Info: erstellt März 2003 * mit Microsoft Word 2000 * 27.637 Wörter * Dauer 3,5 min / Seite * Seiten: 1 bis 115 VortragsDatum / Zeit ___________ ___________ __________ Das Reichtagsgebäude Historisches und Aktuelles Referat von Carsten Mathes Historisches • Geschichte des Reichstagsgebäudes • Die Geschichte des Parlamentarismus • Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes Aktuelles • Eröffnung des Reichtagsgebäudes • Ein Gang durch das Reichtagsgebäude • Der Bundestag im Reichtags • Der Umbau des Reichtagsgebäudes • Bauen für die Demokratie • Biodiesel für das Reichtagsgebäudes • Auftrag, Planung und Kosten • Energieversorgungsanlage • Das Reichstagsgebäude „Symbol deutscher Geschichte“ • Die parlamentarischen Geschäftsführer zum RTG C:\Dokumente und Einstellungen\Carsten Mathes\Eigene Dateien\Eigene Privat\04 Präsentationen\Bundestag\Das Reichtagsgebäude-1.doc 1 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc 2 • Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben • Das Reichtagsgebäude und seine historischen Orte • Respekt vor den Spuren der Geschichte (Interview mit Norman Forster) • Kunst für das Reichstagsgebäude • Kunstkonzept beschlossen • Ein Besuch lohnt sich • Die fette Henne wird 45 • Freiheit und Einheit • Bundestag würdigt Erbe der Paulskirche • Persönliche Notizen Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Geschichte des Reichstagsgebäudes von Andreas Kaernbach Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zugleich eine Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Unter Bismarcks Ägide vollzog sich der Wandel vom Deutschen Bund, einem Staatsverband von zuletzt 34 nahezu souveränen Staaten, zum föderalen Nationalstaat. Wenn auch einzelne der Bundesstaaten sich noch der Parlamentarisierung ganz oder teilweise versagten, durch das Dreiklassenwahlrecht in Preußen zum Beispiel oder durch die altständische Verfassung in den beiden Großherzogtümern Mecklenburg, so erlaubte nun doch der Nationalstaat erstmals allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlen in ganz Deutschland, Wahlen zum Reichstag. Die neu errungene politische Macht der Bürger verlangte nach angemessener architektonischer Repräsentation. Doch bevor der Neubau eines Reichstagsgebäudes zustande kam, musste sich das Parlament aufgrund verschiedener Hindernisse, die sich bei der Suche nach einem geeigneten Grundstück ergaben, zunächst mit provisorischen Unterbringungen zufrieden geben. Der erste neugewählte gesamtdeutsche Reichstag trat zu seiner ersten Sitzung Ende März 1871 in einem Gebäude in der Leipziger Strasse 75 zusammen. Dieses hatte zuvor u.a. dem preußischen Abgeordnetenhaus als Tagungsort gedient. Der schlechte bauliche Zustand des Gebäudes führte bereits im folgenden Monat zu einer Debatte im Reichstag über den Neubau eines Parlamentsgebäudes. Es ist bezeichnend für das Selbstbewusstsein der Abgeordneten, dass sie den Vorschlag der Regierung, lediglich auf dem Grundstück des Kanzleramtes ein kleineres Parlamentsgebäude zu errichten, ablehnten. Sie forderten ein frei stehendes Gebäude, da es sich doch, wie die Deutsche Bauzeitung später formulierte, "um den bedeutendsten und dem Range nach ersten Monumentalbau des deutschen Volkes" handele. Eine Reichstagsbaukommission wurde eingesetzt, der Reichstag bezog als neues Provisorium das Gebäude der Königlichen Porzellanmanufaktur zu Berlin in der Leipziger Strasse 4 und entschied sich bei der Wahl eines Baugrundstückes für das künftige Parlamentsgebäude für die Ostseite des damaligen Königsplatzes. Noch im Jahre 1872 wurde ein erster Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Über 100 Entwürfe, darunter solche aus England, Amerika und Frankreich, erreichten die Reichstagsjury. Sie vergab einen ersten Preis, doch der Entwurf des Preisträgers musste zu den Akten gelegt werden, da es nicht gelang, den Besitzer des vorgesehenen Baugrundstückes, den Grafen Raczynski, zur Aufgabe seines dort 3 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc gebauten Palastes zu bewegen. Erst im Jahre 1882 konnte nach einer Einigung mit den Erben des Grafen Raczynski die Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung durchgesetzt werden. Albrecht Kurz (1858 - 1928) Das Reichstagsgebäude. Ohne Jahr Chromolithographie So wurde im Jahre 1882 der zweite Wettbewerb für das Reichstagsgebäude ausgeschrieben. Unter nahezu 200 eingereichten Entwürfen erhielt derjenige von Paul Wallot (1841-1912) den ersten Preis. Der aus Oppenheim stammende Architekt hatte seine Lehrzeit in Berlin u.a. im Büro von Martin Gropius verbracht und war später nach Frankfurt am Main übergesiedelt. Das Wallot und nicht ein Berliner Architekt den ersten Preis erhalten hatte, führte zunächst zu einigen Intrigen und Pressequerelen. Auch blieb es Wallot nicht erspart, seinen preisgekrönten Entwurf mehrfach überarbeiten zu müssen. Erst am 9. Juni 1884 konnte schließlich in einer prunkvollen Feier - Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Fürst Bismarck nahmen an ihr teil - der Grundstein gelegt werden. In der Folgezeit musste Wallot energisch darum kämpfen, die Kuppel - entsprechend seinem ursprünglichen Entwurf - zentral über dem Sitzungssaal anzubringen. Wallot betrachtete die Kuppel sowohl aus Gründen der Lichtwirkung im Gebäude als auch für die ästhetische Gesamtwirkung des Gebäudes, die Verteilung der Baumassen also, als unerlässlich. Was seiner Konzeption einen besonderen Rang verlieh, war die Tatsache, dass in der damaligen Zeit ein solcher Kuppelbau eine technische Meisterleistung darstellte, gleichsam ein Symbol zukunftsweisender Ingenieurbaukunst. Nicht weniger energisch musste sich Wallot gegen die Versuche Kaiser Wilhelms II., eigenwillig, aber doch dilettantisch mitzuentwerfen, zur Wehr setzen. Freilich trug ihm diese aufrechte Haltung 4 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc kaiserliche Ungnade ein. Diese äußerte sich in wiederholt, auch öffentlich vorgetragener unsachlicher Kritik an der Architektur des Reichstagsgebäudes und führte zu des Kaisers Weigerung, Wallot - trotz eines einstimmigen Jury-Urteils - die Goldmedaille der großen Berliner Kunstausstellung zu verleihen. Am 5. Dezember 1894 endlich konnte die Schlusssteinlegung gefeiert werden. Am gleichen Tag fand die Reichstagseröffnung im Berliner Schloß statt. Kennzeichnend für die bestehende Dominanz des Militärischen über das Zivile war der - freilich von der Presse kritisierte - Umstand, dass der Reichstagspräsident von Levetzow an der Zeremonie in der Uniform eines Landwehrmajors teilnahm. Die gleiche Atmosphäre erhellt aus dem Schicksal der Giebel-Inschrift. Bei der Schlusssteinlegung fehlte sie noch, da der Wortlaut, "Dem Deutschen Volke", dem Kaiser aus offensichtlicher Distanz zum Parlamentarismus unwillkommen war. Er hätte dem Schriftzug "Der Deutschen Einigkeit" den Vorzug gegeben. Erst im Jahre 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde sie - entworfen von dem Jugendstilkünstler Peter Behrens - mit der Zustimmung des Kaisers angebracht, der in politisch schwieriger Lage dem Parlament Entgegenkommen bezeigen wollte. Zwei Jahre später stand das Reichstagsgebäude im Mittelpunkt der revolutionären Ereignisse in Berlin. Nach der Abdankung des Kaisers rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Gebäudes die Republik aus, und im Plenarsaal tagten die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte. Infolge der Unruhen in Berlin wurde die im Januar 1919 gewählte verfassunggebende Nationalversammlung nicht nach Berlin in das Reichstagsgebäude, sondern in das Staatstheater nach Weimar einberufen und dort Anfang Februar 1919 eröffnet. Erst in der zweiten Hälfe des Jahres 1919 kehrten die Parlamentarier in das Reichstagsgebäude zurück. Wie der Beginn so war auch das Ende der Weimarer Republik eng mit dem Schicksal des Reichstagsgebäudes verknüpft. Ein vermutlich von dem holländischen Kommunisten van der Lubbe gelegter Brand zerstörte den Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933. Der Brand bot den Nationalsozialisten den willkommenen Vorwand, in einer offenkundig schon vorbereiteten Aktion mitten im Wahlkampf führende kommunistische Abgeordnete zu verhaften, die sozialdemokratische Presse vorübergehend zu verbieten und wichtige Grundrechte außer Kraft zu setzen. 5 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Wenigstens blieb dem Reichstagsgebäude durch den Brand erspart, zum Ort der Verabschiedung des "Ermächtigungsgesetzes" zu werden. Mit der Annahme dieses Gesetzes am 23.März 1933 entmachteten sich die verbliebenen Parlamentarier selbst. Lediglich die Sozialdemokraten stimmten gegen das Gesetz. Die Abstimmung fand in der dem Reichstagsgebäude gegenüberliegenden Krolloper statt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude nicht mehr für parlamentarische Zwecke genutzt. In der Endphase der Kämpfe um Berlin tobte ein besonders erbittertes Gefecht um das Reichstagsgebäude, da seiner Eroberung von der sowjetischen Führung offenkundig große symbolische Bedeutung beigemessen wurde. Weltweit bekannt wurde das - inszenierte - Foto der Flaggenhissung durch Soldaten der Roten Armee auf dem Hauptgesims der Ostfassade des Reichstagsgebäudes. Nach dem Kriege bildete die Ruine des Gebäudes den Hintergrund für die gewaltige Demonstration der Berliner am 9. September 1948 während der Blockade Westberlins, als Oberbürgermeister Ernst Reuter seinen berühmten Appell: "Ihr Völker der Welt ..... Schaut auf diese Stadt" an die freie Welt richtete. Fotografie der Reichstagsruine aus dem Jahr 1945 Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden dann erste Enttrümmerungsarbeiten in der Ruine durchgeführt. Infolge einer fragwürdigen Entscheidung wurde die beschädigte Kuppel gesprengt, später wurde ein Teil der Fassade unter Entfernung des historischen Stucks wiederhergestellt. Erst im Jahre 1955 beschloss der Deutsche Bundestag definitiv den Wiederaufbau, allerdings zunächst ohne Festlegung einer späteren Nutzung. Nach Ausschreibung eines beschränkten Wettbewerbs erhielt schließlich Paul Baumgarten im Jahre 1961 den Auftrag zum Ausbau des Reichstagsgebäudes. Dieser wurde bis zum Jahre 1973 vollendet. Bereits im Jahre 1971 war vom Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude die Ausstellung "Fragen 6 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc an die deutsche Geschichte" eröffnet worden. Bundestagssitzungen durften seit dem Viermächte-Abkommen von 1971 ohnehin nicht in Berlin abgehalten werden, lediglich Fraktions- und Ausschusssitzungen fanden daher in den neu eingerichteten Sitzungssälen statt. Gleichwohl war im Zentrum des Hauses ein vollständiger Plenarsaal hergerichtet worden, der jederzeit den Abgeordneten eines wiedervereinigten Deutschlands hätte Platz bieten können. Seine Stunde kam am 4. Oktober 1990: Das erste gesamtdeutsche Parlament trat zu seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zusammen. Doch das Gebäude sollte noch stärker in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rücken, und zwar durch den Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991, Parlament und Regierung nach Berlin zu verlegen, sowie durch den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages, das Reichstagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu erheben. Nach einem 1992 ausgelobten internatonalen Architektenwettbewerb wurde Sir Norman Foster mit den Umbauarbeiten beauftragt. Mit der Verhüllung des Gebäudes durch Christo vor Beginn der Umbauarbeiten stand das Reichstagsgebäude im Jahre 1995 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Auch die Wiedererrichtung einer - wenngleich gegenüber Wallots Werk modifizierten - Kuppel ist inzwischen realisiert. Der Deutsche Bundestag eröffnet im April 1999 das umgebaute Reichstagsgebäude mit einer feierlichen Sitzung. Am 23. Mai 1999 wählt die Bundesversammlung den neuen Bundespräsidenten an gleicher Stelle. Im September 1999 verlegt der Deutsche Bundestag seinen Sitz endgültig nach Berlin. Von diesem Zeitpunkt an finden die Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude statt. 7 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Geschichte des Parlamentarismus Die parlamentarische Arbeit im Reichstagsgebäude von Hermann Schäfer Blick in den historischen Plenarsaal im alten Reichtagsgebäude. Ein Zwischenfall wie vor 105 Jahren wird sich bei der feierlichen Eröffnung des Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude gewiss nicht wiederholen: Als sich am Donnerstag, dem 6. Dezember 1894, die Parlamentarier erstmals im neuen Plenarsaal versammelten, waren einige wenige Sozialdemokraten, darunter ihr Senior, der damals schon fast 70-jährige Wilhelm Liebknecht, beim dreifachen "Kaiser-Hoch" entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit im Plenarsaal anwesend; während sich jedoch alle anderen Abgeordneten von ihren bequemen neuen Ledersesseln erhoben, blieben sie sitzen. Der Reichstagspräsident soll damals außer sich geraten sein und mit seinem Rücktritt gedroht haben, während Reichskanzler Fürst von Hohenlohe die Einleitung eines Verfahrens gegen Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung beantragte. Der Reichstag verweigerte jedoch die Aufhebung von dessen Immunität, und die Wogen glätteten sich schließlich mit einer Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages, die es dem Reichstagspräsidenten von nun an gestattete, Abgeordnete "im Falle gröblicher Verletzung" von einer Sitzung auszuschließen. Mit der Politik des "Burgfriedens" im Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Anerkennung der Sozialdemokraten durch Wilhelm II. – für ihn bis dahin "vaterlandslose Gesellen" – wurde das "KaiserHoch" ab der Sitzung am 4. August 1914 in ein "Hoch auf Kaiser, Volk und Vaterland" abgeändert, das auch die Sozialdemokraten von da an stehend mitanhörten. 8 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Plenarsaal im Reichtagsgebäude heute. Die insgesamt 397 Abgeordneten des 1871 gegründeten Deutschen Reiches tagten zunächst 23 Jahre in der Leipziger Straße 75 bzw. 4; am 3. März erstmals für dreijährige, ab 1888 fünfjährige Perioden gewählt, versammelten sie sich ab dem 21. März 1871 im Abgeordnetenhaus, der Zweiten Preußischen Kammer des Landtages, und ab dem 16. Oktober 1871 in der eigens umgebauten Königlichen Porzellanmanufaktur. Obwohl die dortigen Raumverhältnisse beengt waren, dauerte es elf Jahre, bis in einem Wettbewerb 1882 die Entscheidung für einen Parlamentsneubau nach einem Entwurf des Oppenheimer Architekten Paul Wallot fiel, zu dem am 9. Juni 1884 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck der Grundstein gelegt wurde. Weder Wilhelm I. noch sein Enkel respektierten die Volksvertretung, nur zu gern sahen sie deren Gebäude außerhalb der Stadtgrenzen, und Wilhelm II. machte keinen Hehl daraus, dass er das Gebäude persönlich für den "Gipfel der Geschmacklosigkeit" hielt. Die Meinung der Abgeordneten war differenzierter, der Sozialdemokrat August Bebel – übrigens seinerzeit "Rekordhalter" für Ordnungsrufe und Ermahnungen des Reichstagspräsidenten – soll das Gebäude zum Beispiel für schön gehalten haben. Die Bedingungen für die parlamentarische Arbeit wurden jedenfalls in vieler Hinsicht besser im Vergleich zu dem alten Provisorium: Plenarsaal, Ausschussräume, Sitzungszimmer, Wandelhallen, Bibliothek, Lesezimmer etc. waren großzügiger; freilich waren alle Wege weiter und auch das neue Restaurant in seiner Bewirtungsqualität und Belüftung umstritten. Die 1912 zwischen Ober- und Dachgeschoss eingebauten 100 Arbeitszimmer für Abgeordnete reichten jedoch in keiner Weise; in den zwanziger Jahren teilten sich darin manchmal bis zu sechs Parlamentarier zwei Schreibtische. Allerdings wurde diese Raumnot erst offenbar, als 9 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc die Mitglieder des Reichstages etwa ab 1907 häufiger zu den Sitzungswochen nach Berlin kamen. Das Recht auf Zusammenkunft, Vertagung und Auflösung lag nach Artikel 12 der Reichsverfassung von 1871 beim Kaiser, und tatsächlich tagte der Reichstag anfangs nur zweimal jährlich jeweils etwa sechs Wochen von März bis Juni und Oktober bis Dezember. Feierstunde zum dritten Jahrestag der Unterzeichnung der Verfassung des Deutschen Reiches durch Reichspräsident Ebert am 11. August 1922. Wäre es nach Bismarck und dem Kaiser gegangen, wäre die Abgeordnetentätigkeit ganz ehrenamtlich geblieben. Zunächst erhielten die Reichstagsabgeordneten nur ein allgemeines Freifahrtsrecht für die Eisenbahn und erst ab 1906 eine Diätenentschädigung in Höhe einer Jahrespauschale, die bezogen auf eine sechsmonatige Session etwa dem Besoldungsniveau eines Regierungsrates oder Professors entsprach. In der Weimarer Republik erhielten die Abgeordneten dann das ganze Jahr hindurch 25 Prozent des Grundgehaltes eines Ministers sowie zusätzlich ein 30stel der Monats-Pauschale pro Tag, wenn sie außerhalb der Sitzungsperioden in Berlin sein mussten. Die Zahl der Sitzungstage pro Session hatte sich bis zur Jahrhundertwende gegenüber den Jahren nach 1871 etwa verdoppelt (94 statt 181 Tage) und erhöhte sich mit Einführung der Diäten erneut. Wurden früher die laufenden Parlamentsgeschäfte von 10 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc etwa 60 bis 80 Mitgliedern des Reichstages erledigt und waren die Abgeordneten, je weiter sie von Berlin entfernt wohnten, umso weniger in der Lage an Sitzungen teilzunehmen, wurde der Reichstag nunmehr zunehmend zu einer Vertretung des ganzen Deutschland. In der Regel tagten die Abgeordneten in Sitzungswochen von Montag bis Samstagnachmittag, Ausschüsse und Fraktionen vormittags ab 10.00 Uhr, das Plenum ab mittags 13.00 oder 14.00 Uhr (außer montags und samstags). Blick in das Restaurant des Reichstagsgebäudes um 1928. Seine "Mappe" mit Tagesordnung und allen Vorlagen, Anfragen und Berichten sowie sonstigen Materialien erhielt jeder Abgeordnete frühmorgens zugestellt; es war meist mehr, als er gründlich durcharbeiten konnte. Im Kaiserreich zeichnete sich denn auch bereits in Ansätzen die Praxis der Politikberatung ab, insbesondere durch Juristen, Nationalökonomen, Historiker etc. Die Redezeit für einzelne Abgeordnete im Plenum wurde erst Ende Dezember 1922 auf höchstens eine Stunde beschränkt, zugleich wurden bei wichtigen Debatten Gesamtredezeiten für die Fraktionen eingeführt. Den Rekord mit der längsten Rede im Reichstag hält der SPD-Abgeordnete Antrick mit seiner Achtstundenrede am 13. November 1902, die von 16.30 Uhr bis 0.30 Uhr dauerte. Bismarck belastete die parlamentarische Atmosphäre im Kaiserreich ab 1871 durch seinen "Kulturkampf" gegen den Katholizismus und ab 1878 durch die Sozialistengesetze. Trotz der allseits anerkannten Würde des Hohen Hauses gab es auch mancherlei Zwischenfälle, heftige Beifalls- und Missfallensäußerungen unter den Abgeordneten ebenso wie von der Tribüne, im März 1908 sogar einen mehrtägigen Journalistenstreik wegen einer "Saubengel"-Beleidigung durch einen Abgeordneten. 11 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Besuch in Berlin: Bundeskanzler Ludwig Erhard am 30. April 1964 im Reichstagsgebäude in Begleitung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt. Abgestimmt wurde normalerweise durch Aufstehen von den Sitzen, noch genauer mit weißen "Ja"-, roten "Nein"- oder blauen "Enthaltungs"-Karten und im Ernstfall durch den "Hammelsprung". Zweifellos war Reden und Zuhören anstrengender als heute, da die Akustik des Plenarsaals schlechter war als im vorherigen Provisorium, sodass Abgeordnete immer wieder das Rednerpult stehend umringten, um besser verstehen zu können. Journalisten und Zuhörer auf den Tribünen hatten noch größere Schwierigkeiten, wenn die Abgeordneten nicht wirklich laut und in Richtung der links und gegenüber dem Präsidium liegenden Pressetribüne sprachen. Erst Anfang 1929 wurde der Plenarsaal mit Mikrofonen, Verstärkern und Großlautsprechern ausgestattet. Rundfunkübertragungen gab es mit Ausnahme einzelner Feierstunden oder besonders wichtiger Reden bis 1933 nicht. Die erste live und in voller Länge übertragene Rede war die von Reichskanzler Heinrich Brüning am 25. Februar 1932, ab der immerhin aufgezeichnet wurde. Der Ältestenrat des Reichstages verweigerte grundsätzlich seine Zustimmung zu Rundfunkübertragungen und vergab somit vielleicht eine Chance, die Arbeit des Parlaments einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und damit möglicherweise die Akzeptanz der Demokratie zu erhöhen. Hitler nutzte die Möglichkeiten des Rundfunks nach der "Machtergreifung" schamlos, obwohl die "Volksvertretung" da bereits zum Akklamationsinstrument der Diktatur verkommen war, dem so genannten "teuersten Gesangverein" der Kroll-Oper, in der nach dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 getagt wurde. 12 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Konstituierende Sitzung des ersten gesamtdeutschen Parlaments am 4. Oktober 1990 im Reichstagsgebäude. Der Reichstag des Kaiserreiches litt unter einem Mangel an parlamentarischen Rechten, vor allem zur Kontrolle der vom Kaiser eingesetzten Regierung. Die Weimarer Republik war geprägt von Parteienvielfalt und ideologischem Gegeneinander und belastet durch wirtschaftliche Probleme und das Fehlen breiter demokratischer Gesinnung. Die letzte Plenarsitzung des alten, im Januar 1912 gewählten und infolge des Weltkrieges mit Überdauer amtierenden Reichstags fand am 24. Oktober 1918 statt, dem Monat, in dem der Kaiser – im Angesicht der militärischen Niederlage – ein Regierungssystem mit parlamentarischer Kontrolle zugestand. Fast ein Jahr sollte vergehen – vom Balkon des Reichstags aus hatte Philipp Scheidemann am 9. November die Republik ausgerufen -, bis sich am 30. September 1919 die frei gewählten Vertreter des inzwischen souverän gewordenen Volkes wieder an ihrer traditionellen Stätte im Wallot-Bau zu Berlin versammelten. Infolge der Novemberrevolution, in der Arbeiter- und Soldatenräte die Macht übernommen hatten und auch im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes ihre Versammlungen abhielten, war die Situation in Berlin bedrohlich. Die am 19. Januar 1919 gewählten 423 Mitglieder der Nationalversammlung – unter ihnen erstmals 37 Frauen – tagten ab dem 6. Februar 1919 im Nationaltheater zu Weimar. Die Situation in Berlin blieb hier auch nach Rückkehr der Parlamentarier unruhig: Nachdem am 13. Januar 1920 eine Demonstration vor dem Reichstag 42 Tote gefordert hatte, wurde am 20. Mai 1920 ein erstes Bannmeilengesetz verabschiedet. Bis zum Regierungsantritt Heinrich Brünings im März 1930 sah das Parlament, das inzwischen fast 600 Mitglieder hatte, 14 verschiedene Kabinette, die durchschnittlich jeweils nur acht Monate amtierten. Kein einziger Reichstag der Weimarer Republik erlebte das Ende seiner vierjährigen Wahlperiode. Die Arbeit des Plenums wurde noch schwieriger, als die Wahlen im September 1930 den Nationalsozialisten vor 13 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise einen großen Zuwachs an Mandaten brachten. Eine der größten Störungen inszenierten die Parteigänger Hitlers bereits am 13. Oktober 1930 anlässlich der ersten Sitzung des neu gewählten Reichstages, als die NSDAP-Fraktion geschlossen in Uniform in den Plenarsaal marschierte. Mit Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krise wurden die Nationalsozialisten 1932 stärkste Fraktion. Bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gefährdeten die parlamentarische Arbeit und schwappten als Saalschlachten in den Reichstag hinein. Als der Reichstag am 9. Dezember 1932 auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, ahnte niemand, dass dies die letzte Sitzung im Wallot-Bau sein würde, bis Willy Brandt am 20. Dezember 1990 als Alterspräsident die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach den gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 eröffnen sollte. Am 19. April 1999 kommt der Deutsche Bundestag zu seiner ersten Sitzung im umgebauten Reichstagsgebäude zusammen. In diesen 58 Jahren wurde das Reichstagsgebäude erst nach seinem Umbau, ab dem 11. November 1963, dem Tag der Schlüsselübergabe an den Bundestagspräsidenten, wieder für parlamentarische Gremien genutzt, an diesem Tag beispielsweise für eine Sitzung des Ältestenrates und in den folgenden Jahren während der "Berlin-Wochen" des Bundestages für Ausschusssitzungen, Fraktionsberatungen und Pressekonferenzen. Zwar traten die Bundesversammlungen zur Wahl des Bundespräsidenten 1954, 1959, 1964 und 1969 in Berlin zusammen – jedoch nicht im Reichstagsgebäude – und seit 1958 regelmäßig begleitet von Protesten der Moskauer und Ost-Berliner Regierungen wegen angeblicher Verletzung des Berlin-Status der geteilten Stadt. Eine Plenarsitzung des Bundestages fand überhaupt nur einmal statt: Den Teilnehmern ist diese Sitzung am 7. April 1965 – in der Kongresshalle – unvergesslich, weil sie vom ohrenbetäubenden Lärm sowjetischer Tiefflieger gestört wurde. Die Sitzung im Anschluss an den ersten Tag der Deutschen Einheit (3. 14 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Oktober 1990) am 4. Oktober 1990 war eine Sitzung der Mitglieder des Deutschen Bundestages, ergänzt um 144 Abgeordnete der aufgelösten Volkskammer aus den neuen Bundesländern. Das Reichstagsgebäude hat in seiner wechselvollen 105-jährigen Geschichte Jahre der schwierigen Parlamentsarbeit im kaiserlichen Obrigkeitsstaat erlebt, ebenso wie die Parlamentarisierung der Reichsregierung und der Demokratie der Weimarer Jahre voller Unruhen; es beherbergte jedoch nie die Diktatur des "Dritten Reiches". Der Deutsche Bundestag bringt durch seinen Einzug in das Reichstagsgebäude die positive Tradition der in Bonn begründeten parlamentarischen Demokratie mit. 15 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Bilder-Geschichte des Reichstagsgebäudes Am 9. Juni 1884 legt Kaiser Wilhelm I. den Grundstein für das Reichstagsgebäude. Der repräsentative Bauentwurf stammt von dem Frankfurter Architekten Paul Wallot. Mit dem Bau soll dem deutschen Reichstag, der bislang nur provisorisch untergebracht war, endlich ein eigenes Haus geschaffen werden. Nach einer Bauzeit von 10 Jahren findet am 5. Dezember 1894 die Schlußsteinlegung durch Kaiser Wilhelm II. statt. Das monumentale und repräsentative Parlamentsgebäude offenbart rasch einen gravierenden Mangel: Es fehlen Arbeitsräume für die einzelnen Abgeordneten. Am 9. November 1918, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches, ruft Philipp Scheidemann von einer Balkonbrüstung des Reichstagsgebäudes die Republik aus. 16 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Am 30. Januar 1933 wird Hitler zum Reichskanzler ernannt. Der Reichtagsbrand am Abend des 27. Februar 1933 bedeutet das Ende der parlamentarischen Demo-kratie in Deutschland. Mit dem Ermächtigungsgesetz wird der Weg zur Einparteienherrschaft geebnet. Die nationalsozialistische Herrschaft führt Deutschland und Europa in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Als die Sow-jetflagge auf einem der Ecktürme des Reichstagsgebäudes gehißt wird, ist die Schlacht um Berlin zu Ende und die Niederlage des Deutschen Reiches besiegelt. Aus Protest gegen die Blockade und gegen die Spaltung Berlins durch die Sowjetunion kam es am 9. September 1948 zur berühmten Demonstration von 350.000 Menschen vor dem Reichstagsgebäude. Mit seinem Appell an die "Völker der Welt", den Blick auf Berlin zu richten, macht Ernst Reuter den Bewohnern der Stadt Mut. 17 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 wurde Berlin geteilt. Die Grenze verlief über Jahrzehnte unmittelbar entlang des Reichstagsgebäudes. Mit dem Zusammenbruch der SEDFührung als Folge anhaltender Massendemonstrationen wurde das Ende der DDR eingeleitet. "Mauerspechte", wie an der Grenzmauer in der Ebert-straße hinter dem Reichtagsgebäude entnehmen Stücke der Mauer, die am 9. November 1989 endgültig zu Fall gekommen war. Am 4. Oktober 1990, einen Tag nach der Vereinigung, findet die erste Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages im Reichstagsgebäude statt. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hält die Eröffnungsansprache. 18 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Am 25. Februar 1994 entschied sich der Bundestag für das Projekt der Künstler Christo und JeanneClaude, das Reichstagsgebäude zu verhüllen. Vom 23. Juni bis zum 6. Juli 1995 präsentierte sich der Reichstag dem Betrachter in matt schimmender "Verpackung". Am 19. April 1999 wurde das nach den Plänen von Sir Norman Foster umgebaute Reichstagsgebäude vom Deutschen Bundestag übernommen. Die gläserne Kuppel, Wahrzeichen des Gebäudes, ist auch für Besucher begehbar. 19 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Eröffnung des Reichstagsgebäudes in Berlin Thierse: Berlin wird für Freiheit und Demokratie stehen (hib) "Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands; das umgebaute Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deutschen Bundestages." Mit diesen Worten umriß Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Bedeutung der ersten Sitzung des Bundestages nach dem Umbau des Parlamentsgebäudes in der Hauptstadt. Berlin werde für Freiheit und Demokratie, für eine europäische Politik stehen. "Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", betonte der Präsident. Auch nach diesem Umzug werde die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaatliche und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über Jahrzehnte hinweg bewährt habe. Er forderte zu einer "kritischen Innenansicht unserer eigenen Geschichte" auf, die nichts mit selbstgefälliger Rückschau oder gar Geschichtsrevisionismus zu tun habe, sondern mit einer "kritischen Selbstvergewisserung, welches historische Erbe wir gerade in diesem so umstrittenen Gebäude antreten". Das Gebäude habe bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf parlamentarische Demokratie als in Richtung auf einen restaurativen Absolutismus gezielt. Aber weil es dem Reichstag damals nicht gelungen sei, erweiterte Parlamentsrechte durchzusetzen, sei es geradezu folgerichtig gewesen, daß der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstags die Republik ausrief. Das Reich habe eine demokratische Verfassung erhalten, der Reichstag sei Ort der parlamentarischen Auseinandersetzung geworden. Thierse bezeichnete es als eines der "hartnäckigsten und dümmsten Vorurteile", daß das Reichstagsgebäude als Symbol für den "nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und seine Kriegspolitik" stehe. Hitler habe in dem Gebäude nie als Parlamentarier gesprochen. Nach dem Krieg und erst recht nach dem Bau der Mauer habe das Reichstagsgebäude "wie ein Mahnmal" fast Wand an Wand mit dieser "gewaltsamen innerdeutschen Grenze" gestanden. Es sei für ihn ein Symbol für das ungelöste Problem der deutschen Teilung gewesen, sagte Thierse. Der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin symbolisiert für den Präsidenten etwas "erfreulich Zivilisatorisches" in der deutschen Geschichte. Dieser neue Moment verweise auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst wirklich die deutsche politische Kultur hätten prägen können. An diesen Traditionen, nämlich dem Antifaschismus und einem unaufgeregten, bescheidenen Verhältnis zur Nation, 20 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc dem Streben nach sozialem Ausgleich, der guten Nachbarschaft und dem Interessenausgleich mit den anderen Völkern und Staaten, der europäischen Zusammenarbeit und Integration sowie der Fortentwicklung der Europäischen Union, müsse man festhalten, so Thierse. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielten, würden an diesem Ort ad absurdum geführt: "Dieser Ort ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr, er läßt keinen Schlußstrich zu!" Totalitäre Ideologen und Demagogen dürften in Deutschland nie wieder eine Chance bekommen. In diesem Zusammenhang dankte der Bundestagspräsident dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1983 gesagt habe, es bleibe als Mahnung festzuhalten, daß die Republik jeden Tag neu erworben werden müsse, "weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht von selbst versteht". Thierse dankte dem Architekten, Sir Norman Foster, der mit dem Neubau von Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischen Ursprungsarchitektur eine gelungene Synthese geschaffen habe, seiner Vorgängerin Rita Süssmuth, dem Vorsitzenden der Baukommission des Bundestages, Dietmar Kansy, sowie allen, die zum Gelingen des Projektes beigetragen hätten. Der Architekt verdeutlichte in seiner Ansprache, er habe bei der Ausschreibung des Wettbewerbs zunächst Zweifel gehabt, ob er als Ausländer für ein so bedeutsames Gebäude die Verantwortung übertragen bekommen würde. Im nachhinein könne er feststellen, daß der Prozeß von Anfang bis Ende von Tatkraft, Fairneß und Offenheit aller Beteiligten geprägt gewesen sei. Foster erinnerte zudem an die Verhüllung des Reichstagsgebäudes im Sommer 1995. Damals sei man "Zeuge einer Transformation" geworden. Heute seien "ähnliche Gefühle wieder in der Luft". Kansy zitierte den früheren französischen Präsidenten Francois Mitterrand mit den Worten "Ein Volk ist so groß wie seine Architektur". Die Verantwortlichen, so Kansy, hätten sich darum bemüht, nicht luxuriös oder pompös, sondern würdig und angemessen für ein Verfassungsorgan zu bauen. Der Bundestag habe nicht nur ein Quartier gesucht in dieser Stadt, sondern mitgestalten wollen als deutsches Parlament. Dies sei gelungen, ohne den Kostenrahmen zu überschreiten. 21 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Ein Gang durch das Reichstagsgebäude Von der Westlobby aus linker Hand liegt u.a. das Abgeordnetenrestaurant, rechter Hand die Wandelhalle Südwest. Sie ragt hoch über zwei Geschosse hinweg auf. Wie eine Galerie zieht sich ein aluminiumunterlegter gläserner Steg auf halber Höhe durch die Halle, der zur Besucherebene gehört. Links von der Wandelhalle Südwest schließt der Lichthof Süd an, rechts die große Abgeordnetenlobby, die mit bequemen Sitzmöbeln ausgestattet ist. Unübersehbar grau gefärbt sind die Lüftungsaggregate, die zwischen den Fenstern fast drei Meter hoch aufragen. An der Nordseite des Raumes hängt großflächig eine Fotokunstarbeit der Düsseldorfer Künstlerin Katharina Sieverding zur Erinnerung an die ermordeten, verfolgten und verfemten Mitglieder des Deutschen Reichstags. Zusammen mit den in Dokumentationsbüchern exakt recherchierten Lebensschicksalen dieser Abgeordneten bildet der Ort eine Stätte des Gedenkens und der Besinnung.Auch die Wandelhalle selbst ist künstlerisch ausgestaltet. Von der Decke hängen 24 Acryltafeln, auf denen der jüngst verstorbene Künstler Carlfriedrich Claus seinen "Experimentalraum Aurora" als Denklandschaft ausgeformt hat. Von der Wandelhalle aus gesehen links liegt der Südflur, der parallel zur Scheidemannstraße die Wandelhallen West und Ost verbindet. Links erneut der Lichthof, in dessen Mitte der Düsseldorfer Bildhauer Ulrich Rückriem zwei Bodenreliefs aus geschnittenen Granitplatten geschaffen hat, die mit der Fassade des Lichthofes harmonieren. Rechts ist der Treppenaufgang des Südportals, dessen Seitenwände mit großformatigen Leinwandbildern des sächsischen Malers Georg Baselitz ausgestattet sind. Die Motive beziehen sich auf die Holzschnitte "Die Frau am Abgrund" sowie "Schlafender Knabe" von Caspar David Friedrich. 22 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Anschließend folgt der Andachtsraum mit den von Bildhauer Günther Uecker geschaffenen Gebotstafeln, die zusammen mit dem Altarstein ein Kreuz bilden und dem Raum mit seinem seitlich einfallenden Licht die sakrale Atmosphäre geben. Osthalle Es folgt der eigentliche Besucherbereich des Plenarsaals mit den sechs einzelnen Tribünen, 23 Über das Treppenhaus in Südost kann man die eine Etage höher gelegene Besucherebene erreichen. Über eine Galerie mit Blick in die Wandelhalle gelangt man zu einem Steg, der vom Architekten neu in die Halle eingefügt wurde. An den Wänden sind die alten Sandsteinverkleidungen aus der Wallot-Zeit zu erkennen, die zum Teil mit kyrillischen Schriftzeichen beschrieben sind. Diese stammen aus den Tagen der Eroberung des Hauses durch die Rote Armee zum Ende des Zweiten Weltkrieges und wurden als Geschichtszeugnis konserviert. Auf der Besucherebene sind alle Türen, die zu Büros und Vortragssälen führen, grün, auf der Plenarsaalebene sind sie blau. Dieses Farbkonzept, das sich auch auf den Beschlägen der Durchgangstüren wiederfindet, dient der Orientierung im Hause. Wenn man von der Tribüne weiter nach unten blickt, so ist die Sitzanordnung zu erkennen, nach der sich die Abgeordneten dem Präsidenten und Sitzungsvorstand, der Bundesregierung und dem Bundesrat gegenübersehen. Links vom Präsidenten bzw. der Präsidentin befinden sich die Plätze für den Bundeskanzler und die Bundesregierung, auf der rechten Seite die Plätze des Bundesrates, der Vertretung der Länder. Die beiden Stühle jeweils in der ersten Reihe, die dem Präsidiumspodest am nächsten stehen, sind dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten vorbehalten. An die Regierungs- und Bundes- Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc die sich von dieser Ebene aus fast in die Mitte des Plenarsaals hineinsenken und jeweils 73 Gästen Platz bieten. Hier hat man den besten Blick auf den Plenarsaal und seiner Architektur. Er ist lichtdurchflutet, und beim Blick nach oben wird der Ring der zwölf Sichtbetonstützen deutlich, der den Plenarsaal umgibt und die Kuppel trägt. Die gläserne Deckenkonstruktion ermöglicht aus dem Saal und von den Tribünen eine Durchsicht auf das dritte Obergeschoß und weiter in die Konstruktion der Kuppel. In der anderen Vitrine befindet sich ein Gastgeschenk des spanischen Königspaares Juan Carlos und seiner Gemahlin Sofia, die am 16. Juli 1997 die Baustelle des Deutschen Bundestages besichtigte und, im Hinblick auf das zusammenwachsende Europa, dem deutschen Parlament in zwei Schatullen die Urkunden der spanischen Verfassung von 1812 und 1978 übergeben haben. 24 ratsplätze schließen sich die Abgeordnetenplätze an. Links von der Bundesregierung sitzt die F.D.P., darauf folgt die CDU/CSU, dann Bündnis 90/Die Grünen, während die Abgeordneten der SPD fast die ganze rechte Hälfte einnehmen, bevor der Kreis mit den Plätzen für die Parlamentarier der PDS an die Bank des Bundesrates anschließt. Die rund 800 Sessel sind lila-blau bezogen, das vom Architekten kreierte "Reichstagsblue" liefert einen schönen Kontrast zum Grau der Aufbauten. An der östlichen Stirnseite des Plenarsaals steht die Bundesflagge. An diesem Platz vereidigt der Präsident des Deutschen Bundestages den Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung nach deren Ernennung durch den Bundespräsidenten. Darüber erhebt sich das als Kunstwerk ausgeformte Symbol für den Deutschen Bundestag, der Bundestagsadler, der gelegentlich etwas spöttisch als "Fette Henne" bezeichnet wird. Das aus Aluminiumblechen mehrschichtig gefertigte Wappentier ist 8,50 Meter breit, 6,80 Meter hoch und wiegt 2,5 Tonnen. Die Wand hinter dem Adler nimmt vieles der Technik auf, die sich außerdem im ganzen Saal hinter weiteren Verkleidungen verbirgt. 298 Einzellautsprecher sorgen für den guten und jederzeit verständlichen Ton, über 200 Mikrofone kann gesprochen werden. Im westlichen Besucherbereich stehen zwei Vitrinen, in denen wichtige Exponate zur Geschichte der parlamentarischen Demokratie ausgestellt sind. Es handelt sich zum einen um die Originalausfertigung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949, der Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Im zweiten Obergeschoß befindet sich der Präsidialbereich, der Besprechungsräume und der Sitzungsraum desder Ältestenrates. Die Türen West sind hier burgunderrot, und über eine beiden Treppenhäuser erreicht werden kann. sowohl von der Mitte der West- wieHier, der Ostseite sind eindrucksvolle Durchblicke zumund auf dieser Etage liegen die Büros für denmöglich, Präsidenten einen nach unten in den Plenarsaal und dieengsten Wandelhallen, zum anderen nach oben infür dieden Kuppel. seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Direktor beim Deutschen Bundestag, der die Verwaltung leitet, für die Abteilungsleiter sowie für die Leiter des Protokolls und des Pressezentrums. Hinzu kommen einige Protokollsäle, Besprechungsräume und der Sitzungsraum des Ältestenrates. Die Türen sind hier burgunderrot, und sowohl von der Mitte der West- wie der Ostseite sind eindrucksvolle Durchblicke möglich, zum einen nach unten in den Plenarsaal und die Wandelhallen, zum anderen nach oben in die Kuppel. Der Blick fällt dann auf die Bronzeplastik "Architektonische Skulptur" von Otto Freundlich. Dieser Künstler wurde von den Nationalsozialisten als Vertreter der sogenannten "entarteten" Kunst verfolgt und im Konzentrationslager LublinMaidanek 1943 ermordet. Der Deutsche Bundestag ehrt ihn mit dieser Leihgabe. 25 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Bundestag im Reichstagsgebäude von Carl-Christian Kaiser Das Reichstagsgebäude macht es kurz. Ein paar Schritte nur sind nötig, die große Freitreppe hinauf, dann durch die mächtigen Säulen des Portals – und schon ist von der hohen Empfangshalle aus durch Glaswände auch das Herzstück des Deutschen Bundestages in seinem neuen Berliner Gebäude zu sehen: der Plenarsaal. In keinem anderen Plenargebäude des Parlaments, allenfalls mit Ausnahme des vorübergehenden Quartiers im Bonner "Wasserwerk", ist dieser Weg so kurz und der erste Blick auf das Plenum so rasch möglich gewesen. Der allererste Plenarsaal in Bonn verbarg sich hinter seinen Eingangstüren. Ähnlich im "Wasserwerk". Und der Blick auf den dritten und letzten Bonner Sitzungssaal öffnete sich trotz der gläsernen Durchsichtigkeit des ganzen neuen Parlamentstrakts erst, nachdem die weitläufige Lobby durchschritten war. Anders also im historischen Berliner Reichstag. Mehr noch als in allen vorhergehenden Gebäuden beherrscht der Plenarsaal den so gründlich umgestalteten mächtigen Bau, nicht zuletzt durch seine bis zum Fuß der schon berühmten Glaskuppel hinaufreichende Höhe. Fast alle Stockwerke sind um ihn herum gruppiert; aus vielen Blickwinkeln kann er eingesehen werden. 26 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Über die große Freitreppe und durch die mächtigen Säulen des Portals hindurch gelangt der Besucher in die Empfangshalle des Reichstagsgebäudes. Um so deutlicher wird, dass sich hier das Zentrum der parlamentarischen Demokratie befindet. Wie in einem Brennglas bündeln sich ja im Plenum des Bundestages entscheidende Merkmale der parlamentarischen Ordnung und Arbeit. Das gilt für den Wettstreit der Meinungen vor aller Augen und Ohren ebenso wie für die öffentliche Beschlussfassung, für das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition nicht minder wie für die Auseinandersetzung nach bestimmten Spielregeln. Das Plenum ist die für alle parlamentarischen Aufgaben ausschlaggebende Instanz. Wird die Souveränität des Bundestages als höchstes demokratisches Organ nur von den Verfassungsbestimmungen begrenzt, ist er keinerlei Aufsicht oder Weisungen unterworfen, sondern regelt er seine Angelegenheiten selbst, so drückt sich dies in erster Linie in seinem Plenum aus. Über seine Zusammenkünfte, die Art und Weise seiner Beratungen und die Erledigung seiner Aufgaben befindet er aus eigenem Recht. Die Beratung und Beschlussfassung über die Gesetzentwürfe in einem genau festgelegten Verfahren ist das Wichtigste und das tägliche Brot. Alle Gesetzesvorlagen gehen an den Bundestag. Nicht weniger herausragend ist die Bestellung des Regierungschefs. Die Wahl des Bundeskanzlers – und ebenso dessen Sturz durch die Wahl eines Nachfolgers – ist allein Sache des Parlaments. Schließlich, als dritte Hauptaufgabe, die Kontrolle der Regierung: Dafür verfügt der Bundestag über ein breit gefächertes Instrumentarium, das von Anfragen in verschiedener Form, zu denen die Regierung Rede und Antwort stehen muss, bis zu Untersuchungsausschüssen reicht. Vor allem aber: Ohne Zustimmung des Parlaments kann auch das alljährliche Haushaltsgesetz, das in Zahlen gefasste Regierungsprogramm mit allen Einnahmen und Ausgaben des Staates, nicht 27 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc verwirklicht werden. Das Recht, über den Staatsetat zu entscheiden, ist das wichtigste Kontrollinstrument des Bundestages, und stets sind die Haushaltsdebatten, in denen es immer auch um die Grundzüge der Regierungspolitik geht, einer der Höhepunkte des Parlamentsjahres. Das Ostfoyer des Reichstagsgebäudes - Zugang für Parlamentarier, Minister, Staatsgäste. Aber mit den Rollen als Gesetzgeber, Wahlorgan für den Kanzler, Regierungskontrolleur und mit anderen Aufgaben hat es keineswegs sein Bewenden. Vielmehr soll im Bundestag jenseits aller Einzelthemen, Fachfragen, Detailprobleme und Tagesarbeit immer wieder auch zur Sprache kommen, was die Wähler allgemein bewegt, die Nation beschäftigt oder sogar die ganze Welt in Atem hält. Nicht selten werden die Debatten darüber zu großen Stunden, in denen das Parlament alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann wird am deutlichsten, was seine vornehmste Rolle ausmacht: das "Forum der Nation" zu sein, auf dem sich die Menschen mit ihren Problemen und Wünschen, Sorgen und Fragen wiederfinden. Um so sinnfälliger, dass im Reichstagsgebäude der Plenarsaal noch mehr als an allen früheren Beratungsorten des Bundestages den zentralen Platz einnimmt und sofort ins Auge fällt. Die ganze erste Etage des Reichstags, die Plenarebene, ist den Abgeordneten, ihren Mitarbeitern und dem Parlamentspersonal vorbehalten. Zur besseren Orientierung ist sie, wie alle anderen Stockwerke, mit einer bestimmten Farbe gekennzeichnet: Blau an allen Türen und anderen markanten Punkten. Gegenüber dem hellen Grau und Silber, dem Sandstein, Stahl und vielem Glas und den wuchtigen, quaderhaften Formen, die das alte Gebäude weiter prägen, heben sich die Farben wirkungsvoll ab. 28 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude. 29 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Ist das große Westportal hauptsächlich für die Besucher des Bundestages bestimmt, so dient das Ostportal an der gegenüberliegenden Seite des Reichstagsgebäudes, wo es auch genügend Vorfahrtsmöglichkeiten gibt, vor allem den Abgeordneten. Sie erreichen von dort aus die über dem Erdgeschoss mit seinen technischen Installationen liegende Plenarebene und den Plenarsaal. Wie ein Kranz umgeben ihn Räume und Einrichtungen, die für die Arbeit zumal an Debattentagen nötig oder nützlich sind: Wandelhallen für die oft wichtigen Gespräche am Rande, eine Präsenzbibliothek zum Nachschlagen von Daten und Fakten während der Debatten, Ruhe- und Aufenthaltsräume, auch für die Mitglieder der Regierung, ein Lobby- und Clubraum, ein größeres Restaurant sowie eine Cafeteria und ein kleines Bistro. Ebenso gibt es einen Andachtsraum, in dem sich Abgeordnete zu den morgendlichen Gottesdiensten versammeln können; nur durch einen schmalen seitlichen Spalt einfallendes Licht verleiht ihm eine besondere Atmosphäre. In den Wandelhallen, die um den Plenarsaal herum angeordnet sind, treffen sich die Parlamentarier für wichtige Gespräche am Rande von Plenarsitzungen. Einen ganz eigenen Akzent geben dem Raum auch die an die Wände gelehnten Gebots- und Nageltafeln von Günther Uecker – eines der vielen Kunstwerke, die im ganzen Haus zu finden sind. Auf allen Ebenen gibt es, von renommierten in- und ausländischen Künstlern, Gemälde, Bilder, Plastiken, Installationen und andere Arbeiten in zahlreichen Ausdrucksformen. Die meisten sind eigens für den Bundestag geschaffen worden. Andere sind aus dem Besitz der Künstler angekauft worden oder als Leihgaben zu sehen. 30 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Besonders ins Auge fallen in der Eingangshalle am großen Westportal das hohe Rechteck aus den leicht verfremdeten Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold von Gerhard Richter und gegenüber die Leuchtkästen mit politischen und geschichtlichen Motiven von Sigmar Polke, die sich durch eine spezielle Technik ständig zu verschieben scheinen. Die Maler Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Bernhard Heisig, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Wolfgang Mattheuer, Emil Schumacher und viele andere sind ebenso vertreten wie Joseph Beuys mit einer Installation oder Ulrich Rückriem mit zwei Bodenreliefs. Von Katharina Sieverding stammt eine große Fotoarbeit, die zusammen mit Dokumentationsbüchern an die vielen von den Nazis ermordeten und verfolgten Mitglieder des alten Deutschen Reichstags erinnert. Die Beispiele aus der gegenwärtigen deutschen und internationalen Kunstszene tragen noch viele andere Namen. Öffentlichkeit gehört zu den Lebensprinzipien einer parlamentarischen Demokratie. Ohne dieses Prinzip wäre das Parlament als "Forum der Nation" nicht denkbar. Deshalb bestimmt das Grundgesetz: "Der Bundestag verhandelt öffentlich." Zwar kann der Ausschluss der Öffentlichkeit von einem Zehntel der Abgeordneten oder von der Bundesregierung beantragt werden. Aber zu einem entsprechenden Beschluss ist die Zweidrittelmehrheit nötig. Die hohe Hürde zeigt, wie sehr Verhandlungen hinter verschlossenen Türen als absolute Ausnahme verstanden werden. Tatsächlich ist bisher noch nie verlangt worden, dass das Plenum im Geheimen beraten solle. Seit alle wichtigen Debatten von Fernsehen und Rundfunk direkt übertragen werden, hat das Prinzip der Öffentlichkeit noch ein viel größeres Gewicht als in früheren Jahren. Aber die Öffentlichkeit, das sind vor allem auch und in unmittelbarem Sinne die Besucher der Parlamentssitzungen. Für sie ist, mit der Kennfarbe Grün, im Reichstagsgebäude gleich die nächste Etage über der Plenarebene für die Abgeordneten bestimmt. Auch hier geht es direkt in den Plenarsaal, nämlich auf sechs Tribünen für Besucher, Gäste und die Presse. Über den Abgeordnetensitzen sind sie so weit in den Plenarsaal hineingezogen, dass alles wie zum Anfassen erscheint: Demokratie direkt, wie auf Tuchfühlung. Fast sieht es so aus, als säßen auch die Zuschauer mitten im Plenum. 31 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Clubraum. Auch in Berlin fällt der Blick zuerst auf den an der gläsernen Stirnwand des Plenarsaals angebrachten großen Bundestagsadler. Links und rechts neben dem Adler zeigen auf Lichtstreifen rote Ziffern den gerade behandelten Tagesordnungspunkt und die Uhrzeit an, während ein grünes "F" signalisiert, dass die Sitzung vom Fernsehen direkt übertragen oder aufgenommen wird. Von den Besuchern aus gesehen steht unterhalb des Adlers links die Bundesflagge und rechts die Europafahne. Zu seinen Füßen befinden sich die etwas herausgehobenen Plätze des Sitzungspräsidenten und der beiden Schriftführer aus den Bundestagsfraktionen sowie der Parlamentsbeamten, die den Präsidenten bzw. die Präsidentin bei der Leitung der Sitzung unterstützen. Vor diesen Plätzen steht das Rednerpult, und davor haben die Stenographen, die jedes Wort festhalten, ihre schmale Bank. Blick in die Abgeordneten-Lobby auf der Plenarebene. Wiederum von den Besuchertribünen aus gesehen, sind links vom Sitzungspräsidenten die Plätze für den Bundeskanzler, die Minister sowie ihre Mitarbeiter und rechts die Plätze des Bundesrates, der Vertretung der Länder, 32 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc angeordnet. Die beiden Stühle, die dem Präsidentenpodest am nächsten stehen, sind dem Kanzler bzw. dem Bundesratspräsidenten vorbehalten. Gegenüber der flachen, nach innen gekrümmten Ellipse, die das Präsidentenpodest, die Regierungs- und die Bundesratsbank bilden, erstreckt sich in Form eines Dreiviertelkreises das weite Rund der Sitze für die insgesamt 669 Abgeordneten. Abermals von den Besuchern aus gesehen, beginnen die Sitze links mit den Plätzen für die Parlamentarier der F.D.P. Darauf folgt die CDU/CSU, dann das Bündnis 90/Die Grünen. Den größten Teil der rechten Hälfte nehmen die Abgeordneten der SPD ein, bevor der Dreiviertelkreis mit den Sitzen der PDS abschließt. Das Bistro. So also der Ort, an dem debattiert und entschieden wird, das Zentrum des Bundestages und der parlamentarischen Demokratie. Auf der Besucherebene, zu der auch in der Größe variable Vortragssäle sowie Arbeitsräume für die Presse gehören, ist man ihm am nächsten. Hier geht es um Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument, um die Darstellung von Problemen und die Debatte über ihre Lösung, um die Begründung der verschiedenen Standpunkte und die Rechtfertigung von Entscheidungen, um Streit und Wettbewerb zwischen den einzelnen Fraktionen und zumal zwischen dem Regierungslager und der Opposition. Einerseits dient dies alles der öffentlich wirksamen Kritik und Kontrolle, andererseits der öffentlichen Erläuterung und Durchsetzung der Regierungspolitik – und damit insgesamt der Information sowie der Urteils- und Willensbildung der Bürger. 33 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Cafeteria. Auch in der "Laufbahn" der Abgeordneten spielt das Plenum eine bedeutende Rolle. Von der Häufigkeit, mit der ein Abgeordneter am Rednerpult steht, lässt sich zwar nicht ohne weiteres auf größeren Fleiß als bei anderen Parlamentsmitgliedern schließen, wohl aber auf den Rang und den Einfluss in seiner Fraktion und das Gewicht, das ihm dort für die Repräsentation nach außen zugemessen wird. Dabei handelt es sich sowohl um Abgeordnete, die an der Spitze der Fraktion stehen, als auch um Parlamentarier, die auf bestimmten Gebieten besonders sachverständig sind. Und nicht wenige Abgeordnete haben durch eine große Rede im Plenum mit einem Schlag viel Reputation innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen erworben. Über dem Besuchergeschoss liegt, Kennfarbe Burgunderrot, die Präsidialebene – Arbeits- und Repräsentationsbereich in einem. Der Bundestagspräsident ist der höchste Repräsentant des Parlaments, und zusammen mit seinen gegenwärtig fünf Stellvertretern aus allen Bundestagsfraktionen bildet er das Präsidium als oberstes Gremium des Parlaments. Sein hoher Rang wird schon dadurch hervorgehoben, dass er nach dem Staatsoberhaupt, dem Bundespräsidenten, in der protokollarischen Reihenfolge den zweiten Platz einnimmt, noch vor dem Bundeskanzler oder den Präsidenten anderer Verfassungsorgane. 34 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Plenarsaal, das Zentrum der Parlamentarischen Demokratie, ist von unterschiedlichen Seiten einsehbar. Diese Reihenfolge steht für den Vorrang der gesetzgebenden vor der ausführenden Gewalt, der Legislative vor der Exekutive, des Bundestages vor der Regierung, und sie drückt sich auch in anderen Einzelheiten aus. So ist der Parlamentspräsident der Adressat aller Gesetzentwürfe und anderer Vorlagen der Bundesregierung und des Bundesrates und natürlich auch aller Eingaben aus den Reihen des Bundestages selbst. Er besitzt auch das Hausrecht und die Polizeigewalt im Bundestag und trifft gemeinsam mit seinen Stellvertretern die wesentlichen Personalentscheidungen bei der Verwaltung des Parlaments. Der Bundestagspräsident ist der höchste Repräsentant des Parlaments. Er eröffnet, leitet und schließt die Zusammenkünfte des Plenums. Am deutlichsten freilich wird seine Stellung und die seiner Stellvertreter während der Bundestagssitzungen. Der Präsident eröffnet, leitet und schließt die Zusammenkünfte des Plenums. Weil die Sitzungsleitung nach einem vorher vereinbarten Rhythmus, 35 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc meistens nach zwei Stunden, zu wechseln pflegt, fällt diese Aufgabe auch seinen Stellvertreterinnen bzw. Stellvertretern zu. Der Vorsitz ist, bei aller häufigen Routine, kein leichtes Geschäft. Immer steht er unter dem Gebot, die Beratungen gerecht und unparteiisch zu leiten. Eine Vorstellung davon gibt jener Paragraph in der Geschäftsordnung des Bundestages, in dem es heißt: "Der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen leiten; insbesondere soll nach der Rede eines Mitglieds oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen." Als beherrschender Grundsatz gilt, dass bei den Debatten zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen, besonders wenn sie miteinander rivalisieren, Chancengleichheit bestehen soll. In der Praxis bezieht sich dies vor allem auf das Verhältnis zwischen der Regierung bzw. den Mehrheitsfraktionen und der Opposition. Die öffentliche Kritik und Kontrolle ist in erster Linie Aufgabe der Opposition. Den Mehrheitsfraktionen kommt vor allem die Aufgabe zu, die Regierungspolitik mit ihrer Majorität im Bundestag durchzusetzen und zu verteidigen. Sie üben ihre Kontrolle eher informell und intern aus. Von der Kuppel kann man direkt in den Plenarsaal hinunterschauen. Aber kritische Diskussionen über die Regierungspolitik und im Einzelnen abweichende Meinungen gibt es durchaus auch bei ihnen. Als Folge muss die Regierung von vornherein auch darauf achten, für ihre Vorlagen in den eigenen parlamentarischen Reihen Zustimmung und Mehrheiten zu finden. Sie kann nicht gegen das Parlament regieren. Ihre Bundestagsmehrheit ist kein bloßer "Erfüllungsgehilfe". Erst recht nicht sind es die Oppositionsfraktionen. So übt im Endeffekt auch das Parlament als Ganzes seine Kontrollaufgaben aus. 36 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Sitzungspräsident soll auch die Ordnung im Hause wahren. Dazu gehört, dass er, wenn nötig, Auseinandersetzungen und Verhaltensweisen als unparlamentarisch zurückweisen und notfalls Abgeordnete zur Ordnung rufen kann. Nach dreimaligem Ordnungsruf während einer Rede muss er ihm das Wort entziehen. Bei gröblichen Verletzungen der Ordnung kann er Parlamentarier des Saales verweisen, im äußersten Fall für längere Zeit. Wird die Debatte durch Unruhe gestört, kann sie der Präsident bzw. die Präsidentin auf unbestimmte Zeit unterbrechen oder die Sitzung aufheben. Die Sitzverteilung im 14. Deutschen Bundestag (669 Abgeordnete). Bei der Regelung der Parlamentsangelegenheiten steht dem Bundestagspräsidium der Ältestenrat zur Seite. Dort führt der Präsident in einem Kreis den Vorsitz, dem außer ihm und seinen Stellvertretern 23 nach den Stärkeverhältnissen der Fraktionen bestimmte Abgeordnete angehören. Dabei handelt es sich freilich nicht um die ältesten Mitglieder des Hauses, weder nach der Dauer der Zugehörigkeit zum Bundestag noch nach Lebensjahren. Aber erfahrene Parlamentarier sind sie durch die Bank. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, den Arbeitsplan des Bundestages und die Tagesordnung für die Plenarsitzungen aufzustellen. Wann welches Thema in welchem Umfang behandelt werden soll, ist nicht ohne Bedeutung. Hin und wieder sind die Meinungsverschiedenheiten so groß, dass in dem sonst auf Kooperation, Kompromiss, Kollegialität und einstimmige Beschlüsse angelegten Ältestenrat dennoch keine Einigung zustande kommt und das Plenum selbst als letzte Instanz entscheiden muss. Eine andere Aufgabe des Ältestenrats besteht darin, Streitfragen zu erörtern und möglichst zu schlichten, die mit der Würde und den Rechten des Hauses oder mit der Auslegung von Geschäftsordnungsbestimmungen zu tun haben. Alles in allem ist er, 37 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc ohne dass er dem Bundestagsplenum als letzte Instanz etwas völlig vorwegnehmen könnte, eine Art Lenkungsinstrument, das der Vollversammlung des Parlaments viele zeitraubende formelle Entscheidungen erspart, und ein wichtiges Verbindungsglied sowohl zwischen den Fraktionen als auch zwischen ihnen und dem Präsidium. Im Plenarsaal findet der Wettstreit der Meinungen vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit statt. Vertritt der Bundestagspräsident nach außen das ganze Parlament und regelt er nach innen zusammen mit seinen Stellvertretern und dem Ältestenrat die Bundestagsangelegenheiten, so spiegelt sich dies auch auf der Präsidialebene des Parlamentsgebäudes wider. Repräsentations- und Arbeitsräume mischen sich. Der Repräsentation dienen sowohl ein großer und ein kleiner Empfangssaal als auch ein Speisesaal mit eigener Küche. Der andere Teil der Etage besteht hingegen außer den Räumen des Präsidenten, zu denen auch ein kleiner Ruheraum und ein Bad gehören, aus einem Sitzungssaal des Ältestenrats, aus Besprechungszimmern sowie den Büros der engsten Mitarbeiter des Präsidenten und der Verwaltungsspitze des Parlaments. Plätze im Plenum: Hier sitzen die Bundestagsabgeordneten während der Plenarsitzungen. Im Übrigen: Kein Zufall wohl, dass der Präsident aus seinem Arbeitszimmer auf das in einiger Entfernung gegenüberliegende neue Kanzleramt blicken kann. Zwar stehen im Bundestag – anders als zu den Anfängen des Parlamentarismus im Kaiserreich, als 38 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc das Parlament insgesamt als Widerpart der Regierung begriffen wurde – das Regierungslager auf der einen und die Opposition auf der anderen Seite. Aber die grundsätzliche Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist davon nicht berührt. So wirkt in Berlin das geographische Gegenüber von Parlament und Präsidialbüro hier und Kanzleramt dort auch wie ein Symbol. Präsidium und Ältestenrat regeln zusammen die Geschäfte des Bundestages. Auch die Abgeordneten und weitere Gremien im Plenargebäude unterzubringen, wäre unmöglich. Sie werden ihre Büros und Beratungsräume in unmittelbar benachbarten neuen Bauten haben. Bis diese Bauten fertig sind, wird ohnehin noch viel Improvisation nötig sein, auch im Reichstag. Wohl aber haben dort die Fraktionen ihren festen Platz, auf der vierten Ebene mit der Kennfarbe Grau. Ihre Versammlungssäle, Vorstandszimmer und Vorräume gruppieren sich um eine ausgedehnte Presselobby, die auch für ganz große Empfänge und anderes genutzt werden kann. Teil der Fraktionsräume sind auch die vier Ecktürme des Reichstags, die eine besondere Beratungsatmosphäre schaffen. Blick von der Fraktionsebene auf die Kuppel. 39 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Dass die Fraktionen im Reichstagsgebäude angesiedelt sind, macht viel Sinn. Als Zusammenschlüsse aller Abgeordneten einer Partei – oder verwandter Parteien – sind sie im parlamentarischen Getriebe wichtige, oft ausschlaggebende Schaltstellen. Nicht nur, dass sie zum Beispiel über die Einbringung von Gesetzentwürfen oder die jeweilige politische Marschroute für die Plenardebatten entscheiden. Vielmehr sind sie oft auch so etwas wie "Parlamente im Parlament". Auch innerhalb der einzelnen Parteien gibt es ja unterschiedliche Richtungen und Meinungen. Zwar stimmen die Mitglieder einer Fraktion in der politischen Grundhaltung überein, jedoch keineswegs von vornherein auch in allen Einzelfragen. Sitzung des Ältestenrates. Deshalb kommt es, wie im Plenum zwischen den Parteien, auch innerhalb der Fraktionen immer wieder zu lebhaften und manchmal sehr kontroversen Auseinandersetzungen, bevor die verschiedenen Standpunkte geklärt und möglichst auf einen Nenner gebracht sind. Zumindest im Stadium der Diskussion und Willensbildung sind die Fraktionen keine geschlossenen Heerhaufen. Auch lassen sich gelegentlich Minderheiten von der Generallinie nicht überzeugen. Und wie im Plenum können ebenso die Debatten in den Fraktionen zur großen Stunde einzelner Abgeordneter werden. Schon manche Parlamentskarriere hat auch auf diese Weise begonnen. 40 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc In Fraktionssitzungen werden oft die entscheidenden Weichen gestellt. Die Fraktionsebene ist der letzte Arbeitsbereich im Reichstagsgebäude. Von unten bis oben, vom Erdgeschoss mit seinen Funktionsräumen, technischen Einrichtungen und Diensten, auch mit den Arzträumen, über die Plenarebene, dann den Besucherbereich und darauf der Präsidialebene bis zu der Etage für die Fraktionen ist alles zweckmäßig aufgeteilt, auch mit möglichst kurzen und direkten Wegen – und immer auf das Zentrum angelegt: auf den Plenarsaal in der Mitte des Gebäudes. Der neue Sitz des Bundestages ist ein klar gegliedertes Arbeitsgehäuse. Über dem Fraktionsbereich als oberstem Stockwerk liegt dann schon die Dachterrasse samt einem Restaurant für die Besucher – und jene Glaskuppel, die sofort zum Wahrzeichen des Bundestages im umgestalteten Reichstagsgebäude, wenn nicht überhaupt zum Symbol der Hauptstadt Berlin geworden ist. Tags glänzt sie, nachts leuchtet sie über der Stadt. Das in der Kuppel befindliche Lichtumlenkelement mit seinen 360 Spiegeln versorgt den Plenarsaal mit Tageslicht. In ihrer technischen Funktion bringt die Kuppel, zumal durch das trichterförmige Lichtumlenkelement in der Mitte mit seinen 360 Spiegeln, zusätzliches Tageslicht in den Plenarsaal. Umgekehrt transportiert der bis ins Plenum reichende Trichter die 41 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Abluft des Saales nach oben ins Freie. Die Kuppel ist nicht geschlossen, sondern am unteren und oberen Rand offen, ein leichtes und luftiges Rund, wie eine schwebende Raumhülle. Vor allem aber bietet sie jene einzigartige Attraktion, die alle anzieht: Sie kann begangen werden. Die beiden an ihrer Innenseite in Spiralen sanft ansteigenden oder abfallenden Rampen führen zu einer Aussichtsplattform hinauf und wieder hinunter, von der aus, wie auch von der Dachterrasse, der Blick über ganz Berlin geht, ein großes Panorama. Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im Giebel des Hauptportals steht: "Dem Deutschen Volke". Das Gefühl der Beschwingtheit und Weite, das die Kuppel vermittelt, ist schon oft beschrieben worden, ebenso wie die Möglichkeit, dem Parlament buchstäblich aufs Dach zu steigen. Ihre lichte Konstruktion und ihre Zugänglichkeit für jedermann nehmen ihr jeden herrschaftlichen Charakter, wie er sonst Kuppelbauten kennzeichnet. Ob nun direkt durch die weit in den Plenarsaal hineinreichenden Tribünen oder indirekt durch die gläserne Haube über dem Plenum – wohl kein anderes Parlament öffnet sich Besuchern so sehr wie der Deutsche Bundestag im historischen Reichstagsgebäude. Auch auf diese Weise wird eingelöst, was im Giebel des Hauptportals steht: "Dem Deutschen Volke". 42 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Umbau des Reichstagsgebäudes - Ansprüche Altes erhalten - Modernes gestalten Am 16. Juni 1994 stellte Sir Norman Foster seinen überarbeiteten Entwurf des Reichstagsprojektes vor, der darauf basiert: dem Wesen des Parlaments gerecht zu werden, die Geschichte des Reichstagsgebäudes zu respektieren und ein zukunftweisendes Energiekonzept zu realisieren. Das ehemalige Reichstagsgebäudes wurde zu einem modernen Arbeitsparlament umgestaltet, das allen Anforderungen an neuester Kommunikations-, Büro- und Arbeitsplatztechnik entspricht. Gleichzeitig wurden unter Wahrung der ursprünglichen Bausubstanz Gebäudestrukturen von Paul Wallot freigelegt und damit auf die Innenausbauten der sechziger Jahre in Absprache mit dem Denkmalschutz verzichtet. Ein Wahrzeichen für das "Herz der Republik" Das Gebäude hat wieder eine Glaskuppel erhalten, jedoch nicht in der ursprünglichen, historischen Form, sondern in der Architektur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die neue Glaskuppel des Reichstages (Modell) Die Kuppel erfüllt drei Funktionen: Eine Besucherplattform lädt zu einem Rundblick über Berlin ein, zugleich sorgt ein licht- und lüftungstechnisches Kegelelement in der Glas- und Stahlkonstruktion der Kuppel für natürliche Belichtung und Belüftung. Schließlich hat die von innen beleuchtete transparente Kuppel der Bundeshauptstadt Berlin zu einem neuen Wahrzeichen verholfen. Die modern gestaltete Kuppel setzt ein sichtbares Zeichen, dass das Reichstagsgebäude sich zum Sitz des Deutschen Bundestages entwickelt hat - und damit zum Herzen der Republik. 43 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc "Bauen für die Demokratie" Exklusiv-Interview mit Sir Norman Foster, dem Architekten des Reichstagsumbaus Beim Umbau des Reichstagsgebäudes für den Deutschen Bundestag wird von einem Energiekonzept mit ökologischer Signalwirkung gesprochen. Welche Bereiche dieses innovativen Konzeptes sind für Sie die wichtigsten? Die Idee, den neuen Bundestag als Beispiel für ein nachhaltiges Energiekonzept zu gestalten, war einer der Vorschläge aus unseren vier Wettbewerbsbeiträgen. Unsere ökologische Variante verbindet mehrere Komponenten zu einem Energiesparsystem " sie gehören alle zusammen. Zunächst schlagen wir vor, auf keinerlei fossile Brennstoffe wie Öl oder Kohle zurückzugreifen. Abgesehen davon, daß wir früher oder später das Ende unserer schnell schwindenden Vorräte erleben werden, bedroht uns das gefährliche Begleitprodukt ihrer Umwandlung in Energie mit der zunehmenden Emission von Treibhausgasen und einer globalen Erwärmung. Die erste strategische Entscheidung war daher, eine stets erneuerbare Energiequelle einzusetzen, d.h. ein landwirtschaftliches Produkt, wie zum Beispiel Raps- oder Sonnenblumenöl. Dabei ist zu bedenken, daß das Wachstum solcher Pflanzen Sauerstoff erzeugt und Kohlendioxid, eines der umweltschädlichsten Gase, verbraucht. In der Vergangenheit verursachte der Reichstag im Jahr einen Ausstoß von etwa 7.000 Tonnen CO2 " das neue Konzept mit Rapsöl ist so viel sauberer, daß es eine Reduktion um 94% auf nur 440 Tonnen CO2 pro Jahr erzielt. In unserem System wird das Öl zur Elektrizitätserzeugung in einem Gemeinschaftsgenerator verbrannt. Dieses ökologische Kraftwerk versorgt nicht nur den Reichstag, sondern auch eine größere Zahl von Gebäuden der Gegend mit Strom. Die Abwärme dieses Prozesses wird in Kühlung umgewandelt, so daß Kühlwasser im Gebäude als Teil der Klimatisierung zirkuliert. Dazu kommen natürliche Beleuchtung und Belüftung als weitere Posten der Energieeinsparung. In den Sommermonaten wird die gesamte überschüssige Wärme unterirdisch in 330 m Tiefe als Heißwasser gespeichert, das im nächsten Winter als Wärmequelle genutzt werden kann. Die außergewöhnliche Dachkonstruktion des neuen Bundestages ist ein deutliches Zeichen des neuen Energiekonzepts. Der spiegelbesetzte Kegel transportiert Licht weit in die Tiefe des Gebäudes. In Windtunneln ist die Aerodynamik erforscht worden, die jetzt wie ein 44 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc natürlicher Schornstein funktioniert und Luft aus dem Gebäude als Teil des natürlichen Belüftungssystems abzieht. Wird es aus Ihrer Sicht schon bald eine Architektur geben, die aufgrund der ökologischen Erfordernisse gänzlich anders sein wird? Ja, ohne jeden Zweifel. Nebenbei hatte die wirklich volkstümliche Architektur in den alten Zeiten ihre Wurzeln immer auch in einer Reaktion auf die Umwelt über Gebäudeformen, Baustoffe und die Technologie. Ihr Büro ist weltweit tätig und erfolgreich. In diesem Jahr wird u. a. Ihr neuer Flughafen von Hongkong fertiggestellt. Haben Sie sich schon einmal mit dem Einfügen neuer Architektur in einen bedeutenden Altbau wie das Reichstagsgebäude befassen können? Ja, schon mehrmals. Sehen Sie sich nur unseren Umbau der historischen Royal Academy im Londoner Picadilly an. Wir haben ihn vor einigen Jahren durchgeführt. In jüngerer Vergangenheit haben wir damit begonnen, im Herzen des British Museum in London, das ja aus dem 19. Jahrhundert stammt, einen neuen Hof zu errichten, den New Great Court. Wir haben auch die Ausschreibung zur Umkonstruktion des Treasury Building am Parliament Square aus der Zeit der Jahrhundertwende gewonnen. Dazu kommt noch der neue Flügel der Joslyn Gallery in Omaha, Nebraska, wo wir einen Anbau zu einem Gebäude geschaffen haben, das im Original "Egyptian Prairie Style" errichtet wurde " einer Art Jugendstil aus den zwanziger Jahren. Welche sind Ihre wichtigsten Prämissen beim Planen? Hatte der Begriff "Bauen für die Demokratie" Einfluß auf Ihren Entwurf für den Deutschen Bundestag? Ja. Der Ausdruck der neuen Demokratie eines wiedervereinten Deutschland war besonders wichtig. Auch die im Stoff, im Material des Gebäudes enthaltene Geschichte bloßzulegen, war wichtig. Einen weiteren Aspekt stellt die Schaffung von bedeutenden öffentlichen Räumen dar, und hinter den Kulissen war der Arbeitsablauf des Bundestages zu berücksichtigen. 1992, beim Wettbewerb für den Umbau des Reichstagsgebäudes, hatten Sie mit einer anderen Entwurfsidee Erfolg. Wie sehen Sie heute Ihr damals vorgeschlagenes riesiges Dach? Für die erste Etappe des Wettbewerbs, in der ja ein immenser Raumbedarf bestand, wesentlich mehr an Quadratmetern als das vorhandene Gebäude bieten konnte, war 45 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc das absolut geeignet. Im zweiten Stadium, als der Raum dramatisch auf einen Bruchteil des ursprünglichen Bedarfs reduziert wurde, war es verständlicherweise nicht mehr angemessen. Also zurück ans Zeichenbrett! Aber übersehen Sie nicht, daß alle Vorbedingungen, der Ausdruck der Demokratie, die Transparenz, der öffentliche Raum, Geschichte und Ökologie, die im gegenwärtigen Schema enthalten sind, aus dem ursprünglichen Wettbewerbsbeitrag der ersten Ausschreibung herrühren. Die Kuppel des Reichstagsgebäudes ist schon sehr gut erlebbar. Übertrifft sie noch Ihre Erwartungen? Ja. Obwohl sie doch im Aussehen den Darstellungen unglaublich nahe kommt, die wir in Fotomontagen und Modellen entwickelt hatten. Welcher Bereich des Entwurfs für den Deutschen Bundestag hat Ihnen und Ihren Mitarbeitern die größte Freude bereitet? Der radikale Ausdruck einer neuen Demokratie in all ihren unterschiedlichen Aspekten. Biodiesel für den Reichstag Wenn im April 1999 der Deutsche Bundestag mit einer Feierstunde den Plenarsaal einweiht, wird Pflanzenöl dafür verantwortlich sein, daß es auch empfindlichen Naturen nicht zu kalt wird. Sollte es die Sonne mit dem neuen Staatsoberhaupt dagegen zu gut meinen, wird Erdkälte aus 60 Metern Tiefe ein gutes Klima im neuen Bundestag schaffen. Fast könnte man den Prachtbau des Frankfurter Architekten Paul Wallot nach dem in einigen Monaten abgeschlossenen Umbau durch Sir Norman Foster das repräsentativste Öko-Haus der Bundesrepublik Deutschland nennen. Intelligent, ressourcenschonend und einzigartig ist das Energie- und Heizkonzept des künftigen Parlamentssitzes in Berlin. Und faszinierend dazu. Dem britischen StarArchitekten Sir Norman Foster ist in seinem Konzept für die Umgestaltung des Reichstagsgebäudes das Kunststück gelungen, die Anforderungen an eine moderne und zugleich den historischen Charakter des Gebäudes respektierende Architektur mit hohen ökologischen Zielsetzungen zu verschmelzen. Wichtigste Vorgabe innerhalb des Projektes: Energie erst gar nicht verbrauchen. An zweiter Stelle folgt der effiziente Energieeinsatz. Für Claudia Lemhoefer, Sprecherin der für die Bauleitung zuständigen Bundesbaugesellschaft Berlin, ist das Energiekonzept für die 46 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Bundesbauten im Spreebogen "energetisch zukunftsweisend, umweltpolitisch verantwortungsvoll und ökologisch vorbildlich". Lemhoefer: "In der Einsparung liegt die effektivste Strategie, um den Einsatz fossiler Energien und damit die CO2-Emissionen zu reduzieren.“ Integriertes Konzept Ein Ziel, das durch ein integriertes Konzept des Ingenieur-Büros Kuehn Bauer Partner (München/Berlin) und der Geothermie Neubrandenburg GmbH und durch die innovativen Lösungen des Planungsstabes derart überzeugend erreicht wurde, daß es als beispielhaft gelten kann. Die Kombination von Solartechnik und mechanischen Belüftungssystemen, einen hohen Anteil natürlichen Lichtes, der Nutzung des Bodens als natürlichem Kälte- und Wärmespeicher, der Kraft-Wärme-Kopplung, effizienter Blockheizkrafttechnik und des Rückgriffs auf nachwachsende Energiequellen machen es möglich, den jährlichen CO2-Ausstoß des Reichstagsgebäudes von rund 7.000 auf 1.000 Tonnen zu reduzieren " ohne Einbußen an Komfort und Ästhetik. Im Gegenteil. Funktionen der Kuppel Die 23 Meter hohe und 40 Meter breite Glaskuppel des Reichstagsgebäudes ist nicht nur prägendes architektonisches und ästhetisches Element des neuen Bundestages. Norman Foster hat die begehbare und öffentlich zugängliche Kuppel auch in das einzigartige Energiekonzept integriert und sie darin zu einem wichtigen Element gemacht. Zunächst ist das Schaufenster des Parlaments, von dem sich zugleich ein überwältigender Blick auf das Berliner Stadtbild bietet, die wesentliche Lichtquelle des Bundestages. Tageslicht fällt nicht einfach wie bei einem Fenster in den zehn Meter unter der Kuppel liegenden Plenarsaal, der mit 1.200 Quadratmetern etwa doppelt so groß ist wie der von Wallot gebaute und 1894 eingeweihte Plenarsaal des Reichstages. An dem trichterförmigen, sich nach oben öffnenden Konus, der in der Kuppel hängt, sind 30 Spiegelreihen mit jeweils zwölf Spiegeln befestigt, um diffuses, nicht blendendes Tageslicht in den Plenarsaal umzuleiten. Bei besonders starkem Sonnenschein kann ein Teil der insgesamt 360 Spiegel mit einer jeweiligen Fläche von 4,20 mal 0,60 Meter durch einen mitfahrenden, computergesteuerten Sonnenschutz abgedeckt werden. Damit wird gleichzeitig eine zu große Aufheizung 47 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc verhindert und die für die Kühlung notwendige Energiemenge vermindert. Um den Schattenspender richtig zu positionieren, kann sich der steuernde Computer auf 24 Meßstellen stützen, die auch den Einstrahlwinkel des Sonnenlichts berücksichtigen. Dieses Lichtsystem trägt dazu bei, den Energieverbrauch für die elektrische Beleuchtung des Bundestages zu reduzieren. Zusätzlich energiesparend wirken Dimmer, um auch bei Tag nur so viel Licht wie nötig zu nutzen. Natürliche Be- und Entlüftung Zugleich dient die Kuppel aber auch der natürlichen und damit energiesparenden Entlüftung des Bauwerks. Eine Idee, bei der Kuehn Bauer und Partner auf die Vorarbeiten des Ingenieurs David Grove zurückgreifen konnten, der schon vor über 100 Jahren den thermischen Auftrieb für die Entlüftung des Reichstages ausgenutzt hatte. Um das thermische Verhalten des Gebäudes zu untersuchen, hatte Grove Langzeit-Heizversuche im Reichstag unternommen. Wie damals wird auch in Zukunft das Parlamentsgebäude belüftet, wobei die Kuppel als höchster Platz des Gebäudes, in dem sich die Luft sammeln kann, wieder die zentrale Rolle spielt. Lemhoefer: "Die verbrauchte Luft wird über eine Abluftdüse nach oben geleitet und entweicht durch eine zehn Meter breite zentrale Öffnung.î Diese liegt unscheinbar wie ein Großteil der Haustechnik innerhalb des Konus, so daß die Entlüftung die Besucher der Kuppel nicht stört oder belästigt. Doch selbst die Entlüftung dient noch der Energieeinsparung. Im Konus versteckt ist eine Wärmerückgewinnungsanlage, die der Abluft noch nutzbare Energie entzieht und für die Beheizung des Gebäudes wieder nutzbar macht. Für die Versorgung des Gebäudes mit Frischluft hat Foster die bereits von Wallot eingebauten Belüftungsschächte im gesamten Haus wieder freigelegt. Gleichzeitig sind die neuen Fenster des Reichstagsgebäudes grundsätzlich zur direkten Belüftung zu öffnen, trotz der Sicherheitsauflagen. Lemhoefer: "Die Konstruktion der Fenster gleicht einer Doppelfassade: Hinter den äußeren Fenstern liegt ein durchlüfteter Zwischenraum mit Sonnenschutz. Die inneren Fenster lassen sich öffnen, so daß sich jeder Raum mit Frischluft versorgen läßt.î Sensoren messen Luftqualität und Raumtemperatur und steuern die Lüftungsklappen und die unterstützende mechanische Lüftung. Bei Luftverschlechterung und bei extremen Temperaturen im Sommer und Winter wird die Fensterlüftung durch mechanische Lüftung, ergänzt durch Wärmerückgewinnung, 48 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc ersetzt. Bio-Blockheizkraftwerke Nahezu einzigartig in der Bundesrepublik ist das Herzstück des beispielhaften Energiekonzepts. Zwei ausschließlich mit Biodiesel (verestertes Pflanzenöl, PME) betriebene Blockheizkraftwerke im Reichstagsgebäude und im benachbarten Alsenblock liefern nicht nur Strom und Wärme für das Plenargebäude und die naheliegenden Parlamentsneubauten Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (Wissenschaftlicher Dienst, Bundestagsbibliothek), Paul-Löbe-Haus (1.200 Räume für Abgeordnete und Sitzungssäle) und Jakob-Kaiser-Haus (2.000 Räume für Abgeordnete, Fraktionen und Bundestagsverwaltung). Durch das Vorkommen von Solewasser unter dem Reichstagsgebäude kann die überschüssige Abwärme, die während der Verbrennung entsteht, gespeichert und später genutzt werden. Von der eingesetzten Energie geht deshalb nur wenig verloren. Wärme- und Kältespeicher Ein Teil der Abwärme der Motoren wird im Sommer durch Absorptionskältemaschinen genutzt und zur Kühlung der Gebäude eingesetzt. Der übrige Teil wird durch Solewasser aufgenommen und gespeichert. Dazu wird das salzhaltige Wasser aus einem Erdreservoir in etwa 300 Meter Tiefe unter dem Gebäude hochgepumpt, in den Blockheizkraftwerken aufgewärmt und über einen zweiten Brunnen wieder in die Erde geleitet. Dort kann das 70 Grad heiße Wasser bis zum Winter lagern und dann zur Beheizung der Bundestagsbauten dienen. Ein zweites Wasservorkommen in 60 Meter Tiefe dient als Kältespeicher. Hier wird die Kühle des Winters aufgefangen und für den Sommer gespeichert, um die Gebäude vor allem bei extremen Temperaturen kühl und frisch zu halten. Hervorragende CO2-Bilanz Daß die CO2-Bilanz der Bundesbauten im Spreebogen so hervorragend ausfällt, liegt neben der intelligenten Konzeption auch daran, daß die beiden Blockheizkraftwerke ausschließlich Pflanzenöl verbrennen. Während bei der Verbrennung von Gas und Erdöl Kohlendioxid freigesetzt wird, das vor Tausenden von Jahren gebunden wurde, binden die nachwachsenden Rohstoffe das in die Atmosphäre freigesetzte CO2. Lemhoefer: "Deshalb belastet die Verbrennung von Pflanzenöl, im Gegensatz zu 49 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Erdöl oder Erdgas, die Umwelt nicht mit zusätzlichem CO2.î Dabei nutzt der Bundestag vor allem Pflanzenöl aus nachwachsenden Rohstoffen. Die Verbrennung in Blockheizkraftwerken ist zudem durch direkte Ausnutzung der Abwärme erheblich effizienter als im Großkraftwerk. Die Bilanz der Blockheizkraftwerke und der über 300 Quadratmeter großen Solarstromanlage auf dem Dach des Reichstagsgebäudes ist entsprechend außergewöhnlich. 82 Prozent des Strombedarfs im Reichstag und den benachbarten Parlaments- bauten können durch die überschaubaren Anlagen gedeckt werden. Nur in Spitzenzeiten muß Strom zusätzlich aus dem Netz bezogen werden. Die Abwärme der Blockheizkraftwerke deckt durch Kraft-Wärme-Kopplung zugleich 90 Prozent des Wärme- und Kältebedarfs. Der Anteil regenerativer Energiequellen für die Strom-, Wärme- und Kälteerzeugung liegt bei über 80 Prozent. Werte, die im wesentlichen auch für das Bundeskanzleramt mit seinem BiodieselKraftwerk und seiner Anbindung an die Langzeitwärme-Speicher gelten. Die Solespeicher im Märkischen Sand unter dem Reichstagsgebäude sind so groß, daß auch noch die Regierungszentrale an das Energiesystem angeschlossen werden kann. Doch welcher Staatschef, der zu Gesprächen ins Kanzleramt kommt, wird wohl ahnen, daß die gemütliche Wärme aus natürlichem Pflanzenöl stammt? Auftrag und Kosten (Stand: 29.07.1998) Planung und Auftrag Der Beschluss, dass das Reichstagsgebäude Sitz des Deutschen Bundestages werden sollte, war vorwiegend eine politische Entscheidung. Vorausgegangen war auf die Einladung der damaligen Bundestagspräsidentin eine Diskussionsrunde mit mehr als 300 Historikern, Architekten, Politikern und Publizisten aus dem In- und Ausland. In der Fachwelt herrschte weitgehend Übereinstimmung, dass unter Würdigung seiner historischen wie auch künftigen Bedeutung als "Herz der Republik" eine Einfachsanierung des Gebäudes nicht vertretbar sei. Eine solche "Pinselsanierung" hätte schon 200 Millionen DM gekostet. Empfohlen und durchgeführt wurde ein "Realisierungswettbewerb", zu dem 80 namhafte Architekten Entwürfe einreichten. Drei Wettbewerbsteilnehmer kamen in die engere Wahl. Der Auftrag zum Umbau ging schließlich an den britischen Architekten Sir Norman Foster. 50 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Kosten Sir Norman Foster erhielt für Planung und Ausführung die strikte Auflage, dass die gesamten Kosten für das Bauvorhaben, einschließlich Kuppelbau, aller Nebenkosten und Honorare 600 Millionen DM nicht übersteigen dürften. Im Frühjahr 1999 wurde das fertiggestellte Gebäude dem Deutschen Bundestag übergeben. In diesen vier Jahren sollten die Umbaukosten also jährlich zwei DM für jede Bürgerin und jeden Bürger betragen. Für das gesamte Projekt galten selbstverständlich die Richtlinien für die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung von Bundesverwaltungen, auf deren Einhaltung der Bundesrechnungshof im Auftrag des Deutschen Bundestages achtet. Die Kuppel Im Stadtbild unverkennbar: Die neue Kuppel des künftigen Parlamentssitzes Nach dem Entwurf von Sir Norman Foster und in Kooperation mit Fachingenieuren hat der moderne Dachaufbau des Parlamentssitzes seine endgültige Gestalt angenommen. Die rund 23 m hohe und 40 m breite Kuppel aus Stahl und Glas dient der natürlichen Belichtung und Belüftung und ist begehbar. Die Arbeitsgemeinschaft Reichstagskuppel, bestehend aus den Unternehmen Waagner-Biró AG, Wien, Waagner-Biró GmbH, München, Götz GmbH - München/Wien/Dillingen - hatte sich erfolgreich bei der europaweiten Ausschreibung durchgesetzt und die Kuppel bis auf wenige Restarbeiten fertiggestellt. Unter den vielen Möglichkeiten, dem Reichstagsgebäude wieder einen signifikanten Dachaufbau zu geben, hatte sich der Ältestenrat des Deutschen Bundestages im Frühjahr 1995 für die moderne Version einer Kuppel entschieden. Sie ist von der 51 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Dachterrasse aus über eine Rampe öffentlich zugänglich und versorgt und den Plenarsaal mit modernster Belichtungs- und Beleuchtungstechnik. Besucher haben seit der Aufnahme der parlamentarischen Arbeit im Reichstagsgebäude im Jahre 1999 Gelegenheit, den Parlamentssitz über das Westportal zu betreten. Von hier aus bringen sie zwei Fahrstühle zur Dachterrasse, von der aus sie das 24 m hoch gelegene Restaurant erreichen. Wer einen noch attraktiveren Rundblick über Berlin auf 40 m Höhe genießen will, der gelangt zu Fuß über eine Rampe zur 200 qm großen Aussichtsplattform im oberen Teil der Kuppel. Die Kuppel - ein komplexes Gebilde aus Stahl, Glas und Technik 1997 diente ein Montagegerüst zum innenseitigen Einbau der beiden gegenläufigen Rampen. Die in der Werkstatt vorgefertigten Rampenelemente wurden auf dem Dach des Reichstagsgebäudes zusammengeschweißt und eingebaut. Danach folgten die Stahlrippen und die Aussteifung durch 17 Horizontalträger. Nachdem die Aussichtsplattform mit der Rampe und der Hauptkonstruktion verbunden war, konnte die Konstruktion freigesetzt und das Hilfsgerüst demontiert werden. High-tech in der Kuppel sorgt für natürliche Belichtung und Belüftung des Plenarsaals Im Kuppelinneren befindet sich ein trichterförmiges Lichtumlenkelement (Konus) mit Spiegeln, das diffuses Tageslicht in den zehn Meter tiefer gelegenen Plenarsaal führt. Die Lichtumlenkung erfolgt über 30 Spiegelreihen mit jeweils 12 Spiegeln, so dass insgesamt 360 Einzelspiegel (4,20 x 0,60 m) das Sonnenlicht reflektieren. Zur Vermeidung direkter Sonneneinstrahlung können die jeweils der Sonne zugewandten Spiegel bei Bedarf durch ein mitfahrendes Sonnenschutzelement abgeschattet werden. Das Element besteht aus einem umlaufenden Stahlrahmen sowie Aluminiumlamellen. Die computergestützte Steuerung für die Ausrichtung des Sonnenschutzelements ist so konzipiert, dass die jeweiligen Einstrahlwinkel entsprechend der unterschiedlichen Jahreszeiten berücksichtigt werden. 24 Messstellen überprüfen die Positionierung des Verschattungselements in Abhängigkeit zum Sonnenstand. Zusätzlich sorgt das Lichtumlenkelement durch Ausnutzung des thermischen Auftriebs für die Abluftführung aus dem Plenarsaal. Die verbrauchte Luft wird über 52 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc eine Abluftdüse nach oben geleitet und entweicht durch eine 10 m breite zentrale Öffnung am Kuppelscheitel. Sämtliche funktionalen und technischen Einrichtungen sind in den Konus integriert, so dass die gesamte Haustechnik, z. B. für die Entlüftung und Entrauchung des Plenarsaals, für den Besucher nicht wahrnehmbar ist. Die Rampe Das Verbindungselement zwischen Dachterrasse und Aussichtsplattform stellen zwei spiralförmige gegenläufige Rampen dar, die auf je 230 m Länge die Kuppel erschließen. Sie beginnen um 180 Grad voneinander versetzt und werden bei einer konstanten Steigung von 8 Grad an der Innenseite der Kuppel hochgezogen. Die Kombination von sich ständig ändernder Krümmung, unregelmäßigem Rampenquerschnitt und Verformungen durch Eigengewicht stellt an die Konstruktion höchste Ansprüche. Die Stahlkonstruktion Die Kuppel besteht aus 24 Hauptstahlrippen, die auf einem unteren Ringträger aufgelagert sind und oben durch einen weiteren gefasst werden. Die Stahlrippen haben einen Dreiecksquerschnitt, der im unteren Bereich konstant ist und sich bis zum oberen Ringträger verjüngt. Die Horizontalaussteifung wird durch insgesamt 17 Stahlringe gebildet, die im gleichmäßigen Abstand an der Außenseite der Hauptstahlrippe aufgesetzt werden. Die Horizontalprofile sind wesentlicher Bestandteil der Fassade und dienen der Auflagerung der Verglasung sowie der Aussichtsplattform. Die Hauptfassade Die Verglasung der Kuppel (ca. 3000 qm) besteht aus 17 übereinander liegenden Reihen von Glasscheiben (24 mm) mit jeweils 24 Scheiben (5,10 x 1,70 m). Die einzelnen Reihen sind schuppenartig übereinander angeordnet. Die sich daraus ergebenen Zwischenräume sind ebenfalls verglast. Zur besseren Durchlüftung der Kuppel bleiben die unteren vier Reihen unverglast. Eckdaten der Bauteile 53 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Kuppelhöhe: 23,5 m ab Dachterrasse, Gesamthöhe ab Straßenniveau: 47 m (bei Architekt Wallot: 75 m einschließlich Laterne) Kuppeldurchmesser: 40 m Höhe Dachterrasse (Kuppelfußpunkt): 24 m über Gelände Höhe Aussichtsplattform: 40,7 m (bei Architekt Wallot: 59 m) Höhe Scheitel: 47 m Stahlkonstruktion: 800 t Verglasung: 3000 qm An der Realisierung Beteiligte Architekt: Sir Norman Foster and Partners, Berlin/London Statik: Leonhardt, Andrä und Partner, Berlin/Stuttgart Fachplanung: Planungsgemeinschaft Technik GbR, Berlin Ausführung: ARGE Reichstagskuppel - Waagner-Biró AG - Waagner-Biró GmbH, Wien/München, Götz GmbH, Dillingen Die Kuppel in neuem Licht (aus: Blickpunkt Bundestag - Forum der Demokratie 2/98; Juli 1998) 54 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Energieversorgungsanlage Wissenschaftliche Begleitung der Betriebsphase der mit Rapsölmethylester (RME) befeuerten Energieversorgungsanlage des Deutschen Bundestages in Berlin Im neuen Deutschen Bundestag im ehemaligen Reichstagsgebäude in Berlin (Abb. 1) - im April offiziell dem Parlament übergeben - wurde ein sehr innovatives und umweltfreundliches Energieversorgungskonzept realisiert. Wärme, Kälte und Strom wird hier auf der Basis von mit Biodiesel (RME) befeuerten Motor-HeizkraftwerkAnlagen (MHKW) bereitgestellt. Außerdem sind - für einen möglichst energieeffizienten Betrieb - im oberflächennahen Erdreich angelegte Wärme- und Kältespeicher in das System integriert. Das Reichstagsgebäude in Berlin Bundesbaugesellschaft Berlin mbH) Das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) hat in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Luftreinhaltung der Universität Stuttgart (ALS) - vertreten durch das Institut für Verfahrenstechnik und Dampfkesselwesen (IVD) und das Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde (IKP) - und dem Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren in Stuttgart sowie mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML) die Aufgabe übernommen, die ersten Betriebsjahre dieses Energieversorgungssystems wissenschaftlich zu begleiten und bezüglich technischer, ökologischer und ökonomischer Kriterien auszuwerten. 55 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Energieversorgungsanlage des Deutschen Bundestages in Berlin Das Berliner Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung sowie weitere, derzeit im Bau befindliche Parlamentsbauten im Spreebogen werden zukünftig im Energieverbund - dem sogenannten TechnikVerbund Parlamentsbauten - mit Strom, Wärme und Kälte versorgt. Herzstück des Technik-Verbundes Parlamentsbauten sind zwei Motor-HeizkraftwerkAnlagen (MHKW), die mit Rapsölmethylester (RME, Biodiesel) befeuert und in Verbindung mit einem Wärme- und einem Kälte-Erdspeicher betrieben werden sollen. Insgesamt werden Deckungsgrade der MHKW-Anlage am Gesamtenergiebedarf von mehr als 80 % angestrebt. Die MHKW-Anlage wird im Endausbau eine elektrische Gesamtleistung von 3 200 kW aufweisen und an zwei Standorten (Reichstagsgebäude und Paul-Löbe-Haus) mit jeweils vier Modulen gleicher Leistung installiert werden. Die für den Reichstag vorgesehenen MHKWModule wurden bereits im Herbst 1998 installiert. Sie bestehen im wesentlichen aus stationären Dieselmotoren, die für den Betrieb mit RME zugelassen wurden. Die Abgasreinigung wird durch Rußfilter und SCR-Katalysatoren mit nachgeschalteten Oxidations-Kata-lysatoren realisiert. Die MHKW-Module werden stromgeführt betrieben. Der nicht durch die MHKWAnlage deckbare Strombedarf wird durch das Netz der BEWAG gedeckt, das zugleich als Ausfallreserve dient. Da die Wärmeerzeugung prozeßbedingt fest an die Stromproduktion gekoppelt ist, kann - bezüglich der Deckung des aktuellen Wärmebedarfs - ein Wärmeüberschuß bzw. ein -defizit vorliegen. Zur Zwischenspeicherung überschüssig anfallender Wärme ist deshalb ein Aquifer-(d. h. Grundwasser-)Speicher in ca. 300 m Tiefe vorhanden, in den die Wärme bei einer Temperatur von maximal 70 °C zwischengespeichert und - im Bedarfsfalle - mit Temperaturen zwischen 65 und 20 °C zurück gewonnen werden kann. Läßt die Temperatur der eingespeicherten Wärme eine direkte Nutzung für Heizungszwecke nicht zu, wird sie mit Hilfe von drei auf Wärmepumpenbetrieb umschaltbaren Absorptionskältemaschinen (d. h. unter Einsatz von Wärme) auf ein höheres, für Heizungszwecke nutzbares Temperaturniveau gebracht. Zusätzlich ist die Anlage mit Spitzenheizkesseln für einen RME-/Heizöloder Erdgasbetrieb ausgestattet, die ein ggf. immer noch gegebenes Wärmedefizit abdecken können und als Ausfallreserve (back-up-System) dienen. 56 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Grundlastkältebedarf kann zum einen mit Absorptionskältemaschinen gedeckt werden; im Reichstagsgebäude wurde hierzu bereits eine derartige Anlage mit einer Kälteleistung von 850 kW installiert. Zum anderen wird zukünftig eine weitere Kälteerzeugungsanlage zum Einsatz kommen, die auf der Basis direkter Verdunstungskühlung (Direct Evaporating Cooling, DEC) arbeitet und für deren Betrieb ebenfalls Wärme benötigt wird. Zur Deckung des Spitzenkältebedarfs werden zusätzlich Kompressionskältemaschinen installiert. Um den Betrieb dieser Erzeugungsaggregate zudem vom Kältebedarf zu entkoppeln und damit einen möglichst energieeffizienten Betrieb zu ermöglichen, wird Kälte bei Temperaturen zwischen 5 und 10 °C in einer grundwasserführenden bodennahen Erdschicht in etwa 30 bis 60 Metern Tiefe während des Winters gespeichert, die dann im Sommer für die Gebäudekühlung in der Grundlast verwendet werden kann. Hintergrund und Ziele der wissenschaftlichen Begleitung Die Energieversorgungsanlage im neuen Deutschen Bundestag weist damit eine Vielzahl innovativer Aspekte auf; dies gilt insbesondere hinsichtlich der Tatsache, daß erstmals RME in einer Anlage dieser Leistungsklasse und Komplexität eingesetzt werden soll. Deshalb ist es sinnvoll, den Anlagenbetrieb hinsichtlich betriebstechnischer, ökologischer und ökonomischer Kriterien wissenschaftlich zu begleiten und die Erfahrungen, die insbesondere mit dem Betrieb der RME-befeuerten Anlagen gemacht werden, zu dokumentieren und auszuwerten. Deshalb werden vom IER und der ALS innerhalb eines 2-jährigen Monitoringzeitraums im wesentlichen folgende Aspekte untersucht (Abb. 2): Die betriebstechnischen Auswirkungen des RME-Einsatzes werden durch die Erfassung, Analyse, Klassifizierung und Bewertung des Betriebsverhaltens und der technischen Zuverlässigkeit der Anlage und ihrer Komponenten analysiert; u. a. werden Verschleißmessungen an einem Motor der MHKW-Anlage im Reichstagsgebäude durchgeführt. Die Umwelteffekte von RME- im Vergleich zum Dieseleinsatz werden anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Abgaskomponenten, die vor Ort im Rahmen mehrere Meßkampagnen gemessen werden, teilweise unter Berücksichtigung der vor- und ggf. nachgelagerten Ketten erhoben. Zusätz-lich werden die Auswirkungen des RMEEinsatzes auf die Energiebilanz der Anlage und ihrer Komponenten (Energieflüsse, 57 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Nutzungsgrade, Verlustquellen) durch die Erfassung, Bilanzierung und vergleichende Bewertung der energetischen Daten der Anlage und ihrer Komponenten erfaßt. Die ökonomischen Vor- und Nachteile des Einsatzes von RME im Vergleich zu fossilen Brennstoffen in MHKW-Anlagen einerseits und im Vergleich zu einer alternativen Bereitstellung von Wärme bzw. Kälte und elektrischer Energie andererseits werden durch die Erfassung, Aufbereitung und Bewertung der Kosten der Anlage im allgemeinen und des RME-Einsatzes im speziellen analysiert. Damit ist es möglich, wissenschaftlich fundierte Aussagen zu den Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von RME für derartige stationäre Anlagen zur Wärme- und Kälte- sowie Strombereitstellung zu erarbeiten. Auch können die gewonnenen Erkenntnisse den Betriebsergebnissen alternativer Brennstoffe und konkurrierender Anlagen gegenübergestellt und Schlußfolgerungen und Empfehlungen für die Konzeption sowie für Bau und Betrieb ähnlicher stationärer Anlagen abgeleitet werden. Interessierte Anfragen und Anregungen richten Sie bitte an: Dipl.-Ing. Andreas Heinz, Tel.: 0711/78061-76, e-mail: [email protected] Das Reichstagsgebäude: Symbol deutscher Geschichte von Wolfgang Kaiser Wie kaum ein anderes deutsches Bauwerk spiegelt das Reichstagsgebäude die wechselvolle Geschichte Deutschlands seit der Gründung des Kaiserreichs wider. Auch wenn das Haus nur für die kurze Zeit der Weimarer Republik eine Volksvertretung beherbergte, so ist doch das Bauwerk für viele das Symbol deutscher Parlamentsgeschichte schlechthin. 58 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc 9. Juni 1884: Grundsteinlegung für das Reichstagsgebäude. Seit der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1871 gab es ein Parlament für alle Deutschen, den Reichstag, dessen Abgeordnete aus allgemeinen (wahlberechtigt waren bis 1919 allerdings nur Männer), gleichen, geheimen und direkten Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgingen. Der Name Reichstag leitete sich ab von der gleichnamigen Versammlung der Reichsstände des alten Reiches, die bis 1806 in Regensburg getagt hatte. Das Parlament des Kaiserreichs versammelte sich zuerst in einem schon vorhandenen Gebäude, dann ab Oktober 1871 in einem als Provisorium errichteten Haus in der Leipziger Straße. Niemand sah allerdings voraus, dass dieser Behelfsbau 23 Jahre lang Parlamentssitz bleiben sollte. Noch im Frühjahr 1871 rief das Parlament eine Reichstagsbaukommission ins Leben, die einen Bauplatz für einen repräsentativen Neubau suchen sollte. Der in Aussicht genommene Ort an der Ostseite des Königsplatzes (des heutigen Platzes der Republik) war jedoch noch mit dem Palais des Grafen Raczynski bebaut, das aufgrund einer komplizierten rechtlichen Situation zunächst nicht erworben werden konnte. Nicht zuletzt deshalb scheiterte ein erster Architektenwettbewerb im Jahre 1872. Zehn Jahre später, als dieser Bauplatz dann doch zur Verfügung stand, endete ein erneuter Wettbewerb mit der Vergabe des ersten Preises an den Architekten Paul Wallot (1841-1912) aus Oppenheim. 59 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Das Reichstagsgebäude nach dem Umbau. Bei der feierlichen Grundsteinlegung am 9. Juni 1884, einem regnerischen Montag, spielten die Vertreter des Parlaments eine untergeordnete Rolle. Der Reichstagspräsident von Levetzow – in der Uniform eines Landwehrmajors der Reserve – und die Vizepräsidenten waren zwar anwesend, durften aber die üblichen drei Hammerschläge erst nach dem Kaiser und den Mitgliedern der kaiserlichen Familie, nach Bismarck, nach den Generalfeldmarschällen und anderen wichtigeren Personen ausführen. In die Vorbereitung des festlichen Aktes waren die Vertreter des Parlaments ohnehin nicht einbezogen worden. Als nach zehnjähriger Bauzeit am 5. Dezember 1894 der Schlussstein für das Haus gelegt wurde, schwang zwar ein neuer Kaiser, Wilhelm II., den Hammer, am höfischen und vor allem militärischen Charakter des Zeremoniells hatte sich aber nichts geändert. Am Tag danach trat das Parlament zum ersten Mal in seinem neuen Hause zusammen. Den Mittelpunkt des neuen Baus bildete der reich geschmückte Plenarsaal für 397 Abgeordnete, dessen Wände aus akustischen Gründen ganz mit Holz getäfelt waren. Die Intarsienarbeiten über der "Nein-Tür" und der "Ja-Tür" des Sitzungssaals zeigten Rübezahl und den seine Widder zählenden einäugigen Riesen Polyphem aus der griechischen Sage. Nach dieser Darstellung erhielt das parlamentarische Verfahren, bei unklaren Abstimmungsergebnissen die Abgeordneten beim Durchschreiten der Türen zu zählen , seinen Namen "Hammelsprung". 60 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Nach einer Bauzeit von zehn Jahren findet am 5. Dezember 1894 die Schlusssteinlegung durch Kaiser Wilhelm II. statt. Die Siegessäule stand damals noch vor dem Reichstag. Über dem Plenarsaal erhob sich die aus Metall und Glas gearbeitete große Kuppel, deren höchster Punkt 75 Meter hoch aufragte. Durch die Glasdecke und die Seitenfenster dieser Kuppel erhielt der Plenarsaal natürliches Licht. Auch wenn das Parlament des Kaiserreiches nicht in der Lage war, die Regierung wirksam zu kontrollieren, so bildeten sich doch im Laufe der Jahre Strukturen einer Parlamentskultur heraus, auf denen die Weimarer Republik aufbauen konnte. Das Reichstagsgebäude war Schauplatz des Ringens um die Parlamentarisierung des Reiches und erlebte die wachsende Bedeutung der Fraktionen. In den Jahren des Ersten Weltkrieges waren die "Friedensresolution" des Reichstags vom Juli 1917 und die Verfassungsänderung vom Oktober 1918, wonach der Reichskanzler das Vertrauen des Parlaments benötigte, markante Stationen dieser schrittweisen Parlamentarisierung. Während des Krieges erst gab Kaiser Wilhelm II. seinen Widerstand gegen die von Anfang an geplante Inschrift "Dem Deutschen Volke" auf, sodass sie Ende 1916 angebracht werden konnte. Am Ausgang des verlorenen Weltkrieges stand das Reichstagsgebäude dann erneut im Mittelpunkt des politischen Geschehens: Vor einer unübersehbaren Menge streikender Arbeiter rief am 9. November 1918 der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann, auf einem Balkon an der Westfront des Hauses stehend, die Republik aus und besiegelte damit das Ende der Monarchie. Seine Worte sind nur aus seinen Erinnerungen überliefert: "Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!" 61 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Das erste Parlament der Republik, die verfassungsgebende Nationalversammlung, trat nicht im Reichstagsgebäude, sondern in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik, zusammen. Nach der Verabschiedung der Verfassung, im Herbst 1919, kehrte das Parlament, in dem seit Januar auch weibliche Abgeordnete saßen, wieder nach Berlin ins Reichstagsgebäude zurück. November 1918: Während der ersten Tage der Revolution tagt der Sicherheitsausschuss des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates im Lesesaal des Reichstags. In der Arbeit des Parlaments der Weimarer Republik spiegelten sich die Aufbruchstimmung, die neue Rolle der Parteien und Bewegungen, sehr bald aber auch die außenpolitischen Folgen der Niederlage und die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Jahre wider. Durch das neue Verhältniswahlrecht war die Zahl der Volksvertreter nicht mehr auf 397 festgeschrieben, sondern hing direkt von der Wahlbeteiligung ab, sodass sich am Ende der Weimarer Republik über 600 Abgeordnete im Plenarsaal drängten. Doch auch schon im Kaiserreich hatte sich das gesamte Gebäude als zu klein erwiesen; vor allem bot es zu wenig Büros und Arbeitszimmer für den wachsenden Bedarf der Abgeordneten und Fraktionen. In einer zeitgenössischen Publikation über den Reichstag findet sich eine beredte Klage eines fiktiven Abgeordneten über die Zustände im Haus: "Was nützten ihm die herrlichen Malereien an den Wänden, die feingeschnitzten Holzpaneele, die einzig schöne Aussicht auf den Königsplatz (...), wenn er keinen leeren Stuhl fand und keinen freien Arbeitstisch zum ruhigen Lesen und Schreiben?" 1927 und 1929 wurden zwei Wettbewerbe für Erweiterungsbauten auf einem nördlich gelegenen Grundstück ausgeschrieben. Obwohl sich bedeutende Architekten 62 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc daran beteiligten, kamen keine befriedigenden Ergebnisse zustande. Die sich verschärfende Finanznot gegen Ende der Weimarer Republik verhinderte schließlich jegliche Baumaßnahme. Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 bedeutete das Ende der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Das Ende der Nutzung des Reichstagsgebäudes war gleichzeitig auch das Ende der parlamentarischen Demokratie. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, vier Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, wurde der Plenarsaal durch Brandstiftung zerstört. Die Frage nach der Täterschaft mag zwar bis heute strittig sein – fest steht jedoch, dass die Nationalsozialisten die einzigen Nutznießer des Brandes waren. Sie beschuldigten Kommunisten und Sozialdemokraten der Urheberschaft und nahmen den Brand als Anlass, in derselben Nacht mit massivem Terror gegen die Opposition vorzugehen. Am Tag nach dem Brand unterschrieb Reichspräsident Hindenburg die so genannte Reichstagsbrandverordnung "zum Schutz von Volk und Staat". Paragraph 1 dieser Verordnung setzte die Grundrechte "bis auf weiteres" außer Kraft, Paragraph 5 führte die Todesstrafe für das politische Delikt "Hochverrat" ein. Der Reichstag kam nie wieder im Reichstagsgebäude zusammen, sondern traf sich von nun an in der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Platzes. Dort nahm der neue Reichstag gegen die Stimmen der SPD am 23. März 1933 das so genannte Ermächtigungsgesetz an, offiziell "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" genannt. Damit entmachtete das Parlament sich selbst und gab Hitler diktatorische Vollmachten. Innerhalb weniger Monate wurde auf der Basis dieses Gesetzes das gesamte politische System der Republik "gleichgeschaltet", im Juli 1933 waren alle Parteien außer der NSDAP verboten.Von nun an saßen in der Kroll63 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Oper nur noch nationalsozialistische "Abgeordnete", deren Hauptaufgabe es war, für große Hitlerreden eine pompöse Kulisse zu bilden, wie etwa am 1. September 1939, als Hitler den Beginn des Krieges verkündete. Die Kuppel des Reichstagsgebäudes wurde zwar nach dem Brand wieder instand gesetzt, sodass das Haus äußerlich unversehrt wirkte, aber der Plenarsaal wurde, da nicht mehr benötigt, nicht wiederhergestellt. Das Gebäude selbst diente der Verwaltung und wurde unter anderem auch für Propaganda-Ausstellungen benutzt. Das Reichstagsgebäude im Mai 1945: nur noch eine Ruine. 1937 wurde Albert Speer als "Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin" mit dem Umbau Berlins nach den Wünschen und Plänen Adolf Hitlers beauftragt. Im Rahmen riesiger Baumaßnahmen, mit denen aus Berlin die "Welthauptstadt Germania" werden sollte, war im Spreebogen eine gigantische Kuppelhalle geplant, neben der das Reichstagsgebäude verschwindend klein gewirkt hätte. Auch für die Umgestaltung des Hauses wurden bereits erste Pläne ausgearbeitet. Die Vorbereitung des Krieges setzte dann allerdings andere Prioritäten. Im Krieg selbst waren in den Kellern des Reichstagsgebäudes Teile der gynäkologischen Abteilung der Charité untergebracht, sodass einige Berliner das Licht der Welt im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes erblickten. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges lag das Reichstagsgebäude im Zentrum der Kampfhandlungen. Das Haus besaß für die Sowjets eine besondere Bedeutung, da sie es – zu Unrecht – als Symbol der Naziherrschaft betrachteten. Am 2. Mai 1945 eroberten sowjetische Truppen nach heftigen Kämpfen das Haus, das dabei schwer beschädigt wurde. Das millionenfach verbreitete Foto der sowjetischen Soldaten, die auf dem Dach die rote Fahne hissten, symbolisierte für die Sowjets die Vollendung ihres Sieges über Nazi-Deutschland. 64 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc In den Jahren nach dem Krieg stand das Haus als Ruine in einer von Trümmern und der zunehmenden Spaltung Berlins geprägten Stadtlandschaft. Die Grünflächen um das Haus wurden bepflanzt und dienten der Versorgung der hungernden Bevölkerung. Die Ruine bildete die Kulisse für eine Reihe von großen politischen Demonstrationen, deren wohl bedeutendste sich am 9. September 1948 gegen die Blockade Berlins richtete. Ernst Reuters Rede "Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!" wurde in ihrer Emotionalität zum Sinnbild des Behauptungswillens der von den Versorgungswegen abgeschnittenen Bevölkerung. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die Ruine enttrümmert, die Reste der Kuppel wurden aus Sicherheitsgründen entfernt. Die Diskussion um das weitere Schicksal des Baus – Abriss oder Wiederaufbau – war eng verknüpft mit der Frage nach der zukünftigen Funktion des Hauses in einem geteilten Land. 1955 beschloss der Bundestag, das Gebäude wiederherstellen zu lassen, auch wenn die Art der Nutzung des Gebäudes noch nicht feststand. Nach einem zulassungsbeschränkten Architektenwettbewerb arbeitete Paul Baumgarten (1900-1984) die Pläne für den Wiederaufbau des Hauses aus. Die Fassade wurde, dem Geschmack dieser Jahre entsprechend, von allem "überflüssigen" Schmuck und Stuck befreit. Auf die Kuppel verzichtete man und kürzte die vier Ecktürme um ein Geschoss. Im Inneren ließ Baumgarten die noch vorhandene Originalsubstanz zum großen Teil mit Platten verkleiden, schuf mehr Platz durch neue Zwischengeschosse und vergrößerte den Plenarsaal, dessen Rundumverglasung Transparenz vermitteln sollte. Während der Bauarbeiten schnitt die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 das Reichstagsgebäude endgültig von seiner alten Umgebung ab und ließ seine Randlage deutlich werden. Wie überall, so stand auch zwischen dem Haus und dem Brandenburger Tor die Mauer nicht direkt auf der Grenzlinie, sondern knapp dahinter. Die exakte Grenze, die den alten Verwaltungsgrenzen entsprach, verlief mitten durch die Säulen, die am Ostflügel dem Gebäude vorgebaut waren. 65 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 wurde Berlin geteilt. Die Grenze verlief über Jahrzehnte unmittelbar entlang des Reichstagsgebäudes. Als das Haus zu Beginn der siebziger Jahre fertig gestellt war, hatte die Entspannungspolitik zwar viele Erleichterungen für die geteilte Stadt gebracht, zugleich aber die Präsenz des Bundes genauer geregelt: Plenarsitzungen des Bundestages in Berlin waren seit dem Viermächteabkommen nicht mehr möglich. Es fanden aber regelmäßig Sitzungen einzelner Fraktionen und Ausschüsse im Hause statt. Zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung zog in den Westflügel die später erweiterte Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" ein, die bis zu ihrer Schließung im Herbst 1994 von mehr als zwölf Millionen Besuchern aus dem In- und Ausland aufgesucht wurde. Als Ende 1989 die Mauer geöffnet und Anfang 1990 auch hinter dem Reichstagsgebäude abgerissen wurde, rückte das frühere Parlamentsgebäude nicht nur geografisch wieder ins Zentrum, sondern gewann auch erneut eine gewichtige politische Funktion. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 fand auf dem Platz der Republik der Festakt zur deutschen Einheit statt; am 3. Oktober tagte ein erstes gesamtdeutsches Parlament aus Bundestag und Volkskammer im Plenarsaal. Am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Bald wurde klar, dass das Reichstagsgebäude Mittelpunkt eines neu entstehenden Parlaments- und Regierungsviertels werden sollte. 66 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der Platz der Republik in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990: Tausende erleben den Festakt zur deutschen Einheit. Nach einem Realisierungswettbewerb entschied sich der Ältestenrat des Bundestags für den überarbeiteten Entwurf des britischen Architekten Lord Norman Foster. Bevor der Rück- und Umbau des Gebäudes begann, gab der Bundestag grünes Licht für die seit vielen Jahren von Christo und Jeanne-Claude geplante Verhüllung des Reichstags. Die friedliche, entspannte Atmosphäre dieser Aktion im Sommer 1995 zog Millionen von Besuchern in ihren Bann und brachte dem Haus internationale Beachtung. Zugleich wurde deutlich, dass ein neues Kapitel der Geschichte des Reichstags beginnen konnte. Seit April 1999 hat nun der Deutsche Bundestag das Gebäude bezogen, dessen innere und äußere Gestalt sich grundlegend geändert hat. Nach wie vor bildet der Plenarsaal das Zentrum des Hauses: fast doppelt so groß wie der wallotsche Sitzungssaal, von Licht durchflutet und von der großartigen Kuppel bekrönt. So umstritten sie einmal war, so sehr ist sie inzwischen zum Wahrzeichen des Hauses und zum Anziehungspunkt für Besucher geworden. Fosters Umbau hat nicht nur ein modernes Parlamentsgebäude geschaffen, sondern zugleich durch die Integration der noch vorhandenen Bausubstanz dem Reichstagsgebäude einen Teil seiner historischen Identität zurückgegeben. 67 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Parlamentarischen Geschäftsführer zum Reichstagsgebäude "Unschlagbare Atmosphäre" Gut ein Jahr ist das Reichstagsgebäude jetzt Tagungsort des Bundestages. "Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin", gab Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Eröffnung des Reichstagsgebäudes am 19. April 1999 als Richtung vor. Haben sich die Erwartungen erfüllt? Wie arbeitet es sich im neuen Hohen Haus an der Spree? Und: Beeinflusst der historische Ort die Politik? Bevor der Bundestag in die Sommerpause ging, sprach Blickpunkt Bundestag darüber mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der fünf Bundestagsfraktionen, die als Manager ihrer Fraktionen entscheidend die Parlamentsarbeit bestimmen und erleben. Luftaufnahme der Baustelle Parlamentsviertel: Wenn alles fertig ist, haben die Abgeordneten ihre Büros direkt neben dem Reichstagsgebäude. Ob ursprünglich Umzugsgegner oder Berlin-Befürworter – nach einem Jahr äußern sich alle Geschäftsführer begeistert, zumindest positiv über das Reichstagsgebäude. Natürlich gibt es nach wie vor Kritik an Kinderkrankheiten und Unzulänglichkeiten im vom britischen Stararchitekten Lord Norman Foster umgebauten Reichstag – aber auf das Gebäude selbst mit seiner längst zum Symbol für Offenheit und Transparenz gewordenen Kuppel lassen die Parlamentarischen Geschäftsführer kaum etwas kommen. Nahezu gleichlautend schwärmen sie vom neuen Standort, der ein Ort deutscher Geschichte ist, aus der es "keinen Austritt gibt". Und zeigen sich überzeugt, 68 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc dass sie als Sprachrohr und Interessenvertreter ihrer Fraktionen auch für die überwältigende Mehrheit der 669 Bundestagsabgeordneten sprechen. "Es macht Spaß, im Reichstagsgebäude zu arbeiten", freut sich Jörg van Essen, Parlamentarischer Geschäftsführer der F.D.P.-Fraktion. Und ist geradezu stolz, wenn er von seinem Sitz im Halbrund des Plenarsaales den Kopf nach oben wendet und die zahlreichen Touristen in der Spirale der Glaskuppel sieht. "Es tut dem Parlament gut, wenn ihm die Bürger im wahrsten Sinne aufs Dach steigen und den Abgeordneten von oben auf die Finger gucken", meint er und spricht von einer exzellenten architektonischen Gestaltung, über die er auch von Kollegen "viel Begeisterung" höre. Nur eines stört van Essen: Der Blick aus dem Reichstagsgebäude auf den "Klotz Bundeskanzleramt", das sich "gigantisch und protzig in bewussten Gegensatz zum Parlament" setze. Von einer "unschlagbaren Atmosphäre" im Plenarsaal spricht auch Wilhelm Schmidt, Parlamentarischer Geschäftsführer der größten Regierungsfraktion SPD, auch wenn er durchaus wehmutsvoll an den "schönen Blick aus dem Bonner Plenarsaal in den Park hinein" zurückdenkt und auch sonst an dem Gesamtkomplex noch einiges zu kritisieren hat. Ein "gelungenes Werk, in dem ich mich äußerst wohl fühle und meiner Arbeit hervorragend nachgehen kann", lobt der Parlamentarische Geschäftsführer des CSU-Landesgruppe Peter Ramsauer. Und sein CDU-Kollege Hans-Peter Repnik schwärmt von den "dichten Kontakten", die sich täglich zwischen Kuppel-Besuchern und Abgeordneten ergeben. Dass das Reichstagsgebäude mitten im Zentrum Berlins stehe und zu einer "internationalen Attraktion" geworden sei, unterscheide sich wohltuend von der "ausgelagerten Campus-Atmosphäre in Bonn". Ähnlich urteilt die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Sie hebt die zentrale Lage des Reichstagsgebäudes hervor, die ihn zu einer "Stätte der Kommunikation" mache. Etwas Wasser in den Wein schüttet Roland Claus, Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS. "Hervorragend als Plenum geeignet, eingeschränkt tauglich als Arbeitsstätte der Fraktionen", lautet sein Urteil über das Haus. So sehr die Geschäftsführer vom Reichstagsgebäude allgemein angetan sind, so kritisch werden sie, wenn es um konkrete Detailfragen geht. Zwar sind die meisten der ursprünglich aufgelisteten 6.000 Anfangsmängel beseitigt, doch Ärgerlichkeiten gibt es nach wie vor. Vieles im Hohen Haus sei nicht "Abgeordnetenfreundlich", lautet die Klage. SPD-Geschäftsführer Wilhelm Schmidt spricht für seine Kollegen 69 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc mit, wenn er sagt: "Der Architekt hat sich zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie Abgeordnete in der Praxis arbeiten. Es gibt kaum Arbeitsgelegenheiten im ganzen Hause; es kann sich niemand mal kurz zurückziehen und telefonieren, faxen oder schreiben. Wenn ein Kollege irgendetwas zwischendurch erledigen muss – was ja sehr häufig vorkommt – muss er in sein Büro hinüberwechseln, was bei den langen Wegen in Berlin unsinnig arbeitsaufwendig ist." Fehlende Telefone, von denen man ungestört reden kann, flimmernde Wandverkleidungen, die die Augen tränen lassen, nicht funktionierende Jalousien in den Fraktionsbüros, Fahrstühle, die immer mal wieder stecken bleiben, eine Klimaanlage, die nicht richtig läuft und eine Mikrofonanlage, mit der viele Redner nicht zurecht kommen und die bei einem "Hammelsprung" auf der Rückseite des Plenarsaales nicht zu hören ist – das sind weitere Klagepunkte der Parlamentarischen Geschäftsführer. Keine leichtfertigen Meckereien, wie sie betonen, sondern Mängel, die bei einem Bau dieser Wichtigkeit und dieser Umbaukosten (rund 600 Millionen Mark) nicht hätten passieren dürfen. Wilhelm Schmidt: "Sicherlich gibt es überall Anlaufschwierigkeiten, aber bei einem Prestige-Komplex wie diesem Haus mit seinem hohen und teuren technischen Standard sind sie ein bisschen zu viel." Dem stimmt Jörg van Essen zu. Er findet es noch immer "unmöglich", dass seine F.D.P.Fraktion schon nach kurzer Zeit ihren Fraktionssaal in einem der Türme des Reichstagsgebäudes wieder aufgeben musste, weil er wegen schlechter Akustik für die praktische Arbeit schlicht nicht zu gebrauchen war. Genauso erging es der PDS. Ihr Geschäftsführer Claus: "Dass Fraktionsräume absolut unpraktikabel sind, hätte nicht passieren dürfen." Viele Mängel, das räumen die Parlamentarischen Geschäftsführer ein, werden ihre Ärgerlichkeiten verlieren, wenn im nächsten Jahr die weiteren Parlamentsbauten in unmittelbarer Nähe bezogen sein werden. Vor allem die räumlichen Engpässe, die es jetzt noch gibt, sollen dann der Vergangenheit angehören. Sind erst einmal die Abgeordneten in Steinwurf-Nähe zum Plenarbereich, hoffen die Geschäftsführer auch auf eine noch dichtere Kommunikation untereinander. Hans-Peter Repnik: "Jetzt ist das Gebäude ja noch ein Solitär. Aber wenn der Gesamtkomplex in Betrieb ist, wird es hier sicherlich viel Leben geben." Auch bei Abgeordneten geht die Liebe (zum Reichstagsgebäude) durch den Magen. Gab es am Anfang heftige Klagen über die kulinarische Qualität im Hohen Haus, die sich kurzzeitig sogar zu einem Buletten-Krieg ausweiteten, ist inzwischen 70 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Entspannung angesagt. "Das Essen im Restaurant und in der Cafeteria ist zufriedenstellend", lautet das Urteil der Parlamentarischen Geschäftsführer, die allerdings gestehen, aus Zeitmangel selbst nur selten den Weg an die parlamentarischen Futterstellen zu finden. Einen bleibenden Mangel hat Roland Claus (PDS) erspürt: Nirgends gebe es die (Ost-)Zigaretten "F 6". Und wie steht es mit der Kunst, die im ersten Jahr so viel Staub aufgewirbelt hat? Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, nur der Erdtrog von Hans Haacke sorgt noch für Aufregung. Viele Abgeordnete weigern sich, Erde aus ihren Wahlkreisen mitzubringen, um im Trog Vielfalt sprießen zu lassen. Von ihrer Arbeit aber lassen sich die Parlamentarier nicht mehr ablenken. "Die Erregung war künstlich und vordergründig", sagt Wilhelm Schmidt. Sein F.D.P.-Kollege van Essen verteidigt das Kunstkonzept im Reichstagsgebäude: "Ich finde die Entscheidung der Kunstkommission, alle bedeutenden lebenden deutschen Künstler an der Ausgestaltung teil haben zu lassen, hervorragend. Wo andere Parlamente alte Kunst zeigen, erweisen wir uns als außerordentlich lebendige Volksvertretung." Bleibt die Frage nach der Geschichte. Drückt die historische Last, die noch immer im Gemäuer des Reichstagsgebäudes spürbar und etwa über die kyrillischen Graffiti an einigen Wänden sichtbar ist? Den meisten Geschäftsführern ist stets präsent, dass "das Reichstagsgebäude ein historisches Gebäude ist, das ein anderes Erleben zur Folge hat" (van Essen). Aber nicht als störend, sondern eher verpflichtend wird dies gesehen. Katrin Göring-Eckardt: "Die eigene Geschichte wird bewusster". In der alltäglichen Arbeit überwiegen indes die jahrzehntelangen Erfahrungen rheinischer Gelassenheit. Ganz im Sinne der Eröffnungsrede von Thierse: Keine neue Ära, keine andere Republik. Sönke Petersen 71 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben von Kathrin Gerlof Besucher des Reichtagsgebäudes beim Abstieg aus der Kuppel. Tag für Tags steigen rund 8.000 Menschen dem Reichstag aufs Dach, um sich von oben die Welt zu beschauen – ein wahres Volksvergnügen ist das, und genau so war es gewollt. "Sie sollten wirklich im Sommer nach Heidelberg kommen, junge Frau, was meinen Sie, wie schön es dann dort ist. Also ich gehe bei jedem Berlin-Besuch auch in den Reichstag, das gehört einfach dazu. Und die Kuppel selbstverständlich auch. Aber man müsste ein Förderband bauen für unsereinen. Ich bin 76. Das schaff ich nicht mehr, da hoch. Mich fotografieren? Da nehmen Sie mal lieber meinen Mann. KarlHeinz! Komm doch mal her, die junge Frau hier will ein Foto, sie schreibt einen Text über die Kuppel. 72 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc 1951: Tümmerbeseitigung vor dem Reichstag. Oh ich bin gern in Berlin. Wir besuchen hier politische Seminare über die Geschichte Deutschlands. Mein Mann – da kommt er ja – ist ein ganz treuer Staatsbeamter gewesen. Und sein Freund da auch. Und jetzt sind wir im Bund der Ruhestandsbeamten. Karl-Heinz, gib mir die Jacke, ohne Jacke siehst du besser aus für das Foto. Ja, diese Kuppel gefällt mir wirklich gut, junge Frau. Das können Sie schreiben. Nur eben ein Förderband fehlt. So, da stehen die beiden nun. Ach, ein Polaroid bekommen wir auch? Sehen Sie, das macht doch was her, Karl-Heinz und sein Freund Manfred – einer von der Justiz und einer von der Polizei. So, junge Frau, jetzt gehen wir noch in den Dom. Was wir hier gern für Musik hören würden? Ach wissen Sie, Operette vielleicht. Die Fledermaus? Nein, die nun doch nicht. Die Inschrift am Portal? Ja natürlich kennt man die. Ist ja schon vom weiten zu sehen. Und vergessen Sie nicht: Heidelberg im Sommer lohnt sich." (Manfred Schroth und Karl-Heinz Kühne) Im Jahre 1894 – 23 Jahre waren seit dem Beschluss, in Berlin ein Haus für das Parlament zu bauen, vergangen – fand die Schlusssteinlegung statt. Das Architrav über dem Westportal allerdings hatte noch keine Inschrift. Und das, obwohl sich Kaiser, Parlament und Reichstagsarchitekt Paul Wallot einig waren, dass da "etwas" hin musste. Wilhelm II. hätte gern "Der Deutschen Einigkeit" dort stehen gehabt und wäre damit ein halbes Jahrhundert später und dann für viele Jahrzehnte auf der Höhe der Zeit gewesen. Die Reichstagsausschmückungskommission hingegen favorisierte "Dem Deutschen Reiche" und der Architekt selbst bestand auf "Dem Deutschen Volke". Aber das war des Kaisers Sache nicht. Bis zum Jahre 1915, da ihm sein Unterstaatssekretär Wahnschaffe zur Kenntnis geben ließ, er, der Kaiser, verlöre mit 73 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes und es schiene begrüßenswert, etwas gegen diesen Treueverlust zu unternehmen. Wahnschaffes Rezept: Die Inschrift am Reichstag anbringen. Der Kaiser ließ ausrichten, einem Beschluss des Parlamentes in diese Richtung würde er sich nicht mehr widersetzen unter einer Bedingung: Die sechzig Zentimeter großen Lettern sollten aus zwei in den Freiheitskriegen von 1813 erbeuteten Kanonen gegossen werden. Und so hatte seine Exzellenz vorerst denn doch das letzte Wort. Manfred Schroth und Karl-Heinz Kühne. Er konnte damals nicht wissen und hätte es sicher nicht gut geheißen, dass eines Tages der Eingang über das Westportal ins Hohe Haus jener sein würde, durch den Tag für Tag das Volk kommt, um sich hoch oben in der neuen Kuppel des Lord Norman Foster zu verlustieren. Er konnte nicht ahnen und hätte es nicht begrüßt, dass sich in nur einem Jahr drei Millionen Menschen anschauen, wo ihr Parlament arbeitet. Dass sie ihm mal kurz aufs Dach steigen, um von oben in alle vier Himmelsrichtungen zu blicken und auf ganz unspektakuläre, aber sehr definitorische Weise in die Realität umzusetzen, was die Inschrift im Architrav über dem Westportal verheißt: Dem Deutschen Volke. Sogar in den Wochen der Sommerpause werden es nicht weniger Menschen, die rein wollen in die Kuppel. Auch nicht an einem etwas grauen Julitag, da der Wind heftig in die Kleider fährt, wenn man den Fahrstuhl verlässt, der einen rauf bringt ins gläserne Halbrund. Auch nicht, wenn der Himmel und hin und wieder ein Regenguss verhindern, dass der Aufstieg über die Doppelhelix, die sich an der Innenwand der Kuppel entlangschlängelt, zum perfekten Vergnügen wird. Weit kann man schauen, auch ohne Blau am Horizont, aber bei Sonne stellt sich dann eben noch dieses 74 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc erhabene Gefühl zu allen angenehmen Verwirrungen ein, die einen befallen, wenn man das architektonische Wunder des britischen Meisters beläuft und erobert. An so einem grauen Julitag, an dem der Siebenschläfer Schuld haben mag, kommen und gehen sie, wie an allen anderen Tagen des Jahres. Weihnachten mag Ruhe sein. Das wird man sehen. Janessa Schwab (rechts) und Freundin. "Wir sind das erste Mal in Berlin und kommen aus München. Welche Worte mir als erstes hier oben einfallen? Offen, extravagant, innovativ, modern. Ich finde es gut, dass hier alles offen ist. Die Leute wollen sehen, wo die Abgeordneten arbeiten. Das mag vielleicht ein wenig komisch klingen, aber man hat so mehr Kontakt zu den Parteien. Wir machen im nächsten Jahr Abitur. Berlin ist ja wirklich ziemlich groß. Also im Gegensatz zu München – riesig. Einfach riesig. Hier Musik zu hören ist eigentlich keine schlechte Idee. Klassisch kommt sicher gut. Oder Soul. Ja, vielleicht sogar Soul." (Janessa Schwab) Nachdem der Kaiser widerstrebend aber doch sein Plazet gegeben hatte, sollte alles schnell gehen. Den Auftrag für den Guss der siebzehn Buchstaben erhielt die Bronzegießerei Loevy. Aus einem Spandauer Depot wurde ihr die Geschützbronze noch im Herbst des Jahres 1916 geliefert. Gleichzeitig tobte ein erbitterter Krieg zwischen den Gelehrten, für welche Schrift man sich nun entscheiden möge. Anhänger der Fraktura kämpften gegen Verfechter der Antiqua. Vergebliche Liebesmüh, denn längst war der Auftrag für die Schrift an den Architekten Peter Behrens, einen der Wegbereiter der Moderne in Deutschland, vergeben worden. Behrens bediente sich der Schrift, die er für den Katalog des Deutschen Hauses auf der Weltausstellung des Jahres 1904 in St. Louis entwickelt hatte, formte sie aus und 75 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc lieferte die Vorlagen an die Brüder Albert und Siegfried Loevy, die zu arbeiten begannen. 25 Jahre später wird deren Bronzegießerei "arisiert" sein, 28 Jahre später der Sohn des Albert Loevy mit dem 49. Osttransport nach Auschwitz gebracht. Das Schicksal der Brüder Albert und Siegfried ist unbekannt. Wer heute die Doppelhelix hinauf- und wieder hinabgestiegen ist, verweilt meist noch einige Zeit in der Kuppel, um Bilder anzuschauen, die im Kreis um den verspiegelten Kegel in der Mitte des Raumes angeordnet sind. Man wirft einen Blick ins Dachrestaurant oder schaut an diesem Julitag zu, wie das Restaurant "Käfer" kleine Imbissstände aufbaut, an denen, so war zu hören, SlowFood, zelebriert werden soll. Vielleicht gar keine schlechte Idee, denn Zeit ist da oben – unter Glas und über Stein – ganz anders bemessen. Langsam schieben sich Frauen, Männer, Kinder an der runden Bildergalerie entlang, die historische Momentaufnahmen auf einen Zeitstrahl montiert, viele Kostbarkeiten dabei, so die Fotos von Erich Salomon, der einst, bevor auch er in Auschwitz umkam, die bis dato starre Protokollfotografie revolutionierte, indem er das Protokoll strich und den Menschen ins Blickfeld rückte. "Vielleicht kommt er ja", sagt ein Zehnjähriger zu einem kleinen Mädchen, das auf Knien unter die Doppelhelix kriecht, um einen Blick nach draußen zu werfen. "Wer denn?", fragt sie. "Na der mit den dunklen Haaren, der Schröder." "Ach, den Kanzlerchef meinst Du", sagt das Mädchen und lächelt. "Der hat doch jetzt Urlaub." Joana und Ursula Schümer. "Ein Foto", sagt die Frau zu ihrer Tochter. "Das ist doch witzig, lass uns das machen. Wir geraten immer in solche Situationen. Ich komme gerade aus Spanien und besuche meine Tochter und mein Enkelkind hier. Oh ja, diese Inschrift über dem Portal, die kennt doch jeder. Wenn ich hier ein Konzert hören könnte? Also, das 76 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc können Sie jetzt auffassen, wie Sie wollen, aber ich würde da gern Wagner hören." "Zucchero", sagt die Tochter. "Das ist doch ein guter Kontrast – Wagner und Zucchero." (Joana und Ursula Schümer) In den Vorweihnachtstagen des Jahres 1916 wurde die Aufschrift ohne große öffentliche Resonanz am Architrav des Westportals angebracht. Nur die "Spandauer Zeitung" nahm in einer Bildzeile von dem Ereignis Notiz, aber von nun an blieben die Worte, wo sie waren, überstanden den Reichstagsbrand und auch den Beschuss durch sowjetische Artillerie im Jahre 1945. Zwei Buchstaben fielen diesen Stunden, da erbittert um jeden Quadratzentimeter des Gebäudes gekämpft wurde, zum Opfer. "DEM .EUTSCHEN .OLKE" war im Mai 1945 an der Reichstagsruine zu lesen und vorerst stand Dringenderes an, als ein bronzenes D und ein bronzenes V. Wer die Kuppel betritt, wirft zuallererst einen Blick nach oben, schätzt den Weg ab und die eigenen Kräfte ein. Die praktischen Frauen tragen festes Schuhwerk und sind gerüstet für den Aufstieg, den sich kaum jemand entgehen lassen will. Manche Männer testen das Licht erst mit, dann ohne Sonnenbrille, nehmen ihren Frauen die Handtaschen ab, die sie sich umhängen, machen noch schnell ein Beweisfoto, für das sie Frau und Kinder so postieren, dass der Effekt garantiert ist, später die Familie vor den Spiegeln und in den Spiegeln auf dem Bild zu haben. David Schwalm. "Ich finde die Kuppel schön, aber die früher war schöner. Ich mag einfach Glas nicht so. Deshalb. Aber drinnen ist es wirklich schön. Ich bin in der siebten Klasse. Besonders viel wusste ich nicht über die Geschichte. Jetzt weiß ich mehr, nachdem ich mir das angeschaut habe hier. Musik – da würde ich wahrscheinlich Rock hören wollen. Klingt bestimmt gut hier." (David Schwalm) 77 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc 1951 fanden sich vor dem Reichstag Trümmermänner ein. Es gibt ein Foto, wo zwanzig von ihnen unter dem Schriftzug "DEM .EUTSCHEN .OLKE" stehen und zuversichtlich in die Kamera schauen. Die Polizei schickte sie an jenem Tag allesamt wieder nach Hause. Arbeiten am Gemäuer war noch zu gefährlich – Einsturzgefahr allenorten. Aber schönes Wetter war. An diesem Julitag im Jahre 2000 geschieht es doch hin und wieder, dass die Sonne kommt. Dann schauen für einen Moment alle zum Himmel. "Hey, die Sonne", sagen die Optimisten. "Aber da hinten ist der Himmel schwarz", monieren die Pessimisten. Dann wenden sie sich wieder den Bildern zu, die im Kreis angeordnet sind. "Erwin", ruft ein älterer Mann, "jetzt biste am Ende, lauf nicht noch mal um die Fotos, wir wollten doch auf den Gendarmenmarkt." "Wir sind aus Gütersloh. Meine Frau war ja schon öfter hier im Reichstag. Ich bin das erste Mal da. Also schön ist die Kuppel, aber das schreiben Sie mal nicht, das ist ein zu triviales Wort. Lichtdurchflutet passt besser. Die Kuppel macht den Blick frei. Sie ist imposant, wirklich. Findest Du nicht auch?" Uta und Jens Kemper. "Doch, imposant ist schon das richtige Wort. Ich bin mit meinem Mann durch das Westportal gekommen. Wissen Sie, wenn man vom Westen her kommt, finde ich, denkt man immer zuerst an Einheit. Vom Brandenburger Tor aus wird man mehr an die Zeit der Trennung erinnert. Die Inschrift? Nun, hier werden die Entscheidungen getroffen, die dem Volk dienen sollen. So ist das sicher gemeint. Wenn ich hier Musik hören könnte – das sollte dann die ,Ode an die Freude' sein. Ein schöner Gedanke. Das mit der Musik." (Uta und Jens Kemper) 78 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc So seltsam es scheinen mag, niemand weiß heute mehr genau, wann die Inschrift über dem Westportal wieder vervollständigt wurde. Es muss zwischen 1957 und 1959 geschehen sein, kurz bevor der Bau der Mauer den Reichstag endgültig und für lange an den Rand der Stadt verdammte und von der Mitte Berlins separierte. Geschichte das alles. Heute gehen die Menschen mit großer Selbstverständlichkeit ins Hohe Haus, unter der Inschrift hindurch, rauf in die Kuppel, die den Blick frei macht und Lust darauf, zu schauen und zu hören, wie es mal war. "Juhu", trillert eine Frau und blickt nach oben, wo ihre Freundin steht und winkt. "Bring was mit, wenn Du wieder runter kommst." Das Reichstagsgebäude und seine historischen Orte Jahresringe der Geschichte Kurz nach der Eroberung auf dem Dach des Reichstages: Sowjetische Soldaten halten die Rote Fahne (Luftaufnahme). Das Reichstagsgebäude, ein Ort, an dem Politik gemacht wird, über die später in Geschichtsbüchern nachgelesen werden kann, ist auch ein Ort, an dem die Jahresringe der Geschichte ablesbar sind. Der Verlauf der deutschen Geschichte, außerhalb der Plenardebatten des Parlaments, schlug sich an diesem Handlungsort in besonderer Weise nieder, ist ablesbar geblieben und kann nachvollzogen werden. Erinnert sei zunächst an die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann. Der Verlauf des 1. Weltkrieges mit seinen Materialschlachten, die hohe Zahl der Menschenopfer, die katastrophale Ernährungssituation ließen in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung das Vertrauen in die kaiserliche Regierung schwinden, sie verlor die Unterstützung und damit die Legitimität ihres Handelns. Die Situation 79 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc spitzte sich im November 1918 zu. Aus einer Revolte der Matrosen in Kiel entwickelte sich die Revolution, die ihren wesentlichen Schauplatz in Berlin hatte. 9. November 1918: Philipp Scheidemann, Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, ruft die Republik aus. Der Westbalkon Die Massen bewegten sich am 9. November 1918 in Berlin zwischen dem Schloss, dem Sitz des Kaisers, der Wilhelmstraße, dem Sitz der Reichsregierung und dem Reichstag hin und her. Eine Entscheidung reifte heran und musste getroffen werden. Die Macht lag auf der Straße. Die Mehrheit wollte unter den Bedingungen des Kaiserreiches nicht mehr leben, und von den Regierenden ging keine Lösung der Probleme mehr aus; sie waren handlungsunfähig geworden. In der Luft lagen zwei Lösungsmöglichkeiten, einerseits eine ungezügelte Übernahme der Macht durch einen Militärputsch und anderseits ein Aufstand durch die äußerste Linke nach sowjetrussischem Vorbild. Zwischen den Extremen war zu wählen. Philipp Scheidemann, einer der beiden Vorsitzenden der SPD und Mitglied des Rates der Volksbeauftragten, wagte am Nachmittag des 9. November 1918 den entscheidenden Schritt. Er sprach spontan zu der vor dem Reichstagsgebäude versammelten Menge vom Westbalkon (zweites Fenster nördlich des Portikus) und rief die Republik aus. Seine Rede ist in verschiedenen Versionen, die inhaltlich gleichlautend sind, überliefert. Er selbst hat sie 1930 in seinen Memoiren nach der Erinnerung veröffentlicht. Er sagte u.a.: "Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre. Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not und Elend werden noch viele Jahre lang auf uns lasten... Seid einig, treu und 80 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc pflichtbewusst! Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!" Es war ein gewagter Schritt, der nicht sofort die Zustimmung der politisch Handelnden fand, aber der Weg zur parlamentarischen Demokratie war damit gelegt. Die politische Führung in Deutschland hatte sich auf die Parteien verlagert, die kaiserliche Macht war gebrochen und der Weg der Extreme verworfen. Als Handlungsort der Geschichte wurde das Gebäude durch den Brand am 27. Februar 1933 in aller Welt bekannt. Das Bild des brennenden Reichstags ging um die Welt. Die an die Macht gekommene Regierung Hitler nutzte mit der "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar diesen Brand und beseitigte die Grundlage des Rechtsstaates. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 wurde die parlamentarische Staatsform beseitigt und die Diktatur der Nazis ausgeformt. Teil des alten Rohrleitungsganges, der bei den Umbauarbeiten gefunden wurde. Der unterirdische Gang Die Spuren des Brandes wurden erst in den 60er Jahren beseitigt. Bei den Umbaumaßnahmen in den 90er Jahren wurde der Rohrleitungsgang, der einst unter der Straße hinter dem Reichstag zum Palais des Reichstagspräsidenten (heute Sitz der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft) führte, gefunden. Er wurde als archäologischer Fund gesichert. Der Legende nach sollen SA-Angehörige durch diesen Gang in das Reichstagsgebäude eingedrungen sein, um das Haus in Brand zu setzen. Bewiesen werden konnte es nicht. Ein Teil des Heizungsgangs ist bei den Bauarbeiten herausgesägt worden und wurde in der Fußgänger-Unterführung im Berliner Parlamentsviertel, auf dem Weg vom Reichstagsgebäude zum Jakob-KaiserHaus, aufgestellt. Er soll an diesen Brand erinnern und zugleich an Marinus van der 81 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Lubbe, der als Brandstifter vom Reichsgericht in Leipzig durch ein nachträglich erlassenes Gesetz zum Tode verurteilt wurde. Spuren der Geschichte: kyrillische Schriftzeichen im Reichstagsgebäude. Die Graffiti der sowjetischen Soldaten Der Reichstag als international bekanntes Bauwerk stand in der Zeit der NSHerrschaft weitestgehend ungenutzt. Das markante Gebäude stellte in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ein geographisches Ziel, einen Endpunkt des Krieges dar und wurde deshalb vor allem von der sowjetischen Propaganda genutzt. Zunächst zeigten die Plakate und Bilder das Brandenburger Tor als Ziel, dann aber in der Schlussphase des Krieges das Reichstagsgebäude. Es war zwar in der NS-Zeit bedeutungslos geworden, hatte aber einen hohen Symbolwert und war durch seine Größe und seine Lage hervorgehoben. Die Schlacht um Berlin begann am 21. April 1945, der Kampf um den Reichstag am 30. April 1945. Erst am 2. Mai 1945 wurde das Gebäude endgültig erobert. In den Tagen danach wollte sich jeder, der dazu Gelegenheit fand, gerade in diesem Gebäude verewigen, seinen Namenszug oder eine Botschaft hinterlassen als Ausdruck des Sieges. Auch dies eine Spur der Geschichte, die zum Teil erhalten werden konnte. 82 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der sowjetische Marschall Shukow schrieb in seinen Erinnerungen: "... Jeder Schritt, Boden, jeder Stein zeugten besser als alle Worte davon, dass es im Vorgelände der Reichskanzlei und des Reichstages wie in den Gebäuden selbst einen Kampf auf Leben und Tod gegeben hatte. Den Mauern des riesigen Gebäudes hatte die mittlere Artillerie nichts anhaben können, sodass schwere Kaliber hatten aufgefahren werden müssen. Dabei konnte der Gegner von der Kuppel und den anderen massiven Aufbauten aus das ganze Vorfeld bestreichen." Schlichte Kreuze erinnern an die Menschen, die an der Berliner Grenze beim Fluchtversuch aus der DDR getötet wurden (Aufnahme von 1986). Die Rote Fahne auf dem Reichstag So wurde das Gebäude Zeichen für den Beginn und das Ende der NS-Herrschaft, ohne in dieser Zeit selbst eine große Rolle gespielt zu haben. Wichtig wurde das Hissen der Roten Fahne. Der sachliche Hintergrund war folgender: In den Kämpfen um die Stadt hatten die sowjetischen Soldaten ein relativ wirkungsvolles Zeichen für die Markierung der von ihnen eroberten Ziele angewandt. Jedes Ziel hatte eine bestimmte Nummer, war es erreicht, hatte eine Rote Fahne dies zu signalisieren, um in der unübersichtlichen, zerstörten Stadt Orientierung darüber zu erhalten, welchen Teil der Stadt man bereits erobert hatte. So war es auch beim Reichstag, allerdings hier mit der besonderen Betonung des geographischen Endpunktes. Mehrere Gruppen trugen eine derartige Fahne, um sicher zu stellen, dass eine das Gebäude auch wirklich erreichte. Nach der Eroberung des Gebäudes wurde die Rote Fahne auf dem östlichen Hauptgesims des Gebäudes angebracht, von zwei sowietischen Soldaten gehalten und aus der Luft fotografiert. Dieses Foto ging um die Welt, zeigte es doch das Ende des Krieges in Europa an. Die Fahne auf dem Reichstag war mehr Symbol als tatsächliches Geschehen. Tatsächlich wurde schließlich eine Rote Fahne auf dem Südostturm des Reichstages angebracht. Die Wochenschau-Aufnahmen, die in vielen 83 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Dokumentarfilmen gezeigt werden, sind in den folgenden Tagen nachgestellt worden. Sie sind aber wegen ihres Zeitgeistes von hohem Wert. Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus bleibt ein Teil der Mauer als mahnendes Zeichen erhalten. Die Mauer Das Gebäude des Reichstages lag nach dem Ende des Krieges an der Grenze zwischen Ost und West in der Stadt, am Scheidepunkt der Welt. Es stellte durch die Lage an dieser markanten Stelle der Stadt wiederum ein Symbol dar; ein Symbol der Spaltung Deutschlands, der Zerrissenheit der politischen Verhältnisse und der anhaltenden Perspektivlosigkeit; ein Zustand, der nur langsam verändert werden konnte. Der Wiederaufbau der Ruine in den fünfziger und sechziger Jahren zeigte die langsame Veränderung der Situation. Mehr und mehr, zuerst unmerklich, aber dann 1948 und vor allem nach dem 13. August 1961 immer deutlicher, stand der Bau aufgrund seines Standorts unmittelbar an der Grenze im Mittelpunkt aller Auseinandersetzungen. Die Grenze zwischen den beiden Berliner Verwaltungsbezirken Mitte und Tiergarten war Teil des sensibelsten Ortes der Welt geworden. Zwei hochgerüstete Militärblöcke standen sich misstrauisch beobachtend gegenüber. Jede Bewegung wurde kontrolliert, jeder Fehler des Einen konnte Fehlreaktionen des Anderen auslösen, und das hätte Krieg bedeutet. Hinter dem Reichstagsgebäude stand die Mauer, und als diese Grenze im November 1989 fiel, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch an dieser Stelle dieses hässliche Bauwerk verschwand. An mehreren Stellen wird konkret an die Mauer erinnert. Auf ihrer Westseite war aus privater Initiative ein Gedenkhain entstanden, der an die jungen Menschen erinnern soll, die an der Grenze in Berlin auf dem Weg in die Freiheit ihr Leben verloren hatten. Schlichte Kreuze halten ihre Namen für die Nachwelt fest. Zwischen 84 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude bis zur Spree ist der Mauerverlauf außerdem mit einer Steinmarkierung auf der Straße und auf dem Ebertplatz gekennzeichnet. Ferner bleibt ein Stück der Mauer in den neuen Bundestagsbauten erhalten. Die Reihe der Neubauten für Parlament und Regierung überquert als "Band des Bundes" die Spree, die hier bis 1990 die Grenze bildete. Die Architektur symbolisiert so das Zusammenwachsen der einst geteilten Stadt als Ausdruck der Überwindung der Spaltung. Dabei wird im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das östlich der Spree im Entstehen ist, auch die ehemalige Grenzanlage überbaut. An der Originalstelle wird in diesem Neubau als mahnendes Zeichen ein Teil der "Hinterlandsicherungsmauer" einbezogen und so eine weitere Spur der Geschichte bewahrt. Das vom Bundestag genutzte Reichstagsgebäude zeigt sich den Abgeordneten und den Besuchern als Symbol der deutschen Geschichte und des Parlamentarismus, aber durch die ablesbaren Spuren auch als "Zeitzeuge" der Geschichte. Laurenz Demps Respekt vor den Spuren der Geschichte Blickpunkt Bundestag-Interview mit dem Londoner Architekten des Reichstagsumbaus, Lord Norman Foster Das Gespräch führte Falk Jaeger. Blickpunkt Bundestag: Lord Norman, was bedeutet es für einen britischen Architekten, vom Deutschen Bundestag mit dem Bau des Herzstücks des deutschen Parlamentarismus beauftragt zu werden? Lord Norman Foster: Es ist eine hohe Ehre, es ist ein unglaubliches Privileg, eine außergewöhnliche Gelegenheit und eine große Herausforderung. Wäre so etwas auch in England möglich? Nein, es wäre unmöglich. Obwohl ich glaube, dass sich in Großbritannien in letzter Zeit einiges geändert hat. Es gab einmal eine Zeit, in der es undenkbar gewesen wäre, dass ein Ausländer mit einer solchen nationalen Bauaufgabe betraut worden wäre. In Deutschland und in anderen europäischen Ländern hat es diese Tradition gegeben, dass Wettbewerbe für ausländische Architekten offen waren. Diese Haltung ist sehr spät nach Großbritannien gekommen. Heute gibt es Beispiele wie die Schweizer Architekten, die die Tate Gallery umbauen, es gibt spanische und deutsche 85 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Architekten, die bei uns erfolgreich sind, zum Beispiel Günter Behnisch, der einen bedeutenden Wettbewerb in Bristol gewann. Großbritannien macht also in dieser Beziehung einen interessanten Wandel durch. Hat man das Beispiel Deutschland vor Augen, wo ja Architekten aus aller Herren Länder ihre Visitenkarten abgeben? Zwangsläufig hat man von Deutschland gelernt, denn diesen Weg zu verfolgen heißt, den von Deutschland vorgezeichneten Weg gehen. Es ist jedenfalls sehr ungewöhnlich, wenn nicht einmalig, einen solchen Parlamentswettbewerb auszuschreiben, der allen deutschen Architekten offen steht, einschließlich 14 eingeladenen Teams aus dem Ausland, und diesen in zwei Stufen völlig unvoreingenommen durchzuführen. Doch inzwischen ist man auch in Großbritannien weiter, und Bauten für beide Kammern und für Regionalparlamente werden ebenfalls international ausgeschrieben – hier hat das Vorbild Berlin Schule gemacht. Darüber hinaus gibt es in Deutschland ein soziales ökologisches Gewissen jenseits der Arbeit der grünen Parteien und man diskutiert alle Fragen der Umweltverträglichkeit von Architektur auf einem hohen Niveau. Wie sind Sie mit dem enormen symbolischen Gehalt des historischen Reichstagsgebäudes umgegangen? Wenn man dem Gebäude vollkommen unvoreingenommen gegenübertritt und ohne Abstriche all seine historischen Schichten, all die Spuren der Vergangenheit freilegt, wird man der Versuchung widerstehen, Geschichte zu erfinden, Capriccios oder falsche Historismen hinzuzufügen. Viel eher wird man eine neue historische Schicht aufbringen, diesen jüngsten Eingriff, der das neue, aus der Wiedervereinigung erwachsene Parlament repräsentiert. Dieser Umstand wurde übrigens auf höchst interessante Weise von Christo hervorgehoben. Mit dem Auspacken begann auch der Abriss der Zutaten aus den sechziger Jahren und der nachfolgende Neu-Ausbau. Und in diesem Stadium konnte übrigens noch niemand ahnen, was hinter den Wandverkleidungen der sechziger Jahre zum Vorschein kommen würde. Was bedeutet es für Sie, ein historisches Gebäude umzubauen, welchen Wert messen Sie der Baugeschichte, dem Denkmalschutz zu? Der Respekt vor den Spuren der Geschichte, vor jeder Lebensphase eines Gebäudes, entspricht der Wertschätzung der Stadt und der Integration eines Neubaus in eine Stadt, die bereits aus verschiedenen Stilen, verschiedenen Baualtern, Spuren 86 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc verschiedener Epochen der Vergangenheit mit jeweils einer eigenen Identität geprägt ist. In diesem Sinne ist der Reichstag wie eine Stadt im Kleinen. Deshalb sehe ich keinen Unterschied zwischen dem Bauen in einem historischen Gebäude und der Arbeit an einem neuen Gebäude in einer historischen Stadt. Die Elemente, die wir hier sehen, die wir gestaltet haben, respektieren die Vergangenheit, aber sie sind kompromisslos modern. Die Vorstellung, dass man beim Entwerfen in einem historischen Gebäude historistische, postmoderne Formen beisteuern müsse, ist mir fremd. "Die Kuppel: Sie unterscheidet sich von jeglichen anderen Gebäuden irgendwo auf der Welt und gehört einfach zum Reichstag." 1961-1972 hat Paul Baumgarten schon einmal den Reichstag ausgebaut – in einer Architektursprache, die von der Ihren nicht weit entfernt ist. Die Berliner Architekten lieben ihren Baumgarten. Gab es denn keine Chance, wenigstens Teile seiner Arbeit zu erhalten? Über diese Angelegenheit wurde ein Werturteil nicht nur von einer isolierten Gruppe gefällt. Wir haben sehr mühsame, ernsthafte Anstrengungen unternommen, Teile der alten Ausstattung zu erhalten. Aber wenn man die Bedingungen betrachtet, unter denen das hätte geschehen können, was hätte man tun müssen? Wenn man beispielsweise beschlossen hätte, einen Raum oder einen Teilraum zu erhalten, hätte man ihn komplett demontieren müssen, um den Asbest ausbauen zu können, der sich hinter den Verkleidungen befand. Dann jedoch, wenn Sie einen Baumgarten der sechziger Jahre nach Bauaufnahmen rekonstruieren, ist es dann noch ein Baumgarten der sechziger Jahre? Sie sind nicht gerade als ein Architekt bekannt, der kodierte Architektur im Sinne von Historismus oder Postmoderne bauen würde. Haben Sie symbolische Bezüge bei Ihrer Arbeit am Reichstag bewusst vermieden? Was ist zum Beispiel mit der Kuppel und ihrer Bedeutung? 87 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Die Silhouette des Gebäudes kann etwas anderes gar nicht sein als ein Symbol des Reichstags. Sie kann aber auch als dreidimensionales Objekt beschrieben werden, als plastische Form, als Skulptur, man kann ihr schlechterdings nicht entrinnen. Sie unterscheidet sich von jeglichen anderen Gebäuden irgendwo auf der Welt und gehört einfach zum Reichstag. Aber der symbolträchtige Bau steht auch für die Ökologie und für die Philosophie des Gebäudes, für die Beziehung zwischen Volk und Volksvertretern, für die Transparenz des Gebäudes zum Nutzen jener, die als Abgeordnete hierher kommen und das Haus in Beziehung zur Stadt und zur weiteren Umgebung erleben können. Der Symbolgehalt der Kuppel kann auch nicht getrennt werden von der Entwurfsidee, dass in ihr Tageslicht tief in das Herz des Gebäudes hineingezogen wird, dass sie den Blick von oben in den Plenarsaal ermöglicht, dass sie umgekehrt wie ein Leuchtturm wirkt und Signale aussendet vom Prozess der Demokratie. Ebenso wenig kann er getrennt werden vom natürlichen Belüftungssystem des Gebäudes und dessen aerodynamischer Wirkungsweise. All diese Dinge verkörpert die Architektur, Dinge, die wir quantifizieren können, und solche, die man nicht quantifizieren kann. Sie möchten nicht gerne als Technokrat oder High-Tech-Architekt bezeichnet werden. Auf welche Weise haben Ihre Bauten auch eine poetische Dimension? Ich habe über die poetische Dimension bereits gesprochen. Wie will man auch in anderen Worten den Strom aus Sonnenlicht beschreiben, der sich in den Plenarsaal ergießt? Wenn man einen Trichter aus 360 Spiegeln formt, gewinnt die Poesie bei der Abwägung die Oberhand. Ich kann nur immer wieder betonen, dass Architektur aus Dingen besteht, die man messen kann, und aus solchen, die sich nicht messen lassen, die nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt, nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden. Ansonsten hätten wir nur eine gedeckte Box mit einer leeren Geste oben drauf, die keine Beziehungen zu anderen Werten besitzt. Es geht also um die humanen Werte der Architektur. Im neuen Bundestag dominiert ganz eindeutig die wenig aufregende "Naturfarbe" Grau in allen Tönungen von beige bis mattsilbern. Welche Bedeutung messen Sie der Farbe bei? Das Bauwerk ist in allen Belangen radikal – es lässt sich kaum etwas Radikaleres denken als ein öffentliches Gebäude dieser Größenordnung, das durch vollständig erneuerbare Energien versorgt wird, das ein solch ungezwungenes Verhältnis zur 88 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Öffentlichkeit hat, das an der Spitze der technischen Entwicklung steht und gleichzeitig tief in der Geschichte verwurzelt ist. Doch wir mussten einräumen, dass wir in Bezug auf die Farbe zu wenig radikal vorgegangen sind. Wir fragten uns plötzlich, warum wir die Farben nicht mutiger eingesetzt haben. Wir sprachen über historische Schichten in der Architektur. Warum konnten wir nicht dafür Farbe einsetzen? Ich denke an die historische Schicht der Wandpaneele, hinter denen ja die fortschrittliche Technik steckt, die Akustikdienste, die Sicherheitstechnik, hier wäre doch die Gelegenheit für Farbe gewesen. Wir haben Farben eingesetzt, bei den Türen, der Rest war grau und silber, es gab nicht den Knalleffekt eines schreienden Gelbs, eines Giftgrüns oder eines kräftigen Rots. Wir waren also herausgefordert. Und wenn Sie heute aufs Dach gehen und Sie sehen die Dachterrasse und Sie sehen das Restaurant mit den roten Wänden – ich finde das fantastisch. Und ich sehe es und sage: "Junge Junge, noch nie haben wir Farbe in dieser Weise eingesetzt." Farbe ist eine neue Dimension, doch ich würde nicht weitergehen und intellektualisieren und sagen, Gelb ist Symbol für dies, Rot ist symbolisch für jenes und hat die unterschwellige Bedeutung einer Partei, oder eine andere Farbe ist die einer anderen Partei, nein, so ist es nun doch nicht. Lord Norman, wir danken für das Gespräch. Kunst für das Reichstagsgebäude von Andreas Kaernbach 89 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Ein 21 Meter hohes Rechteck aus farbemaillierten Glasflächen in den Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold hat Gerhard Richter für die Eingangshalle des Westportals geschaffen. Seit das Reichstagsgebäude am 19. April 1999 als Plenargebäude des Deutschen Bundestages seiner Bestimmung übergeben wurde, kann der Besucher des Deutschen Bundestages nicht nur dessen von Lord Foster entworfene Architektur bewundern, sondern auch eine Reihe von Kunstwerken, die in- und ausländische Künstler und Künstlerinnen für das Parlamentsgebäude geschaffen haben. Für diese Kunst-amBau-Werke stand ein bestimmter Prozentsatz der Bausumme zur Verfügung. Bei der Entwicklung des Kunstkonzeptes, das alle drei Parlamentsbauten, Reichstagsgebäude, Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus sowie das JakobKaiser-Haus, übergreift, ließ sich der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages von Kunstsachverständigen in Abstimmung mit den Architekten und der Bundesbaugesellschaft Berlin mbH beraten. Entsprechend diesem Kunstkonzept fanden für die Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes, das durch seinen besonderen historischen und politischen Rang ausgezeichnet ist, Werke international anerkannter Künstlerpersönlichkeiten Berücksichtigung, darunter, als Reverenz an den ehemaligen Vier-Mächte-Status von Berlin, Werke von Künstlern aus den USA, Frankreich und Russland. Großbritannien 90 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc ist durch den Architekten Foster vertreten. Zu Entwürfen aufgefordert wurden insbesondere Künstler, die bereit waren, sich mit diesem Ort und seiner Geschichte produktiv auseinander zu setzen. Im Bereich des Jakob-Kaiser-Hauses und des PaulLöbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hingegen sind als Ergebnis der Kunstwettbewerbe und der Vergabeverfahren überwiegend jüngere Künstlerinnen und Künstler beauftragt worden. In der Westeingangshalle des Reichstagsgebäudes wird der Besucher von Arbeiten von Sigmar Polke und Gerhard Richter empfangen. Beide Künstler standen vor der schwierigen Aufgabe, jeweils über 30 Meter hohe Wände auszugestalten. Gerhard Richter hat ein Farbkunstwerk von 21 Meter Höhe und 3 Meter Breite in den Farben Schwarz-Rot-Gold entworfen. Die Farben werden auf die Rückseite großer Glastafeln aufgetragen und erinnern – nicht ohne Hintersinn – an die Farben der deutschen Bundesflagge. Aber sowohl das hochrechteckige Format als auch die spiegelnden Glasflächen machen deutlich, dass es sich nicht um die Abbildung einer Flagge handelt, sondern um ein autonomes Farbkunstwerk. So ist es Gerhard Richter gelungen, mit sparsamen künstlerischen Mitteln eine zurückhaltende und gerade dadurch überzeugende künstlerische Gestaltung zu finden. Die großen homogenen Farbfelder sind harmonisch auf die Ausmaße der Wandfläche abgestimmt und bieten so in der riesigen Halle dem Auge des Betrachters einen optischen Ruhepunkt und zugleich geistigen Raum für vielfältige Assoziationen und Reflexionen. Christian Boltanski schuf für das Untergeschoss am Osteingang 1999 das "Archiv der Deutschen Abgeordneten": 5.000 Metallkästen, beschriftet mit den Namen aller Reichs- und Bundestagsabgeordneten, die zwischen 1919 und 1999 demokratisch gewählt wurden. Sigmar Polke hingegen installiert an der gegenüberliegenden Wand der Westeingangshalle Leuchtkästen mit heiter-ironischen Bildzitaten aus Politik und Geschichte, so u.a. mit einer Darstellung des "Hammelsprungs" oder mit einer verfremdeten Ansicht der Germania des Niederwalddenkmals. Seine Arbeit 91 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc verdichtet historisch-politische Aussagen auf mehreren Leuchtkästen an der großen Wandfläche in zweifacher Hinsicht: Einmal nehmen die Leuchtfelder einen relativ kleinen Raum ein. Zum Anderen wird in ihnen durch eine in der Wirkung der Holographie vergleichbare Technik – die der Vorliebe Sigmar Polkes zum Experimentieren mit ungewohnten Maltechniken entspricht – die optische Täuschung hervorgerufen, dass sich die einzelnen Bildmotive bewegen und übereinander verschieben, vergleichbar den historischen Erinnerungen, die sich bei Menschen im Laufe eines Lebens oder im Laufe von Generationen gedanklich überlagern. Auf diese Weise bezieht Polke auch formal eine Gegenposition zu der ruhigen, eher statisch wirkenden Arbeit von Gerhard Richter. Für die Südeingangshalle wiederum greift Georg Baselitz in großformatigen Leinwandgemälden Motive des Malers der Romantik Caspar David Friedrich auf. Auch in diesen Bildern hat er, wie er es seit Ende der sechziger Jahre zu tun pflegt, seine Motive auf den Kopf gestellt, um die formale Gestaltung der Komposition in den Vordergrund zu stellen. Als Vorlage haben ihm Holzschnitte nach Caspar David Friedrichs Motiven "Die Frau am Abgrund", "Melancholie" und "Der schlafende Knabe am Grabe" gedient, die er in einer leichten und transparenten Malweise seiner künstlerischen Ausdrucksweise anverwandelt hat. Das jeweilige Motiv wiederholt sich vielfach in einer bordürenartigen Einfassung der Mittelfigur. Diese wird magentafarben hinterfangen und dadurch schwerpunktartig hervorgehoben. Die gleichsam im Wesenlosen schwebenden Mittelfiguren ebenso wie die nur in Grauund Schwarztönen gehaltenen Rahmenfiguren erwecken im Betrachter eine melancholische Gestimmtheit. "Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys, entstanden 1958/85, befindet sich vor dem Abgeordnetenrestaurant. 92 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Carlfriedrich Claus, ein in der ehemaligen DDR in die innere Emigration gedrängter Künstler, ist mit seinem "Aurora-Experimentalraum" vertreten. Der Künstler hatte noch kurz vor seinem Tod die Installation seiner Arbeiten bestimmen können. Er verstand sich selbst als überzeugten Kommunisten. Aber im Gegensatz zum dogmatischen Schulmarxismus beharrte er so entschieden auf einem mystisch verstandenen utopischen Charakter der Ideologie, dass er sich die Gegnerschaft des SED-Regimes zuzog. Mit dem Aurora-Raum, der das Morgendämmern der Utopie verkünden soll, will er seiner Sehnsucht "nach der Aufhebung des Entfremdetseins von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen" Ausdruck verleihen. Carlfriedrich Claus hat seine vom Mystizismus, von der Kabbala und von marxistischer Philiosophie geprägten Gedankengänge auf Pergament oder Glastafeln sowohl auf deren Front- als auch auf deren Rückfläche notiert. Diese Schriftzüge verengen, überschneiden sich fortlaufend zu Schriftgestalten, eigenen ästhetischen Gestaltungen also, denen sowohl Schrift- als auch Bildcharakter eigen ist. Auf Bildtafeln übertragen, ragen diese symbolhaften Zeichen, erwachsen aus träumerischem Grübeln und poetischem Philosophieren, in den Raum. So hat Carlfriedrich Claus einen ganz eigenen und sich jeder kunsthistorischen Einordnung entziehenden Weg zwischen Poesie, Philosophie, Mystik und Schriftkunst gefunden. "1840" von Markus Lüpertz spielt auf William Turners Rheinreise in jenem Jahr an. Es ist bündig in die Stirnwand des Abgeordnetenrestaurants eingelassen. Die umfassendste künstlerische Gestaltung im Reichstagsgebäude hat der Düsseldorfer Künstler Günther Uecker vorgenommen. Ihm war die schwierige 93 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Aufgabe gestellt, ein zeitgemäßes sakrales Interieur für den Andachtsraum zu entwerfen. Wenige Künstler dürften für diese Aufgabe so prädestiniert sein wie Günther Uecker, der sich schon in einer Reihe bedeutender Arbeiten mit Fragen der Gefährdung, der Hoffnung und der Rettung des Menschen beschäftigt hat. Ihm ist es gelungen, auf der Grundlage theologischer Überlieferungen mit sparsamen bildnerischen und architektonischen Ausdrucksmitteln einen Raum zu gestalten, der zu Meditation und innerer Einkehr anregt. Durch den Einbau einer zur Seite hin offenen Zwischenwand vor den Fenstern führt Uecker das Licht indirekt in den Raum, der auf diese Weise die mystische Aura einer frühmittelalterlichen Krypta gewinnt. Er erhält seine Akzentuierung durch kraftvolle skulpturale Elemente, wie den Altar aus sandgestrahltem Granit, durch eigens entworfene Stühle und Bänke sowie durch sieben hohe Holzbildtafeln, die in leichter Schräge an die Wände gelehnt sind. Auf diesen Tafeln hat Uecker mit Nägeln, Farbe, Sand und Steinen eine bildnerische Gestaltung vorgenommen. Die Tafeln visualisieren die Wüsten im Heiligen Land als dem Geburtsort jüdisch-christlicher Spiritualität. Tod und Auferstehung werden zu eindrucksvollen suggestiven Bildern verdichtet. Den Sitzungsraum für eines der wichtigsten parlamentarischen Gremien, den Ältestenrat, hat der Stuttgarter Künstler Georg Karl Pfahler gestaltet. Farbige Rechtecke scheinen, mit einer geschickten optischen Täuschung inszeniert, von den Wänden herabzufallen, ja geradezu über die Holzpaneele des Architekten hinwegzutanzen. Souverän reagiert der Künstler auf die vorgegebenen starkfarbigen Holzpaneele und setzt ihnen ein durchdachtes eigenes Farbkonzept entgegen, das vom Gegen- und Miteinanderspielen der Farben, ihrer Überlagerung und Weiterentwicklung lebt und auf diese Weise eine eigene Farbräumlichkeit schafft. Durch Pfahlers spezifisch süddeutschen Akzent ist das Reichstagsgebäude um einen heiter-festlichen Raum reicher geworden. 94 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Der "Aurora-Experimentalraum" von Carlfriedrich Claus soll das Morgendämmern der Utopie verkünden. Im Gegensatz zu der umfassenden Weltschau von Carlfriedrich Claus wendet sich die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer – in bewusster Beschränkung – der Geschichte des Reichstagsgebäudes zu. Sie lässt in der Nordeingangshalle auf einer Stele digitale Leuchtschriftbänder mit Reden von Reichstags- und Bundestagsabgeordneten ablaufen. In der Kuppel schließlich informiert eine Ausstellung über die Geschichte des Parlamentarismus, soweit sie sich im Reichstagsgebäude abgespielt hat. In der Ausstellung werden bisher wenig bekannte Fotos des berühmten Bildchronisten der Weimarer Republik, Erich Salomon, zu sehen sein, die – nicht gestellt – einen Eindruck von der alltäglichen parlamentarischen Arbeit im Reichstag der zwanziger Jahre vermitteln. Weitere Künstler, darunter Katharina Sieverding mit der Gedenkstätte für die verfolgten Reichstagsabgeordneten, zeigen mit ihren Kunstwerken im Reichstagsgebäude einen lebendigen Querschnitt durch die aktuelle deutsche und internationale Kunstszene. Entsprechende Werke schufen u.a. Christian Boltanski, Ulrich Rückriem, Bernhard Heisig, Grisha Bruskin, Markus Lüpertz, Anselm Kiefer, Gotthard Graubner, Jürgen Böttcher-Strawalde, Lutz Dammbeck, Emil Schumacher, Rupprecht Geiger und Hanne Darboven. Von weiteren Künstlern erfolgten Ankäufe. Erst nach der Sommerpause wird das Kunstprojekt von Hans Haacke für den nördlichen Innenhof realisiert werden. Über die Frage der Realisierung dieses Projektes hatte es eine spannende und kontroverse Debatte im Plenum gegeben (Bericht Blickpunkt 4/2000). Ein solch umfassendes und durchdachtes Kunstkonzept, wie es nunmehr im Reichstagsgebäude besichtigt werden kann, stellt ein beeindruckendes Bekenntnis des Parlamentes zur Kunst dar. Beide Bereiche, die Kunst und die Politik, nehmen auf diese Weise die Chance wahr zu einem geistig inspirierenden Dialog. 95 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Zum Üben für zukünftige Kanzler: "Kleines Kanzleramt" der Berliner Künstlerin Christine Gersch auf dem Dach der Bundestagskita. In Sichtweite des Reichstagsgebäudes liegt die Kindertagesstätte des Deutschen Bundestages. Sie wurde vom Wiener Architekten Gustav Peichl gestaltet und ruft – unmittelbar an der Spree gelegen – Assoziationen an ein elegant-verspieltes Schiff wach. Spielen können sollen auch die Kinder in diesem Gebäude, und so wurde von der Berliner Künstlerin Christine Gersch zusammen mit dem Architekten ein besonders kindertümliches Kunstprojekt entwickelt. Auf dem begrünten Dach, von dem aus das künftige Kanzleramt zu sehen ist, können die Kleinen durch eine Art Kasperletheater klettern, das wie das am Horizont sichtbare Kanzleramt gestaltet ist. Sie brauchen nicht am Zaun des echten Kanzleramtes zu rütteln, sie können gleich selber Kanzler spielen – und der Kanzler kann ihnen dabei vom Kanzleramt aus amüsiert zusehen. Ferner erweisen sich auf dem Dach der Kindertagesstätte vier farbenfrohe Skulpturen, die Kobolde darstellen, als wahre Schutzgötter. Sie akzentuieren nicht nur ästhetisch den Dachgarten, sondern hindern zugleich die Kinder, gefährliche Dachschrägen hinaufzuklettern. So hat die Künstlerin mit leichter Hand Politik und Kunst, Kinderspiel und Lebensernst vereint. Kunstkonzept Reichstagsgebäude beschlossen Der Verwirklichung des alle drei Baukomplexe umfassenden Gesamtkonzeptes liegt der Gedanke zugrunde, daß die Ausstattung dieser drei Baukomplexe des Deutschen Bundestages in Berlin mit Kunstwerken sich nach der jeweiligen historischen oder politischen Bedeutung der Bauten richten muß. Ein besonderes Augenmerk gilt der Gestaltung des Reichstagsgebäudes, das aufgrund seiner wechselvollen und an 96 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Bezügen zum Schicksal der Deutschen so reichen Geschichte sowie durch den für die parlamentarische Arbeit zentralen Plenarsaal den bedeutendsten Komplex darstellt. Für dieses Bauwerk erhalten daher überwiegend deutsche Künstlerinnen und Künstler von internationalem Ruf, nicht zuletzt aus den neuen Bundesländern, Gestaltungsaufträge, insbesondere solche, die sich bevorzugt mit Themen deutscher Politik und Gesellschaft auseinandergesetzt oder diese sogar wesentlich mitbestimmt und geprägt haben. Zugleich sind Künstlerinnen und Künstler aus den Ländern der ehemaligen Vier Alliierten mit Aufträgen bedacht worden, weil die Anwesenheit dieser vier Mächte in Berlin für die Geschicke der Stadt und des unmittelbar an der Mauer liegenden Reichstagsgebäudes eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die aktuellen standortbezogenen Kunstwerke werden ihre sinnvolle Ergänzung finden durch vorhandene Kunstwerke aus der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages und eine Einheit "Geschichte parlamentarischer Arbeit im Reichstagsgebäude in künstlerischen und zeitgenössischen Dokumenten". Diesem Konzept folgend, sind bisher Gespräche mit folgenden Künstlerinnen und Künstlern aufgenommen worden: Georg Baselitz Christian Boltanski Grischa Bruskin Hanne Darboven Rupprecht Geiger Anselm Kiefer Gotthard Graubner Hans Haacke Bernhard Heisig Jenny Holzer Markus Lüpertz Georg Karl Pfahler Sigmar Polke Gerhard Richter Ulrich Rückriem Emil Schumacher Rosemarie Trockel Günther Uecker Das Kunstkonzept für das Reichstagsgebäude ist Bestandteil des Gesamtkonzepts der Bauvorhaben des Deutschen Bundestags im Spreebogen. Für das Paul-Löbe- und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wählte der Kunstbeirat beschränkte Wettbewerbe bzw. Kolloquien als Form der Vergabe. Hingegen liegt die Herausforderung, der sich die Künstlerinnen und Künstler im Reichstagsgebäude stellen müssen, in der Einbeziehung des bereits vorhandenen historischen Baubestandes, der Einflußnahmen auf die Architektur Grenzen setzt. Daher bot es sich an, Künstlerpersönlichkeiten direkt zu beauftragen, Werke für ausgewiesene Orte des Parlamentssitzes zu konzipieren. 97 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Modell: Gestaltung des Andachtsraums im Reichstagsgebäude von Günther Uecker Auf Empfehlung der Sachverständigen wurde beschlossen, daß im Reichstagsgebäude vornehmlich deutsche Künstlerinnen und Künstler vertreten sein sollen, die mit ihren Werken nachhaltig das zeitgenössische internationale Kunstgeschehen geprägt haben. Zugleich sollen Kunstschaffende aus den Ländern der ehemaligen Vier Alliierten an der künstlerischen Ausgestaltung des Parlamentssitzes mitwirken. Architekt Sir Norman Foster repräsentiert dabei Großbritannien. Ebenso sind Frankreich durch Christian Boltanski vertreten (historische Installation), die USA durch Jenny Holzer (Stele mit digitaler Leuchtschrift) und die ehemalige Sowjetunion durch Grischa Bruskin (Reihung allegorischer Bildtafeln). Ankäufe Darüber hinaus wird ein Teil der Kunst-am-Bau-Mittel für Ankäufe verwendet. So sollen auf Wunsch des Kunstbeirats Arbeiten der folgenden Künstlern erworben werden: Gerhard Altenbourg Jürgen Böttcher-Strawalde Christo und Jeanne Claude Carlfriedrich Claus Lutz Dammbeck Hermann Glöckner Wolfgang Mattheuer Walter Stöhrer Von Gerhard Altenbourg , einem der bedeutendsten oppositionellen Künstlern in der DDR, soll ein Landschaftschaftsaquarell aus dem Jahr 1953 angekauft werden. Von Jürgen Böttcher-Strawalde , der in Dresden eine Gruppe oppositioneller Maler um sich scharte, zu denen der Maler A.R. Penck gehörte, und der als Filmemacher und Performer die traditionellen Abgrenzungen der Kunstgattungen überwand, sollen drei Gouachen angekauft werden. 98 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Eine 1986 farbig angelegte Zeichnung von Christo und Jeanne Claude zur spektakulären Verhüllung des Reichstagsgebäudes soll angekauft werden. Das Projekt wurde in zwei Jahrzehnten von den Künstlern vorangetrieben und konnte schließlich, nicht zuletzt durch das Engagement der damaligen Bundestagspräsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth, realisiert werden. Carlfriedrich Claus , mit dem kurz vor seinem Tod Gespräche über einen Ankauf im Reichstagsgebäude geführt wurden, wird mit einer Neu-Installation des "Experimentalraums Aurora" von 1993 vertreten sein. In seiner historisch-politischen Auseinandersetzung beharrte Claus auf den Utopien des Kommunismus und galt als Gegner der offiziellen DDR-Kultur. Von Lutz Dammbeck , der als Maler, Filmemacher und Multimediaspezialist in der DDR u.a. mit seinem Herakles-Projekt einen oppositionellen historisch-kritischen Standpunkt einnahm, sollen Blätter aus den Herakles-Notizen angekauft werden. Von Hermann Glöckner , dem wichtigsten konstruktivistisch-konkreten Künstler in der DDR, der sein Konzept gegen den staatlich verordneten sozialistischen Realismus durchgehalten hatte, wurden drei charakteristische Arbeiten der Jahre 1969, 1974 und 1980 angekauft. Von Wolfgang Mattheuer , dem neben Bernhard Heisig führenden Vertreter der Leipziger Schule in der Malerei der DDR, wurden zwei Gemälde angekauft: "Der eine und die Andere" und "Panik II", beide aus dem Jahre 1989. Von Walter Stöhrer , einem wichtigen deutschen Vertreter der gestisch expressiven Malerei wurde eine in Mischtechnik übermalte Radierung von 1995 angekauft Dauerleihgabe Auch Joseph Beuys wird im Reichstagsgebäude vertreten sein. Als Dauerleihgabe stellt das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) die Arbeit "Tisch mit Aggregat" zur Verfügung. Diese Figuration, mit der sich Beuys zwischen 1958 und 1986 beschäftigt hat, besteht aus einem aus Bronze gegossenen Tisch, einem Aggregat, zwei Kugeln und einem Verbindungskabel. Zentrales Motiv ist der Fluß natürlicher und technisch erzeugter Energie, also jenes Spannungsreservoir, aus dem das Leben sich speist und die Zivilisation erst möglich wurde. 99 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Als weitere Dauerleihgabe wird eine architektonische Bronzeskulptur von Otto Freundlich an repräsentativem Ort ausgestellt. Die Arbeit "Sculpture Architecturale" datiert von 1934/35 und ist das fünfte Exemplar von sechs Abgüssen. Otto Freundlich gehört zur "Pioniergeneration der Abstrakten". Die Abbildung seiner Skulptur "Der neue Mensch" auf dem Plakat zur Ausstellung "Entartete Kunst" von 1937 sowie seine Deportation und Ermordung im Konzentrationslager Lublin-Maidanek stehen stellvertretend für die Leiden von Juden und Avangarde-Künstlern unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Die Skulptur von Otto Freundlich im Deutschen Bundestag setzt auch für viele andere verfolgte und bis heute ungenügend gewürdigte Künstler ein Zeichen der Wiedergutmachung. Aus dem Bestand des Deutschen Bundestags Die aktuellen standortbezogenen Kunstwerke werden ihre Ergänzung finden durch vorhandene Werke aus der Kunstsammlung des Deutschen Bundestags. Zudem wird die historische Dimension des Gebäudes anhand der Ausstellung "Geschichte parlamentarischer Arbeit im Reichstag in künstlerischen und zeitgenössischen Dokumenten" im Kuppelinnenraum (Handlauf am Plenarsaaloberlicht) für die Öffentlichkeit erläutert. 100 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Das Mahnmal zum Gedenken an die Reichstagsabgeordneten, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, soll wieder im Reichstagsgebäude aufgestellt werden. Die Künstlerin Katharina Sieverding hatte Anfang der 90er Jahre für die heutige Abgeordnetenlobby im Plenarsaalbereich eine großformatige, fünfteilige Fotoarbeit geschaffen, die sowohl Zerstörung als auch Wiedergeburt thematisiert. Zum Verfahren Die Bundesbaugesellschaft Berlin mbH führt für den Deutschen Bundestag vier große Baumaßnahmen im Bereich des Berliner Spreebogens durch: den Umbau des Reichstagsgebäudes durch das Architekturbüro Sir Norman Foster & Partners, den Neubau des Jakob-Kaiser-Hauses durch fünf Architektenteams - die Architekten Cie, Busmann und Haberer, von Gerkan, Marg & Partner, Schweger & Partner und Thomas van den Valentyn - sowie die Neubauten Paul-Löbe-/Marie-ElisabethLüders-Haus durch Auslobung des Architekten Stephan Braunfels. Die Kunstwettbewerbe wurden von der Bundesbaugesellschaft Berlin ausgelobt, mit der Durchführung hat die Gesellschaft das Büro für Kunst und Kultur (ivdt) beauftragt. Über die Kunst-am Bau-Projekte für die Bundestagsneubauten hat der Kunstbeirat unter dem Vorsitz der Bundestagspräsidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth entschieden. Dieses Gremium war in der 13. Wahlperiode entsprechend der Fraktionsstärke mit folgenden Abgeordneten besetzt: für die CDU/CSU-Fraktion Renate Blank, Anke Eymer, Volker Kauder und Wolfgang Börnsen, für die SPD-Fraktion Peter Conradi, Thomas Krüger und Gisela Schröter, für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Franziska Eichstädt-Bohlig sowie für die F.D.P.-Fraktion Ina Albowitz. Die Gruppe der PDS hatte keinen Vertreter benannt. Für das Reichstagsgebäude sind als Kunstsachverständige Frau Dr. Karin Stempel aus Mühlheim a.d. Ruhr und Herr Prof. Götz Adriani aus Tübingen tätig. Ferner stehen dem Kunstbeirat für das Pau-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus Herr Prof. Dr. Armin Zweite aus Düsseldorf und Herr Dr. Klaus Werner aus Leipzig als Kunstsachverständige zur Seite. Beraten wurde das Preisgericht für den Kunstwettbewerb Paul-Löbe-/ Marie-Elisabeth-Lüders-Haus durch Claudia Busching, Deutscher Künstlerbund Berlin und Hans-Wilhelm Sotropp, Vorsitzender des Bundesvorstands BBK, Bonn. Frau Dr. Evelyn Weiss aus Köln und Herr Prof. 101 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Dr. Manfred Schneckenburger aus Münster arbeiten als Kunstsachverständige für das Jakob-Kaiser-Haus. Die unterschiedlichen Kunstkonzepte der drei Baumaßnahmen richten sich nach deren jeweiliger historischer und parlamentarischer Bedeutung sowie architektonischer Ausrichtung. Daher werden im Reichstagsgebäude, dem historischpolitisch bedeutsamen Parlamentssitz, deutsche Künstlerinnen und Künstler von internationalem Ruf sowie Künstler aus den Ländern der ehemaligen Vier Alliierten Gestaltungsaufträge erhalten. Für das Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und das Jakob-Kaiser-Haus wurden beschränkte Wettbewerbe bzw. Vergabekolloquien unter Einbeziehung auch jüngerer Künstlerinnen und Künstler durchgeführt. Entsprechend den rechtlichen Vorgaben für Kunst-am-Bau-Projekte bei öffentlichen Gebäuden stehen 8 Millionen DM für das Reichstagsgebäude zur Verfügung, 10 Millionen für das Jakob-Kaiser-Haus und weitere 10 Millionen für das Paul-Löbe-/ Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Ein Besuch lohnt sich Der Deutsche Bundestag für Bürgerinnen und Bürger Die Dachterrasse und die Kuppel des Reichstagsgebäudes können über den Westeingang (Freitreppe) ohne Anmeldung besucht werden. Öffnungszeiten täglich von 8.00 bis 24.00 Uhr (letzter Einlass ist um 22.00 Uhr). Für Behinderte besteht ein Zugang zur Dachterrasse und zu den Tribünen unterhalb der Freitreppe an der Westseite des Gebäudes. Der Weg dahin ist ausgeschildert. Zur Teilnahme an einer Plenarsitzung können sich Besuchergruppen (Mindestalter 15 Jahre) bei einem Mitglied des Deutschen Bundestages anmelden. Andere Gruppen können sich frühestens drei Wochen vor dem gewünschten Termin beim Besucherdienst schriftlich anmelden und erhalten Zugang, sofern noch Plätze vorhanden sind. Einzelbesucher können teilnehmen soweit Plätze vorhanden sind. An Informationsvorträgen auf der Tribüne des Plenarsaales können Besuchergruppen und Einzelbesucher nach vorheriger schriftlicher oder telefonischer Anmeldung beim Besucherdienst des Deutschen Bundestages teilnehmen, Beginn jeweils zur vollen Stunde, Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 17.00 Uhr, am Samstag und Sonntag zwischen 10.00 und 16.00 Uhr. Unangemeldete Besucher können teilnehmen, wenn Plätze frei sind. 102 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Führungen durch den Plenarbereich, die Besucherebene, Dachterrasse und Kuppel finden an sitzungsfreien Tagen um 10.30, 15.30 und 19.30 Uhr statt (max. 25 Pers.). Anmeldung dringend erforderlich. An Samstagen, Sonntagen und Feiertagen bietet der Besucherdienst Architektur- und Kunstführungen durch das Reichstagsgebäude an, Beginn 11.30 Uhr (max. 25 Pers.). Anmeldung dringend erforderlich. Anmeldung: Deutscher Bundestag, Besucherdienst, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, Telefon 030-227-32152 Informationsmaterial über die Arbeit des Deutschen Bundestages liegt im Bereich des Westeingangs und auf der Ebene der Besuchertribünen aus und kann auch fernmündlich beim Referat Öffentlichkeitsarbeit unter: Telefon 030-22 72 74 53 oder per Telefax 030-22 72 65 06 sowie über Internet: www.bundestag.de angefordert werden. Die "fette Henne" wird 45 Bonner Bundesadler auch Modell für Wappenvogel im Reichstag Sein bekanntestes Werk haben die Menschen auf Fotos, im Fernsehen und in der Zeitung schon so oft gesehen, daß sie es gar nicht mehr als das Werk eines Künstlers identifizieren. Hoch oben an der Stirnwand des Plenarsaals des Deutschen Bundestages prangt der Bundestagsadler von Ludwig Gies. In seinem Schatten haben sich berühmte Parlamentarier der Bundesrepublik Deutschland spannende Rededuelle geliefert: Herbert Wehner und Konrad Adenauer, Willy Brandt und Rainer Barzel, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Aus Gips schuf Gies 1953 den Bundesadler, an den sich Generationen von Abgeordneten und Fernsehzuschauern gewöhnt haben und der nicht nur im Volksmund wegen seiner gedrungenen Form liebevoll-spöttisch "fette Henne" genannt wird. Heute fällt es schwer, sich von dem gewohnten Bild zu lösen. Nach Abriß des alten Plenarsaales schuf Günter Behnisch, Architekt des neuen Bundestagsplenarsaals in Bonn, eine überarbeitete Version des Giesíschen Adlers, die sich optisch nur unwesentlich vom Original unterscheidet. 103 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Ende Mai beschloß der Ältestenrat des Bundestages auf Empfehlung der Baukommission, daß das Bonner Symbol aus Gründen der Kontinuität und des Wiedererkennens auch den Plenarsaal im Berliner Reichstag " ab 1999 Heimat des Deutschen Bundestages " zieren soll. Der Architekt des Reichstagsumbaus Sir Norman Foster erhielt den Auftrag, den alten Plenaradler etwas "straffer" zu gestalten. Die Parlamentarier folgten damit einer Empfehlung des Architekten, der vorgeschlagen hatte, am bisherigen Adler-Modell festzuhalten. Im Juni soll Foster dem Bundestag einen Entwurf vorlegen. Erstmals muß dabei auch der Rücken des Wappenvogels gestaltet werden, denn der Adler wird im Reichstag vor einer Glaswand der Ostseite des Gebäudes schweben. Daß der Bundesadler des alten Plenarsaales später seine bekannteste Arbeit werden sollte, ahnte Gies sicher nicht. Denn eines seiner künstlerisch größten Werke schuf er schon 1921. Es war das große, sich krümmende Holzkruzifix für den Lübecker Dom, das die Nazis als entartet diffamierten und der 1944 in Berlin verbrannte. Gies zählt mit seinen Plastiken, Plaketten und Bildern zu den wichtigsten Expressionisten in Deutschland. Doch sein künstlerisches Schaffen galt den Nazis als "undeutsch". Seine modernen Arbeiten mit großer Ausdruckskraft, die abstrahierten und den Menschen auch im Leid zeigten, wurden im Dritten Reich der Lächerlichkeit preisgegeben. Sie gehörten wie andere große Werke deutscher Kultur zu den verspotteten Werken der Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" 1937. Im gleichen Jahr verlor Gies sein Lehramt an der Berliner Akademie der Bildenden Künste und wurde aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen. Zu Giesí wichtigen Plastiken und Bildern gehören neben dem Lübecker Kruzifix der Silber- und Goldkranz in der Schinkelschen Wache Unter den Linden (1927), sein Lamm aus Porzellan für die Berliner Porzellan-Manufaktur (1928), die Rheinlandschaft mit Schleppkahn für den Duisburger Hauptbahnhof (1935), die später übermalt wurde, sein eindrucksvoller, leidender Christuskopf in Lindenholz (1936), der Adler in der alten Reichskanzlei, den Hitler als zu wenig nordischheraldisch entfernen ließ, der Adler in der ehemaligen Reichsbank von Berlin, seine Geigerin von 1947, das Grabmal für Hans Böckler auf dem Kölner Melatenfriedhof (1951), der Harfenspieler für das Kölner WDR-Funkhaus (1952), der Erlkönig (1952) und das Engelfenster für die Kolumba-Kapelle in Köln (1954). Giesí künstlerische Vielfalt zeigt sich auch in seinen Baukeramiken für das Düsseldorfer Phönixhaus und die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, in den Stuckreliefs für das Haus der 104 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Metallgewerkschaft in Berlin, der geschnitzten Orgelwand für die Aula der Bonner Universität und den sieben Meter hohen Genien im Atrium des Essener FolkwangMuseums. In diesen Werken wird auch der thematische Dreiklang Giesí deutlich. Dem Sakralen widmete sich Gies ebenso wie dem Alltag der arbeitenden Menschen und den feierlich-anrührenden Motiven, die sich in seinen Medaillen und Kränzen widerspiegeln. Eine seiner Medaillen, die Heine-Gedächtnis-Medaille der Stadt Düsseldorf in Gold, sollte 1960 zu hohen politischen Ehren kommen. Sie wurde keinem geringeren als Bundespräsident Theodor Heuss bei der Verleihung der Ehrenbürgerrechte überreicht. Drei Jahre zuvor hatte übrigens Heuss selbst Ludwig Gies mit einer hohen Auszeichnung bedacht: mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Freiheit und Einheit Das Erbe von 1848/49 in unserer parlamentarischen Demokratie von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth Die auf Freiheit und Einheit gerichteten Bestrebungen von 1848/49 waren die entscheidende Weichenstellung auf Deutschlands Weg in die Moderne. Sie waren Teil einer europäischen Bewegung. Das Parlament in der Frankfurter Paulskirche trat am 18. Mai 1848 zusammen zu einem Zeitpunkt, als die Freiheitsbewegungen in vielen Staaten Europas bereits vor dem Scheitern standen. 150 Jahre später erinnern sich der Bund, die Länder und die Kommunen der damaligen Ereignisse auf vielen unterschiedlichen Veranstaltungen. Dadurch wird wieder bewußt: Auch unsere Demokratie bedarf der historisch geleiteten geistigen Orientierung und der inneren Verbundenheit mit der eigenen Freiheitstradition. Das gilt um so mehr, als sich bislang eher das damalige Scheitern der Revolution im kollektiven Bewußtsein verankert hatte, nicht aber der Freiheitskampf vieler Menschen, ihre Aufbrüche, ihre Visionen, ihr politisches Engagement. Es war deswegen wichtig, daß die Abgeordnetinnen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages in diesem Jahr zum erstenmal die Freiheitsbewegung von 1848/49 im Parlament gewürdigt und ihre Auswirkungen für unsere Gegenwart diskutiert haben. Inzwischen haben Hunderttausende bei uns in den letzten Monaten die 105 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Ausstellungen, Vorträge und Veranstaltungen zu den Ereignissen von 1848/49 besucht. Auch das macht deutlich, welche Bedeutung in unserer Umbruchszeit die Suche nach politischer Orientierung erneut gewonnen hat, wie sehr die Vergewisserung nach dem "woher" gesucht wird, um Fragen nach dem "wohin" zu beantworten. Historische Jubiläen sind nicht nur Anlässe der Erinnerung, sondern zugleich Prüfsteine des eigenen Selbstverständnisses. Das gilt gerade im Hinblick auf mangelnde Wertschätzung und aktive Verteidigung unserer Freiheit. Der Bezug auf die Ereignisse von 1848/49 ruft wieder jene wichtige Freiheitstradition in unser politisches Gedächtnis, die oft verschüttet war. Die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ist ja weniger von politischen Kontinuitäten, sondern mehr durch Brüche gekennzeichnet. Lange dominierende obrigkeitsstaatliche Mentalitäten sind bis heute zu spüren. In Deutschland verfügen wir deshalb nur über eine schwach ausgebildete Freiheitstradition im Bewußtsein der Bürger. 1848/49 stand bislang nicht für politischen Umbruch, für den Beginn der parlamentarischen Demokratie in Deutschland wie beispielsweise 1789 für die Franzosen oder später die Freiheitskämpfe bei Polen und Ungarn. Aber auch wir verfügen über historische Wurzeln einer Freiheitstradition, bei der es in unserer Hand liegt, ob wir sie verkümmern lassen oder ob wir sie nutzen im Sinne einer die Bürger verbindenden demokratischen Identität und der Sicherung freiheitlichen Bewußtseins. Dabei geht es nicht um eine nachträgliche Harmonisierung der Geschichte. Gerade demokratische Identität, die die Legitimität freiheitlicher Ordnungen sichern hilft, bedarf einer Aneignung, die die Widersprüchlichkeit der historischen Entwicklungen bewußt aufnimmt. Erst aus der prüfenden Urteilsbildung heraus erwächst die Bindung an die eigene Freiheitstradition. Ohne diesen "Vernunftgebrauch" kann die freiheitliche Demokratie auch nicht jene "Gewohnheiten des Herzens" ausbilden, die die zivilen Haltungen in unserem freiheitlichen Gemeinwesen dauerhaft sichern helfen. Die Erinnerung an Ursprung und Verlauf der deutschen Freiheitsbewegung mit ihren Forderungen nach Menschenrechten, Verfassung und Parlament bietet die Chance einer politischen Standortbestimmung, die über das politische Tagesgeschäft hinaus die Grundlagen unseres Gemeinwesens bewußt macht. Wer Schaden von unserer Demokratie abwenden und sie vor ihren Gegnern und Feinden, aber auch vor Gleichgültigkeit und Distanz verteidigen will, der weiß, daß die Werte und Normen einer freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie immer wieder neu der geistigen 106 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Verankerung bedürfen. Das geschieht nicht von selbst. Wenn unsere parlamentarische Demokratie nicht Energien für die Ausbildung geistiger Orientierung verwendet, dann leistet sie einer gedanklichen Auszehrung Vorschub, die nicht nur in Krisenzeiten schwerwiegende Folgen haben kann. Denn bereits jetzt muß es uns Sorgen machen, daß eine immer größer werdende Zahl von Menschen die Leistungsfähigkeit der Demokratie, ja ihren Wert selbst bezweifelt. Je größer die Probleme sind, desto höher werden die Erwartungen an die Lösung der Arbeitslosigkeit, der Kriminalitätsbekämpfung, der inneren und sozialen Sicherheit. Aber in welcher anderen Staatsform könnten die Probleme menschenwürdiger und gewaltfreier gelöst werden als in der Demokratie.? In keiner! Eine parlamentarische Demokratie ist jedoch keine Schönwetterdemokratie, ihre Prinzipien sind nicht formbar nach Opportunitäten oder der jeweiligen Wirtschaftslage, sondern gelten grundsätzlich. Nur dadurch verbürgen sie Freiheit auch in rauhen Zeiten, können sie die Sorge für soziale Gerechtigkeit " der gerechten Verteilung von Chancen, Belastungen und Entlastungen " als Pflicht der Stärkeren für die Schwächeren bewahren. Deswegen erfordert es gerade heute besonderer Anstrengungen, die geistigen Grundlagen unserer Demokratie deutlicher bewußt zu machen. Das Zusammentreffen von demokratischem Aufbruch in allen Teilen der Bevölkerung und das erste nationale Parlament in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 " das war die Geburtsstunde unserer heutigen parlamentarischen Demokratie. Es war der Kampf um "Freiheit und Einheit", der viele, viele Menschen in Deutschland (und in ganz Europa) begeisterte. Allerdings mußte nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirchenversammlung in den Jahrzehnten danach erst mühsam Stück für Stück jener Weg freiheitlicher Demokratie in einem föderal geeinten Deutschland freigelegt werden, den die "48er" damals gewiesen hatten. Die monarchische Obrigkeit im 19. Jahrhundert verunglimpfte den Kampf um die Freiheit und den Versuch der Überwindung deutscher Kleinstaaterei als "tolles Jahr", dem man Ordnung und Sicherheit einerseits, einen sich militarisierenden Nationalismus andererseits entgegensetzte. Die für uns heute so selbstverständlichen konstitutionellen Bindungen und politischen Teilhabemöglichkeiten waren Ergebnis mühseliger Lernprozesse und langwieriger Machtkämpfe. Die Erlangung deutscher Einheit und freiheitlicher Demokratie wurden lange Zeit für viele Deutsche zu zwei unterschiedlichen Zielen " das Deutsche Reich wurde 1870/71 mit Eisen und Schwert zusammengeschweißt, und die erste freie Demokratie fand erst später, nach dem 1. 107 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Weltkrieg, mit der Weimarer Republik ihre Gestalt. In der nationalsozialistischen Diktatur wurden Freiheit und Einheit schnell wieder verspielt. Deutschland blieb, nach dem 2. Weltkrieg, 40 Jahre geteilt und nur im Westen konnte sich eine parlamentarische Demokratie entwickeln. Als die Menschen in der DDR 1989 auf die Straße gingen und die SED-Diktatur in machtvollen, friedlichen Demonstrationen stürzten, knüpften sie unbewußt wieder an die Forderungen von 1848/49 an. Es zeigte sich, wie geschichtsmächtig die Ideen von Freiheit, Demokratie und Einheit auch 150 Jahre später waren. Heute leben wir in einer geeinten Republik, die sich zum erstenmal unvoreingenommen der eigenen Freiheitstraditionen erinnern un versichern kann. Der Deutsche Bundestag und die Bürgergesellschaft unseres Landes haben in besonderer Weise im Geschehen von 1848/49 ihre Wurzeln. Beide ruhen auf den großen Anstrengungen der Menschen damals um Bürgerrechte, Gewaltfreiheit, Gewaltenteilung und Einheit sowie der friedlichen Revolution von 1989. Deswegen kommt auch beiden die Aufgabe zu, immer wieder Anstöße zu geben für eine Erinnerungskultur der Freiheit. Diese bewahrt den mutigen, oft bis zum Einsatz des eigenen Lebens gehenden Kampf von Bürgerinnen und Bürgern für Menschenrechte und parlamentarische Demokratie, macht sie jeder Generation neu zugänglich. So kann sich " und das ist eine wichtige Zukunftsperspektive " eine für Ost- und Westdeutsche gemeinsame demokratische Kultur entwickeln, die sich auch in den jetzigen und künftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen als tragfähig erweist. Denn nur mündige Bürger stehen in Krisenzeiten zu Menschenwürde und Menschenrechten, entwickeln Mut zur Veränderung, engagieren sich verantwortungsbewußt für das Gemeinwohl. Revolutionäre Erhebungen sind nie einheitlich. Damals mischten sich in ihr das Streben nach nationaler Eigenständigkeit, freiheitlicher Verfassung und Volksvertretung mit sozialen Fragen und Emanzipationsbestrebungen des vierten Standes und der Frauen. Hungersnöte, wirtschaftliche Krisen und Forderungen nach Sicherung von Lohn und Brot vor dem Hintergrund des beginnenden Industriezeitalters trugen zum Ausbruch ebenso bei wie ein politisch erstarkendes Bürgertum, beeinflußt durch die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Liberale Bürgerliche oder Intellektuelle, Arbeiter oder Handwerker, Bauern oder auch Frauen " jede Gruppe hatte aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung unterschiedliche Motive und Ziele für die Teilnahme am Geschehen. 108 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Aber es gab neben allen Ambivalenzen immer auch gemeinsame Ziele, an die das heutige Nachdenken über Traditionslinien mit anknüpft. Denn die unterschiedlichen Gruppen waren verbunden im Bewußtsein, sich für eine neue, freie und gerechte politische Ordnung einzusetzen. Aber das galt nicht für alle, wenn man z. B. sieht, daß beispielsweise im Paulskirchenparlament nur Männer saßen, weil Frauen ausgegrenzt wurden. Dort war das liberale Bürgertum vertreten, während die Arbeiter- und Handwerkerschichten ihre Diskussionen auf den öffentlichen Plätzen führten und auf den Barrikaden zu finden waren. Ziel der 1848er war die Begründung der Souveränität des Volkes, der (allerdings unterschiedlich interpretierten) Bürgerschaft. Politische Teilhabe sollte nicht länger auf die Fürsten beschränkt sein. Bei vielen, egal, ob sie Arbeiter, Bauern, Handwerker, Professoren oder Staatsdiener waren, erwachte ein Interesse an den politischen Angelegenheiten. Trotz aller wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Gegensätze war es eine erste, pluralistische Form praktisch gelebter Demokratie, die sich damals in wichtigen Regionen Deutschlands bildete. Straßen und Plätze wurden zu öffentlichen Versammlungsorten, viele neue Zeitungen " über 1.700 " dokumentierten das gewachsene politische Interesse und in den zahlreichen politischen Vereinen (über 2.500) waren rund 15 % der männlichen Bevölkerung organisiert, die so aktiv an der politischen Willensbildung teilnahmen. Aber auch viele Frauen engagierten sich in Vereinen, bei Demonstrationen, bei sozialen Diensten, verbreiteten die demokratischen Ideen und begannen trotz aller bestehenden Rechtlosigkeit und Abhängigkeiten, für ihre eigene Emanzipation zu kämpfen. Dieses politische Engagement damals dokumentiert eine Lebendigkeit in Sachen Freiheit und Demokratie, von der ich mir wünsche, daß wir sie auch heute in breiten Teilen der Bevölkerung hätten. Für die Gestaltung einer aktiven Gesellschaft mit einer zivilen Bürgerkultur ist sie unverzichtbar. Ein solcher Aufbruchswille heute inmitten von gewaltigen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen würde auch in unserer parlamentarischen Demokratie notwendige Energien und eine solche Kreativität freisetzen, die nicht auf Besitzstandswahrung setzt, sondern neue Lösungen ausprobiert. 1848 ließen sich die Menschen von der Politik begeistern. Diese Freude an politischer Teilnahme wünsche ich mir heute wieder. Sie könnte mancher Unzufriedenheit mit der Politik, mit unserer Demokratie insgesamt, entgegenwirken. Denn wie anders als durch aktive Beteiligung lernt man realistisch 109 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc die Möglichkeiten und Grenzen von Politik einschätzenß Wie anders aber auch kann man Politik, die einem unzureichend scheint, ändern als durch demokratisches Engagement, das darauf zielt, es besser zu machenß Die politischen Gestaltungsaufgaben, die Rolle der Politik gegenüber dem Kapital, der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung sind ja nicht geringer, sondern bedeutsamer und zukunftsentscheidender geworden. Die frei gewählte deutsche Nationalversammlung von 1848 war möglich geworden aufgrund des Einsatzes vieler Menschen aus unterschiedlichen Schichten. Blutige Kämpfe mit vielen Opfern " rund 200.000 Menschen " gingen dem Frankfurter Paulskirchenparlament voraus und folgten ihm. Die erste deutsche Nationalversammlung setzte auf die Macht des Wortes, des Arguments, der Gewaltfreiheit. Der freiheitliche Parlamentarismus wurde vom Adel bekämpft, später mit militärischer Gewalt zerschlagen. Dennoch blieben und bleiben wichtige Leistungen. So nötigt die in den Ausschüssen und in der Vollversammlung geleistete parlamentarische Arbeit auch heute noch großen Respekt ab, weil die Abgeordneten ohne lange Vorerfahrung in kürzester Zeit ein funktionierendes Rede- und Arbeitsparlament etablieren konnten. Die oft leidenschaftlich geführten Debatten nahmen die großen Probleme der Zeit auf, das Parlament war ein wirkliches Forum der Nation, in der das Wort etwas galt und der Andersdenkende respektiert wurde. Geschaffen wurde eine Verfassung mit einer Verankerung der Bürger- und Menschenrechte, die in vielen Teilen heute unser Grundgesetz bestimmt. Allerdings fehlten die Frauen, es fehlte auch die heute in Art. 20 des Grundgesetzes verankerte Sozialstaatlichkeit. Heute sehen wir neben der Größe aber auch die Grenzen der Nationalversammlung deutlicher. Dazu gehören sicher die Einseitigkeiten bei der Wahl (wahlberechtigt waren nur Männer und Besitzende), Defizite in der sozialen Zusammensetzung, manche nationalistische Ausrichtung, die Wankelmütigkeit bei den Entscheidungsfindungen, und nicht zuletzt, daß die Mehrheit der Abgeordneten den Ausgleich mit der Obrigkeit in einem monarchischen Konstitutionalismus suchte anstatt in der vollen republikanischen Volkssouveränität. Daß Bürgerbewegung und Parlament bei aller Unterschiedlichkeit der Formen politischen Engagements zusammengehörten, war zudem ein von vielen nicht begriffener Zusammenhang. Dies führte dazu, daß das eine gegen das andere ausgespielt werden konnte. Mancher wirkt auch heute daran mit, diesen Fehler unter den Rahmenbedingungen der Bundesrepublik zu wiederholen. Deswegen gilt es deutlich zu sagen: Unsere 110 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc repräsentative Demokratie mit ihren parlamentarischen Einrichtungen und die aktive Beteiligung von Bürgern in den unterschiedlichen Formen direkter Demokratie stehen sich nicht diametral gegenüber. Mißtrauen in das "Volk" ist genauso wenig angebracht wie Mißtrauen gegenüber dem Parlament. Vielmehr ergänzen sich beide Seiten in den vielfältigen Bahnen politischer Willensbildung, in Kritik und Gegenkritik, in den verschiedenen Wegen der Prüfung alternativer Lösungen. Entscheidend ist der gemeinsame Wille zum gemeinwohlorientierten Engagement. Dazu ist es notwendig, daß sich weder der Deutsche Bundestag in seiner Arbeit vom Volk entfernt noch sich die Bürger des Einsatzes für die Einrichtungen der Demokratie enthalten. Der Preis wäre sonst, wie damals, die Gefahr des Scheiterns. Der Fehlschlag der Revolution 1848/49 bedeutete nicht das Ende der demokratischen Ideen; diese blieben bis in unsere Gegenwart hinein lebendig. Das gilt auch für wichtige Arbeitsergebnisse des Paulskirchenparlaments, wenn diese auch noch von den Grundsätzen heutiger ziviler, gesamtbürgerschaftlicher Demokratien entfernt waren. Drei Bereiche sind hier zu nennnen: 1. Der Verfassungsentwurf, der als Einigungswerk für das ganze Deutschland gedacht war, wurde in der späteren Verfassungsarbeit immer wieder zu Rate gezogen, in der Reichsgründung, den Beratungen zur Weimarer Verfassung und auch im Parlamentarischen Rat. 2. Auf den Katalog der unveräußerlichen individuellen und politischen Grundrechte, erstmalig in der Verfassung verankert, haben sich die beratenden Gremien zur Weimarer Verfassung ebenso gestützt wie der Parlamentarische Rat. Bis in konkrete Formulierungen hinein haben die damals formulierten Grundrechte Eingang in unser Grundgesetz gefunden. Dazu gehören (neben der Abschaffung von Adels- und Standesprivilegien) vor allem die Unverletzlichkeit der Person, Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit mitsamt der Abschaffung der Zensur, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie eine bürgerlich-öffentliche Gerichtsbarkeit. Allerdings hat das Grundgesetz aufgrund der bitteren Erfahrungen mit der brutalen, menschenverachtenden Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur im Art. 1 den Geltungsbereich der Grundrechte nicht nur auf Deutsche bezogen, sondern auf alle Menschen ausgedehnt. 3. Auch die Geschäftsordnung der Paulskirchenversammlung, die die Regeln des parlamentarischen Umgangs miteinander festlegte, hat nicht nur unsere verfahrensmäßigen Regularien im Deutschen Bundestag beeinflußt, sondern auch unsere Debat111 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc tenkultur, die den Andersdenkenden als Gegner, niemals als Feind behandelt: in Rede und Gegenrede, im Zuhörenkönnen und Ernstnehmen des Redenden, im Setzen auf argumentative Auseinandersetzung, in der Achtung vor dem Wort des anderen, im Respekt vor anderen Erfahrungen, im friedlichen Austragen von Konflikten aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen und parteipolitischer Einschätzungen unter Wahrung der Gemeinsamkeiten aller Demokraten. Die Macht und die Durchsetzungskraft des Wortes, auf die wir gerade heute setzen, bedarf aber " auch das gehört zu den wichtigen, gegenwärtig oft übersehenen Erfahrungen von 1848/49 " der Garantien des Rechtsstaates und parlamentarisch kontrollierter Staatsgewalt. Damals waren die Parlamentarier in der Paulskirche ohne Stützung durch von allen Staaten anerkannte exekutive und militärische Macht, sie konnten nur auf ihre Überzeugungen und die Kraft des Wortes setzen. Die Gegenrevolution, die den Einsatz für Freiheit und republikanische Ordnung blutig mit Gewalt niederschlug, bedeutete deswegen auch das Ende des ersten gesamtdeutschen Parlaments. Deswegen dürfen wir es nicht gering achten, daß wir heute eine auf die Demokratie verpflichtete Bundeswehr haben, in der im Gegensatz zu damals die "Staatsbürger in Uniform" unsere Freiheit und unsere parlamentarischen Einrichtungen sichern helfen. All das zeigt, wie sehr wir in unserer parlamentarischen Demokratie das politische Erbe des Paulskirchenparlaments aufgenommen haben. Es gilt, dieses in der Arbeit nicht nur des Parlaments fruchtbar zu machen, sondern auch im alltäglichen Umgang in unserer Demokratie. Doch unser Blick sollte, stärker noch als 1848/49, über das Nationale hinausgehen. Denn heute ist es unsere Aufgabe, sich auch für ein Europa einzusetzen, in dem eine jetzt möglich gewordene freiheitliche Kultur, ein demokratisches Europa, die gemeinsame Grundlage der Einheit ist. Es wäre ein tatsächliches "Europa der Bürger", in dem die Vielfalt der Kulturen sich in dem Bewußtsein der Zugehörigkeit neu entfalten kann. Ein zweiter "Völkerfrühling", grenzüberschreitend und die Nationen einigend " das ist die Perspektive für unsere gemeinsame Zukunft. Eine friedliche Gemeinschaft gleichberechtigter, freier Völker Europas wird all denjenigen Kräften eine Absage erteilen, die übersteigerten Nationalwahn, Rassismus, Ausländerhaß und Gewalt auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die Saat von Paulskirche und Bürgerbewegung ist aufgegangen, der mutige Einsatz hat sich gelohnt, Freiheit und Einheit sind Wirklichkeit geworden. 1848/49 ist zwar 112 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc eine gescheiterte, aber keine vergebliche Revolution. Die Wahrung dieses Erbes bedeutet für alle Bürger die dauerhafte Verpflichtung, Freiheitsbewußtsein und Identifikation mit unserer Demokratie, ihren Werten und institutionellen Einrichtungen zu stärken. Wer die Freiheitsvernichtung und Zivilisationsbrüche im Deutschland des 20. Jahrhunderts im Auge behält, wer die Verführung durch den Rechts- und Linksextremismus gerade auch in der Gegenwart beachtet, der weiß, wie notwendig es ist, freiheitliches Bewußtsein zu stärken, die Normen der Zivilität und des fairen Umgangs miteinander zu festigen. Das gilt auch in Hinblick auf die Einrichtungen unserer parlamentarischen Demokratie. Gegenüber denjenigen, die in unserem Land schnell dabei sind, das Parlament zu mißachten und die Arbeit der Abgeordneten geringzuschätzen, kann nicht genug betont werden, wie sehr das Parlament mit seinen geregelten Verfahren, seinen Willensbildungsprozessen, seiner Debattenkultur und seinen Entscheidungen Ausdruck gelebter, praktizierter Freiheit ist. Doch es bedarf zugleich der Bürger, die das Politische als ihre eigene Angelegenheit betrachten, die Gemeinsinn entwickeln und sich im tätigen Engagement verantwortlich für die Belange aller fühlen. Um heute von den Leistungen der parlamentarischen Demokratie verstärkt zu überzeugen, brauchen wir ein Höchstmaß an klarer und verständlicher Sprache, an Toleranz und Übersichtlichkeit. Wir brauchen nicht mehr Gesetze, sondern mehr Konzentration auf das Wesentliche. Glaubwürdigkeit stärken wir indem im Parlament die Suche nach Lösungen, das Ringen um den "besten Weg" in Rede und Gegenrede sichtbar und erlebbar wird. Zur politischen Willensbildung brauchen wir die Klärung und Abstimmung in den Fraktionen, aber es lohnt sich, in zunächst offener Debatte die Willensbildung öffentlich zu machen. Bindung an die einzelne Fraktion und Loyalität sind notwendig und unverzichtbar, aber Demokratie braucht auch die Sichtbarkeit der individuellen politischen Überzeugungen, das Wissen darum, wofür Frauen und Männer im Parlament eintreten, streiten, und ihren Einfluß, ihre politische Macht geltend machen. Dabei hat die authentische, aus politischer Leidenschaft gehaltene parlamentarische Rede nichts an Bedeutung verloren, im Gegenteil. Die Demokratie mit ihren parlamentarischen Einrichtungen lebt vom Dissens und Konsens, vom Respekt vor dem anderen, von Freiheit, Gleichheit und der Suche nach Gerechtigkeit. Unsere freiheitliche, parlamentarische Demokratie ist eine kostbare Angelegenheit. Im Alltag wird dies nicht immer gesehen, und wer sich an sie gewöhnt hat oder in sie hineingeboren wurde, unterschätzt leicht, wieviel tagtägliche Sorge, wieviel 113 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Anstrengung und dauerhaften Einsatz sie verlangt. Bürgerinnen und Bürgern von 1848/49 war dieses in außerordentlich hohem Maß bewußt. Vielleicht ist dieses das Wichtigste, an das uns ihr Erbe mahnt.Freiheit und Einheit Bundestag würdigte Erbe der Paulskirche (bn) Als "Grundlage unserer heutigen Demokratie" hat Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU/CSU) die Freiheitsbewegung gewürdigt, die 1848 zur PaulskirchenVersammlung in Frankfurt führte. Damals seien die Grundrechte formuliert worden, die auch ins Grundgesetz eingegangen seien, der freiheitlichsten Verfassung in der deutschen Geschichte, hob die Bundestagspräsidentin bei einer Aussprache des Deutschen Bundestages am 27. Mai zur Erinnerung an den Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung vor 150 Jahren hervor. Süssmuth zeigte sich überzeugt, daß "wir in unserem Parlament einen neuen Aufbruch brauchen." Wichtig seien Konzentration der Arbeit, mehr offene Debatten, mehr Transparenz und die Macht der Sprache. Bundestagsvizepräsident Hans-Ulrich Klose (SPD) bezeichnete es nach der friedlichen Wiedervereinigung als Chance, "auf nationaler und europäischer Ebene zu einem guten Ende zu führen", was vor 150 Jahren begonnen habe und gescheitert sei. Jeder müsse Politik als eigene Aufgabe begreifen; so könne sich die Demokratie immer erneuern und gegen ihre Verächter behaupten. "Eine Demokratie muß wehrhaft sein, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt", stellte Bundestagsvizepräsidentin Michaela Geiger (CDU/CSU) als Konsequenz aus dem Mißerfolg der Paulskirche fest. Es dürfe keine Zusammenarbeit mit extremen Rechten und extremen Linken geben. Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) wies darauf hin, daß den Bürgerrechtlern in der DDR 1989/1990 das Vermächtnis von 1848/49 bewußt war. "Als immer noch aktuelle Idee" bezeichnete Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.) die Friedensordnung, die die Paulskirchen-Versammlung vor Augen hatte. Beste Garanten für den Frieden seien Demokratie und Menschenrechte. Uwe-Jens Heuer (PDS) warb für eine "starke Volksbewegung" gegen Massenarbeitslosigkeit und für den sozialen und demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes. 114 Carsten Mathes * Am Hellweg 6 * D-32105 Bad Salzuflen * Tel: 05222-929601 * E-Mail: [email protected] Das Reichtagsgebäude-1.doc Persönliche Notizen 115