einsatz für Freiheit und republikanische Ordnung blutig mit
Gewalt niederschlug, bedeutete deswegen auch das Ende des ersten gesamtdeutschen
Parlaments. Deswegen dürfen wir es nicht gering achten, daß wir heute eine auf die
Demokratie verpflichtete Bundeswehr haben, in der im Gegensatz zu damals die
"Staatsbürger in Uniform" unsere Freiheit und unsere parlamentarischen
Einrichtungen sichern helfen.
All das zeigt, wie sehr wir in unserer parlamentarischen Demokratie das politische
Erbe des Paulskirchenparlaments aufgenommen haben. Es gilt, dieses in der Arbeit
nicht nur des Parlaments fruchtbar zu machen, sondern auch im alltäglichen Umgang
in unserer Demokratie. Doch unser Blick sollte, stärker noch als 1848/49, über das
Nationale hinausgehen. Denn heute ist es unsere Aufgabe, sich auch für ein Europa
einzusetzen, in dem eine jetzt möglich gewordene freiheitliche Kultur, ein
demokratisches Europa, die gemeinsame Grundlage der Einheit ist. Es wäre ein
tatsächliches "Europa der Bürger", in dem die Vielfalt der Kulturen sich in dem
Bewußtsein der Zugehörigkeit neu entfalten kann. Ein zweiter "Völkerfrühling",
grenzüberschreitend und die Nationen einigend " das ist die Perspektive für unsere
gemeinsame Zukunft. Eine friedliche Gemeinschaft gleichberechtigter, freier Völker
Europas wird all denjenigen Kräften eine Absage erteilen, die übersteigerten
Nationalwahn, Rassismus, Ausländerhaß und Gewalt auf ihre Fahnen geschrieben
haben.
Die Saat von Paulskirche und Bürgerbewegung ist aufgegangen, der mutige Einsatz
hat sich gelohnt, Freiheit und Einheit sind Wirklichkeit geworden. 1848/49 ist zwar
112
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
eine gescheiterte, aber keine vergebliche Revolution. Die Wahrung dieses Erbes
bedeutet für alle Bürger die dauerhafte Verpflichtung, Freiheitsbewußtsein und
Identifikation mit unserer Demokratie, ihren Werten und institutionellen
Einrichtungen zu stärken. Wer die Freiheitsvernichtung und Zivilisationsbrüche im
Deutschland des 20. Jahrhunderts im Auge behält, wer die Verführung durch den
Rechts- und Linksextremismus gerade auch in der Gegenwart beachtet, der weiß, wie
notwendig es ist, freiheitliches Bewußtsein zu stärken, die Normen der Zivilität und
des fairen Umgangs miteinander zu festigen. Das gilt auch in Hinblick auf die
Einrichtungen unserer parlamentarischen Demokratie. Gegenüber denjenigen, die in
unserem Land schnell dabei sind, das Parlament zu mißachten und die Arbeit der
Abgeordneten geringzuschätzen, kann nicht genug betont werden, wie sehr das
Parlament mit seinen geregelten Verfahren, seinen Willensbildungsprozessen, seiner
Debattenkultur und seinen Entscheidungen Ausdruck gelebter, praktizierter Freiheit
ist. Doch es bedarf zugleich der Bürger, die das Politische als ihre eigene Angelegenheit betrachten, die Gemeinsinn entwickeln und sich im tätigen Engagement
verantwortlich für die Belange aller fühlen. Um heute von den Leistungen der
parlamentarischen Demokratie verstärkt zu überzeugen, brauchen wir ein Höchstmaß
an klarer und verständlicher Sprache, an Toleranz und Übersichtlichkeit. Wir
brauchen nicht mehr Gesetze, sondern mehr Konzentration auf das Wesentliche.
Glaubwürdigkeit stärken wir indem im Parlament die Suche nach Lösungen, das
Ringen um den "besten Weg" in Rede und Gegenrede sichtbar und erlebbar wird. Zur
politischen Willensbildung brauchen wir die Klärung und Abstimmung in den
Fraktionen, aber es lohnt sich, in zunächst offener Debatte die Willensbildung
öffentlich zu machen. Bindung an die einzelne Fraktion und Loyalität sind notwendig
und unverzichtbar, aber Demokratie braucht auch die Sichtbarkeit der individuellen
politischen Überzeugungen, das Wissen darum, wofür Frauen und Männer im
Parlament eintreten, streiten, und ihren Einfluß, ihre politische Macht geltend
machen. Dabei hat die authentische, aus politischer Leidenschaft gehaltene
parlamentarische Rede nichts an Bedeutung verloren, im Gegenteil. Die Demokratie
mit ihren parlamentarischen Einrichtungen lebt vom Dissens und Konsens, vom
Respekt vor dem anderen, von Freiheit, Gleichheit und der Suche nach Gerechtigkeit.
Unsere freiheitliche, parlamentarische Demokratie ist eine kostbare Angelegenheit.
Im Alltag wird dies nicht immer gesehen, und wer sich an sie gewöhnt hat oder in sie
hineingeboren wurde, unterschätzt leicht, wieviel tagtägliche Sorge, wieviel
113
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Anstrengung und dauerhaften Einsatz sie verlangt. Bürgerinnen und Bürgern von
1848/49 war dieses in außerordentlich hohem Maß bewußt. Vielleicht ist dieses das
Wichtigste, an das uns ihr Erbe mahnt.Freiheit und Einheit
Bundestag würdigte Erbe der Paulskirche
(bn) Als "Grundlage unserer heutigen Demokratie" hat Bundestagspräsidentin Rita
Süssmuth (CDU/CSU) die Freiheitsbewegung gewürdigt, die 1848 zur PaulskirchenVersammlung in Frankfurt führte. Damals seien die Grundrechte formuliert worden,
die auch ins Grundgesetz eingegangen seien, der freiheitlichsten Verfassung in der
deutschen Geschichte, hob die Bundestagspräsidentin bei einer Aussprache des
Deutschen Bundestages am 27. Mai zur Erinnerung an den Zusammentritt der
verfassunggebenden Nationalversammlung vor 150 Jahren hervor.
Süssmuth zeigte sich überzeugt, daß "wir in unserem Parlament einen neuen
Aufbruch brauchen." Wichtig seien Konzentration der Arbeit, mehr offene Debatten,
mehr Transparenz und die Macht der Sprache.
Bundestagsvizepräsident Hans-Ulrich Klose (SPD) bezeichnete es nach der
friedlichen Wiedervereinigung als Chance, "auf nationaler und europäischer Ebene zu
einem guten Ende zu führen", was vor 150 Jahren begonnen habe und gescheitert sei.
Jeder müsse Politik als eigene Aufgabe begreifen; so könne sich die Demokratie
immer erneuern und gegen ihre Verächter behaupten.
"Eine Demokratie muß wehrhaft sein, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt", stellte
Bundestagsvizepräsidentin Michaela Geiger (CDU/CSU) als Konsequenz aus dem
Mißerfolg der Paulskirche fest. Es dürfe keine Zusammenarbeit mit extremen
Rechten und extremen Linken geben.
Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) wies darauf hin, daß den Bürgerrechtlern in
der DDR 1989/1990 das Vermächtnis von 1848/49 bewußt war.
"Als immer noch aktuelle Idee" bezeichnete Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.) die Friedensordnung, die die Paulskirchen-Versammlung vor Augen hatte. Beste Garanten
für den Frieden seien Demokratie und Menschenrechte.
Uwe-Jens Heuer (PDS) warb für eine "starke Volksbewegung" gegen
Massenarbeitslosigkeit und für den sozialen und demokratischen Rechtsstaat des
Grundgesetzes.
114
Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected]
Das Reichtagsgebäude-1.doc
Persönliche Notizen
115
Herunterladen